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Anatomie einer Erpressung

Summary:

Ein Dealer wird umgebracht und das Team der Mordkommission ermittelt. Eine der Spuren führt zum Syndikat der Familie Schürk und mit seinen Ermittlungen taucht Leo auf dem Radar von Adam Schürk auf, dem Sohn des Familienoberhauptes. Ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Männern beginnt, das nicht nur ihrer beider Leben auf den Kopf stellen wird.

Notes:

Hallo zusammen,
inspiriert durch die Tatort-Mafia-AU, die hier auf AO3 herumschwirren und hochgradig lesenswert sind, habe ich mal nachgezogen und ein AU geschrieben, das zwar nichts mit Mafia zu tun hat, dafür aber mit der Organisierten Kriminalität (OK). Hierfür habe ich mir das Currywurst-Interview mit Vladimir Burlakov zum Vorbild genommen, in dem in einer Erstversion des Charakters Leo Hölzer dieser ein paar Jahre außerhalb von Saarbrücken verbracht hat.
Darüber hinaus habe ich mir die Frage gestellt, was passiert, wenn Roland Schürk nicht ins Koma gespatet wird, sondern Adam ihm bis ins Erwachsenenalter ausgeliefert ist. Was macht das mit Adam, seinem Charakter, seinem Verhalten anderen gegenüber?

Inspiriert hat mich folgendes Bild von Puria Safary des guten Herrn S. zur Darstellung von Adam in dieser Geschichte:

 

 

Lest selbst und wie immer: beachtet die Tags und die Triggerwarnungen. Nehmt sie ernst, das hier ist besonders am Anfang keine nette Geschichte.

Inspiriert hat mich erneut die wunderbare hope_calaris. Aber dieses Mal hat auch die gute atthefishhouses ihren nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen, dass die Geschichte so geworden ist, wie ihr sie hier lesen könnt.

Das Posttempo wird langsamer als im Tal sein, also wird es ca. einen Teil pro Woche geben.

Aber nun, viel Spaß euch!

(See the end of the work for more notes.)

Chapter 1: Drei Sekunden

Chapter Text

Triggerwarnungen für diesen Teil: Homophobe Sprache, Gewalt, Gewaltandrohung, Erpressung, erzwungenes Zusehen, aber nicht Beteiligen, an sexualisierten Handlungen.

 

„Ich hasse dich, Hölzer, das ist dir klar, oder?“

Leo räusperte sich und hob belustigt die Augenbraue. „Auch dir einen guten Morgen, Esther. Hast du gut geschlafen?“
„Bis zu dem Zeitpunkt, an dem du mich aus meinem gemütlichen, neuen Bett geklingelt hast, ja.“
Er sah bedeutungsschwanger auf seine Armbanduhr und tat so, als wäre es nicht gerade erst einmal halb fünf am Morgen, noch nicht einmal richtig hell, richtig kalt für den Spätherbst. Er tat so, als würde er nicht Esthers tiefe Augenringe und Pias Gähnen wahrnehmen. Oder seine eigene, bleierne Müdigkeit, die der Nacht mit viel zu vielen Träumen geschuldet war. Träume von früher, von Dingen, die er lieber ganz weit unten in sich vergraben würde und die mit seiner Rückkehr nach Saarbrücken an Präsenz gewannen. 

Wunderschön. In Berlin war das nicht der Fall gewesen, zumindest nicht so stark. Und dann hatte sein heimatverbundenes, sentimentales Ich beschlossen, nach Saarbrücken zurück zu kehren, zu seinen Eltern und seiner Schwester. 

Leo war sich immer noch nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung gewesen war. 

„Erde an Leo, nicht einschlafen!“, riss ihn Pia aus seinen Gedanken und knuffte ihm auf den Oberarm. Leo schreckte hoch und grunzte wenig huldvoll in ihre Richtung. 
„Ich bin wach.“
„Hmh, klar.“
„Ruhe“, grollte er, aber das war eher im Spaß. Er mochte sowohl Pia als auch Esther, auch wenn der Weg mit den Beiden steinig begonnen hatte. Er war vor neun Monaten als Neuer an die Dienststelle gekommen und damit in ein Team geraten, das schon seit längerer Zeit vertrauensvoll zusammenarbeitete. Er hatte Fehler gemacht, die er mittlerweile wirklich stark bereute, auch wenn die Beiden ihm verziehen hatten. 

Unter der Maßgabe, dass er sie regelmäßig mit Hörnchen versorgte. Was er brav tat, sich Korruption und Erpressung beugend. So zumindest benannte er liebevoll seinen Tribut, den er an die beiden Frauen zahlte. 

So wie heute. 

Leo deutete auf seinen im Dunkeln außerhalb des beleuchteten Weges stehenden Wagen und gähnte. Sein Atem wurde zu kleinen, weißen Wölkchen und er zog die Jacke etwas enger. „Da sind Hörnchen drin. Wenn wir hier durch sind, frühstücken wir und ich gebe eine Runde Kaffee aus.“
„Von unserem Vollautomaten?“, fragte Esther zweifelnd und er streckte ihr seinen Mittelfinger entgegen. 
„Von einem richtigen Kaffeedealer.“
„Du mit deinem Kaffeedealer.“
„Beschwerst du dich gerade?“
Pia knuffte nun auch Esther. „Halt den Mund, der Kaffee ist gut“, zischte sie und Leo rollte mit den Augen. Ein Pfiff riss seine Aufmerksamkeit von seinem Team los und er sah in Richtung der SpuSi, die sich bereits emsig ans Werk gemacht hatten. Die Baustrahler, mit denen sie den Tatort erleuchteten, brannten in Leos übermüdete Augen, aber so konnte er wenigstens sehen, was sie mit der Leiche und der Umgebung veranstalteten.  
„Kommen Sie, kommen Sie!“, rief Dr. Wenzel und winkte ihm. Pflichtbewusst folgte Leo dem Fingerzeig und zog gleich auch noch Esther und Pia mit. 

„Guten Morgen“, grüßte er und sie lächelte über den Rand ihrer Brille hinweg. Ihr weißer Schutzanzug raschelte in der Stille des Morgens, als sie auf ihren heutigen Kunden deutete. 

„Guten Morgen. Kann ich Sie schon für ein paar Informationen erwärmen?“, fragte sie und Leo nickte. 
„Das Opfer ist männlich, circa 25 Jahre alt, starker Raucher. Zum Zeitpunkt des Todes hatte er Substanzen bei sich, die wir gerade eingetütet haben um sie zu analysieren. Von einer natürlichen Todesursache ist nicht auszugehen, es sei denn, er hat sich selbst erdrosselt. Das scheint auch nach eingehender Prüfung eher unwahrscheinlich, aber die letzten Ergebnisse kann ich erst liefern, wenn ich ihn mir genauer angesehen habe. Personalausweis, sonstige Ausweisdokumente oder Hinweise jeder Art auf seine Identität sind nicht vorhanden, ebenso wenig wie Geld. Was das Auffinden des weißen Stoffes in kleinen Plastikbeuteln umso spannender macht.“

„Drogen?“, fragte Leo, auch wenn er wusste, dass er darauf nicht wirklich eine Antwort erhalten würde. Nicht bevor sie nicht zweifelsfrei festgestellt hatten, was in den Tütchen war. 
„Wir prüfen, könnte aber sein. Spannend ist jedoch“, lenkte die Gerichtsmedizinerin zur Leiche zurück. „Dass er anscheinend vor seinem Tod gefoltert wurde.“
Pia runzelte die Stirn, während Esther schauderte. „Gefoltert?“
„Hmmh.“ Dr. Wenzel beugte sich zu der Leiche und deutete erst auf die Finger der rechten, dann auf die der linken Hand. „Gebrochen, ziemlich unschön. Muss ihm wehgetan haben, bevor er erdrosselt wurde. Am Oberkörper befinden sich außerdem auch noch Spuren von Faustschlägen.“

„Gang-Zwist?“, fragte Leo und zog sein kleines Notizbuch aus der Tasche. „Kennen wir ihn?“
„KTU ist noch dran, sie haben noch kein Ergebnis. Könnte sein oder die weißen Tütchen sind absichtlich irreführend.“
„Tattoos, die auf eine Herkunft hindeuten?“
„Bislang nichts. Ich habe ihn aber auch noch nicht nackig gemacht. Das kommt später in der Leichenhalle.“ 
„Zeugen?“, fragte Pia und warf einen Blick auf die nähere Umgebung um die Leiche herum. Die oberste Schicht des gefrorenen Bodens war aufgewühlt, als hätte das Opfer bis zuletzt noch um sein Leben gekämpft. 
„Nur den Jogger, der ihn hier gefunden hat. Die Kollegen vom KDD kümmern sich gerade um ihn, ob er bereits vernehmungsfähig ist, kann ich leider nicht sagen.“

„Wir nehmen ihn uns vor, wenn die Kollegen mit ihm fertig sind“, nickte Esther in Gedanken und wie immer klangen ihre Worte wie eine Drohung. Leo wusste, dass sie es nicht waren. Esther war eine gute und erfahrene, wenn manchmal auch gnadenlose Ermittlerin, die nichts unversucht ließ um einen Fall erfolgreich abzuschließen. Nicht zuletzt deswegen waren ihre Aufklärungsquoten auch so gut. Und weil sie gut als Team harmonierten. 

„Wenn’s ein Dealer war, hat’s mit Sicherheit was mit den Schürks zu tun“, schnaubte Esther und Leo musterte sie aufmerksam. Selbst in neun Monaten hier in Saarbrücken war ihm der Name Schürk immer wieder untergekommen. In der Teeküche der Drogenfahndung. In den frustrierten Worten von Rainer, seinem alten Schulfreund und immer noch gutem Kollegen von der Steuerfahndung. In den abwertenden Worten der Wirtschaftskriminalität, die dem Syndikat kein einziges Bestechungsgeld nachweisen konnten. Selbst bei ihnen, im Morddezernat, tauchte der Name desöfteren auf ohne wirklich Bestand zu haben. 

Leo beobachtete diesen Namen mit Argwohn. 

„Als wenn es möglich wäre, ihnen etwas nachzuweisen“, sagte Pia zynisch. „Selbst wenn wir hier Fingerabdrücke und DNA hätten, würden die sich irgendwie rauswinden. Vor allen Dingen der schmierige Junior.“

Leo hatte einmal ein latent unscharfes Foto vom Kronprinzen der Familie gesehen und er war hin und hergerissen gewesen zwischen einem Augenrollen – wer bitte trug Anzüge ohne Hemden und dazu Goldkettchen? – und der untrüglichen Gewissheit, dass dieser Mann in einem sehr ungesunden Maß seinem Beuteschema entsprach. Groß, blond, schlacksig, rotziger Gesichtsausdruck…für einen Moment lang hatte Leo seine Professionalität hinter sich gelassen und dann im Rahmen der Professionalität die Akte geschlossen. 

Mitnichten wäre er so unprofessionell und würde sich jemals dem Gedanken hingeben, diesen Mann auch nur in Betracht zu ziehen, insbesondere, wenn es sich bei ihm um einen möglichen Straftäter handelte.

„Bist du fertig mit starren oder bleibst du hier, bis du Moos ansetzt?“, fragte Esther und Leo nickte schweigend. Er folgte ihr zu ihren Autos und von dort aus zu einem gemeinsamen Frühstück mit leckerem Kaffee und Hörnchen.


~~**~~ 


Drei Tage später hatten sie alles, was sie als Grundlage brauchten. Leo hatte mit akribischer, ordentlicher Freude die einzelnen Beweise an ihr Whiteboard gepinnt. 

Ihr Opfer hieß Mirko Linz, ein auf die schiefe Bahn geratener Junge aus gutem Hause mit Eltern, die es schon lange aufgegeben hatten, nach ihrem Sohn zu suchen, sobald er aus Frankfurt verschwunden war. 25 Jahre alt, Nebenjobber in einem kleinen Kiosk, wohnhaft in einer der besseren Gegenden Saarbrückens. Eigentlich nichts, was man sich von dem kleinen, aber feinen Nebenverdienst hätte leisten können. Ansonsten war nichts wirklich Bemerkenswertes in der Vita. Nichts, bis auf die Vorstrafen für Drogenbesitz und –handel. Das weiße Pulver – natürlich - Heroin. Reines Heroin, kein gestrecktes Zeug, wie es oft verkauft wurde. Was auch die gute Wohngegend erklärte. Seine Brieftasche, die die Spürhunde zehn Kilometer weiter weg am Ufer der Saar gefunden hatten ohne Personalausweis, dafür aber mit haufenweise Fingerabdrücken. Nur von ihm.

Er war in der Tat vor seinem Tod misshandelt worden. Schläge in die Magengegend und an die Schläfe. Gebrochene Finger an beiden Händen, ein verstauchter Knöchel. Keine Spuren sexueller Gewalt. 

Wieder kam der Name Schürk auf und Leo wühlte sich durch eine ihnen überstellte Akte der Drogenfahndung. Angeblich hatte der Alte der Familie alle Fäden in der Hand, wenn es um den Drogenhandel in Saarbrücken ging. Albaner, Mafia, Triaden, die Motorradgangs…alle keine Schnitte. Alle Fäden führten immer wieder von den üblichen Verdächtigen weg und hin zu dem angeblichen Saubermann mit seinem Immobilienunternehmen. 

Sozialer Wohnungsbau, Luxuswohnungsbau…die Stadt hatte viel bei ihm bestellt und geliefert bekommen. Keiner beschwerte sich, keiner hatte auch nur den Ansatz eines Ermittlungserfolges. Alle schienen zufrieden, alle sauber zu sein.  

Leo beschloss, sich bei Schürk Junior anzumelden. Er wollte sehen, was hinter diesem Saubermannimage steckte. Er wollte sehen, mit wem er es hier zu tun hatte und das würde er am Besten können, wenn er ihm im Zweiergespräch gegenübersaß. 

Er hörte jetzt schon Pias Worte in seinen Ohren, dass er auch Menschen hatte, die ihn unterstützen würden. Besonders am Anfang hatte er das vielfach gehört. Nun aber hatte er sich an das Teamwork gewöhnt und richtete sich danach. 

Bis auf ein paar Ausnahmefälle. 


~~**~~


„Wir haben ein Problem.“

Adam lachte innerlich. Wir? Nein, die Dreckssau von seinem Vater hatte ein Problem um das er sich kümmern durfte. Um sich zu beweisen. Immer noch. Schon wieder. Dem Alten fiel schon was ein um ihm eins in die Fresse zu hauen, wenn er nicht spurte. Oder auch wenn er spurte. Da war das Arschloch nicht wählerisch, schon seit Jahrzehnten nicht. 

Oh, aber Adam fiel genauso viel ein. Anzüge ohne Hemden, mit Goldkettchen und glatt rasierter Brust. Das hasste der Alte. Schwuchtel, so nannte er ihn und hatte Recht damit. Aber die Schwuchtel von einem Sohn des alten Herrn, deswegen hatten die Schläger der Dreckssau auch noch nicht heimgesucht. Das machte der Alte selbst, nimmermüde, seinem missratenen Sohn genau das zu zeigen. 

„Es gibt einen neuen Bullen, der sich anscheinend seine Sporen verdienen will und uns bei dem abgelegten Dealer in die Quere kommt. Harte Sau, wenn man den Gerüchten glaubt, son Unbestechlicher, der die Polizeiarbeit noch ernst nimmt.“

Der schlechte Atem des Alten strich Adam übers Ohr, während die knorrigen Finger sich hinter ihm an der Holzstuhllehne festhielten. Wie sehr Adam das hasste, wenn er das Arschloch nicht sah. Wie sehr das Arschloch wusste, dass er das hasste. 

„Kümmer dich um ihn und schaff mir das Problem vom Hals.“

Adam rollte mit den Augen. Kümmer dich um ihn und schaff mir das Problem vom Hals waren Synonyme für bring sie um, mach sie kalt, sorg dafür, dass sie keinen Ärger machen. Das hatte nach dem zweiten Bullenmord seines Vaters dazu geführt, dass Adam mit Vincent sämtliche Bullen, Staatsanwälte und Richter, die ihnen quergekommen waren, erpresst oder bestochen hatte, je nachdem, was notwendig gewesen war. 

Der Neue war wieder eine Herausforderung und langsam hatte Adam wirklich Spaß daran, die dunkelsten, schlimmsten und fürchterlichsten Geheimnisse der Menschen zu ergründen und sie ihnen direkt vors Gesicht zu halten. Er rettete ihr Leben und dafür weidete er sich an ihrer Dunkelheit, die seiner eigenen gar nicht mal so unähnlich war. Fairer Deal. Einer, der ohne Vincents Idee nicht möglich gewesen wäre. 

Ein Schlag auf den Hinterkopf holte Adam zurück in die Realität. Stimmt, der Alte erwartete eine Antwort. 

„Wird gemacht“, sagte er über das Pochen in seinem Schädel hinweg und der Alte zischte. 
„Boris schickt dir die Unterlagen. Und jetzt geh mir aus den Augen, Schwuchtel.“ 

Adam hatte schon lange keinen mehr gefickt, vorgestern erst, aber Recht hatte der Alte. Ein Mann war’s gewesen. Irgendein junges Ding, komplettrasiert, willig, die Beine breit zu machen. Es war nett gewesen, aber nichts, was Adam noch ein zweites Mal wollte. 

Er erhob sich und verließ das Büro der Dreckssau. Vincent wartete im Gang des Betonbunkers, den sein Alter Anwesen nannte. 
„Was wollte er?“
„Ein neuer Bulle, anscheinend unbestechlich.“
Vincent lächelte sanft und zwinkerte. „Unbestechlich…klar.“ Er kokettierte mit den Worten und Adam schnaubte. 
„Überprüf das und falls ja, finde alles über ihn hinaus.“
„Wie immer also?“

Adam machte Würgegeräusche. Das einzig Gute waren wirklich die dunklen Geheimnisse daran. Der Rest war…lästig. „Ja. Wie immer. Eine weitere Verknüpfung.“


~~**~~


Leo Hölzer war tatsächlich ein unbestechlicher Bulle, wie er im Buche stand. Saubere Polizeistatistik, nicht einmal einen Strafzettel, zu schnell gefahren nur im Dienst bei Einsätzen. Lauschige Saarbrücker Kleinstadtfamilie mit Mutter Babsi, Vater Georg, und Schwester Caro. Ältere Schwester und eine ziemlich Hübsche noch dazu. Alle hier in Saarbrücken, alle gut unter Kontrolle zu halten, alle mit Berufen, die er über Umwege oder direkt erreichen konnte. Eine Kündigung hier, eine Entlassung dort und die Approbation konnte durch ein bisschen geschickte Aktenfälschung auch entzogen werden. Beste Basis. 

Aber nicht so gut wie der Bulle selbst. 

Als Erwachsener war er vollkommen unauffällig, als Jugendlicher jedoch gab es da einen Zwischenfall, der zunächst nur ein Gerücht gewesen war. Ein fester Freund, ein gewalttätiger Vater, ein Unfall. Die Akten dazu noch im verstaubten Polizeiarchiv. Ein Unfall, die Aussagen der Beteiligten unstimmig. Der Junge, der es angeblich nicht war, war im Kino gewesen und erst später dazu gekommen. Der Film war aber an dem Abend gar nicht gelaufen, zumindest nicht in dem Kino. 

Dumm gelaufen. 

Vincent hatte durch einen unauffälligen Besuch in Hölzers Wohnung herausgefunden, dass es da noch mehr gab. Alte Tagebücher, sorgsam weggesperrt, nicht sorgsam genug für Vincent. Darin ein Schuldgeständnis, das dem Mann die Existenz kosten würde. 

Ein Spatenangriff, der den Schläger ins Koma geprügelt hatte, der Freund drei Jahre später bei einem Autounfall auf der Bundesstraße elendig abgekratzt. 

Ups.

Jeder hatte etwas Dunkles und in diesem Fall musste Adam dem Bullen noch nicht einmal einen Besuch abstatten. Nein, der war tatsächlich freiwillig zu ihm gekommen, im Rahmen einer Mordermittlung um ihm Fragen zu stellen. Herr Hölzer von der Mordkommission, hatte ein paar unverbindliche Fragen zu einem Dealermord. 

Alleine. Bei ihm. Dreist. Mutig. 

Er saß Adam gegenüber, ein kleines, schwarzes Notizbuch in seinen gepflegten Händen, die in muskulöse Unter- und Oberarme übergingen. Der ebenso muskulöse Oberkörper wurde nur durch das weiße Henleyshirt angedeutet, das er unter seiner schlichten Jacke trug, hervorgehoben durch ein Schulterholster. Er sah gut aus, tausendmal besser als auf den Fotos, und Adam stellte fest, dass Herr Hölzer aus Berlin durchaus einer war, bei dem er Lust hatte, ihn über seinen Schreibtisch zu beugen und zu ficken, die Hosen gerade nur soweit runtergezogen wie es notwendig war.

Adam schmunzelte über seinen sich regenden Schwanz und legte den Kopf schief, lauschte den strengen Worten des Herrn Hauptkommissar. Und was für eine Stimme er hatte. Befehlsgewohnt, ohne Umschweife, direkt und sachlich. Wie sie sich wohl anhörte, wenn der Mann kurz vor seinem Höhepunkt stand?

Adam leckte sich über seine Lippen und irritiert hielt der gute Herr Hölzer inne. 

„Was erfreut Sie?“, fragte diese weiche, samtige Stimme unerfreut und Adam grinste. Das seidige Innenfutter seines Jacketts rieb sich an seinen bereits erhärtenden Brustwarzen. Du freust mich, erwiderte er in Gedanken. Nach außen hin machte er eine nonchalante Handbewegung. 

„Ihre Fragen, Herr Hölzer, die mich nicht weniger betreffen könnten. Nein, eigentlich ist das gelogen. Sie erfreuen mich nicht, sie langweilen mich. Ich will mit Ihnen tatsächlich über etwas ganz Anderes sprechen.“
Kurz zuckte es in Hölzers Augenbraue. Das hatte es auch schon getan, als Adam ihn in sein Büro gelassen hatte und er sich Adams Kleidungsstiles bewusstgeworden war. 
Ein Zeichen von Nervosität, würde Vincent sagen, der unweit von ihm am Schreibtisch lehnte und die wichtigen Dokumente bei sich hatte. Er beobachtete Hölzer aus der Perspektive eines Psychologen. 

„Über was?“, fragte eben jener in einem Ton, der keinen Widerspruch gewohnt war und Adam hob die Augenbraue. 
„Über Sie.“
„Mich?“
„Ja.“
„Da gibt es nichts zu reden.“

Adam lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Das, Herr Hölzer, halte ich für eine Lüge. Sie sind neu hier, vor neun Monaten frisch aus Berlin gekommen, nachdem Sie vorher ein bisschen durch die Welt getingelt sind. Geboren und aufgewachsen in Saarbrücken, nach dem Abitur fortgegangen und jetzt wieder zurück in dieser wunderbaren Drecksstadt.“

Und wie er da die Aufmerksamkeit des Mannes hatte, der vor ihm saß und begriff, dass Adam sehr wohl seine Hausaufgaben gemacht hatte. Wie intensiv und durchdringend er gemustert wurde von diesen grünen Augen, die Adam am Liebsten 24/7 auf sich gerichtet sehen würde. Genau in dieser Intensität, mit dieser Aufmerksamkeit. Wäre er keine Verknüpfung, Adam hätte schon lange…

„Was wird das, Herr Schürk?“, hakte Hölzer nach, beinahe unhörbar und Adam streckte die Hand aus. Vincent erhob sich mit raschelnden Röcken und gab ihm die dünne, aber aussagekräftige Akte. Theatralisch platzierte Adam sie auf seinen Oberschenkel und öffnete den Deckel. 

„Lassen Sie mich weiterschauen. Mutter Gärtnermeisterin, Vater Bausachbearbeiter bei der Stadt, Schwester Kinderärztin im Klinikum. Allesamt unauffällig, keine Vorstrafen, gute Wohngegenden, hübsche Häuser. Da wirkt Ihre drei-Zimmer-Wohnung nahezu klein gegen. Aber hübsch, auch wenn Sie Ihre Blumen mal wieder gießen sollten.“

Ja, da war er, der Moment des Erkennens. Was für ein wunderbarer Moment. Adam sah Wut. Selbstgerechtigkeit. Hölzer wurde bleich, seine Augen blitzten nur so. 
„Was soll das werden, Herr Schürk?“, zischte er und alleine das Temperament ließ Adam hart werden. Das Aufstehen, Überthronen, der Zorn ließ es, der auf ihn hinunterregneten. Auch ein Andenken der Dreckssau. Adam labte sich daran, doch noch viel mehr labte er sich an der Hilflosigkeit seines Gegenübers, die ein Zuschlagen verhinderte.  

Adam sah hoch, vollkommen entspannt. „Eine Bilderbuchfamilie. Wäre da nur nicht der Jüngste. Leo. Hatte früher einen Kumpel, beide entdeckten ihre homosexuellen Gefühle füreinander. Der Kumpel, Matthias, hatte einen gewalttägigen Vater mit Spaten. Der wiederum hat unliebsame Bekanntschaft mit dem Schädel des Schlägers gemacht. Dumm nur, dass sich das nicht ausgezahlt hat, denn Söhnchen ist drei Jahre später im brennenden Autowrack umgekommen. Übrig bleibt der Saubermann-Polizist mit einem Kapitalverbrechen, das nicht verjährt und für das er lange lange lange in den Knast wandern wird.“

Adam lächelte und gab seinen Worten Raum und Zeit zu wirken. Er verfolgte jeden einzelnen Muskel in Hölzers Gesicht, der von Panik, Angst, Bestürzung, Wut, Hass sprach. Wunderbar. Großartig zu sehen, wie es dem Mann vor ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog. Nun war er nicht mehr so wortgewandt, nicht mehr so versiert, nicht mehr so streng. Die Machtumkehr hatte sie erreicht und für Adam war es genauso berauschend wie es für Hölzer schrecklich war.  

„Was zur Hölle wollen Sie?“, knurrte dieser und Adam löste die Beine voneinander und stellte sie entspannt auf den nichtssagenden Teppichboden seines Büros. Durch seine schwarze Anzughose konnte man sehr deutlich sehen, wie sehr ihm das hier gefiel und Adam lächelte, als er die Ellbogen auf die Lehnen seines Sessels aufstützte. 

„Ihre Kooperation.“
„Niemals.“
Adam zuckte mit den Schultern. „Geht nur um Kleinigkeiten.“
„Ich lasse mich nicht bestechen.“
Laut lachend warf Adam den Kopf nach hinten. Abrupt erhob er sich und überbrückte die Distanz zwischen ihnen mit einem schnellen Schritt. „Bestechung? Leo, oh Leo“, raunte er ihm ins Gesicht. „Es gibt solche und solche. Bestechung ist für dich verschwendete Liebesmüh. Erpressung ist der Straftatbestand, den du suchst. Entweder, oder. Ganz einfach. Entweder ich bekomme meinen Willen oder du landest im Knast und die Knastbrüder werden mit deinem Arsch und deinen hübschen Lippen eine wunderbare Zeit haben, während deine Familie ihre Existenzgrundlagen verlieren – eine nach dem anderen. Das ist der Deal, mehr bekommst du von mir nicht. Willkommen in Saarbrücken, Frischling.“

Adam befand sich im ausschließlichen Fokus dieser Augen. Hölzer versuchte immer noch, das abzuwehren, was wie eine unaufhaltsame Lawine auf ihn zugerollt kam. Er war immer noch nicht am Ende und Adam nahm die Herausforderung an, die sich ihm hier bot.  
„Sie sind krank im Kopf, Herr Schürk. Hirngespinste, nichts weiter. Sie lügen wie gedruckt und jemandem mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität wie Sie sie haben, wird man kein Wort glauben.“ Je wütender er wurde, desto schöner war Hölzers Stimme. 
„Mir nicht, aber dir, mein Schöner.“
„Ich habe das nicht getan“, grollte Hölzer und Adam hätte die Lüge erkannt, auch wenn er durch die Faktenlage nicht schon den eindeutigen Gegenbeweis gehabt hätte. Er hob die Akte und zog die Kopie des Tagebucheintrages hervor, die Vincent ihm gemacht hatte. 

„Ein Geständnis, sauber darniedergelegt aus dem Tagebuch des jungen Leo Hölzer. Schriftprobe eindeutig, unabhängiges Labor. Fingerabrücke sind dran. Auch bereits schon kriminaltechnisch untersucht. Reicht der Staatsanwaltschaft für eine Anklage und in Verbindung mit der Falschaussage bezüglich des Kinofilms…saubere Beweiskette, so sagst du das doch immer, oder?“

Adam gab Hölzer das Blatt Papier und sah, wie dessen Hände zitterten, als er seine geschriebenen Zeilen las. Er sagte nichts dazu und Adam wusste, dass er den Mann in seiner Tasche hatte. Er erkannte es an dem angespannten Körper, an der bleichen Gesichtsfarbe, er erkannte es an dem zusammengepressten Kiefer und den hellen, grünen Augen. 
„Das bin nicht ich“, sagte er und es war eine noch größere Lüge als vorher, denn Adam erkannte sehr die Schuld, die dahintersteckte. 

„Oh wir wissen beide, dass du das bist.“ Adam drehte sich zu Vincent um, der aufmerksam beobachtend auf der Kante des Schreibtisches saß und seine mit Kajal untermalten, bildschönen Augen sorgfältig auf den Polizisten gerichtet hatte. 

„Was wollen Sie von mir?“, presste Hölzer hervor und Vincent nickte kaum merkbar. Ja, da war es, das Schuldeingeständnis, was sie benötigten.  
„Deine Kooperation. Hier und du, bei nichts Großem. Ich will, dass du keinen Ärger machst und dann, wenn ich es von dir verlange, mir das eine oder andere zukommen lässt.“
Das verächtliche Schnauben ließ ihn sich umdrehen und da war es doch wieder zurück, das Feuer. 

„Ich werde dafür sorgen, dass Sie ins Gefängnis gehen, Herr Schürk“, spie Hölzer hervor, ein letztes Aufbäumen vor der endgültigen Niederlage.  
„Befinden wir uns nicht alle bereits im Gefängnis unserer Zwänge? Du, ich, wir beide.“ Adam wog den Kopf hin und her und hielt Vincent die Akte hin. Er nahm sie ihm ab und gab Adam so die Möglichkeit, sich gänzlich auf dieses wütende Exemplar eines Polizisten einzustellen. „Mit dem Unterschied, dass man mir nichts nachweisen kann, dir aber schon. Und damit will ich keine sinnentleerten Drohungen aus deinem Mund mehr hören. Verstanden?“

Noch war Hölzer nicht am Ende. Noch gab es Widerstand. Doch wer war Adam, dass er den nicht zu brechen verstand, schließlich hatte er von den Besten gelernt. Psychospielchen war das Zauberwort. Dreckssau der Lehrmeister.

Er unterschritt zum zweiten Mal die gesunde Distanz zwischen zwei Menschen und kam Hölzer so nahe, dass er ihn riechen konnte. Er liebte diesen Geruch jetzt schon. 
„Hast du das verstanden, Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer?“, wisperte er, alles Freundliche, Spielerische, Neckende in seiner Stimme abfallend wie unnötiger Ballast. Er ließ den Hass und den Sadismus der Dreckssau durchscheinen, eine Eins-zu-Eins-Kopie seines Alten. Der Widerstand bröckelte und Adam wusste, dass es nur noch eines Stoßes bedurfte. 

„Denk an deine Familie und deinen Polizistenarsch. Du hast du Wahl, im Großen und Ganzen so weiter zu machen wie bisher, mit ein paar Einschränkungen, oder dein Leben zerfällt hier und jetzt und endet bäuchlings in Lerchesflur unter einem stinkenden Polizistenhasser, der dir seinen Schwanz ganz tief in den Arsch steckt.“

Die schlanken Finger ballten sich zur Faust und die Kiefermuskulatur des anderen Mannes sprang schier über die angespannten Knochen. Adam hatte ihn und Hölzer wusste, dass Adam es wusste. 
Dennoch kam der wütende Schlag in sein Gesicht zu schnell für Adams durchaus versierte Reflexe und ließ seinen Kopf schmerzhaft zur Seite rucken. Er schmeckte Blut in seinem Mund und wischte sich über die lädierte Gesichtsseite. 

„Sie sind ein widerliches Stück Scheiße, Herr Schürk. Ein ekelhaftes Schwein“, grollte Hölzer abgrundtief böse und Adam lächelte. Damit konnte er leben, das hörte er schließlich von seinem Vater dauernd. Den Widerstand jedoch musste er brechen. Die Gewaltbereitschaft ebenso. 

„Danke für die Blumen. Und hier deine erste Aufgabe. Auf die Knie mit dir.“

Adam ließ in seiner Mimik und Gestik keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. Er ließ keinen Zweifel daran, dass eine Verweigerung Konsequenzen haben würde. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er keinen weiteren Schlag dulden würde. 

Hölzer schluckte trocken, seine Faust immer noch halb erhoben an seiner Seite. 

„Drei Sekunden.“

Wenn all das hier vorbei war, würde er ihn irgendwann ficken, das nahm Adam sich vor. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einem Monat. Aber irgendwann. Dann, wenn er Hölzer soweit bekam, dass er freiwillig mit ihm ins Bett stieg. Die Vorstellung daran half ihm bei seinem steinharten Schwanz, der es auch noch geil gefunden hatte, von Hölzer geschlagen zu werden, gar nicht. 

„Ruf Bastian, er soll herkommen“, sagte er über seine Schulter hinweg zu Vincent und dieser verschwand nach einem kurzen Zögern aus dem Raum. Bastian war einer der Küchenhilfskräfte seines Vaters, überprüft und sauber. Bastian liebte Geld und liebte es genauso, sich etwas dazu zu verdienen, in dem er sich hin und wieder Adams Schwanz in den Mund steckte. 

„Zwei Sekunden.“

Hölzer ließ noch eine Sekunde verstreichen, dann ging er mit festem, gepeinigten, wütenden, hasserfüllten Blick auf Adam und zu Fäusten geballten Händen auf die Knie. Mit Schulterholster. Mit Notizbuch. Mit Dienstausweis. Jaa…auch das hatte die Dreckssau ihm beigebracht. Einfache Gesten der Unterordnung waren die Wirksamsten. 

Dass Hölzer dabei in perfekter Höhe war um seine deutliche Erregung zu sehen. Pech für ihn. 

Adam starrte auf ihn hinunter und hielt der Verachtung stand, der ihm entgegengetragen wurde. 

Was hatte Vincent ihm noch erzählt? Hölzer las gerne und viel, trank gerne ein Glas Wein, liebte Filme und Brettspiele. Alles das, was sich Adam vorstellen konnte, mit ihm zu machen, bevor er ihn im Bett um den Verstand brachte. Freiwillig. Nur das. Nur weil Erpressung die Methode seiner Wahl war um die Polizei von Saarbrücken ruhig zu halten, hieß das nicht, dass er sich daran aufgeilte, andere gegen ihren Willen zu ficken. 

Den Rest… mal sehen. Er hatte Geduld, wenn es sein musste. 

„Braver Junge“, lobte er mit einem kalten. ätzenden Lächeln. „Du bleibst solange da, bis ich dir was Anderes sage.“
Hölzer zog es vor, nicht darauf zu antworten und weiterhin ein stummes Blickduell einzugehen. Adam löste das, als er um ihn herumtrat und sich den Mann, den er sich in der nächsten Zeit mit Sicherheit mehrfach holen würde, auch von hinten betrachtete. Verflucht, vielleicht wäre nicht nur der Tisch eine Option. Vor dem Karmin, auf dem Teppich, über die Couchlehne. Über seiner Motorhaube. In seinen eigenen Handschellen. In seiner Ausgehuniform. Dieser Mann wäre überall und in jeder Kleidung einen ausgiebigen Fick wert. 

Er ging um Hölzer herum zu seinem Sessel und ließ sich darauf nieder, die Beine weit gespreizt. 

„Hat es dem Herrn Hauptkommissar die Sprache verschlagen?“, raunte Adam und hinter ihm ging die Tür auf. 
„Hey Boss.“
Bastian, mit Vincent als Nachhut, der seine Position am Schreibtisch wieder einnahm. 
„Komm zu mir“, lockte Adam ohne hinzusehen und Bastian tat wie ihm geheißen. Er sah Hölzer an, dann Adam, dann Adams Erregung. 
„Heute extra?“, grinste er und Adam leckte sich erneut über die trockenen Lippen. 
„Mach dich ans Werk“, erwiderte er und Bastian sank ohne zu zögern auf seine Knie. In der gleichen Bewegung zog er ein Kondom aus seiner Tasche und legte es auf die Lehne des schwarzen Ledersessels, während er sich an Adams Hose zu schaffen machte. Dass Adam keine Unterwäsche trug, machte es einfacher und in geübter Schnelligkeit hatte Bastian seinen Schwanz befreit und ihm das Kondom übergestülpt. 

Ganz zum Horror des Polizisten vor ihm, der auf einen Punkt neben ihn starrte, die Wangen eine Mischung aus kreidebleich und ungesund rot. 

„Soll ich?“, wisperte Bastian mit verführerischem Blick von unten und Adam strich ihm zärtlich über die Kinnpartie.   
„Es sei denn, der Herr Kriminalhauptkommissar möchte?“, fragte er mit einem gelassenen Augenzwinkern und wurde Opfer der geballten, hilflosen Wut. 
„Niemals“, zischte Hölzer zwischen seinen Zähnen hervor, zusätzlich zu seiner Wut mischten sich nun auch Unsicherheit und Vorsicht in seine Silben. Kluger Junge.
Adam zuckte mit den Schultern. „Du weißt nicht, was dir entgeht.“
Wusste Hölzer schon, denn in diesem Moment zuckte sein Blick, geleitet durch sein Unterbewusstsein, zu Adams Schwanz nur um Sekundenbruchteile später sich erneut in Adams Augen zu bohren.   

„Du wirst mich die ganze Zeit ansehen und wage es ja nicht, wegzusehen“, richtete er an Hölzer und dieser schluckte schwer. Oh wie gerne würde Adam sehen, wenn er noch etwas Anderes schlucken würde, ganz tief in seinem Rachen. Einer wie Hölzer konnte das. Er wäre zielstrebig genug dafür, das spürte Adam. 

Nun war es Bastians warmer Mund, den er spürte. Ohne den Blick von Hölzer zu nehmen kraulte Adam Bastian die Nackenhaare und dirigierte sachte seinen ganzen Schwanz in Bastians warmen Mund. Er überließ es ihm, seinen Kopf auf und ab zu bewegen, auch wenn er seine Finger in die weichen, dunkelbraunen Haare krallte. Bastian mochte das so.

Bastian stöhnte gurgelnd und als ob er sein Leben lang nichts Anderes gewollt hatte, als Adam den Schwanz zu lutschen. Er konnte das gut, sehr überzeugend. Doch hier war es nicht Bastian, den Adam sah, sondern Hölzer, der ihm in die Augen starrte und nur dahin, ein zum Zerreißen gespannter Mann, der noch nicht ganz begriffen hatte, was vor ihm geschah. Der aber langsam einen Eindruck gewann, mit wem er sich eingelassen hatte, als er über diese Türschwelle getreten war. Zwischen ihnen bewegte sich Bastians Kopf auf und ab, zwischen ihnen nahm Bastian Adams Schwanz in seine versierte Hand. Die Geräusche des Mannes waren die Einzigen in diesem Raum und machten ihn zum Zentrum des Begreifens von Leo Hölzer. 

Er kniete dort und verharrte brav, wie Adam es ihm befohlen hatte. Seine Wangen waren feuerrot und Hölzer schluckte trocken. Ob aus Ekel oder aus etwas Anderem, vermochte Adam über seine eigene Welle der Lust, die sich zuverlässig in ihm aufbaute, nicht zu sagen. 

Als er kam, hielt er Bastian so eng an sich, dass dessen Nase seinen Gürtel berührte. Er kam heftiger als im letzten halben Jahr und sah für einen Moment lang bunte Sterne vor seinen Augen tanzen. Er warf den Kopf zurück und stöhnte tief und animalisch, von sich aus den Blickkontakt brechend.

Adam ließ Bastian wieder los, als dieser kurz seinen Oberschenkel antippte und gab ihm Raum, wieder zu Atem zu kommen, bevor er das Kondom von Adam abzog und ihn mit einem mitgebrachten Tuch sanft säuberte. Er hauchte einen letzten, neckischen Kuss auf Adams empfindlichen Schwanz, bevor er ihn sacht wieder in die Hose steckte und den Reißverschluss schloss. 

Glücklich grinste Bastian und sah zu Adam hoch, während seine Finger die Spuren seiner eindeutigen Lust versiert in dem Kondom verknoteten. „Sonst noch einen Wunsch. Was ist mit dem?“, deutete er auf Hölzer, dessen Angst zurückkroch bei den Worten. Adam lachte. 
„Grundsätzlich schon, aber sicherlich nicht hier und jetzt. Dafür ist er nicht in Stimmung.“
Bastian schmollte und zuckte mit den Schultern. 
„Ich bin heute den ganzen Tag hier“, sagte er, während er sich erhob und Adam zuzwinkerte. „Falls du meinen Arsch auch noch willst.“

Er wollte Hölzers Arsch, aber das stand auf einem anderen Blatt. 

„Mal sehen“, lächelte Adam lüstern genug um genau die gewünschte Abwehrreaktion in Hölzer hervorzurufen. 
„Du kannst gehen.“ 
Bastian gehorchte mit einem Nicken, warf das benutzte Kondom treffsicher in seinen Mülleimer und warf schwungvoll hinter sich die Tür zu. Adam blieb noch einen Moment lang in dem Sessel sitzen und knöpfte sich dann das Jackett auf. Er erhob sich und ging zu dem knienden Mann, dessen Mimik nichts mehr von ihrem Widerstand und ihrer Gewaltbereitschaft hatte. 

Gut. 

Adam lächelte dunkel und schob seine Finger unter den Halsansatz in das Shirt. 

„Bei unseren künftigen Treffen trägst du das hier. Die oberen zwei Knöpfe sind offen, ich will deine Muskeln sehen. Verstanden?“, fragte er, als hätte er gerade nicht den intensivsten Orgasmus der jüngeren Adam-Geschichte gehabt und Hölzer war anscheinend zur Salzsäule erstarrt. 

„Hast du mich verstanden?“, wiederholte Adam deswegen langsam und eindringlich und schlussendlich nickte der kniende Mann. 
„Ja“, presste er hervor und Adam nickte anerkennend. 
„Braver Junge.“ Er löste seine Finger von dem weichen Stoff und trat zurück. „Du bleibst noch 54 Minuten hier knien, dann kannst du gehen. Und denk daran, jeder deiner Schritte wird überwacht. Ich bekomme mit, wenn du Dummheiten planst oder machst.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Adam sich um und verließ sein Büro, Hölzer in den versierten Händen Vincents wissend. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 2: Vierundfünfzig Minuten

Notes:

Einen wunderbaren Abend euch allen,
vielen herzlichen Dank für die lieben Kommentare, Kudos und generell euer Interesse an dem ersten Teil! Freut mich sehr und so ;) Hier nun der zweite Teil und wie immer wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Triggerwarnungen für diesen Teil: Androhung von Gewalt, Erwähnung von sexueller Nötigung, Erpressung, ein destruktives Machtgefüge

Chapter Text

 

Vierundfünfzig Minuten. 

Sobald Adam seine Weisung erteilt hatte, hatte Vincent den Timer seiner Uhr gut sichtbar auf 54 Minuten gestellt. Keine Sekunde würde er überziehen oder zu wenig abrechnen, dafür war die Verlässlichkeit, die sie im Gegenzug zur Erpressung boten, zu wichtig. Die neue Verknüpfung sollte sehen, dass das, was sie versprachen, auch Bestand hatte, ob es Versprechungen oder Drohungen waren. 

Vincent schlug entspannt die Beine übereinander und nahm sich die Akte des vor ihm knienden Mannes vor um Minuten voller Stille und Unsicherheit verstreichen zu lassen und um zu sehen, ob der Polizist auch gehorchte, wenn Adam nicht mit im Raum war. Ob er seine Worte ernst nahm. Bisher sah es so aus und wenig überraschend war die Anspannung des Mannes beinahe greifbar. Alles andere hätte Vincent auch stark gewundert, insbesondere nach Bastians Auftritt. 

Darüber würde er noch mit Adam sprechen müssen, aber das war ein Gedanke für später, nicht für jetzt. 

Jetzt konzentrierte er sich auf ihren Neuzugang. Leo Hölzer, 35 Jahre alt, gebürtig aus Saarbrücken. Nach dem Abitur für ein paar Jahre ins Ausland gegangen, Australien, Neuseeland, Amerika, Island. Nichts Wildes, Vincent vermutete eine durch Work-and-Travel finanzierte Weltreise. Nach zwei Jahren war er nach Deutschland zurückgekehrt und hatte in Berlin sein Polizeistudium angefangen und mit Bravour beendet. Eine saubere, gute Karriere, deren einzige, dunkle Stelle der tätliche Angriff auf den Vater seines Freundes gewesen war. Es könnte Nothilfe sein und damit verjährt, aber je nach Richterin oder Richter war es das eben nicht. Genau konnte man das nicht sagen und das wusste auch der Polizist, der schlussendlich begreifen würde, wie eng die Leine war, die um seinen Hals lag. 

Und da hatten er und sein Team die Familie des Mannes noch nicht einmal betrachtet, mit der dieser so eng verbunden schien, dass er für sie nach Saarbrücken zurückgekehrt war. Die Fotos in seiner Wohnung hatten Bände gesprochen und waren Zeugnisse eines Mannes, der sich mit Freundschaften zwar zurückhielt, aber für seine Familie alles tun würde. 

Vincent schätzte ein gutes Druckmittel mehr als die Gier der Menschen.  

Beides war auf seine eigene Art und Weise berechenbar, aber ersteres war verlässlicher und programmierbarer. So unterschiedlich Menschen auch waren, so eins waren sie sich in ihren Reaktionen auf Extremsituationen.  

Erst kam der Unglauben, das nicht Wahr-Haben-Wollen von Tatsachen. Dann kam die Angst, brutal und überschwemmend. Dann, nach einer Machtdemonstration kam die Kooperation oder wie der Patriarch der Familie sagte, die Unterwerfung unter das Recht des Stärkeren. Irgendwann würde das Geflecht aus Drohungen, Kontrolle und Aufträgen zur Normalität werden und sich nahtlos in das Leben der Verknüpfung einfügen. 

Leo Hölzer war nicht der Einzige gewesen, der Widerstand geleistet hatte, natürlich nicht. Er würde auch nicht der Einzige sein, der seinen Widerstand schlussendlich aufgeben würde.

Zwanzig Minuten ließ Vincent den Mann knien ohne das Wort an ihn zu richten. Den ersten Test hatte er bestanden, also kamen er zur Phase zwei ihres bislang hochwirksamen Systems. 

„Leo Hölzer“, begann er und der vor ihm kniende Mann zuckte deutlich zusammen. Er würdigte Vincent keines Blickes, ein Ausweichen der Demütigung. Ein Nichteingestehen des Machtgefälles, ein Wegsehen und Ignorieren von Tatsachen. Es war ein frühkindlich erlerntes Verhalten. Wenn man nicht hinsah, sah einen das Monster nicht. 
Wie falsch diese Annahme war, erlebten die meisten Erwachsenen noch während der Pubertät, wenn nicht sogar davor. 

Deutlich stand dem Polizisten der Schmerz der erzwungenen Haltung ins Gesicht und auf den Körper geschrieben. 

„Geboren am zehnten August 1987, aufgewachsen hier in St. Johann. Mutter Babsi Hölzer, geborene Mühlberger, Vater Georg Hölzer. Eine ältere Schwester, Caro Hölzer. Im Bezirk Mitte auf die Ganztagsgrundschule St. Arnual gegangen, anschließend auf das Otto-Hahn-Gymnasium. Abitur in der Regelzeit, danach zwei Jahre Ausland. Erst Australien ein halbes Jahr, dann Neuseeland mit dem gleichen Zeitraum, Amerika ebenfalls sechs Monate und zum Schluss Island. Anschließend kam die Rückkehr nach Deutschland, wo du ein Jahr später deine Einstellungszusage als Polizeikommissaranwärter erhalten hast. Bislang eine steile Karriere bis zur A12, vor neun Monaten nach Saarbrücken zurückgekehrt, in die Mordkommission. Das Team, das du leitest, besteht aus Pia Heinrich und Esther Baumann. Aufklärungsquote nahezu bei hundert Prozent. Deine Hobbys sind Wandern, Lesen, Streamen, Reisen, ein guter Wein hier und dort. Du bevorzugst Männer und frequentierst in unregelmäßigen Abständen das Le chat noir, das Babylon und das Indeed. Keine feste Partnerschaft, keine Kinder, keine sonstigen Verpflichtungen. Grindr-Profil, über das du regelmäßig datest, ansonsten keine Dating-Apps oder Ähnliches. Saubere Social Media-Profile.“

Vincent beendete seinen Monolog und verschränkte seine Arme mit einem bewusst nonchalanten und langsamen Ausatmen vor sich und kreuzte die Hände über der Aktenmappe. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit der grünen Augen. Das ungeteilte Entsetzen. Die ungeteilte Fassungslosigkeit. 

„Kurz und gut, wir wissen alles über dich. Wir kennen deine Gewohnheiten und dein Leben. Es ist also nicht empfehlenswert, uns nicht das zu geben, was wir wollen und nicht das zu tun, was wir dir auftragen. Umso schneller du begreifst, dass dieser Aspekt deines Lebens nun unter unserer Kontrolle steht, desto weniger Arbeit ist es für uns und desto weniger Schmerz bedeutet es für dich und deine Familie. Eine Interessensabwägung also.“

Wie oft Vincent diesen Satz bereits gesagt hatte, nachdem Adam die Vorarbeit geliefert hatte, konnte er schon nicht mehr an zwei Händen abzählen. Es war immer das Gleiche, aber immer hoch effektiv. 

Er sah Leo Hölzers Widerstand ebenso wie den aller anderen vor ihm brechen und nickte knapp. 

„Gut, kommen wir also zu unserem weiteren Vorgehen. Einmal im Monat wirst du dich mit Adam und mir oder einem von uns treffen. Das sind die regelmäßigen Treffen, in denen es darum geht, dass du uns einen Zwischenstand zu all deinen Ermittlungen gibst. Wir wollen umfassend informiert werden und würden es sehr begrüßen, wenn du nichts auslässt.“ Vincent hielt ernst den Blick des Polizisten, um zu zeigen, dass diese Treffen kein Spaß werden würden und dass er nicht versuchen sollte, ihnen etwas zu verheimlichen. 

„Darüber hinaus wird es spontane Treffen geben. Adam oder ich werden dich über dein Handy kontaktieren. Sollte es sich dabei um eine Frage oder einen Anruf handeln, hast du innerhalb kurzer Zeit zu reagieren. Wird ein Treffen mit dir ausgemacht, sind alle anderen Verabredungen abzusagen. Die Treffen mit Adam oder mir oder uns beiden hat ab heute absolute Priorität in deinem Leben.“

Das würde nicht oft vorkommen, aber es war wichtig, das zu erwähnen. Es verschärfte den Aspekt der Kontrolle auch noch und hielt Adams Vater von weiteren Schritten ab. 

Ihre neue Verknüpfung zog es vor zu schweigen und Vincent wusste, dass hinter diesem Schweigen soviel mehr steckte als der Bruch im Verhalten. Leo Hölzer war niemand, der einfach aufgab und so war er sich sicher, dass noch viel Arbeit auf sie zukam. Beharrliche, konstante Arbeit und engmaschige Kontrolle. 

„Hast du noch Fragen?“ Der Wechsel ins Du gehörte im Übrigen auch dazu. Somit wurde beinahe augenblicklich eine pseudo-intime Atmosphäre der Über- und Unterordnung geschaffen. Im Privaten bevorzugte Vincent es anders. 

Leo Hölzer reagierte nicht auf seine Frage. Tatsächlich, einer, der non-verbal seine Wut ausdrückte. Einer, der sie solange kochte, bis sie überkochte. 

Vincent seufzte innerlich. „Ich erwarte von dir ein Ja oder Nein. Auch in zukünftigen Gesprächen“, wies er streng auf seine Regeln hin und der Polizist vor ihm presste ein raues „Nein.“ zwischen seinen Zähnen hervor.

Es war gut, auch wenn Vincents Bauchgefühl ihm sagte, dass es Probleme geben würde. Er konnte den Finger nicht genau darauf legen, warum, aber er ahnte es. 


~~**~~


Leo kam exakt bis zur Stadtgrenze, als er an den Straßenrand fahren musste und aus dem Wagen stolperte. Er stürzte zum schottrigen, müllbedeckten Streifen, bevor er sich in das angrenzende Gebüsch übergab und sein Frühstück hustend und würgend loswurde. Wieder und wieder übergab er sich und als sein Magen nichts mehr hatte, was er erbrechen konnte, war es Magensäure, die hochkam. Als selbst die nicht mehr vorhanden war, würgte und hustete er trocken.

Alles, was er über Schürk und das Syndikat seines Vaters gehört oder gelesen hatte, war nichts im Vergleich zu dem realen Abbild des Mannes, das er heute kennengelernt hatte. Schürk war nicht schmierig. Schürk war ein Psychopath. Er war der Sohn seines Vaters, ruchlos, gnadenlos, ein Verbrecher von klein auf, dazu herangezüchtet, sich dem Gesetz zu widersetzen. Er war ein Monster, das sich an Erpressung und Missbrauch aufgeilte. Wie krank musste man sein, um…

Leo würgte erneut, als er daran dachte, wie er Schürk dabei hatte ansehen müssen, als dieser junge Mann ihn befriedigt hatte. Als wäre es das Normalste der Welt. Schürks Kommentare waren eindeutig und Leo zitterte vor Angst, aber auch vor Erleichterung, dass Schürk sich ihm nicht auch noch aufgezwungen hatte. Noch nicht. Mit Sicherheit würde das kommen – nach seinen Worten. Mit Sicherheit. 

Normalerweise würde Leo jetzt die Kollegen rufen, eine Aussage machen, dafür sorgen, dass Schürk für eine lange Zeit in den Knast kam, doch das konnte er nicht. Nicht, wenn er sich und seine Familie nicht gefährden wollte. 

Wie konnte der Mann so einfach so viel gegen ihn in der Hand haben, wie konnte er ihn mit einem Fingerstreich erpressen? Woher wusste er das mit Matthias? Woher? Leo war doch so vorsichtig gewesen, all die Jahre. Er hatte sein kleines, schmutziges, schlimmes Geheimnis mit niemandem geteilt, noch nicht einmal mit seiner Familie. Nur ein Tagebucheintrag, der für sich alleine genommen harmlos schien…

Und nun? 

Leo wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wollte nicht ins Gefängnis und wie Schürk es so treffend festgestellt hatte, würde er im Gefängnis kein gutes Leben haben. Die anderen Insassen hassten Bullen und er würde sich nicht gegen alles verteidigen können. Die Drohung schwebte wie ein Damoklesschwert über ihm und Leo wollte schreien, um den Druck in seiner Brust loszuwerden, der sich kontinuierlich aufbaute. 
Aber war er hier denn soviel sicherer? Schürk hatte ihm sehr deutlich gemacht, was er von ihm wollte und Leos Angst vor Schürks Interesse an ihm war ebenso brachial wie die Angst vor einer Gefängnisstrafe. 

Der Mann im Rock hatte ihm das weitere Vorgehen mitgeteilt, was Leo erniedrigt und gedemütigt über sich hatte ergehen lassen. Regelmäßige und außerplanmäßige Treffen, ein stetiges Zurverfügungstehen für die beiden Männer, mindestens einmal monatlich. Wie konnte er das durchstehen? Wie sollte es weitergehen mit ihm und seinen Ermittlungen, wenn es da jemanden gab, der ihn lenkte, der über alles informiert werden wollte? Führte er seinen eigenen Beruf nicht ad absurdum, wenn er Informationen an einen Verbrecher lieferte?

Die Antwort war ja und es war eine fürchterliche Erkenntnis. Sie trieb Leo die Tränen in die Augen. 

Er würde erwischt werden, dessen war er sich sicher. Pia und Esther waren nicht dumm, sie würden merken, wenn etwas nicht gut lief. Sie würden merken, wenn Informationen durchsickerten. 

Nein, darüber durfte Leo jetzt nicht nachdenken, denn ansonsten konnte er die haltlose Panik in seinem Inneren nicht in Schach halten, die ihn bei dem Gedanken daran überfiel. Er hatte unbändige Angst, dass Schürk ihn ausliefern würde, wenn er mit ihm fertig war. Entgegen dem, was sein Handlanger Leo in quälend langen 54 Minuten mitgeteilt hatte. Was von ihm erwartet wurde, was die Spielregeln waren, dass er sich daran zu halten hatte, was passieren würde, wenn nicht. 

Sachlich, ruhig, streng.

Leo würgte erneut. 

Das war ein ausgeklügeltes System und nichts, was sie sich gerade erst ausgedacht hatten. Was hatte Schürk gesagt, er hatte verschiedene Vertreter der Polizei, Staatsanwaltschaft, Richterschaft und Justiz unter seiner Kontrolle? Wie sollte Leo denn da herausfinden, wer alles nicht auf seiner Seite stand? Wie konnte er sich sicher sein, dass seine Informationen nicht bei jemandem landeten, der sie sofort an Schürk weitertragen würde. 

Leo starrte blind auf die ekelhafte Masse im Gebüsch vor sich. 

Schürk hatte ihn. Er…hatte keine Wahl. Er hatte akut keine Wahl in dem, was er tun konnte. Wenn er seine Familie nicht gefährden wollte. Wenn er sich selbst nicht gefährden wollte. 

So also hatte das Syndikat also jahrelang machen können, was sie wollten. So also hatten sie den ganzen Ring aus organisierter Kriminalität auf- und ausbauen können. Indem die richtigen Personen wegsahen. Indem die richtigen Personen Angst hatten. 

Leo schluckte. Er war auch eine dieser richtigen Personen. Auch er hatte nun Angst. 


~~**~~


„Wie hat er sich verhalten?“

Vincent wartete, bis Adams Kaffeevollautomat unter lautem Getöse die Bohnen gemahlen und ihm dann zusätzlich noch die Milch aufgeschäumt hatte. Dass das der Ungeduld in Person an seiner Seite nicht passte, spürte Vincent nur zu deutlich, aber da musste Adam jetzt durch. Befand Vincent. Er wollte seinen Milchkaffee und der war eher da gewesen als Adams Frage. 
Eben jener stellte ihm nun auch schon den Zucker hin und ließ den Löffel mit der richtigen Menge wie ein Damoklesschwert über seiner Tasse schweben, noch bevor die Maschine fertig war. 

Innerlich seufzend ließ Vincent Adam gewähren und nahm brav den schließlich umgerührten Kaffee an sich und drehte sich zu Adam, dessen blaue Augen viel zu interessiert für eine neue Verknüpfung waren. 

Verknüpfungen…so nannten sie die Beamtinnen und Beamten, die sie bestachen oder erpressten. Es war zum Himmel schreiend euphemistisch, aber notwendig, denn dahinter steckten Menschen. Vincent persönlich benötigte diese Trennung. Er musste sich sachlich vor Augen halten, was vor dem Gesetz keine Sekunde als Entschuldigung standhalten würde. 

Dass nun eine neue Verknüpfung hinzugekommen war, änderte das Gefüge und Vincent hatte bereits seine Unterlagen entsprechend angepasst um die Wege zu optimieren und den Beamten in ihr Schema hineinzubringen. Das schloss Beobachtungen im Privaten und auf der Dienststelle mit ein und würde sie insbesondere am Anfang einen erhöhten Geldmittelansatz kosten. Aber es war wichtig um gleich zu Beginn zu verhindern, dass einer wie Hölzer aus dem Ruder lief. 

„Er ist verzweifelt“, sagte und dachte Vincent nicht zum ersten Mal. Am Anfang waren sie das alle und so schmerzhaft der Prozess war, so sehr wurde er nach Wochen…Monaten…zur Normalität. Sie brachten Informationen, sie sabotierten das eine oder andere und dafür blieben ihre schmutzigen Geheimnisse ihre eigenen schmutzigen Geheimnisse. 

Die, die sich bestechen ließen…die standen auf einem anderen Blatt. Sie waren einfacher zu händeln, gieriger, weniger verzweifelt. Bei ihnen musste man nicht mit einem erheblichen Fingerspitzengefühl herangehen wie bei den Erpressten. 

„Wie alle anderen auch“, bestätigte Adam seine Gedanken und Vincent kehrte in die vor ihm stehende Realität zurück.
„Dass du dir vor ihm von Bastian einen blasen lässt, wäre nicht notwendig gewesen“, sagte Vincent mit der Kaffeetasse an seinen Lippen und hielt dem unerfreuten Zucken in Adams rechtem Augenlid stand. Kritik war etwas, das der blonde Mann nicht gut aufnahm und was er vorsichtig platzieren musste. 

„Es hat ihn verunsichert und über das normale Maß hinaus verängstigt.“
Adam winkte ab. „Er ist nur ein Bulle, mach dir da keine Sorgen“, erwiderte er lapidar und Vincent hörte die menschenverachtende Erziehung seines Vaters aus jeder Silbe tropfen. In allererster Linie war ihr Neuzugang ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, die es in all der Gewalt, die sie ihm aufzwangen, auch zu beachten galt. In die Ecke getriebene Menschen taten dumme Dinge. Dumme Dinge führten zu unkontrollierbarem Chaos. Unkontrollierbares Chaos führte zum Tod. 

Vincent ließ Adam nonverbal erkennen, was er von dessen Aussage hielt und trank einen weiteren Schluck Kaffee. 

„Du solltest für die Zukunft davon absehen, ihm den Eindruck zu vermitteln, ihn gegen seinen Willen zu sexuellen Dienstleistungen zwingen zu wollen“, sagte er ernst und Adam rollte mit seinen Augen. 
„Aber er ist heiß.“
„Und?“
„Nichts und.“
„Nur, weil er dich körperlich anspricht, heißt das nicht, dass du ihn dazu zwingen musst, dir beim Orgasmus zuzusehen.“ 

Erst nach und nach lenkte Adam nonverbal ein und Vincent bedauerte innerlich die Jahre der schlimmen Erziehung durch Adams Familie, die ihm viel Gewalt, aber wenig Werte mitgegeben hatten. Dass Adams Wertekanon dadurch völlig verschoben war, hatte Vincent schon vor langer Zeit erkannt und versuchte nun jeden Tag dagegen an zu arbeiten. Er machte Fortschritte, winzige, aber gegen mehr als dreißig Jahre kam er nicht so schnell an. 

Nicht in den fünf Jahren, in denen sie nun schon befreundet waren und zusammenarbeiteten. 

„Ich habe ihn ja nicht dazu gezwungen, mir dabei zuzusehen. Er sollte mir in die Augen sehen.“

Bedeutungsschwanger hob Vincent beide Augenbrauen und fuhr sich mit der freien Hand durch die widerspenstigen Locken. „Haarspalterei, Adam. Er hat dir in deine Augen sehen müssen, während Bastian dich sehr engagiert, sehr laut und sehr intensiv oral befriedigt hat. Du hast ihn knien lassen, wie Bastian auch. Was denkst du denn, macht sein Verstand aus einer solchen Situation?“

„Seine Lippen würden sich wirklich gut um meinen Sch….“
Vincent grollte – so weit es ihm möglich war. Er war nie gut in derartig animalischen Lauten gewesen. „Denk nicht mal dran, Adam“, sagte er streng. „Er ist eine Verknüpfung und dabei ist es egal, wie er aussieht und wie ansprechend du ihn findest. Er hat eine Aufgabe und die muss er erfüllen. Mach mir bitte meine Arbeit nicht doppelt schwer, indem du ihn über das normale Maß hinaus ängstigst. Er ist ab sofort der asexuellste und unattraktivste Mensch, den du dir vorstellen solltest.“

Adam knirschte sichtbar mit den Zähnen und sah zur Seite. Da war sie wieder, die Kritik, mit der er nicht umgehen konnte, weil sie ihm sonst auf andere Art und Weise dargereicht wurde. Er drehte sich wortlos um und ging ins Arbeitszimmer, was soviel war wie ein Adam‘sches Zugeständnis. 

 
~~**~~


Es dauerte vierzehn Tage, bis Leo eine Nachricht von einer unbekannten Nummer bekam, die nach kurzer Recherche sicherlich nicht Schürk gehörte, sondern einem Strohmann ohne eigene Identität. Blind starrte Leo auf die Liste, die großflächig auf seinem Bildschirm zu sehen war und klickte sie erst abrupt weg, als Pia zurück ins Büro kam und ihn aufmerksam musterte. 

„Alles klar?“, fragte sie und er nickte schweigend. Noch konnte er sich auf die Nachwehen seines Magen-Darm-Infektes zurückziehen, den er erfunden hatte um sich an dem und den folgenden drei Tagen nach dem Treffen mit Schürk krank zu melden. Beide hatten ihm das geglaubt und seine Abwesenheit durch ihre eigene Arbeit abgefangen. Leo war Pia und Esther dankbar darum und hatte er schließlich geschafft, sich zumindest soweit aus seiner Angststarre zu lösen, dass er wieder zur Arbeit kommen konnte. 

Die Frage, ob sie vielleicht auch mit drinhingen, wurde er jedoch nicht mehr los. Es trieb ihn so sehr um, dass er seitdem nicht mehr wirklich durchschlief, die Nächte geprägt von quälenden Fragen und Unsicherheiten. Wie oft hatte Leo in den letzten vierzehn Tagen versucht, einen Weg hieraus zu finden? Wie oft war er Methode um Methode durchgegangen, hatte seine Strafrechtskommentare durchgewälzt. Wie oft hatte er beschlossen, sich zu stellen und es sofort wieder verworfen. 

Er war feige, immer noch. Er konnte es nicht, vermutlich würde er es sogar nie können, sich zu stellen und seine Familie diesem Monster auszuliefern. 

„Alles gut“, erwiderte er mit einem gezwungenen Lächeln und sie hob die Augenbraue. 
„Wir gehen heute Abend was trinken. Kommst du mit?“
Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte Leo den Kopf, in seinen Gedanken der Text der Nachricht wie ein Leuchtfeuer. Die Warnungen des Handlangers wie Worte, die sich in seine Gehörgänge gebrannt hatten. „Nein, ich habe schon etwas vor. Bin verabredet.“

Nichts konnte ferner der Wahrheit liegen und nichts konnte ihm mehr Magenschmerzen bereiten. Er hatte Angst vor dem, was heute kam. Er hatte Angst vor dem, was Schürk ihm antun würde. Die Nachricht war während seiner Schicht gekommen, also musste er vorher noch einmal nach Hause um sich umzuziehen. Weil ihm noch nicht einmal erlaubt war, sich nach seinen Wünschen zu kleiden. 

Nein, Schürk wollte ihn komplett unter seiner Kontrolle haben. 

„Das klingt aber nicht nach einer guten Verabredung“, hörte Pia natürlich die verdammten Zwischennuancen heraus und Leo schüttelte den Kopf. Nachdem er wegen seines Besuches bei Schürk mehr schlecht als recht gelogen hatte, war er in ihren besonderen Fokus geraten, wie es schien. Mehr als einmal spürte er ihre nachdenklichen Blicke auf sich. 
„Geht. Ist nicht mein Lieblingszeitvertreib, aber geht.“ Was für eine Lüge das doch war.
Sie hob die Augenbraue und zuckte dann mit den Schultern. „Wenn‘s scheiße läuft, ruf an oder komm vorbei. Wir treffen uns im Schiff.“

Leo nickte. Wenn Schürk ihn vergewaltigt hatte, würde er mit Sicherheit keine Lust mehr auf ein Bier haben. 

Der Gedanke ließ sein spärliches Frühstück hochkommen und Leo erhob sich ruckartig. „Entschuldige mich bitte“, presste er hervor und war aus ihrem Büro verschwunden noch bevor sie etwas entgegnen konnte. Er übergab sich – nicht zum ersten Mal die letzten beiden Wochen und würde es wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal tun. Essen bei sich zu behalten, daran war immer noch nicht zu denken.

Als er wieder in ihr Büro kam, war Pia bereits verschwunden. Leo nutzte die Einsamkeit, um sich mit einem Blick auf die Ermittlungsakten auf das zu konzentrieren, was er in seinem Studium und seinen Einsätzen vorher gelernt hatte. Er verinnerlichte sich das, wofür er stand, auch wenn er sich die letzten Tage nicht mehr wirklich im Spiegel angesehen hatte. 
Er würde jetzt nach Hause fahren und sich umziehen. Dann würde er zu der Adresse fahren, die ihm gegeben worden war und auf das reagieren, was kommen mochte.

Eine andere Option blieb ihm sowieso nicht.  


~~**~~


Leo klingelte fünf Minuten vor der Zeit bei der angegebenen Adresse und zuckte zusammen, als er Türsummer am Eingang des neugebauten Gebäudes ertönte. Mit zitternden Händen drückte er gegen die Tür und stand für die ersten paar Sekunden wie erstarrt in dem luxuriösen Treppenhaus. Er musste sich schließlich dazu zwingen, Stufe für Stufe nach oben zu steigen, seinem Verderben entgegen zu gehen. Er trug das Shirt, die Knöpfe offen und hatte sich zusätzlich für einen dicken Mantel entschieden, weil ihm durch und durch kalt war. 

Innerlich kalt, auch abseits des Winters. 

Schürks Wohnung befand sich im dritten Stock, stellte er fest, als sein Handlanger ihm die Tür öffnete und ihn mit ruhigem Nicken hineinbat. 

„Zieh deine Jacke und deine Schuhe aus“, sagte der Mann mit seiner unpassend weichen Stimme und Leo folgte zögernd dem Befehl. Schürk und er waren schon bei dem ersten Treffen dazu übergegangen, ihn zu duzen, als wären sie lange Jahre bekannt. Er verstand, dass es ein weiteres Symbol des ungleichen Machtverhältnisses war und es kratzte an seiner Selbstbeherrschung. Leo schauderte und widerstand dem Drang, sich über die Arme zu reiben.

„Komm mit.“

Leos Herz schlug viel zu schnell und seine Hände waren viel zu klamm, als er dem anderen Mann in das folgte, was anscheinend der Wohnraum war und mitnichten etwas damit zu tun hatte, was Leo von Schürk erwartet hatte. Das hier war ein normaler Raum, normal eingerichtet, normale Möbel. Vielleicht hätte Leo es als schön bezeichnet, wenn Schürk nicht auf der Couch sitzen und mit seinem Handy spielen würde. Sein Handlanger ohne Namen maß Leo mit einem warnenden Blick und verließ dann das Wohnzimmer, schloss die Tür hinter sich. 

Er war alleine mit dem Mann, der seinen Machtanspruch über Leo sehr deutlich gemacht hatte.

Leo rührte sich nicht von der Stelle und Schürk dachte nicht daran, ihn wahrzunehmen. Stehen war besser als knien, befand er und erlaubte sich einen Ermittlerblick auf das vor ihm liegende Zimmer. Wie immer, wenn er sich unsicher fühlte, flüchtete Leo sich in seine Ermittlerpersönlichkeit, denn nur durch Informationen erlangte er Gewissheit. Er musste wissen, was kam, er musste Indizien und Beweise sammeln. 

Ein raumhohes Regal voller Bücher und Kunstgegenstände. Weiße Teppiche, eine weiße Couch, ein überdimensionales Bild moderner Kunst an der gegenüberliegenden Wand. Alles wirkte durchgestylt und damit aber auch irgendwie seelenlos. So wie der Mann, der diese Wohnung bewohnte. Im Hintergrund lief leise Jazzmusik und Leo wusste jetzt schon, dass sie im bigotten Gegensatz zu dem stand, was ihm angetan werden würde. 

Vorhänge verbargen den Blick auf die direkte Nachbarschaft und ließen nur einen bedingten Blick nach draußen zu. 

Schürk beendete das, was er an seinem Smartphone getan hatte, und kaum, dass sich die durchdringenden, blauen Augen auf ihn richteten, wünschte Leo sich, er hätte weiterhin auf das kleine Gerät gestarrt und Schürk würde sich jetzt nicht erheben und zu ihm kommen, ihn wie ein Stück Beute mustern. 

Der blonde Mann streckte die Hand in seine Richtung aus und Leo zuckte zusammen, als hätte der andere Mann ihn bereits jetzt schon verbrannt. Instinktiv trat er einen Schritt zurück und die ausdruckslose Ruhe in Schürks Augen wurde dunkler, unfreundlicher. Er runzelte die Stirn.

„Was genau an unserer letzten Begegnung hat dir den Eindruck verschafft, als würde es dir zustehen, dich mir zu entziehen?“, fragte Schürk lauernd und Leo fing sich. Denk an deine Familie. Denk an das, was du getan hast. Denk an das, was kommen wird, wenn du nicht gehorchst, sagte er sich, immer und immer wieder. 
„Nichts“, erwiderte er mit trockenem Mund und blieb stehen, als Schürk die Knopfleiste seines Oberteils mit seinen langen Fingern berührte. 
„Steht dir.“

Leo wandte den Blick ab und fixierte sich auf die Blumenvase auf dem Esszimmertisch, solange Schürk ihm so nahe war und er dessen Körperwärme quasi spüren konnte und dessen Geruch sich so aufdringlich wie der Mann selbst auch in seine Nase schlängelte. Wie denn auch nicht, denn wieder trug er nur einen Anzug mit nichts darunter. 

„Sind die Ranunkeln interessanter als ich?“, fragte Schürk viel zu amüsiert. 
„Sie fassen mich nicht gegen meinen Willen an so wie Sie es tun, Herr Schürk“, sagte Leo ernst und erntete ein Lachen. 
„Aufsässiger Widerstand, wie schön.“
Wut gab Leo die Kraft, Schürk direkt ins Gesicht zu sehen, obwohl er mitnichten im Fokus dieser Augen sein wollte. „Nein, das ist die bittere Wahrheit, die es nicht schön zu reden gilt.“
Schürk brummte anerkennend, ein in Leos Ohren verächtlicher Laut. „Bitter ist hier gar nichts“, sagte er mit einem Vollkörperblick, bevor er einen Schritt zurücktrat und knapp zum Esstisch nickte. „Hinsetzen.“

Leo folgte seiner Anweisung und seine Instinkte schrien auf, als der Mann, der ihn gerade mit Blicken ausgezogen hatte, hinter ihm stehen blieb. Er konnte Schürks bedrohliche Präsenz deutlich fühlen und zwang sich mit aller Macht dazu, sich nicht umzudrehen, auch wenn alles Anerlernte in ihm auf etwas Anderes bestand. 

Schürk war eine Bedrohung, für ihn, seinen Körper, sein Leben. Leo sollte ihn nicht aus den Augen lassen, aber genau das beabsichtigte Schürk ja. Er atmete ihm wortwörtlich in den Nacken, er dominierte ihn, indem er ihm aufzwang, sich von ihm abwenden zu müssen. Darauf vertrauen zu müssen, dass er nicht hinterrücks ermordet wurde.

Das Geräusch der sich öffnenden Wohnzimmertür machte es da auch nicht besser und mit Schrecken sah Leo, wie der Handlanger sich mit einer Akte ihm gegenübersetzte. Verbotene Verhör- und Einschüchterungstaktik, nichts Anderes war das, Nötigung im eigentlichen Sinn. Das passte zu dem Mann hinter ihm, zu dem unberechenbaren Psychopathen mit seinen verfluchten Regeln. 

„Also, Herr Kriminalhauptkommissar, ab zum Rapport“, schnarrte die viel zu weiche Stimme direkt an seinem Ohr und Leo schauderte vor Unwohlsein. 
„Was wollen Sie wissen?“, fragte er, nicht aus seiner Ermittlerrolle herauskommend, die ihm in diesem Moment genug Halt gab, um nicht in Panik auszubrechen oder sich wieder einmal zu übergeben. Auch wenn Letzteres sicherlich nützlich war, um es den beiden Männern zu verleiden, über ihn herzufallen.

„Woran du gerade arbeitest“, erwiderte Schürk langsam und schleppend genug, um Leo die Drohung in seinen Worten hören zu lassen. Alles in ihm lief Sturm gegen diese Drohung, denn nichts war wichtiger, als eine Ermittlung zu schützen. Details preiszugeben war eine Katastrophe, es war das, was ihnen immer und immer wieder eingebläut worden war. Es gefährdete den Ermittlungserfolg, es konnte dazu führen, dass Täterinnen oder Täter entkamen. 

„Es gab einen Mord“, soufflierte der Mann, der vor ihm saß, weitaus neutraler und ließ das Ende des Satzes so offen, dass Leo einsteigen konnte, wenn er denn die Kraft dazu hatte und wenn er alles, was er seinem Dienstherrn geschworen hatte, mit den Füßen treten wollte. 

Musste, denn eine Wahl hatte er nicht. 

„Ein Mann, Mitte zwanzig. Er wurde erst gefoltert, dann hat man ihn erwürgt.“
Das anerkennende Brummen an seinem Ohr ließ Leo vor Ekel schaudern. Die Vase mit den Ranunkeln - wie er nun wusste - war erneut sein Ankerpunkt, an dem er sich festhalten konnte. 
„Wie heißt er?“ 
Sie hatten den Namen noch nicht einmal der Presse weitergegeben um nach sachdienlichen Hinweisen zu fragen. „Mirko Linz“, presste Leo hervor und es fühlte sich wie Verrat an.
„Und weiter?“
„Das reine Heroin, welches bei ihm gefunden wurde, legt den Verdacht nahe, dass es sich bei ihm um einen Dealer handelte.“ Einen Dealer, der für die Männer arbeitete, die ihn befragten. Oder der ihnen bekannt war. 
„Vorstrafen?“
„Drogenbesitz und –handel.“

Der Mann vor ihm machte sich in einer ordentlichen Handschrift Notizen. Ob zu dem Fall oder zu ihm, das wusste Leo nicht. Ansonsten verfolgte er stumm Schürks Verhör.

„Wie wurde er misshandelt?“
„Schläge in die Magengegend, an die Schläfe, gebrochene Finger an beiden Händen, ein verstauchter Knöchel.“ Von sexueller Gewalt keine Spur, doch das würde Leo mit keinem Wort erwähnen. 
„Wer ist der Täter?“
„Sagen Sie es mir“, erwiderte Leo, bevor er sich davon abhalten konnte. Dass er jetzt, zu diesem Zeitpunkt in die Fänge des Mannes hinter ihm geriet, war kein Zufall. Mitnichten war es einer und mit Sicherheit hing der blonde Mann mit drin, wenn er nicht sogar der Mörder war. 

Einer wie Schürk schreckte mit Sicherheit nicht davor zurück. 

Die Stille, die seinen Worten folgte, war schwer aushaltbar. Wenn er den Mut gehabt hätte, sich umzudrehen oder dem Mann mit den braunen Locken ins Gesicht zu sehen, hätte er vermutlich ihre Reaktion ablesen können. So…wartete er im Blindflug, was sie ihm für seinen Widerstand antaten.

„Leg deine linke Hand auf den Tisch“, sagte Schürk so leise hinter ihm, dass Leo es beinahe überhört hätte. Der Ton ließ keinen Widerspruch zu und zögerlich gehorchte Leo. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und ließ sein Herz schneller schlagen. 
„Schön die Finger spreizen“, sagte Schürk und er löste die zur Faust geballte Hand. 

Leo hätte gerne gesagt, dass seine Finger entspannt auf dem kühlen, lackierten Holz lagen, doch dem war nicht so. Seine Hand zitterte. Er zitterte, denn ihm war just in diesem Moment bewusst geworden, was Schürk tun würde. Das Opfer hatte gebrochene Finger, an jeder Hand zwei. Mittelfinger und Zeigefinger. Wenn Schürk tatsächlich der Mörder war oder den Mord in Auftrag gegeben hatte, würde er auch nicht zögern, ihm Gleiches anzutun. 

Als Strafe oder Warnung. 

„Vincent, hol mir eines der Küchenmesser“, befahl er ruhig und der Mann, der nun einen Namen hatte, erhob sich schweigend und ging in einen Raum, der hinter Leos Rücken lag. 
Panisch hob und senkte sich sein Brustkorb. Küchenmesser. Vielleicht würde auch Schlimmeres passieren. Schürk war ein Psychopath, der vor nichts zurückschreckte. 

Und bei all dem, was jetzt auf ihn wartete, würde es nichts bringen zu flehen, das wusste Leo. Jemand wie Schürk würde dadurch nur angespornt werden. Und dennoch wusste Leo nicht, ob er es stumm ertragen können würde. Gewalt war ihm nicht fremd, ebenso wie Schmerzen nicht, aber hier zu sitzen und auszuharren, dass Schürk ihm die Finger brach oder Schlimmeres…

Als der andere Mann zurückkehrte und Schürk das Messer gab, schlug Leos Herz so schnell, dass das Blut in seinen Ohren rauschte. 
Schürk nahm es auf und die Spitze der Klinge tauchte am Rand von Leos Blickfeld auf, eine brachiale Bedrohung. 

Er hatte auch ein solches Küchenmesser zuhause. Die gleiche Marke. 

„Deinen Worten entnehme ich, dass ich weiß, wer den Mann umgebracht hat“, raunte Schürk. „Deinen Worten entnehme ich auch, dass vielleicht sogar ich es war, der ihn vor seinem Tod gefoltert hat. Ihm die Finger gebrochen habe, ihn geschlagen oder getreten habe. Korrekt soweit?“
Was brachte es denn zu lügen oder zu flehen? „Korrekt“, presste Leo rau hervor. Schürk würde sowieso tun, was er wollte.
„Korrekt“, wiederholte Schürk nachdenklich, mit einer Frage dahinter, die Leo nicht wirklich verstand. Er zuckte ganzkörperlich zusammen, als das Messer mit einem trennscharfen Geräusch auf dem Tisch aufkam und sich keine zwei Sekunden später Schürks Hand auf seine legte. 

„Sieh hin, Leo Hölzer“, murmelte Schürk und mit größter Anstrengung wandte Leo seinen Blick von den Ranunkeln ab, hin zu Schürks langen, schmalen Fingern, die seine Hand komplett bedeckten. Zu seinen langen Fingern, die nun so sanft und so hauchzart über Leos zitternde Hand strichen, dass er das Gefühl hatte, von eben jenen verbrannt zu werden. 
Jeder einzelne Finger wurde von Schürk liebkost und doch spürte Leo nur die Drohung, die von ihm ausging, insbesondere jetzt, da der blonde Mann ihrer beider Hände miteinander verschränkte und Leo die Wärme des Mannes in seiner kalten Hand fühlen konnte. 

Schürk führte seine Hand zu dem Messer und er legte ihrer beider Hände darum.

„Ich frage dich noch einmal, Kriminalhauptkommissar Hölzer, ist es möglich, dass diese Finger das Opfer umgebracht haben?“
Leo wusste, dass die von ihm erwartete Antwort nein lautete. Leo wusste, dass er lügen musste, dass er sich unterordnen musste. Wieder war seine eigene Integrität schneller als sein Überlebensinstinkt und er schloss die Augen, wollte nicht sehen, was seinen Worten folgen würde. 

„Mittels einer DNA-Analyse ließe sich das feststellen“, sagte er rau und es amüsierte Schürk deutlich. 
„Wenn es DNA-Spuren am Tatort gäbe außer denjenigen des Opfers.“
Das war korrekt. Sie hatten nur die des toten Mannes gefunden. 
„Was nur ein Täter wissen kann“, sagte der Ermittler in ihm selbstzerstörerisch und Schürk zuckte mit den Schultern, eine Bewegung, die sich bis in ihrer beider verbundenen Hände zog. „Oder eben jemand, der nicht nur einen Ermittler des LKA kontrolliert“, konterte er und führte Leos Hand weg von dem Messer und hin zu seiner…Nase. 

Mit großen Augen sah Leo zu, wie Schürk an seinem Handgelenk roch und schlussendlich eben jenes zu seinem Ohr führte. Die Position war nicht angenehm für Leo, aber es war besser, als wenn Schürk ihm die Finger brechen würde. Weitaus besser. 

„Mir gefällt dein Puls. So schön schnell und gleichmäßig. So schön…lebendig.“ 

Schürk ließ seine Hand los und Leo zog sie abrupt zu sich, barg sie in seiner anderen Hand, in der fahlen Hoffnung, dass er mit einem blauen Auge – in diesem Fall mit einem kribbelnden Handgelenk – davon gekommen war. 
 
Schürks Anzug raschelte leise, als er sich zu ihm beugte und sein Atem erneut über Leos Ohr strich. 

„Dein Puls macht mir Lust auf etwas Anderes… wie wäre es mit einem Glas Wein?“, fragte er mit einem solch abrupten und bigotten Themenumschwung, dass Leo einen Augenblick lang geglaubt hatte, nicht richtig zu hören. Sich verhört zu haben. Zeuge irgendeines Codewortes geworden zu sein, dass sich ausschließlich an seinen Handlanger – Vincent – richtete. Doch nein. 

Schürk erwartete eine Antwort von ihm. 

„Ich trinke nicht“, sagte Leo viel zu schnell um ehrlich zu sein und Schürk lachte sein kaltes, ätzendes und gefährliches Lachen. 
„Lügner“, sagte er und beugte sich zu ihm hinunter, ließ Leo wenig Wahl als ihm seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. „Rotwein, trocken, am Liebsten Merlot. Weißwein, trocken, Gewürztraminer.“

Leos Herz setzte einen Moment aus, als er die selbstverständlichen Worte vernahm. Natürlich, wie wusste er auch nicht davon? Sie waren schließlich in seiner Wohnung gewesen, rief er sich ins Gedächtnis. Aber davon auf seine Vorlieben für Wein zu schließen, war doch nicht möglich. Oder? Anscheinend schon, denn beide Weine waren richtig. 

„Und wenn du mit den Kollegen ausgehst, gerne auch mal ein Bier“, schloss Schürk mit falscher Sanftheit. „Glaube ja nicht, ich wüsste über dich nicht Bescheid, Leo Hölzer. Glaube ja nicht, du könntest mich anlügen.“ Und wie die Worte eine Warnung waren, die Leo nicht ignorieren sollte. Hatte ihm der Handlanger nicht genau das Gleiche gesagt? Dass sie wussten, wer er war?

Die Frage war, wenn er Schürk nicht anlügen konnte, wie stand es dann um die Wahrheit? Nachdem er dem Messer nur knapp entkommen war, würde Schürk da einen weiteren Widerstand gelten lassen? Leos Herz schlug immer noch schmerzhaft schnell und er wünschte sich nichts mehr, als dass er einen Anhaltspunkt für die Reaktion des anderen Mannes erhalten konnte. Doch da war nichts, was ihm als Beweis dienen konnte. 

Nichts, außer diesen blauen Augen, die ihn nicht aus ihrem Fokus ließen und darauf warteten, dass er einen Fehler machte. 

„Dann lassen Sie es mich umformulieren, Herr Schürk“, sagte schlussendlich der Ermittler in ihm, der gradlinig genug war, sein Schicksal erneut herauszufordern. „Ich möchte mit Ihnen nichts trinken. Keinen Wein, kein Bier. Ich bin hier, weil Sie es verlangen und weil Sie mich erpressen, nicht aus freien Stücken.“ Wut mischte sich unter seine Angst und er hätte dem anderen Mann am Liebsten das anerkennende Lächeln aus dem kantigen Gesicht geschlagen. 

„Vincent?“
„Ja?“
„Haben wir noch etwas für unseren Neuzugang?“
„Momentan nicht.“
Schürk brummte und griff erneut zu dem Messer. Leo fuhr zusammen und sah die Freude darüber in dem kantigen Gesicht. 
„Dann schmeiß ihn raus, ich gehe mich um andere Dinge kümmern. Vielleicht einen Mord begehen, wer weiß? Heute ist schließlich Dienstag.“

Er grinste zynisch und wandte sich um als wäre es vollkommene Normalität. Fassungslos starrte Leo ihm hinterher, wie er mit dem Messer spielend das Zimmer verließ.
„Steh auf und folge mir“, sagte der lockige Mann und Leo ließ sich das nicht zweimal sagen. Garantiert nicht. Auf zittrigen Beinen folgte er dem anderen Mann in den Flur hinein und hatte seine Schuhe so schnell angezogen wie noch nie zuvor. Für seinen Mantel brauchte er zwei Anläufe und zog ihn noch in der Wohnung bis oben hin zu, das weiße Oberteil auch vor seinen eigenen Blicken verbergend. 

„Geh“, erhielt er den erlösenden Befehl und flüchtete geradewegs auf der Wohnung. Er konnte gehen, unversehrt. Nicht…missbraucht. 

~Seid ihr noch im Schiff?~, schrieb Leo mit zittrigen Fingern an Pia, sobald er Schürks Straße hinter sich gelassen hatte und es dauerte keine zehn Sekunden, da hatte er ein Smiley-bewehrtes ~Ja!~. 
~Ich komme auch.~

Das, was er brauchte, war in der Tat ein Bier mit seinen Kolleginnen. Mit Menschen, die ihm nicht in den Nacken atmeten oder die ihn nicht zwangen…
Leo schluckte die bittere Magensäure hinunter, die seine Speiseröhre emporstieg. Er musste etwas tun, um Schürks Handlungen etwas Positives entgegen zu setzen, denn sonst würde er untergehen. Das hatte er in der Vergangenheit gelernt. Seine Strategie war immer noch die Gleiche, aber die Mechanismen waren andere. Wo er sich früher in seine Traumwelt geflüchtet hatte, suchte er heute den Kontakt zur realen Welt. 

In der Hoffnung, dass die Beiden oder eine von Beiden nicht auch für Schürk arbeitete.
 

~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 3: Die 80 Organismen auf Faultieren

Notes:

Einen wunderbaren guten Morgen,

auch hier gibt's zeitlich etwas vorgezogen den neuen Teil. Die Hauptstadt ruft und dem kann ich mich leider nicht entziehen 😉

Vielen Dank euch allen für die schönen Kommentare, die Kudos, die Klicks, das Interesse und co!

Viel Spaß euch beim neuen Teil!

Chapter Text

„Schau mal, Leo“, merkte Pia stirnrunzelnd an und er tauchte aus seinen weit entfernten Gedanken wieder auf um sich auf sie und das Bild, was sie ihm entgegenhielt, zu konzentrieren.

„Was ist das?“

„Die Armbanduhr, die der Tote an seinem Handgelenk getragen hat. Irgendein altes Ding, nicht der Rede wert eigentlich, wäre da nicht die Gravur auf der Rückseite.“

Leo nahm das Bild an und betrachtete die feine, beinahe unleserliche Gravur, die um die Weltkugel herum lief.

 

Elias Schiller, der weltbeste Vorleser und Mopperer. In Liebe, dein rotziges Miststück. 

 

„Unser Opfer heißt nicht Elias.“

Pia nickte und der Zug um ihren Mund war zu ernst, als dass sie nicht schon weitergeforscht hatte und dabei auf etwas Wichtiges gestoßen war.

„Das nicht, aber ich habe den Namen durch unsere Datenbank laufen lassen. Elias Schiller wurde vor fünfzehn Jahren in Saarbrücken umgebracht, der Mörder oder die Mörderin konnte nie ermittelt werden.“ Sie hob vielsagend die Augenbraue und Leo nahm das Foto noch einmal genauer in Augenschein.

Warum hatte ihr Toter die Armbanduhr eines lange verstorbenen Mannes, eines cold cases?„Kannten die Beiden sich, ist das möglich?“„Wissen wir noch nicht, bisher scheint es aber nicht so. Vor fünfzehn Jahren war unser jetziges Opfer noch nicht hier gewesen.“

„Dann überprüf bitte, ob Schiller noch Familie oder Freunde hat, die wir befragen können.“

Pia nickte und ihre Augen leuchteten. „Vielleicht bringt uns das eine Spur zum Mörder von Mirko Linz.“

Wenn man Leo fragte, so hatte er eine sehr dezidierte Ahnung, wer der Mörder des Dealers war. Wenn nicht Schürk, dann jemand aus seinem Umfeld. Der Handlanger vielleicht? Möglich. Irgendjemand aus dem Syndikat. Doch alle Spuren, die sie verfolgten, führten ins Leere. Alle Zeuginnen und Zeugen, die sie befragten, wussten von nichts, konnten sich an nichts erinnern oder es war ihnen egal. Selbst Clarissa Müller, die Freundin des Opfers, wusste von nichts, konnte sich an nichts erinnern und hatte für den Tatzeitraum sowieso einen Filmriss, weil sie sich mit Freundinnen so betrunken hatte, dass sie erst am nächsten Morgen zu sich gekommen war.

Diese Gleichgültigkeit kannte Leo nur aus Berlin und hier war es für ihn ein Zeichen dafür, dass das Syndikat seine erpresserischen Finger im Spiel hatte.

Wie er aus eigener Erfahrung wusste.

Weder Schürk noch Vincent hatten sich bei ihm gemeldet und wenn es nach dem Stundenplan ging, den er erhalten hatte, war das nächste Treffen auch erst wieder in drei Wochen. Leo fürchtete sich jetzt schon davor und sein Unterbewusstsein suchte deswegen bereits jetzt dankbar jeden Horror heraus, den es finden konnte.

Jede Nacht erlebte er, wie er den Vater seines damaligen Freundes ins Koma geschlagen hatte. Jede Nacht erlebte er, wie er Matthias vor dem jähzornigen Sadisten rettete, ihre Beziehung schließlich in die Brüche ging und er schlussendlich die Nachricht bekam, dass dieser im Wrack seines verunfallten Wagens verbrannt war.

Bei lebendigem Leib.

Leo ging wieder früh um vier joggen, eine Angewohnheit, die Caro ihm mühevoll ausgetrieben hatte. Quer durch Saarbrücken, seinen Gedanken, Erinnerungen und Taten davon. Er aß morgens nicht, weil er keinen Hunger hatte und das Essen im schlimmsten Fall wieder von sich gab. Dafür mittags aber doppelt zulangte, solange, bis ihm schlecht war.

„Erde an Leo?“

Blinzelnd tauchte er aus seinen Überlegungen wieder auf und lächelte knapp. „Ja, vielleicht“, bestätigte er Pias Worte und sie musterte ihn kritisch.

„Ja vielleicht? Wer bist du und was hast du mit Leo gemacht?“, fragte sie und mühevoll schluckte er. War es so offensichtlich, dass er unter Schürks Kontrolle stand? Sie hatten doch vollkommen normal ermittelt, er hatte doch nichts gemacht, er…

„Normalerweise kommt jetzt ein „Warum nicht schon längst“ und jetzt? „Ja vielleicht“. Man Leo, was ist das, der kommende Winterschlaf?“

Leo schnaubte und es war ehrlich gemeint. Er war erleichtert und amüsiert.

„Ja, vermutlich der.“

„Okay, dann leg du dich mal dahinten auf unsere Couch, ich kümmere mich um Elias Schiller und seine Uhr.“

Leo nickte und warf tatsächlich sehnsüchtig einen Blick zu den durchgesessenen, aber weichen Polstern. Die Müdigkeit steckte ihm tief in den Knochen, aber er würde mitnichten vor seinem Team schlafen und schreiend aus seinen Träumen aufwachen.

 

~~**~~

 

Adam hatte Vincent vorsorglich nach Hause geschickt, bevor er seinen Plan für den heutigen Abend in die Tat umsetzte. Er wusste, was seine rechte Hand dazu sagen würde, dass er von ihrem bisherigen Schema abwich, wollte die Einwände aber momentan nicht hören. Schließlich gab es nach ihrem Schema auch außerplanmäßige Treffen und dieses war einfach eines davon. Ohne Vincent, nur Hölzer und er. Das sollte auch möglich sein.

In der vergangenen Woche hatte er verstärkt das Überwachungssystem aus Hölzers Wohnung angeschaltet und dem anderen Mann dabei zugesehen, wie dieser sein Leben lebte, abseits von den Drohungen, abseits von Angst und Unterwerfung. Er hatte festgestellt, dass er neugierig war auf den Mann, der es gleich bei ihrem zweiten Treffen mehrfach geschafft hatte, ihn zu überraschen durch seine ruhige und verbindliche Art. Adam war sich nicht sicher, ob da immer noch Widerstand in dem Mann war oder ob dieser von Natur aus seine verbindliche und manchmal selbstzerstörerische Art nicht ablegen konnte.

Er wollte das austesten, ganz in Ruhe und in aller Einsamkeit.

Außerdem hatte er Lust, einen Film zu sehen.

Es gab sicherlich Personen, die dazu besser geeignet wären als Hölzer, aber deren Reaktionen wollte Adam ja auch nicht sehen. Hölzers Mimik und Gestik in unbeobachteten Momenten interessierte ihn. Dann, wenn der Mann nach einer halben Stunde nicht mehr damit rechnete, beobachtet zu werden und sich nicht so zementiert aufführte wie vor zwei Wochen. Er hatte Angst gehabt, was gut sichtbar gewesen war. Aber das brachte Adam nicht weiter. Angst war ein Motivator, aber kein dauerhaftes Motiv. Angst konnte überwunden werden.

Doch was schlummerte unter der dauerhaften Angst? Wer war der Mann, der in seiner Jugend jemanden ins Koma geprügelt hatte um ihn vor seinem gewalttätigen Vater zu schützen?

Adam war interessiert und stellte sich mit beißender Selbstironie nicht zum ersten Mal, seit er Hölzers dunkle Vergangenheit kannte, die Frage, wie es wohl gewesen wäre, wenn die Dreckssau plötzlich weggewesen wäre und keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, seine Wut an Adam auszulassen.

Ein spannender Gedanke, aber nutzlos. Die Dreckssau war immer noch da, kerngesund und quietschfidel, die Hand immer noch so versiert wie früher. Mit einer mittlerweile größeren Ansammlung an Gürteln, Gürtelschnallen, Rohrstöcken. Das, was man eben brauchte um die aufsässige Brut zu züchtigen.

Er zuckte mit den Schultern, passend zu Hölzers Klingeln und betätigte den Türsummer. Der Mann, der nun hochkam und durch ihren minimalen Größenunterschied zu ihm aufsehen musste, war wie beim letzten Mal auf alles gefasst und angespannt. Er erwartete wieder das Schlimmste.

Adam hatte über Vincents Worte nochmals nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass das Klischee, dass ein offen schwuler Krimineller einem offen schwulen Polizisten sexuelle Gewalt antun musste, durchaus seine Berechtigung haben könnte. Wenn man sich denn dafür erwärmen konnte, sich anderen aufzuzwingen.

Adam gehörte bei aller Erpressung nicht dazu. Er würde es aber nicht kommentieren, um Vincent keine Probleme in seinem Plan zu bereiten, Hölzer bei der Stange zu halten. Im Gegenteil, er würde weiterhin seinen Teil dazu beitragen, was gar nicht mal so schwierig war, wenn man die letzten beiden Treffen bedachte.

Schweigend nickte Adam ihn in die Wohnung und warf die Tür mit Schwung hinter ihm zu. „Schuhe und Jacke aus“, warf er über die Schulter zurück und ging ins Wohnzimmer, wo er bereits Wasser und Gläser auf den Tisch gestellt hatte.

„Setz dich auf die Couch“, sagte Adam, als er merkte, dass Hölzer keine Anstalten machte, sich aus dem Flur wegzubewegen und warf einen anerkennenden Blick auf die Chino und das weiße Henleyshirt, was dieser halb aufgeknöpft trug. Braver Junge. Nicht so zugeknöpft wie am Anfang, so mochte Adam das. Gehorsam. So ebenfalls.

Dabei war Hölzer gar nicht so zurückhaltend, wenn er auf Männersuche ging. Er frequentierte zwar aus Mangel an Örtlichkeiten drei Clubs, diese dafür im Wechsel und regelmäßig. Eine feste Beziehung hatte er nicht und Adam fragte sich, woran das lag. Andererseits hatte er selbst keine feste Beziehung und gute Gründe dafür. Der Dreckssau stand dabei an erster Stelle. Eine Schwuchtel als Sohn? Eine Schande. Eine Schwuchtel, die es auch noch wagte, monogam zu leben? Niemals. Da sollte der Spross sich lieber in alle Ärsche Saarbrückens ficken.

Adam beobachtete den angespannten Mann dabei, wie dieser sich langsam wie eine Statue am entferntesten Rand der Couch niederließ.

Auf seinem Platz.

Adam hätte dazu schweigen können. Er hätte nichts sagen können. Aber wo bliebe da sein Vorrecht und seine Aufgabe, Hölzer klein zu halten? „Du sitzt auf meinem Platz. Weg da, ans andere Ende mit dir.“

In den grünen Augen stand eindeutig Mord, als Hölzer sich erneut mit stur geradeaus gerichteten Blick erhob und die Seite wechselte. Adam belohnte das mit einem überheblichen Grinsen, als er es sich in seiner Kuhle bequem machte.

„Sieh mich an.“

Es brauchte wie beim letzten Mal auch etwas, bis Hölzer dieser Aufforderung Folge leistete und als er es tat, warf Adam ihm die Fernbedienung seines Fernsehers zu. Mit geübter Präzision, die unter Unsicherheit hervorblitzte, fing Hölzer sie auf.

„Du suchst aus“, sagte er und deutete auf den Bildschirm, auf dem Hölzers Netflix-Profil bereits aufgerufen war. Natürlich hatte Vincent alle Passwörter sichergestellt. Wie immer.

Der andere Mann starrte ihn an, als hätte er Mandarin gesprochen. „Was soll ich aussuchen?“

Adam fläzte sich bequem auf seinem Platz, ohne zunächst auf die Nachfrage einzugehen. Auch das war ein Vorteil von Anzügen. Weite Stoffhosen, die nicht so einengten wie Jeans. Wunderbar, nur übertroffen von Jogginghosen. Aber die trug er nur, wenn die Dreckssau es wirklich gut gemeint hatte mit ihm und seinem Körper.

Hölzer sprach also nur dann mit ihm, wenn es absolut unvermeidbar war. Ansonsten bestand sein Widerstand darin, stumm zu sein und zu ertragen, was Adam tat.

„Einen Film“, sagte er selbstverständlich und machte damit Hölzers Verwirrung nicht geringer. Im Gegenteil.

"Was für einen Film?“, fragte er und Adam zuckte mit den Schultern.

„Was du gucken willst. Ist schließlich dein Profil.“

Hölzers Augen zuckten zu seinem Bildschirm und die Kiefermuskulatur arbeitete, als Hölzer verstand, was er dort sah. Welche Kontrolle Adam über ihn ausübte.

„Ich möchte keinen Film mit Ihnen sehen, Herr Schürk“, kam der Widerstand nur zu vorhersehbar und Adam gestand Hölzer diesen für die ersten Sekunden ein. 

„Gutes Thema… das Siezen endet jetzt, Leo“, lächelte Adam dann grausam und genoss das Muskelspiel in dem bärtigen Gesicht, das auf Widerstand und Missbilligung hindeutete. Hölzer presste seine Lippen aufeinander, sichtlich nicht damit einverstanden, seinen Schutz aus sprachlicher Distanz aufgeben zu müssen.

„Klar soweit?“, hakte er nach, als nichts kam und Hölzer nickte. Schweigend, wie vorher auch.

„Antworte“, schob Adam nach, wenig erfreut, dass sich ihm auf diese billige Art und Weise entzogen wurde.

„Es ist klar“, formulierte Hölzer wie ein Papagei.

„Es ist klar, was?“ Wenn sie schon beim Du waren, wollte Adam auch sehen, ob Hölzer den Mut hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. Er wollte sehen, wie sich sein Name aus dem Mund des Polizisten anhörte, der sich nicht mehr hinter seinem formellen „Herrn Schürk“ verstecken konnte.

Zunächst einmal war Hölzer jedoch verwirrt, bis er begriff, was Adam von ihm wollte.

Ein köstlicher Moment voller Schrecken.

„Es ist klar, Adam“, presste er hervor, so schnell, dass es beinahe untergegangen wäre. Und dennoch hörte Adam den Hass in der Stimme des anderen Mannes nur zu gut. Die Abscheu vor ihm. Sehr gut, also wirkte ihr System.

„Gut. Also, kommen wir zu dem Film zurück. Ich erlaube dir, dir auszusuchen, was du sehen willst.“

Ein Sinnbild von Arroganz und Dominanz war das. Hölzer, der eigentlich keinen Film sehen wollte – nicht mit ihm – durfte sich nun freimütig, wie Adam war, einen aussuchen. Vincent wäre stolz auf ihn. Wenn Hölzer jedoch die Fernbedienung nicht bald losließ, würde er sie in zwei saubere Teile brechen, befand Adam und dann wäre es vorbei mit Film schauen...auch eine Möglichkeit, sich dem zu entziehen.

Doch als die Spannung ihren nonverbalen Höhepunkt erreichte, entspannte Hölzer sich willentlich.

„Ist das ein pervertiertes Date? Zwingen Sie…“, Hölzer schloss gepeinigt die Augen und entkrampfte seine Finger von der Fernbedienung. „…zwingst du mich danach zum Geschlechtsverkehr?“, fragte er rau und diese Frage kratzte so sehr an Adams Grundgedanken seines eigenen Seins und seiner mühsam behaltenen Werte, dass er im ersten Moment mehr als wütend über die Frage war. Dann kamen ihm erneut Vincents Worte ins Gedächtnis und er löste sich gerade soweit aus seiner Perspektive, dass er erkannte, wie das auf Hölzer wirken musste, was er hier tat. Selbst wenn er hier nur auf der Couch saß, weit entfernt von dem anderen Mann.

Adam lächelte grausam, ein Unding in dieser Situation. Das wusste er, wollte er aber auch provozieren. Schließlich musste er von seinem Schema abweichen und gleichzeitig verhindern, dass Hölzer durch seine Versicherung auf dumme Gedanken kam.  

„Sieh mir in die Augen, Leo“, sagte er mit der Drohung falscher Sanftheit und zögernd folgte der Ermittler seiner Anweisung. Da stand Angst in dem ebenmäßigen Gesicht, viel davon. Das Wissen, etwas Falsches und doch Notwendiges gefragt zu haben. Die schwache Hoffnung, keine positive Antwort zu erhalten. Er kannte diese Art von Fragen, hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Adam hielt den Blick und ließ sein Lächeln graduell abklingen.  

„Ich werde dir meinen Schwanz zu keiner Zeit in irgendeine deiner Körperöffnungen schieben, es sei denn, du willst es. Ich werde niemandem anweisen, dir Schwänze irgendwo reinzustecken. Und bevor du fragst… gleiches werde ich mit deinem Schwanz ebenso wenig mit meinen Körperöffnungen tun. Vergewaltigung ist nicht mein Ding und du tust gut daran, dir diese Scheiße ein für alle Mal aus deinem Hirn zu streichen, Leo.“

Eben jener schluckte schwer und versuchte angestrengt, den Wahrheitsgehalt in seinen Worten zu finden. Nach dem Kampf, den Adam in dem bärtigen Gesicht lesen konnte, war es schwierig, ihm zu glauben. Ihm, der keine leeren Versprechungen machte. Ihm, der immer sein Wort hielt.

„Verstanden?“, hakte Adam deswegen mit ruhiger Wut nach, als Hölzer nicht reagierte und wieder nickte der andere Mann stumm. Das genügte nicht.

„Sag es laut.“

„V…verstanden.“ Von Überzeugung keine Spur, aber das würde kommen.

„Und nochmal. Du sollst dir einen Film aussuchen und diesen ansehen. Also mach endlich, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit“, schnarrte Adam ungnädig und Hölzers Augen huschten erneut zum Fernseher.

Es war zuviel für ihn, das sah Adam ganz deutlich und das war gut. So blieb Hölzer auf zack, was seine Position anging. Er wurde nicht träge. Er gewöhnte sich nicht an die Sicherheit des Netzes aus Erpressung und Nötigung.

Hölzer entschied sich schließlich für einen Dokumentarfilm, der anscheinend neutral genug war, um ihn in seiner Gegenwart zu sehen. Es war ein nichtssagendes Ding von Hölzers Watchlist, nichts, was auf persönliche Vorlieben schließen ließ.

Als wenn diese noch verborgen geblieben waren, nachdem Vincent Hölzers Wohnung und sein Smartphone auf rechts gedreht hatten.

Wichtig war das aber nicht, denn Adams Prämisse war nicht der Film gewesen, sondern der Mann, der verkrampft und wie zur Salzsäule erstarrt am anderen Ende der Couch saß, die Fernbedienung wie einen Rettungsanker oder eine Waffe in der Hand und die Augen angestrengt zum Bildschirm gerichtet. Er atmete bemüht ruhig und gab sich größte Mühe, Adam zu ignorieren…mit mäßigem Erfolg. Auch wenn er ihn nicht direkt ansah, so war sein gesamtes Sein auf Adam ausgerichtet und was dieser als Nächsten tun würde.

Adam beobachtete Hölzers Verhalten und ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, wie Hölzer wohl war, wenn er entspannt wäre. Wenn er seinen Körper gemütlich auf der Couch zusammenfalten und den Film wirklich genießen würde.

Wie war einer wie Hölzer, wenn er Vertrauen gefasst hatte und sich an jemanden anlehnte?

Hier und jetzt genügte Adams kurzes Anstupsen mit dem Fuß und Hölzer zuckte so gewaltig zusammen, dass die Bewegung auch noch bei Adam spürbar war. Noch während er sich das amüsierte Schnauben nicht verkneifen konnte, war Hölzer aufgesprungen und starrte mit wildem Blick auf ihn hinunter, der Griff instinktiv an seine nicht vorhandene Waffe. Es dauerte etwas, bevor er sich bewusst wurde, was er gerade getan hatte und sein Instinkt ihm mitteilte, wo er sich befand und warum er hier saß.

Faszinierend, wie schnell Hölzer die Kontrolle über seinen Geist und Körper zurückerlangte.

„Schenk mir Wasser ein“, deutete Adam auf die Karaffe und die Gläser, einen Moment lang der alleinige Herrscher über die Bedeutung seiner Worte. Erst nach ein paar Sekunden erkannte Hölzer, was von ihm verlangt wurde und er presste seine Lippen aufeinander um seine anscheinend deplatzierte Antwort hinunter zu schlucken. Er fügte sich, warf die Fernbedienung auf die Couch und goss Wasser in eines der beiden Gläser.

„Na komm, bring es mir“, lockte Adam mit einem dunklen Lächeln und labte sich an dem Zorn, der nur zu deutlich in den grünen, hellen Augen stand. Als Hölzer ihm das Wasser reichte, hielt er dessen Handgelenk fest und ertastete den schnell dahinfliegenden Puls. Vor Wut? Mit Sicherheit. Er war versucht, erneut an der weichen Haut zu riechen, doch Adam war sich sicher, dass das zuviel für den angespannten Mann sein würde. Zumal Adam damit seine vorherige Worten zum Teil ad absurdum führen würde.

Knapp nickte Adam zu der Karaffe und dem zweiten Glas. „Schenk dir selbst auch was ein, ich will, dass du was trinkst.“

Im ersten Moment sah Hölzer so aus, als würde er sich verweigern wollen, im zweiten löste er sich mit einem Ruck aus Adams Griff und füllte das noch leere Glas zur Hälfte. Mechanisch führte er es an seine Lippen und trank ebenso roboterhaft.

„Recht so?“, fragte Leo und der zynische Unterton gefiel Adam mehr als dass es ihm lieb war.

„Sag du es mir, hast du noch Durst?“, entgegnete er lächelnd und traf auf nonverbalen Unmut.

„Nein.“

„Braver Junge. Gut gemacht.“

Hölzer knirschte mit den Zähnen und Adam erlaubte es ihm, sich wieder dem Dokumentarfilm zu widmen, dem Adam nun wirklich nicht Spannendes abgewinnen konnte. Er hatte in Hölzers Liste noch andere Filme gesehen, bessere. Mehr Action. Mehr Kampf Gut gegen Böse. Mehr Unrealismus als Elefanten, die sich durch die Wildnis schlugen und auf der Suche nach Tümpeln waren oder der Information, dass auf einem Faultier achtzig weitere Organismen lebten.

„Sowas siehst du dir an?“, fragte Adam, als der Abspann durchgelaufen war und seine Frage wurde zunächst mit Nichtachtung und Schweigen bestraft. Entspannt lehnte er sich zurück. Was würde er doch für die Gedanken geben, die hinter Stirn schlimme Dinge dachten. Über ihn und sein Verhalten. Die sich Szenarien ausmalten, die in ihrer Monstrosität ganz alleine für sich sprachen und für Adam arbeiteten.

Als Hölzer sich ihm schließlich zuwandte, war der unerfreute Zug um seinen Mund deutlich sichtbar.

„Weißt du das nicht schon längst? Wie alles Andere auch?“, fragte er wütend und Adam lächelte.

„Klar weiß ich das, aber ich weiß nicht, warum.“

„Und das ist wichtig, weil…“

„…dich das nichts angeht“, vollendete Adam arrogant Hölzers Satz und verdammte diesen zu erneutem Schweigen, der aufkommende Schlafabtausch gestorben, noch bevor er in die zweite Runde gehen konnte.

Hölzer nahm es schweigend zur Kenntnis und Adam fragte sich, noch während die Mimik des anderen Mannes von gepeinigt auf ausdruckslos wechselte, wie Hölzer wohl aussah, wenn er lächelte.

„Was bringt dich zum Lächeln?“, fragte er dem Gedanken folgend wider besseren Wissens und für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte Hölzer sich eine ehrliche, ungefilterte Reaktion, die sich auch auf seinem Gesicht wiederspiegelte. Erstaunen, gefolgt von Zorn.

„Nicht erpresst zu werden. Deiner Gegenwart nicht ausgesetzt zu sein“, bekam Adam die Antwort, die er in Hölzers Augen vermutlich verdiente, und Adam erhob sich mit einem dunklen Grinsen. Da war sie wieder, die Angst vor der eigenen Courage. Die Angst, dass seine ehrlichen, unüberlegten Worte etwas Schlimmes angerichtet hatten.

Wäre er die Dreckssau, hätte er Hölzer jetzt leiden lassen. Aber Adam hatte Anstand und ein Gewissen. Beides war verbesserungswürdig, zumindest, wenn man Vincent fragte, aber es war da.

„Dann wird es eine sehr harte Zeit für dich werden“, zuckte Adam mit den Schultern und schob die Hände in die Taschen seiner Stoffhose. Er sah auf Hölzer herunter, der durch seine sitzende Position die perfekte Höhe hatte um in einem unangenehmen Winkel zu ihm hochstarren zu müssen. „Lachfalten sind deutlich attraktiver als Zornesfalten.“

Arschloch stand in großen Lettern in Hölzers Gesicht, doch keine Silbe verließ seine Lippen. Er lernte und das schnell.

„Geh“, befahl Adam knapp und gab vor, die Erleichterung in Hölzers Gesicht nicht gesehen zu haben, als dieser fluchtartig von der Couch und aus seiner Wohnung floh.

 

~~**~~

 

Leo starrte auf seine zur Faust geballte Hand, die das weiße Shirt so fest umschloss, dass seine Finger schmerzten. Es war sein Lieblingsshirt…gewesen. Ein Shirt, das er gerne anzog, in dem er sich gut fühlte, das ihn schon Jahre begleitete. Nun war es ein Symbol seiner Unterwerfung, dazu gedacht, ihn zu objektifizieren. Die obersten beiden Knöpfe offen, so, wie er es nie tragen würde. Immer dann zu tragen, wenn er Schürk traf, damit dieser gaffen konnte. Als wäre er ein Kunstobjekt ohne eigenen Willen.

Aber war dem auch nicht so? Er traf seine Entscheidungen nicht mehr selbst, war gläsern, wie Schürk es heute bewiesen hatte. Sein Netflix-Account, eingeloggt, mit seinem Passwort, das niemand kannte.

Niemand bis auf Schürk und sein Handlanger, die seine Wohnung durchsucht hatten. Bis ins kleinste Detail hatten sie ihn sichtbar gemacht, wo er nicht sichtbar sein wollte, hatten sie ihm die Sicherheit geraubt, sein eigener Mensch sein zu können.

Ein Mensch mit Passwörtern, die niemand kannte.

Schürks Aussage, dass er sich ihm nicht aufzwingen würde, hatte Leo zwar mit Erleichterung aufgenommen, aber im Grundsatz war sie bigott. Schürk vergewaltigte ihn nicht körperlich – noch nicht – aber er vergewaltigte seine Privatsphäre, den Raum, in dem Leo sich sicher fühlte. Er vergewaltigte seinen freien Willen, bei jedem der Treffen. Auch wenn es weniger schlimm zu sein schien, es zerrte an Leos Gefühlen, an seiner Seele. Es zerrte an seinem Wunsch, er selbst zu sein.

Das und die nunmehr seit Wochen existierende Angst vor Konsequenzen, vor etwas, das er nicht steuern konnte, waren ein nicht zu bewältigender Berg. Er war dazu verdammt, nichts dagegen tun zu können, außer sein verdammtes Shirt zu waschen, wieder und wieder und wieder, damit es beim nächsten Mal für Schürk frisch war.

Leo schloss die Augen und presste seinen Kiefer so gewaltsam aufeinander, dass er Zahnschmerzen hatte.

„Ich hasse dich“, flüsterte er gepresst in den Waschkeller seines Hauses hinein. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!“ Seine Lippen verzerrten sich vor stummen Zorn, vor Hass auf das Shirt. Beides galt eigentlich dem Mann, der ihm das antat. So unerreichbar Schürk war, so sehr hatte Leo nun das in der Hand, was er mit seinem Shirt machen konnte.

Das er immer wieder gegen die Waschmaschine schlug, als hätte es ein Bewusstsein und würde ihn genauso quälen wie Schürk selbst.

 

~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 4: "Familienglück"

Notes:

Guten Abend ihr Lieben,

vielen lieben Dank euch allen für eure Kommentare hier und auf Tumblr, für eure Kudos, Likes, etc. :3 Freut mich, dass es euch gefällt!

Hier nun der neue Teil. Für diesen gibt es Triggerwarnungen: Homophobie, physische und psychische Gewalt.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Geht es oder benötigen Sie Hilfe?“

Die schmale Mittfünfzigerin mit den schlohweißen Haaren und dem knallroten Lippenstift lächelte dankbar und streckte Pia das Milchkännchen entgegen. Esther erhielt die Tassen, Löffel und die Zuckerdose, während sie selbst sich die frisch aufgebrühte Kaffeethermoskanne auf die Oberschenkel stellte und mit ihr in das großzügige Wohnzimmer des Bungalows rollte. 

„Kommen Sie, kommen Sie“, lockte Frau Schiller sie beide und Pia zuckte angetan mit den Schultern. Nett, formulierte sie stumm und Esther stimmte ihr da zu, auch wenn sie ihr Wohlwollen gut hinter einer Maske der Neutralität zu verstecken wusste. Auf dem Tisch stand bereits eine Dose Kekse, die Frau Schiller mit versierten Fingern öffnete. 

„Schön haben Sie es hier“, merkte Esther an, während sie die Tassen und Löffel verteilte und Frau Schiller mit einem anerkennenden Nicken den Kaffee eingoss. In der Tat war das Haus sehr luxuriös für die Witwe eines Tischlers. 
„Nicht wahr? Das Haus ist auch mein ganzer Stolz und ich hege und pflege es wie meinen eigenen Augapfel. Haben Sie schon einen Blick in meinen Garten geworfen? Der ist zwar durch den Winter etwas trist, aber die bin sehr stolz auf die winterharten Pflanzen.“
Pflichtschuldigst warf Pia einen Blick nach draußen und nickte anerkennend. Wirklich viel verstand sie nicht von Pflanzen, aber es sah hübsch aus dafür, dass es grau und trist draußen war.

„Schön haben Sie’s hier“, kehrte sie zurück zu der Mutter des ermordeten jungen Mannes und setzte sich neben Esther auf die bequeme, tiefe Couch, aus der sie mitnichten würdevoll wieder hochkommen würden.
Alle Versuche, die vor ihnen sitzende Frau davon zu überzeugen, dass sie Polizistinnen waren und somit eine Null-Toleranz-Grenze für Zuwendungen jedweder Art hatten, war an dem freundlichen Lächeln gescheitert, das ihnen unmissverständlich klargemacht hatte, dass zu einem Gespräch immer ein Kaffee gehörte. Egal wo. Egal für wen. Leo würde das nicht gut heißen, aber der war nicht hier, also würden sie beide darüber Schweigen bewahren.    

Esther war die Erste, die mit einem bedeutungsschwangeren Seitenblick auf Pia und einem Lächeln eingelenkt hatte und so hielt nun jede von ihnen ihre eigene Tasse in den Händen. Zugegeben, der Kaffee schmeckte ausgezeichnet und Pia sah in diesem Ausnahmefall über die Statuten des Landeskriminalamtes und über ihre eigene Anpassungspflicht hinweg. 

„Weswegen wollen Sie mich denn sprechen?“, fragte Frau Schiller in die Gedanken hinein und Pia zog den Aktendeckel hervor, den sie zusammengerollt in ihrer Arschtasche mit sich gebracht hatte. Etwas vergeblich versuchte sie den Deckel samt Inhalt zu glätten und reichte Frau Schiller schlussendlich das Bild der Uhr ihres Sohnes. 

„Erkennen Sie diese Uhr?“, fragte sie mit wachsamen Blick auf die Frau, die auf einmal in ihrer Bewegung eingefroren zu sein schien, sobald sie einen Blick auf beide Bilder geworfen hatte. Eigentlich erübrigte sich die Frage, befand Pia und verfolgte den Weg der schmalen Finger, die so zärtlich über die Druckerfarbe strichen, als hielte sie diese Uhr in den Händen. 

„Oh“, sagte die ältere Frau schlicht anstelle einer Antwort und seufzte. „Ja. Ja natürlich kenne ich sie. Sie gehörte meinem Jungen, Elias. Wegen dem sie vermutlich hier sind, oder?“ Frau Schiller sah hoch und in ihren Augen stand ein feiner Tränenfilm. Kein Wunder bei dem Verlust ihres einzigen Sohnes, befand Pia und nickte. 
„Ja, das sind wir. Diese Uhr ist Bestandteil einer weiteren Ermittlung, die ein anderes Mordopfer betrifft.“
Echtes Bedauern kroch über das faltige Gesicht. „Oh. Das tut mir sehr leid. Wer ist denn der- oder diejenige?“
„Aus ermittlungstaktischen Gründen dürfen wir darüber noch keine Informationen geben“, antwortete Esther und Frau Schiller nickte verständnisvoll.  
„Haben Sie mir deswegen auch die Uhr nicht mitgebracht?“
Pia nickte bedauernd. 
„Verstehe.“

„Frau Schiller, diese Uhr hat augenscheinlich Ihrem Sohn gehört. Wissen Sie etwas über die andere Person, die ihm diese geschenkt hat?“
Angestrengt runzelte sie die Stirn und ließ ihren Blick nach draußen schweifen. Es brauchte etwas, bis Esther und Pia eine Antwort erhielten. 
„Es ist solange her, aber ich meine mich daran zu erinnern, dass es einer seiner Freunde gewesen ist, der ihm diese Uhr geschenkt hat. Elias war nur kurz mit ihm zusammen gewesen und ich erinnere mich gar nicht mehr richtig an seinen Namen.“
„Könnten Sie versuchen, sich daran zu erinnern? Oder wie er aussah?“, hakte Esther nach und Frau Schiller seufzte erneut. Sie legte die beiden Blätter auf ihre Oberschenkel ab und bettete ihre Hände darauf, schützend beinahe. 

„Ich meine, dass es so ein dünner, hagerer, junger Mann war. Ein schüchternes Ding, das den Mund nicht aufbekam und Angst vor allem hatte.“
„Sind Sie sich sicher? Die Gravur auf der Uhr scheint auf einen anderen Charakter hinzudeuten.“   
Frau Schiller lächelte zärtlich. „Sollte man meinen, nicht wahr? Aber ich glaube, ich liege richtig. Aber es ist so viele Jahre her und es war soviel Schmerz mit dem Tod meines Sohnes verbunden…zumal der Kontakt zu ihm nach dem…Mord an Elias auch sehr schnell abgebrochen ist. Ich glaube, er hat es selbst kaum verkraftet.“

„Ich weiß, dass unsere Kolleginnen und Kollegen Ihnen vor fünfzehn Jahren bereits Fragen zum Tod Ihres Sohnes gestellt haben, aber mit dem Fund der neuen Leiche ergeben sich neue Indizien, die uns eventuell auch zu dem Mörder Ihres Jungen führen“, erläuterte Esther ruhig und nachsichtig schüttelte Frau Schiller den Kopf. 
„Bitte Frau Baumann, machen Sie mir keine Hoffnung mehr. Mein Elias wurde so brutal aus dem Leben gerissen, dass es meinen Mann ebenfalls das Leben gekostet hat. Er wurde uns so plötzlich genommen, dass es immer noch unbegreiflich ist, wie das passieren konnte. Bitte machen Sie mir keine Hoffnungen mehr, denn die hatte ich die letzten Jahre und wieder und wieder haben Sie mich enttäuscht. Ich bin des Hoffens müde, verstehen Sie das?“

Esther verstand und Pia ebenso. „Hoffnungen werden wir Ihnen nicht machen, Frau Schiller. Aber wir haben Fragen, die uns bei der Aufklärung des jetzigen Falls unterstützen können. Diese können eventuell zur Klärung des Mordes an Ihrem Sohn beitragen. Würden Sie sich bereiterklären, uns dabei zu helfen?“
Aufmerksame, braune Augen musterten sie und Pia spürte instinktiv, dass da noch mehr war. Sie spürte, dass die Frau ihnen gegenüber nicht die volle Wahrheit sagte 
 
„Sie möchten, dass ich Ihnen die Tage rund um den Tod meines Sohnes noch einmal genauer schildere, obwohl sie es alles schon in den Akten haben“, resümierte sie und Pia nickte. 

Es war das erste Mal, dass so etwas wie Wut auf dem faltigen Gesicht zu sehen war. Kurz nur, ein Aufflackern von Emotionen, die schnell wieder unterdrückt wurden. 

„Da war nichts anders als sonst. Das war das Bittere. Elias hatte seinen geregelten Tagesablauf und hat sich mit seinem Freund getroffen. Wie jeden Tag. Dann ist er eines Abends nicht mehr nach Hause gekommen und vier Tage später wurde er gefunden. Erwürgt mit einem Draht, nackt. Keine Spermaspuren oder sonstige Anzeichen von gewaltsamen Eindringen, wie Ihre Kollegen es damals so schön formuliert hatten. Wenigstens das, haben sie gesagt. Wenigstens wurde ihr schwuler Sohn nicht auch noch missbraucht, wenn er schon erwürgt wurde.“

Frau Schiller schnaubte und nun standen ihr die Tränen deutlich in den Augen. Pia runzelte die Stirn. Homophobie war damals ein erhebliches Problem und teilweise war es heute noch Gang und Gebe. Alleine die Sprüche, die Leo manchmal kassierte, waren mehr als grenzwertig. Er ignorierte sie, während Pia und Esther, so sie es denn mitbekamen, dem Sprücheklopfer deutlich zu verstehen gaben, was sie davon hielten. 
„Das war es, was ich dazu sagen kann. Und glauben Sie mir, wenn ich irgendetwas anders hätte machen können, wenn ich irgendwo darauf hätte achten können, ihn zu schützen, ich hätte es getan.“

Das glaubte ihr Pia. Das war vollkommen ehrlich. 

„Darf ich diese Bilder behalten?“, fragte Frau Schiller erstickt und Pia nickte. 
„Natürlich dürfen Sie. Und wenn wir die Beweismittel freigeben dürfen, erhalten Sie auch die Uhr zurück.“
„Das ist sehr lieb, Dankeschön.“ 

Esther und sie tranken ihren Kaffee auf und verabschiedeten sich dann, gingen durch den einsetzenden Schneeregen zu ihrem Dienstwagen zurück. 
„Sie verschweigt uns etwas“, sagte Esther ruhig und Pia brummte bejahend. 
„Die Frage ist was und wer der Freund ihres Jungen war.“

Ja, das war in der Tat eine gute Frage.


~~**~~


Vincent hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass Röcke im Winter nur mit dünnen Strumpfhosen nicht das waren, was sein Bedürfnis nach Wärme und Kälteabwehr befriedigte. Insbesondere dann nicht, wenn er sich mit ihren Verknüpfungen außerhalb von Saarbrücken in einem kleinen Waldstück traf, das zwar mit einer Parkbank aufwartete, diese aber aus kaltem Holz bestand, das zu allem Ungemach auch noch gefroren war.

Der Lernprozess für Vincent bestand daraus, sich im Vorgriff auf ein solches Treffen eine Thermostrumpfhose anzuziehen, die ihn zumindest untenrum schön warm hielt. Obenrum der dicke Mantel, natürlich ohne Kapuze, und es passte nun auch bei Schneeregen. 

Das Wetter konnte verflixter nicht sein und Vincent bereute ein wenig die Wahl seines Ortes, also den kalten, kargen, blätterlosen Wald, der in seiner vollen deutschen Winterglorie glänzte. Andererseits war er auch ein Gewohnheitsmensch und verließ ausgetretene Pfade nicht gerne, die zum Erfolg führten. Heute war Leo Hölzer an der Reihe, ihr jüngster Neuzugang und bisher unauffällig. 
Auf der Arbeit wie im Privaten bemühte er sich um Normalität und wagte nicht, mit seinen Arbeitskollegen oder seiner Familie darüber zu sprechen, was geschehen und ihm auferlegt worden war. Obwohl er jeden dritten Abend mit seiner Mutter oder seinem Vater telefonierte und über Nichtigkeiten sprach. Das Wetter, das bevorstehende Weihnachten, die Adventszeit, das Geschenk für seine Schwester…alles familiäre, neutrale Dinge. Kein Wort davon, das er erpresst wurde.

Er schien bisher stabil zu sein und Vincent begann sein eigenes, paranoides Denken zu hinterfragen, das ihm Probleme mit Leo Hölzer eingeflüstert hatte. Dieser kam, fünf Minuten vor der Zeit und mit offenem Mantel knirschend den Weg entlang, das Gesicht zu einer schweigsamen, unerfreuten Maske verzogen. Der Eisregen peitschte ihm ins Gesicht und Vincent gestattete sich ein minimales Stirnrunzeln, als er sah, wie durchnässt das weiße Shirt bereits war.

Es war eben jenes, das Adam für ihre Treffen eingefordert hatte, und anscheinend warf Leo Hölzer Adam und ihn selbst in einen Topf. Vincent legte keinen Wert auf das Shirt und schon gar nicht darauf, dass es aufgeknöpft war, aber Adam nun zu widersprechen, würde ihr System schwächen. Also sagte er gar nichts, sondern deutete nur knapp neben sich auf die Bank. 

„Setz dich“, sagte er anstelle einer Begrüßung und schweigend ließ sich der Polizist in ausreichender Entfernung zu ihm nieder. Er war nervös, war es doch das erste Mal, dass sie sich draußen trafen, nicht in der vermeintlichen Sicherheit von Adams Wohnung. Leo Hölzer zitterte und das lag mit Sicherheit an dem viel zu dünnen Shirt. Trotz des Mantels fror er und Vincent seufzte innerlich. 
Fürsorge zu zeigen war eines der No-Gos. Adam und er waren die Bösen und sollten es, solange die Verknüpfung bestand, auch bleiben. Allerdings würden es Vincent und in letzter Konsequenz auch Adam es nicht gutheißen, wenn der leitende Ermittler, der die Aufklärung des Mordes an dem jungen Dealer blockieren sollte, mit einer Lungenentzündung im Bett lag und seinen Auftrag nicht erfüllen konnte. 

„Schließe deinen Mantel“, sagte Vincent daher mit prüfendem Blick in das abgewandte Gesicht und wartete geduldig, bis Leo seinen Mantel mit zitternden Fingern zugeknöpft hatte. 
„Wie ist der Stand deiner Ermittlungen?“, kam er ohne Umschweife zu dem Thema ihres heutigen Treffens und ließ den verschlossenen Mann nicht aus seinen Augen. Leo Hölzer sagte immer noch nicht mehr als nötig, weder ihm noch Adam gegenüber. Hin und wieder blitzte Widerstand hervor, durch unbedachte Worte, gefolgt von Angst vor eben jenen. Adam hatte bei ihrem letzten Treffen mit dem Messer genug Druck ausgeübt, um diese Worte und den damit verbundenen Aufstand bei einem Minimum zu halten.

Bis jetzt.

Noch waren sie nicht in der Ruhephase. Noch waren viele Dinge möglich, die das Gleichgewicht zum Kippen bringen konnten. Der neben ihm sitzende Mann war trotz großflächiger Überwachung kein vollständig gelöstes Rätsel und viel zu verschwiegen. 

„Zeugenbefragungen haben nichts ergeben, der DNA-Test ebenso wenig.“ Nur das Nötigste und auch das nur mit so großen, inneren Schmerzen, dass Leo Hölzers Knöchel weiß hervortraten, als er die Hände zu Fäusten ballte. Geduldig wartete Vincent, ob der Polizist auch den Rest der Ermittlungen preisgeben würde oder ob er wirklich hoffte, dass sie Zeugenbefragungen unter dem Radar durchführen konnten.

Als nichts kam, atmete Vincent tief aus und sah seinem dahinfliehenden, weißen Atem hinterher. „Sonst noch etwas?“, fragte er neutral und spürte beinahe schon die körperliche Veränderung in dem Mann neben sich. Er spürte die Anspannung und den inneren Kampf. Er spürte den unbedingten Drang, etwas vor ihm zu verbergen. 

So deutlich, wie Vincent das spürte, so geduldig wartete und schlussendlich verlor ihre Verknüpfung den Kampf gegen sich selbst. 

„Die Uhr, die der Dealer bei sich trug, gehörte einem Mordopfer, dessen Fall nie gelöst wurde.“ Da war es wieder, nicht mehr Informationen als nötig. Vincent machte eine knappe Geste. Er war nicht so ungeduldig wie Adam, aber langsam wurde auch ihm zu kalt. 
„Ein junger Mann namens Elias Schiller.“
Da kamen sie der Sache doch schon näher. „Weiter.“ Er ließ eine seichte Warnung in seine Worte einfließen. Nur weil er dem Mann alleine gegenübersaß, bedeutete das nicht, dass er weniger ernst zu nehmen war als Adam. Das hatten einige schon lernen müssen, die sich von seinem Äußeren hatten täuschen lassen. 

Leo Hölzer nicht, denn dieser war viel zu aufmerksam für derartige Faux-pas. Unstet huschten seine Augen über Vincents Gesicht und Körper, auf der Suche nach Beweisen für seine Theorien, für die Fragen, die wach und aufmerksam in seinen grünen Augen standen. 
„Er ist vor fünfzehn Jahren ermordet worden. Sein Mörder wurde nie gefunden, allerdings hatte das jetzige Opfer seine Uhr am Handgelenk.“
Da war sie doch hinaus, die Wahrheit, die Leo Hölzers Lippen nicht ganz so freiwillig hatte verlassen wollen. Vincent brummte. 
„Wo ist die Verbindung?“, fragte er und erwartete fast ein „Sagen Sie es mir.“ Wie beim letzten Mal, doch dieses Mal zuckte der Polizist nur mit den Schultern. 
„Das wissen wir nicht. Scheinbar gibt es keine.“

Vincent rollte mit den Schultern und wandte sich seiner Verknüpfung zu. Der Eisregen wehte ihm ins Gesicht und ließ seine Haare unschön an seinem Kopf kleben. Wenn er nicht bald aus dieser Kälte kam, würde er sich mit Sicherheit eine Erkältung einfangen. Das wäre doch etwas…wenn er und Leo Hölzer flach liegen würden und Adam alleine auf die Welt losließen. Das war nicht ratsam.

Umso präziser richtete er nun seine Frage an Leo Hölzer. 

„Die Mutter des Opfers konnte deinen Ermittlerinnen also auch nicht weiterhelfen, als sie sie befragt hatten?“, setzte er den wirksamen Nadelstich, der Hölzer mithilfe einer einzigen Frage deutlich machte, wie viel zu wussten. Vincent ließ ein minimales Lächeln seine Lippen hochziehen, das Hölzers Fassungslosigkeit konterkarierte. Woher, stand in den Augen. Wieso, auf den Lippen und nichts davon erhielt eine Antwort. 
Hölzer schluckte. „Nein. Konnte sie nicht.“

Vincent entlohnte das zögerliche Geständnis mit einem halb anerkennenden Nicken. „Gut gemacht. Beim nächsten Mal hoffe ich allerdings, dass es etwas flüssiger geht.“
Bei seinen Worten huschte Unzufriedenheit über das Gesicht des Polizisten. „Warum, wenn Sie schon alles wissen?“, fragte er in seiner direkten, fordernden Art, die mit Sicherheit bereits jetzt schon Adams Spieltrieb hervorgerufen hätte. 
„Um dir zu zeigen, dass es keinen Sinn macht, uns Dinge zu verheimlichen und um die Strafe für ein solches Vergehen festzulegen.“
Hölzer schnaufte und wandte sich ab von ihm, starrte mit fest zusammengepresstem Kiefer geradeaus in den kargen Baumstammwald hinein. Vincents Nase lief und er nutzte die Gelegenheit um sie sich zu putzen, bevor er sich erneut ihrer neuesten Verknüpfung widmete. 

„Das ist von nun an dein Leben, Leo Hölzer, und es macht keinen Sinn, sich dagegen zu wehren“, sagte er ruhig und verbindlich, jedoch mit dem eisernen Willen dahinter, den Adam so sehr verfluchte. 

Natürlich schmeckten seine Worte dem anderen Mann nicht, das wusste Vincent. Natürlich waren sie bitter und schlimm. Das würden sie auch eine lange Zeit bleiben. 

„Du wirst uns im Übrigen die Uhr bringen“, setzte Vincent den in seinen Augen wichtigsten Punkt an diesem Tag, der wegweisend sein könnte für alle weiteren Kommunikationen. Hölzer war entsetzt und das durfte er auch ein. Sich verweigern stand jedoch außer Frage. 
„Das ist ein Beweismittel. Ich kann nicht…“

Vincent brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Er parierte die Verneinung. Er parierte die Verweigerung. Er parierte den Glauben an das Unmöglich sein. Alles davon verneinte er stumm und brachte den Mann neben einzig mit seiner Mimik und Gestik zum Schweigen und zur Ruhe. 
Anstelle von Aggression und Wut traten in Leo Hölzer ihm gegenüber nun die tieferen Gefühle hervor. 

Verzweiflung und Angst. 

„Du kannst und du wirst. Du hast drei Wochen Zeit dafür“, sagte Vincent verbindlich und beendete jeden aufkommenden Widerspruch mit einem knappen Kopfschütteln. Er erhob sich und starrte die notwendigen zehn Sekunden auf Leo Hölzer herunter.

„Enttäusche uns nicht.“

Der Satz war simpel und doch eine äußerst wirksame Drohung. Vincent drehte sich um und ging. Raus aus der Kälte, raus aus den nassen Klamotten. Auf ihn warteten ein Bad und Adam, der mit viel zu viel Interesse in den Augen wissen wollen würde, wie das Treffen abgelaufen wäre. 
 

~~**~~


„Hast du ihm gesagt, dass er sich wie eine Nutte anziehen soll?“, fragte der Alte mit missmutig gerunzelter Stirn seine Mutter und Adam befand, dass alleine das seinen Anzug und das durchsichtige Netzoberteil rechtfertigte, was er zu ihrem gemeinsamen Familienessen trug. 

Familienessen, Folterstunde, Zeit, die er weitaus besser verbringen konnte als mit seiner lethargischen, alkoholisierten Mutter, seinem nicht blutsverwandten Onkel und der Dreckssau. 
Boris war in all dieser Glorie noch der Harmloseste und war das, was Adam am Ehesten als etwas wie eine Familie bezeichnen würde.

Zumindest schlug Boris ihn nicht. Immerhin, Adams Maßstäbe waren da gering, nach über drei Jahrzehnten Prügel. 

Er fläzte sich auf den unbequemen Holzstuhl und streckte die Beine leicht gespreizt von sich, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Natürlich trug er auch heute keine Unterwäsche und eigentlich war das schon komisch, dass der Alte sich immer wieder darüber beschwerte. Schließlich war es doch, der wollte, dass Adam sich auszog, wenn er den Gürtel zückte. 

So ging es schneller und alle Beteiligten konnten umso fixer wieder zurück an die Arbeit gehen. 

„Setz dich ordentlich hin“, zischte der Alte und Adam leistete für ein paar Sekunden Widerstand, bevor er sich aufrichtete und die Arme aufreizend gerade auf die Designertischplatte langweiligster Couleur legte. 
„Hast du mir nichts zu sagen?“
Doch, du kannst dich ficken gehen, Arschloch, erwiderte Adam in Gedanken und lächelte. 
„Die neue Verknüpfung steht und macht keine Probleme mehr.“
Verächtlich verzog sein Vater die Lippen und würgte. „Verknüpfung. Ich kann’s nicht mehr hören, deine Schwulensprache. Sag deinem Schoßtier, dass er sich einen anderen Namen ausdenken soll.“

Vincent war nicht sein Schoßtier, aber er würde es ihm trotzdem sagen. Damit Vincent nicht beim nächsten Treffen in eine Falle lief und ihm der Zorn des Alten erspart blieb. 

Adam zuckte mit den Schultern und starrte in die ihm verhassten Augen des Alten. In das Psychopathengesicht. „Wir haben den Bullen am Würgehalsband. Der macht nichts mehr, ohne dass wir ihn nicht dazu auffordern“, veränderte Adam seine Wortwahl und machte das Arschloch damit ein Stück weit zufriedener. 
Genervt ließ Adam seinen Blick schweifen. Der Betonbunker wurde auch von Mal zu Mal hässlicher, in dem er hier war. Aufmerksamkeitsheischende, moderne Kunst, sicherlich teuer, jedes halbe Jahr was Neues. Die Möbel waren auch neu und hässlich. Das einzige, was geblieben war, war die Besinnungsecke. 

Adam wandte den Blick ab. Ekel stieg in ihm hoch und ließ ein flaues Gefühl in seinem Magen zurück. Zu schade, dass er damit das Essen nicht würdigen konnte, was nun am sonntäglichen Mittagstisch aufgefahren wurde. Koteletts, Kartoffeln und Bohnen, gutes, deutsches Essen. Bastian schien sich wahre Mühe gegeben zu haben und Ilona trug die Ergebnisse dessen nun auf. Nicht, dass auch nur etwas davon den Gefallen der Dreckssau fand.

„Was für einen Mist hast du dir wieder ausgesucht, du unfähiges Weib?“, fuhr der Alte seine Mutter an und sie starrte mit gesenktem Blick auf die Tischplatte, die Hand noch um das Weinglas der Erlösung. War das noch die erste Flasche oder schon die zweite? 
„Bist du zu dumm oder zu betrunken um richtiges Essen in Auftrag zu geben?“
„Gib’s doch selber in Auftrag“, murmelte Adam und griff sich sein Wasserglas. Er hatte geflüstert, beinahe unhörbar, doch nicht leise genug für die Ohren des Alten. 
„Was hast du gesagt, Schwuchtel?“, fragte er und die Drohung war deutlich hörbar in seinen Worten, schwallte Adam über dem dampfenden Essen entgegen. 

„Adam“, mahnte Onkel Boris, doch zu spät. Die Dreckssau hatte sich bereits auf ihn eingeschossen und ließ ihn nicht aus den Augen. Wenigstens hatte er jetzt von seiner Mutter abgelassen, aber was daraus folgen würde – nicht schön. 

„Wenn dir das Essen nicht passt, mach eben dein Maul auf und sag, was du willst“, formulierte Adam das aus, was ihn mit Sicherheit in die Besinnungsecke bringen würde. Besser jetzt, befand er, als später mit vollem Magen. So konnte er die Übelkeit besser in Schach halten, der Schmerz wäre leichter ertragbarer und er müsste nicht die ganze Zeit am Tisch sitzen und den Arien des Arschlochs lauschen. 

Dass die Dreckssau seine Mutter im Nacken packte und sie mit Gewalt zwang, Adam anzusehen, war aber nicht geplant. 
„Dein Werk, sieh’s dir an“, zischte der Alte und seine Mutter stöhnte vor Schmerz auf. Wie immer hielt sie ihre Augen auf der Tischplatte, damit Adam ihr ja nicht ins Gesicht sehen konnte. Das war einmal gehörig schief gegangen, als sie es getan hatte. „Du hast ihn so erzogen, diesen weibischen Dreckssack. Ganz alleine du mit deiner ekelhaften Erziehung!“
Seine Mutter schluckte mehrfach, schnell hintereinander. „Bitte, Roland, lass es gut sein“, wisperte sie demütig und Adam hasste sie für ihren Ton. Eigentlich nicht sie, sondern die ganze Situation.

Die Dreckssau ließ es gut sein – mit einem Schlag in ihr Gesicht, der laut durch die Stille hallte. Adam sog scharf die Luft ein, die Hände zu Fäusten geballt. Er hatte versucht, es zu verhindern, dass die Dreckssau seine Mutter schlug. Mehrfach. Die Antworten des Alten darauf waren nicht schön gewesen. 

Letzten Endes war es seine Mutter gewesen, die ihn darum gebeten hatte, nicht einzugreifen – also so, wie sie es bei ihm früher auch nie getan hatte. Er sollte es gut sein lassen, sie hatte sich daran gewöhnt und ertrug seine Launen und seine Gewalt. 
Adam musste sich beherrschen, um es gut sein zu lassen, aber er war ihrer Bitte gefolgt und hoffte seitdem, dass er Alte den Löffel abgab. 

Eben jener sah hoch, ihm direkt in die Augen, und ließ angewidert seine Frau los. Seine Mama hielt sich die Wange, den Blick immer noch nicht gehoben. Es wurde rot unter ihren Fingern. 

„Guck nicht so dumm. Steh auf und zieh dich aus. Ab in die Ecke mit dir, du hast das Essen sowieso nicht verdient“, befahl das Arschloch knapp und Adam gehorchte. Er hätte es sowieso nicht verhindern können und ein leerer Magen war besser als ein voller Magen, wenn der Alte beschloss, ihn zu strafen. 

Adam hatte schon lange keine Scham mehr und es auch schon lange aufgegeben zu betteln. Er folgte einfach, machte es für sich schneller und unkomplizierter. Die Dreckssau musste ihm auch nicht mehr sagen, was er zu tun hatte, das wusste Adam schon seit langem. 
Er sank mit dem Gesicht zur Wand auf die Knie, in die dafür vorgesehenen Kuhlen mit ihren mittigen, minimalen Erhebungen und scharfer Schmerz explodierte in seinen Knien. Schließlich mussten seine kaputten Knie ja auch ihre Berechtigung haben. Schließlich mussten die nicht mehr weggehenden Dellen ihre Berechtigung haben, die ihm an manchen Tagen das Laufen erschwerten. 

Vierundfünfzig Minuten mindestens, die kleinste Einheit. Oftmals auch gerne verdoppelt und dreifacht. Oder…vervielfacht.  

Die Dreckssau nutzte die Pausen zwischen Vorspeise und Hauptgang und Hauptgang und Nachtisch, um ihn mit dem Gürtel samt Schnalle zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Und das war nicht Adam. Adam war derjenige, der an Vincents sanfte, heilende Hände und Worte dachte, die ihn hiernach erwarten würden. Worte der Aufmunterung, dass der Alte nicht mehr Ewigkeiten da sein würde, sterben würde. Dass er ihn irgendwann los sei. Erlöst sei. 


~~**~~


„Rot oder weiß?“

Leo folgte schweigend Schürks Blick zu den Weinkaraffen, die auf dem Tisch standen. Samt Gläsern. Eins für rot, eins für weiß. So als ob er nicht bereits gesagt hätte, dass er mit Schürk nicht trinken wolle. Doch seine Wünsche zählten nichts, immer noch nicht. Er hatte zu springen, wenn der andere Mann es ihm befahl. Wenn er ihn in seine Wohnung holte und sein Handlanger nicht da war. 

Die Treffen mit eben jenem oder in dessem Beisein liefen anders ab als ohne die Anwesenheit des gelockten Mannes. Persönlicher und damit schlimmer für Leo. Es schien, als klappere Schürk sämtliche Dinge ab, die er gerne mochte und beschmutzte sie mit einem ekelhaften Filz. Es schien, als würde Schürk ihm alles verleiden wollen, was Leo gerne mochte, nachdem er sein Leben gläsern gemacht hatte. Ihn brechen, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Kopf, die er möglichst schnell zum Schweigen brachte. 

„Ich möchte nicht“, sagte er leise mit dem Blick aus dem Fenster gewandt. Es war Abend und er war mit dem Wagen hier. Außerdem wollte er nicht feststellen, dass Schürk seinen Lieblingswein dazu missbrauchte, ihm diesen auch noch zu verleiden. 
„Du möchtest nicht?“, echote Schürk und Leo nickte ohne ihn anzusehen. Er ahnte, was auf dem scharf konturierten Gesicht stand, welche Vorfreude vor dem kommenden Zwang. Er wollte sie nicht sehen, ebenso wenig, wie er hier sein wollte. Nicht an einem Samstag, wenn er endlich mal rauswollte, Abstand gewinnen von seiner in Misskredit gebrachten Arbeit. Weg aus Saarbrücken, hinein in die Natur. Doch er hatte zurückkehren müssen, weil Schürk ihn kontaktiert hatte – in der Annahme, dass er immer zuhause war.

„Keinen Wein?“
Leo schüttelte den Kopf. 
„Er ist wirklich gut.“
Er schnaubte innerlich. Was sollte das hier werden? Ein Verkaufsgespräch? Ein Gespräch unter Freunden? „Es interessiert mich nicht, ob er gut ist. Ich möchte ihn nicht“, wiederholte er und stellte sich bereits die Frage, ob der Widerstand es wert war. Er könnte sich auch ein Taxi nach Hause nehmen und er hatte noch andere Weinsorten, die er trinken könnte. Er musste zuhause auch gar keinen Wein trinken. 

Schürk kam mit zwei ungleichmäßigen, humpelnden Schritten auf ihn zu und blockierte seinen Blick nach draußen. Alleine durch seine Anwesenheit zwang er Leo, ihm in die Augen zu sehen. 
„Der Hölzersche Widerstand, immer wieder erfrischend.“ Schürks Lächeln war alles Andere als freundlich und Leo roch, dass der andere Mann bereits Wein getrunken hatte. „Also gut, du möchtest nicht. Dann lasse ich dir die Wahl. Ein Glas Wein oder knie nieder.“ Das Lächeln erlosch, die Glaubwürdigkeit dieser Wahl jedoch nicht. Wenn Leo es als solche bezeichnen wollte. 

Wein oder knien? Er presste wütend die Zähne aufeinander, als er sich die Optionen durch den Kopf gehen ließ. Er wollte den Wein nicht trinken, das hatte er auch schon vor Wochen gesagt. Er würde in Gegenwart des anderen Mannes keine Genussmittel zu sich nehmen wollen. 
Er erinnerte sich noch gut an die fast volle Stunde, die er mit knien verbracht hatte und an die Schmerzen, die er währenddessen und danach gehabt hatte.

Mit festem Blick auf Schürk sank er auf die Knie, verlor den Blickkontakt, als sich sein Blickfeld einengte.

„So ist das also…“, raunte Schürk und für einen Moment hatte Leo Angst, dass er ihn anfasste. Er griff jedoch an Leo vorbei zur Karaffe Rotwein und ging anscheinend zur Couch. Die in Leos Rücken lag. 
„Dann bleib da“, erhielt er seine Weisung und Leo schloss die Augen. Nein, es war die richtige Entscheidung gewesen. Sie würde Schmerzen bedeuten und wann Schürk ihn aus dieser erniedrigenden Position erlöste, war auch noch nicht klar. Aber er war sich treu geblieben. 

Er würde auch weiterhin Widerstand gegen diesen Mann leisten, so weit es ihm möglich war. Wo er nur konnte.

Schürk schwieg und Leo dachte nicht daran, von sich aus das Gespräch zu suchen. Hinter sich hörte er, wie der andere Mann sich ein viel zu volles Glas Wein einschenkte und den ersten Schluck nahm, laut und deutlich in dem stillen Zimmer.  

Für endlose Minuten ging das so, bevor Schürk es sich anscheinend auf der Couch gemütlich machte und den Geräuschen nach zu urteilen seine Beine auf die Polster zog. Sein Blick brannte in Leos Rücken und Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. 
Leos Knie protestierten jetzt schon gegen den harten Holzboden und dabei war noch nicht einmal eine Viertelstunde vergangen, wenn Leo es schätzen musste.

„Es ist nur ein Glas Wein“, erhob Schürk schließlich das Wort und Leo zuckte erschrocken zusammen. Er hatte weder damit gerechnet, dass er andere Mann etwas sagte, noch in welchem Ton er es sagte. Fragend, forschend, nicht abwertend oder höhnisch. „Was ruft da deinen Widerstand hervor?“
Meine eigene Integrität, erwiderte Leo stumm. Dass ich mich noch im Spiegel ansehen muss. Dass ich mich nicht den wie auch immer gearteten Versuchen eines Verbrechers beuge, leichte Unterhaltung zu betreiben oder seine Spielchen mitzuspielen. 

„Ich möchte mit dir keinen Wein trinken“, wiederholte er schon beinahe mechanisch seine Worte von gerade.
„Warum nicht?“
Leo schluckte. Er hörte keinerlei Ironie aus der Frage heraus, sondern ernst gemeinte Neugier. Irrwitzigerweise half es dabei, dass er Schürks Gesicht nicht sah, und damit die stetig präsenten, provozierenden Lächeln. Vermutlich war das auch der Grund, warum er ernst und ehrlich auf diese Frage reagierte. 

„Wein ist Genuss für mich. Ich trinke Wein mit Freunden, mit der Familie, bei einem guten Essen. Deine Gegenwart ist kein Genuss für mich, du zwingst mich dazu. Das macht auch den Wein zu einem Zwang für mich und damit möchte ich ihn nicht trinken.“

Wie leicht es Leo doch mittlerweile fiel, von seiner eigenen Erpressung zu sprechen und davon, dass er bestimmte Dinge in seinem Leben nicht mehr frei entscheiden konnte. Doch darüber zu sprechen, hieß nicht, die Emotionen, die damit einhergingen, unter Kontrolle zu haben. Die Bitterkeit, den Zorn, die Verzweiflung, aber auch die Angst, die er nun hatte, dass Schürk ihn für seine Worte bestrafen würde.

„Ein Mann mit Prinzipien.“

Leo antwortete nicht. Das war er und diese Prinzipien wurden ohne Rücksicht mit Füßen getreten, weil er ein gutes Mittel war, um die Polizeiarbeit in Saarbrücken ad absurdum zu führen. Glaubte er Schürk, so war er nicht der Einzige, der unter der Kontrolle des Syndikats stand. Das würde auch erklären, warum ihm, seiner Familie und seinen assoziierten Geschäftspartnern nie etwas nachzuweisen war. Weil Beweise verschwanden. Weil Zeugen eingeschüchtert wurden. Weil wertvolle Polizeiarbeit blockiert wurde. 

Schürk ruckelte sich anscheinend auf der Couch zurecht und läutete damit eine Stille ein, die von Minute zu Minute drückender und unerträglicher wurde. Sie steigerte sich proportional mit den Schmerzen in Leos Knien und ließ ihn flach atmen um zu kompensieren, was sein Körper ihm entgegenschrie. Erst ein eindeutiges Geräusch hinter sich brachte einen abrupten Halt in seine Empfindungsspirale und Leo fror ein. 

Er lauschte und da war es wieder. 

Wider besseren Wissens drehte er seinen Kopf und sah, dass Schürk tatsächlich schlief und leise schnarchte. Er war einfach eingeschlafen und schnarchte. Leo blinzelte. Da war doch nicht möglich, oder? Wie konnte…?
Schürk gab im Schlaf ein entspanntes Seufzen von sich und ruckelte sich in der Art der schlafenden Menschen zurecht, die zwar genug Bewusstsein hatten um sich zu bewegen, nicht aber genug, um aufzuwachen.
    
Leo verharrte noch lange Momente in seiner Position, da er immer noch an eine Falle glaubte und drehte sich dann schlussendlich doch so lautlos es ihm möglich war um. Ebenso leise ließ er sich auf seinen Hintern nieder und erlöste seine Knie aus ihrer schmerzenden Position. Mit wachsamen Blick auf Schürk streckte er sie vor sich aus und massierte sich die schmerzenden Stellen. Was sollte er weiterhin hier knien, wenn der andere Mann es vorzog, in seiner Gegenwart zu schlafen? Wenn er arrogant genug war nicht mit einem Angriff zu rechnen. 

Das brachte Leo allerdings zu der Frage, was er nun machen sollte. Schürk schlief – soweit. Und er? Würde er nun die Nacht hier verbringen, auf dem Boden sitzend und darauf wartend, dass der andere Mann aufwachte, damit er sich zurück in seine kniende Position begeben konnte? Das konnte nur schief gehen, denn Leo war auch nicht mehr wirklich wach genug um die ganze Nacht durchzustehen. 

Der Leo in ihm, der Angst um seine Familie hatte, plädierte für ein Ja. Schürk so wenig wie möglich Angriffsfläche bieten, damit dieser nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass er nicht nur ihn heimsuchte, sondern auch seine Eltern oder Caro. 
Der Ermittler in ihm sah hier die einzigartige Gelegenheit an mehr Informationen über die Person Schürk zu kommen. Alleine dieser Raum war voller Gegenstände, die auf eventuelle persönliche Vorlieben hindeuteten. Auf Verbindungen zu anderen Elementen der Organisierten Kriminalität. Vielleicht sogar zum Mord an ihrem neusten Opfer? 
Leos Blick zuckte zu dem großen Bücherregal und wieder zurück zu Schürk, der in aller Seelenruhe schlief, die entspannten Gesichtszüge an der Grenze zur Unfreundlichkeit. 

Die Sorge um seine Familie war da, aber der Ermittlungsinstinkt war größer in diesem Moment. Er brauchte Informationen um Schürk einzuschätzen. Er musste wissen, auf was er sich bei diesem Mann einstellen konnte. 

Leo erhob sich mit zusammengebissenen Zähnen und verharrte sekundenlang mit Schmerz in seinen Gliedern. Etwas steif tat er den ersten Schritt mit Blick auf Schürk, der sich durch die Bewegung in seinem Schlaf nicht stören ließ. Ein zweiter folgte, dann ein dritter und Leo bewegte sich mit klopfendem Herzen durch Raum, auf der Suche nach etwas, was ihm mehr Aufschluss über den Mann gab, der ihn erpresste. 

Leo öffnete vorsichtig die ersten Schubladen der Sideboards. Bis auf Dekoration und Kerzen fand sich da nichts Besonderes. Kleinkram, weggeräumt, weil er unordentlich war. Alltäglich gar. Menschlich, denn er machte es genauso. Der Stapel Papiere, die er in der dritten Schublade fand, war eine Ansammlung von Immobilienunterlagen.  

Wie gerne hätte Leo ein Foto davon gemacht, insbesondere bei Schürk Seniors Verstrickungen in Immobiliengeschäfte, doch Leo befürchtete, dass sie bereits sein Handy angezapft hatten und nachverfolgten, was er wohin kommunizierte. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich die Adressen der Exposés einzuprägen und seine eigentlichen Ermittlungen auf später zu verlegen.

Das Grollen, das von der Couch drang, ließ ihn herumfahren und fast hätte er die Dokumente fallen gelassen, die er gerade in der Hand hielt. Doch Schürk war immer noch nicht wach, sondern glitt anscheinend in einen Alptraum ab. Zumindest in unruhigeren Schlaf, wenn Leo das Stirnrunzeln und die nun angespannten Hände richtig interpretierte. 
Vorsichtig legte er die Dokumente zurück und verharrte, doch Schürk fand wieder zurück zu seinem ruhigen Schlaf. 

Gut.

Leo suchte weiter, mit keinen nennenswerten Ergebnissen und landete schlussendlich beim riesigen Bücherregal. Im ersten Moment gab es scheinbar keine Ordnung, dann erkannte Leo an den geknickten und stark benutzten Bücherrücken, dass sie thematisch und nach Autoren sortiert waren. Schürk las sie anscheinend wirklich selbst und steckte auch noch Mühe hinein, sie akribisch zu sortieren. Oder er hatte es seinem Handlanger auferlegt. Leo hasste es, es zuzugeben, aber Schürks Sammlung war größer als seine eigene, mit Büchern, die Leo sehr wohl vom Titel her kannte, die er aber nie gelesen hatte. Aus Zeit- oder Interessensmangel. Er sah Bücher, deren Einbände ihn ansprachen und die er leise aus ihrem Platz zog um den Klappentext zu lesen, viele Kinderbücher, die auf eine belesene Kindheit hindeuteten. Er strich mit seinen Fingerkuppen über die wohlgebrauchten Bücher.

Hatte Schürk sie tatsächlich alle gelesen? Leo runzelte die Stirn, als er Reihe für Reihe abging, auf der Suche nach dem Menschen, der hinter dem Verbrecher stand. Die Dinge, die jemand las, gaben doch Aufschlüsse über seine Persönlichkeit, oder? Für was er sich interessierte, was er bevorzugte, seine Interessen… all das fand sich in einem Bücherregal und damit war es auch wichtig für Leo. Er musste lernen, wie er diesen Mann zu nehmen hatte. Er musste wissen, was dieser Mann für Schwächen hatte.

Er war bei der Gegenwartsbelletristik angekommen und hatte gerade Gott ist tot aus dem Regal gezogen, als er einen prüfenden Blick in Richtung Couch warf und feststellte, dass der dort schlafende Mann alles war – nur nicht schlafend. 

 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Yööh, wir sehen uns dann in einer Woche, gell? :D *wink und flüchtet*

Chapter 5: Draco Malfoy

Notes:

Hallo zusammen,

und nun gibt's pünktlich zum Wochenende auch noch das neue Kapitel zum OK AU. :) Ich danke euch vielmals für eure Kommentare, Klicks, Kudos, etc. :3

Noch ca. zwei Kapitel, dann geht es etwas bergauf. Also, durchhalten ist die Devise! ;)

Chapter Text

 

Wie es Schürk möglich gewesen war aufzuwachen, ohne dass Leo es mitbekommen hatte, war so einfach wie es dumm war. 

Auf seiner Suche nach Hinweisen hatte er wie so oft alles Andere ausgeblendet, was sich in seiner Umgebung befand. Normalerweise war diese Art der Konzentration sehr hilfreich, hier…war sie so dämlich wie nur irgendwie möglich und brandgefährlich. 

Schürk beobachtete ihn mit seinen durchdringend blauen Augen und er war so entspannt, dass Leo mit Horror begriff, dass er schon länger wach war. Das Buch in seiner Hand wog schwer, als er Schürks Blick erwiderte, der von Sekunde zu Sekunde wieder zu dem wurde, was Leo so sehr verachtete. Er bekam die Intensität des Jägers, der seine Beute ins Visier gefasst hatte und nun jederzeit zum Zuschlagen bereit war. 

Leo war die Beute, das stand unzweifelhaft fest, und jetzt hatte er aus lauter Wissensdurst Schürk auch noch die perfekte Grundlage dafür geschaffen, ihn zu bestrafen. Alleine, dass der andere Mann nichts sagte, konnte nichts Gutes verheißen. 

Als Schürk sich nun langsam aufrichtete und sich von der Couch erhob, verkrampfte Leo sich regelrecht. Sein Instinkt schrie ihn an, wegzugehen, zurück zu weichen, sich gegen den anderen Mann zu wehren. Sicherlich würde er sich gegen Schürk wehren können – rein körperlich. Durch die übrigen Zwänge wäre es mit Sicherheit nicht ratsam und so konnte er nur hilflos zusehen, wie Schürk Schritt um Schritt auf ihn zukam und schließlich so nahe vor ihm stehen blieb, dass Leo leicht zu ihm hochsehen musste. Es zog unangenehm in seinem verspannten Nacken. 

Der blonde Mann brummte scheinbar zufrieden, ein Laut voller falscher Beruhigung. „Der ungehorsame Herr Hölzer“, sagte er ruhig. „Das wäre auch ein gutes Buch, oder?“ Leo fragte sich, was es für eins werden würde. Krimi, Psychothriller oder Tortureporn? 
Schürk nahm ihm das aktuelle Buch über eine Welt ohne Gott sacht aus der Hand und stellte es mit einem knappen, kühlen Lächeln wieder zurück in das Regal, ohne den Blick von Leo abzuwenden.

„Da schlafe ich in deiner Gegenwart ein und du nutzt die Gelegenheit wozu? Meine Wohnung zu durchsuchen? Was hast du gemacht?“, fragte Schürk viel zu ruhig für das, was Leo getan hatte, und er überlegte einen Augenblick lang, ob er lügen sollte. Ob er mit dem Bluff durchkommen würde? Aber was, wenn Schürk trotz allem da schon wach gewesen war? Oder Kameras hatte? 

So wie er ihn einschätzte, war die Strafe für Unehrlichkeit schlimmer als für ehrliche, schonungslose Worte.
„Ich…“ Leo musste sich räuspern und er hasste sich für das Zittern in seiner Stimme. „Ich habe in die Schubladen der Sideboards gesehen und bin danach zum Bücherregal gegangen.“ 

Zunächst schwieg der Mann ihm gegenüber, dann lächelte er grausam und Leo ahnte, wie groß der Fehler gewesen war, den er in seinem dummen Drang nach Informationen begangen hatte. Und mit seiner Ehrlichkeit, die ihn geradewegs ins Verderben geführt hatte. 
„Was hast du gefunden?“
„Kerzen, Dekoration, Immobilienexposés“, erwiderte Leo gegen sein brachial schnell schlagendes Herz an und senkte den Blick. Er hielt der Musterung nicht mehr Stand, er konnte der kommenden Katastrophe nicht weiter in die grausamen und vorfreudigen Augen sehen. Schürk spielte mit ihm, er genoss es, die Oberhand zu haben um sich danach an der eigenen Grausamkeit zu ergötzen.

„Die Katze lässt das Mausen nicht. Der Herr Hauptkommissar lässt das Ermitteln nicht“, sinnierte Schürk und legte den Kopf schief. 
„Sieh mich an, Leo“, befahl er und nur widerwillig hob Leo den Blick. Schürk beobachtete ihn für eine lange Zeit ernst. „Siehst du hier irgendwo eine Katze?“, fragte er schließlich und Leo schüttelte den Kopf, unsicher, worauf Schürk hinauswollte. 
„Gut. Genauso wenig, wie ich hier Katzen haben will, will ich hier einen Ermittler im Dienst haben, klar? Lass deine Fähigkeiten zuhause. Wenn du in meinen Privatsachen rumschnüffeln willst, besorg dir einen Durchsuchungsbeschluss. Viel Glück damit im Übrigen, das haben schon andere versucht und sind gescheitert.“

Das Schlimmste an Schürks Worten war nicht die gewaltversprechende Drohung, die mitschwang, nein, sondern die Wahrheit, die dahintersteckte. Er nutzte die Gelegenheit und durchsuchte Privateigentum. Das war unsaubere Polizeiarbeit jenseits jeglicher Grenzen. Das war seiner nicht würdig, insbesondere, weil Schürks Verletzung seiner eigenen Privatsphäre für Leo derart schlimm war. Er stellte sich damit nahtlos auf eine Stufe mit Schürk selbst. 
Und ausgerechnet der Mann, der ihn erpresste, hielt ihm das vor Augen. Auf sich selbst wütend knirschte Leo mit den Zähnen. 

„Klar soweit?“, fragte die samtene Stimme mit einem Versprechen nach Gewalt und Leo nickte. „Klar“, krächzte er.

Schürk ließ seinen Blick noch ein paar Sekunden länger auf Leo ruhen, dann widmete er sich seinem Bücherregal. 
„Das hat es dir angetan“, sagte er nachdenklich und steckte seine Hände in die Taschen des Anzuges. Nein, hatte es nicht, wollte Leo aufbegehren, doch er verbot sich, auch nur einen Ton zu äußern, der ihn in Gefahr bringen konnte. Schließlich hatte er sich durch sein dummes Verhalten schon selbst genug in die Schusslinie gebracht. 

„Wonach hast du gesucht? Nach einem Hinweis, ob man von meinen Büchern auf mich schließen kann?“, fragte Schürk so zielsicher, als hätte er Leos Gedanken gelesen und Leo schluckte trocken. 
„Und, wer bin ich?“
„Ein Krimineller“, entfuhr es Leo schneller, als er die Worte hatte aufhalten können. Alles andere wäre zu persönlich geworden. Zu wütend. Zu emotional. Schürk lachte amüsiert. 
„Wahr.“ Er suchte mit seinen langen Fingern das Regal ab und fuhr wie Leo zuvor auch über die Buchrücken, als würde er sie liebkosen. Bei einer Reihe blieb er stehen und zog ein Buch hervor, dessen bunter Einband so benutzt aussah, dass es schon Jahre alt sein musste. Schürk betrachtete es und reichte es ihm dann weiter. 

„Hausaufgabe fürs nächste Mal. Lies es, dann sprechen wir darüber.“ Leo sah auf das Buch in seinen Händen und blinzelte erstaunt. Er hielt den ersten englischen Harry Potter Band in den Händen, verknickt, voller Eselsohren, anscheinend mehrfach gelesen. Wäre die Situation nicht so schlimm und belastend gewesen, hätte er gelacht. So…blieb er einfach stumm und starrte Schürk ratlos in die aufmerksamen, wenig erfreuten Augen. 

„Und nun raus, bevor ich es mir anders überlege und dich die ganze Nacht knien lasse für deine Unverschämtheit.“

Das ließ sich Leo nicht zweimal sagen und stellte erst an seinem Wagen fest, dass er so gewaltig zitterte, dass an Auto fahren nicht zu denken war. 

Und dass er seine Jacke bei Schürk vergessen hatte.


~~**~~


Vincent atmete tief durch, bevor er Adams Wohnung betrat. Er war gerade bei ihren älteren Verknüpfungen gewesen um ihnen die für sie gedachten Aufträge zu verteilen und die notwendigen Informationen einzuholen. Es forderte viel Kraft und Konzentration, die Fäden in der Hand zu behalten und jeden einzelnen von ihnen punktgenau einschätzen zu können. Im Grunde genommen war es ein Spiel mit dem Feuer. Wenn sie nicht vorsichtig waren, würden sie auffliegen und dann würde Adam eine lange Haftstrafe bekommen. Er ebenfalls, denn seine Mittäterschaft war unbestritten. So viele Zeuginnen und Zeugen konnte das Gericht gar nicht vernehmen, die allesamt bestätigen würden, was er getan hatte. Erpressung, Korruption…wen interessierte da schon der Grund dahinter?

Was Schürk Senior seinem Sohn antun würde, wenn er im Gefängnis landete, stand auf einem anderen Blatt und darüber wollte Vincent erst recht nicht nachdenken. Der Mann war ein sadistischer Psychopath, der keine Gelegenheit ausließ, Adam zu quälen – mit Worten und Taten. Schon seitdem Adam klein war, hatte er ihn gezüchtigt und zu einem Menschen erzogen, der nichts, aber absolut gar nichts mit sozialen Konventionen anfangen konnte. 

Bevor Vincent in Adams Leben getreten war, war das zumindest so und seitdem er nun da war, gab sich Vincent große Mühe, Adam eine Art moralischer Kompass zu sein. Fünf Jahre hielt Adam seine Nähe nun schon aus und akzeptierte, wenn Vincent ihm sagte, dass er Mist baute. Wenn Vincent ihm Vorschläge machte, wie er sich verhalten sollte. Fünf Jahre, die die restlichen drei Jahrzehnte der Züchtigung nicht wieder wettmachen konnten. 

Adam war stets ein Puffer zwischen ihm und seinem Vater… blockte dessen hasserfüllte Ansätze in seine Richtung, zu seinem Wesen, seinem Kleidungsstil, seiner Ausdrucksweise. Adam hatte ihm jüngst – während er dessen grün, blau und blutig geschlagenen Körper versorgt hatte – eröffnet, dass Schürk Senior seine Wortwahl nicht schätzte und dass er von ihm nicht von Verknüpfungen zu sprechen hatte. Vincent war dankbar für Adams Warnung, auch wenn ihm zum gleichen Zeitpunkt das Herz geblutet hatte. Adam hatte sich nicht rühren können vor Schmerzen und nahm immer noch Schmerzmittel dagegen. 

Mithilfe seines eigenen Schlüssels öffnete Vincent die Wohnungstür und zog seine Jacke aus, hängte sie ordentlich neben…Leo Hölzers? Das war doch die Jacke des Polizisten, wenn er sich nicht irrte. Irritiert lauschte Vincent in die Wohnung. Er hörte nichts, war der Ermittler hier? Sollte er eigentlich nicht, seine Schuhe waren schließlich auch nicht da. 

Stirnrunzelnd betrat Vincent das Wohnzimmer und fand Adam bäuchlings auf der Couch vor, ein Buch vor sich auf den Polstern. Es war der zweite Teil von Harry Potter, erkannte Vincent, in der Fassung, die Adam geschenkt worden war. 
„Ist Leo Hölzer hier?“, fragte er anstelle einer Begrüßung und Adam schüttelte nach einem Moment des Überlegens den Kopf. Er schindete Zeit und Vincent hob irritiert eine Augenbraue.
„Nein.“
„Seine Jacke hängt an der Garderobe“, fuhr Vincent sacht fort, als Adam sich nicht näher dazu äußerte und an ihm vorbei in den Flur hineinstarrte, als könnte er um die Ecke sehen und die Jacke dort erblicken. 
„Ja.“

Das nonchalante Ja diente nicht dazu, Vincent auch nur im Ansatz zu beruhigen. Misstrauisch kam er zu Adam und setzte sich zu ihm auf den äußeren Rand der Couchpolster. Achtsam richtete er seinen Rock und hielt die Pseudounschuld aus blauen Augen, die er Adam keine Sekunde lang glaubte. 
„Warum?“
„Weil er sie vergessen hat.“
„Wann das?“
Adam knibbelte im Versuch einer recht erfolglosen Hinhaltetaktik an der aktuellen Seite des Buches. „Gestern.“
„Er war hier?“
„Ja.“
„Ohne mich.“
„Ja.“
„Ohne mein Wissen.“
„Ja.“
„Warum das?“

Adam verzog unwillig die Lippen und Vincent spürte, wie groß der Nerv war, den er getroffen hatte. Zurecht. 
„Kann ich keine Leute ohne dich treffen oder was?“, fragte er, sein Ton bewusst herabwürdigend und spöttisch. Vincent saß das aus. Mittlerweile wusste Adam es besser, als ihn so von seiner Fährte abzulenken. Vincent hatte den längeren Atem und die besseren Argumente, vom Stehvermögen in solchen Situationen ganz zu schweigen. 
„Leute schon, Verknüpfungen nein. Wir haben ein festgelegtes System, Adam. Wieso hast du ihn zu dir geholt?“

Es brauchte etwas, bis der blonde Mann an seiner Seite antworte. Es brauchte eine sanfte Berührung seines Oberschenkels. Einer der wenigen unverletzten Stellen seines Körpers, wie Vincent wusste. 
„Ich wollte ihn studieren.“
„Indem du was gemacht hast?“
Adam klappte abrupt das Buch zu und drehte sich abrupt um, halb auf seine verletzte Rückseite, die er ihm gerade noch schutzlos präsentiert hatte. Es war Vincent ein deutliches Zeichen, wie unwohl Adam sich in diesem Moment fühlte. 
 
„Seit wann bin ich dir rechenschaftspflichtig?“, giftete er und Vincent gewann langsam ein sehr ungefähres Gefühl dafür, in welchem Ausmaß Adam sich gestern mit Leo Hölzer getroffen hatte.
„Seit wann weichst du mir in punkto Verknüpfungen aus?“, stellte Vincent die sanfte, aber gnadenlose Gegenfrage und ertappt zuckte Adam. Er knirschte mit den Zähnen und Vincent strich ihm tadelnd über die Wange.
„Lass das, du weißt, dass du davon Kopfschmerzen bekommst“, wies er an und tatsächlich entspannten sich die verkrampften Muskeln langsam Stück für Stück, während Adam bockig schwieg.
„So ist gut“, lobte Vincent und lächelte. Er kraulte stumm über beide Wangen und löste somit nicht nur Adams Verspannungen, sondern anscheinend auch nach und nach seinen Widerstand.

„Ich wollte ihn näher kennenlernen“, murmelte der blonde Mann schließlich. „Wein mit ihm trinken.“

Vincent hob entgegen seines Vorhabens nicht zu reagieren die Augenbraue. Ihm blieb auch nicht wirklich viel Anderes übrig. Adam hatte bisher keiner einzigen ihrer Verknüpfungen mehr als einen professionellen Blick gewidmet. Geschweige denn ein Getränk angeboten. Wein. Sie waren ihm egal. Im besten Fall. Es war ihm nur wichtig, seinen Vater davon abzuhalten, sich durch halb Saarbrücken zu morden. 

„Wein mit ihm trinken? Ihn näher kennenlernen?“, echote er zögerlich und Adam nickte. 
„Laut deinen Informationen hat er bestimmte Vorlieben, was Wein angeht. Also habe ich ihm die Wahl gelassen…rot oder weiß.“
Das machte es überhaupt nicht besser, befand Vincent und verfluchte, dass er nicht auf sein ungutes Bauchgefühl gehört hatte. „Wie hat er reagiert?“
„Er hat sich geweigert zu wählen, wollte keinen. Also habe ich ihn knien lassen.“

Bewusst ruhig atmete Vincent aus. Deswegen sollte Adam sich nicht mit Verknüpfungen treffen. Auch wenn es gut war, dass er ihm dafür eine Strafe auferlegt hatte. Leo Hölzer leistete immer noch Widerstand, der ihnen gefährlich werden konnte. Er musste immer noch daran erinnert werden, dass er in manchen Dingen keine Wahl hatte. „Wie lange hast du ihn knien lassen?“
„Das weiß ich nicht genau.“
Vincent brummte fragend. 
„Ich bin eingeschlafen. Zuviel Schmerzmittel wegen der Prügel des Alten am Sonntag.“

Zuerst glaubte Vincent, dass er sich verhört hatte. Es wäre keine unwahrscheinliche Möglichkeit, befand er, denn die Worte waren eindeutig zu abstrus, zu neu, als dass er jemals in Betracht gezogen hätte, ihnen Glauben zu schenken. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Adam ihn in einem Anflug komischen Humors auf den Arm nahm. Was die zweite Option darstellte. Doch umso länger er in Adams schuldbewusstes Gesicht sah und feststellte, dass er sehr wohl richtig gehört hatte und nicht auf den Arm genommen worden war, desto mehr stellte Vincent fest, dass er hier einem Tatsachenbericht lauschte. 

Adam!“, entkam es auch deswegen entsetzt seinen Lippen. „Leo Hölzer ist eine Verknüpfung, er ist doch niemand, der…“
„Während ich geschlafen habe, hat er die Schubladen durchsucht und mein Bücherregal inspiziert.“

So kleinlaut hatte Vincent Adam noch nie erlebt. 

Zurecht.

Er zog seine Hände zurück, um sein Gesicht in eben jenen zu verstecken. Was geschehen war, war der Beginn einer Katastrophe, wenn sie es nicht rechtzeitig genug einfingen. Was geschehen war, war ein Novum, noch nie dagewesen und Vincent hatte das untrügliche Gefühl, dass es nichts damit zu tun hatte, dass Adam mit einem Mal zum Menschenfreund wurde. Nein, er zeigte ein solch großes Interesse an Leo Hölzer, dass dies gefährlich werden konnte für sie alle. Ganz zu schweigen davon, dass der Ermittler Adams Schlaf dazu genutzt hatte, die Schubladen zu durchwühlen, was wieder darauf hindeutete, dass ihre neueste Verknüpfung immer noch nicht aufgegeben hatte. 

Vincent atmete tief durch, als ihm etwas anderes bewusst wurde. Er sah hoch, in Gedanken bereits Notfallpläne schmiedend. „Wie hast du ihn dafür bestraft?“ 

Adams Schweigen verhieß nichts Gutes. Adams Wegsehen durch die blonden Strähnen ebenfalls nicht. Vincent kannte Adams Schwäche für impulsive Handlungen und er zog sorgenvoll die Stirn zusammen. Nach Adams Antwort würde er augenblicklich zu Hölzer fahren müssen um zu sehen, ob der Mann noch lebte. Gut, das war ein wenig übertrieben, denn dieser lebte mit Sicherheit. Die Frage war nur, wie grob er verletzt worden war. Mental oder körperlich. Und wie sehr sich das auf seine erzwungene Mitarbeit und seine Verzweiflung auswirkten. 

„Gar nicht“, murmelte Adam leise und Vincent war im ersten Moment erleichtert. Im zweiten jedoch erkannte er, dass das etwas viel Schlimmeres bedeutete. Gar nicht würde Leo Hölzer noch mehr Mut geben, es würde ihn in seinem ohnehin schon kritischen Widerstand bestätigen. Gar nicht bedeutete, dass Vincent andere Wege gehen musste, die er sich bisher in der Hinterhand gehalten hatte für Notfälle. Eben weil er sie nicht gerne ging. 
Adam schwieg und Vincent machte sich eine gedankliche Notiz, sich Gedanken über Leo Hölzers Familie zu machen. 

„Okay“, sagte er und beruhigte damit mehr sich selbst als Adam. „Wir bekommen das hin.“
„Er ist weiterhin gehorsam“, erwiderte Adam beinahe schon trotzig und Vincent glaubte ihm nur bedingt. Wieso klang es für ihn, als würde Adam den anderen Mann in Schutz nehmen? 
„Du weißt, dass wir beim nächsten Mal eben das auf die Probe stellen müssen. Das ist dir klar, oder?“

Natürlich war Adam das klar, das sah Vincent in der Kiefermuskulatur, die sich erneut zusammenkrampfte. Adam war im ersten Moment unwillig und das war kein gutes Zeichen. Dass er dann einlenkte, schwächte Vincents Eindruck nicht, denn er tat es zähneknirschend und auch nur, weil die professionelle Seite in Adam die impulsive alleine aus Überlebensinstinkt übertraf. 
„Ich habe da eine Idee“, grinste Adam und es war eines seiner falschen Grinsen. Vincent runzelte die Stirn und schüttelte enttäuscht den Kopf. 
„Sei ehrlich, Adam“, wies er ihn sanft zurecht und der blonde Mann rollte mit den Augen. Das Grinsen erlosch und machte einer unerfreuten Grimasse Platz. 

„Du hast doch auch seine Essensgewohnheiten aufgenommen, oder?“ 


~~**~~


Nach fünf Tagen erhielt Leo die Nachricht, dass er erneut zu Schürks Wohnung zu kommen hatte. 

Zwei Tage hatte er gebraucht, um das Buch zu lesen, das ihm als pervertierte Hausaufgabe auferlegt worden war. Nachdem er sich von Henny ein Fingerabdruckkit ausgeborgt hatte um die dort zu findenden Abdrücke nehmen zu können. Die Ergebnisse dessen standen noch aus und Leo hoffte inständig, dass er einen Hinweis erhielt, wer dieses Buch in der Hand gehabt hatte. 
Er selbst hatte es nach der Fingerabdrucknahme überall zur Hand genommen, wo er konnte, aus der tiefen Angst heraus, dass Schürk ihn vorher holen und ihn dafür strafen würde, dass er versagt hatte. 

Vor der Arbeit, in der Mittagspause, nach der Arbeit. 

Kinderliteratur war es, ein missbrauchter Junge, der eigentlich ein Zauberer ist in einer Welt von Zauberern, die vom Bösen bedroht wird. Unterstützt durch seine neugewonnenen Freunde, krude Lehrer in der Zaubererschule, einem Schuldirektor, der soviel mehr war als das und dem offensichtlichen Bösen in Form von alten Magierfamilien und einem Wesen, das nichts Gutes an sich hat. Soweit, so vorhersehbar. Er hatte die Bücher nie gelesen und war auch nicht dazu gekommen, die Filme zu sehen, so war sein erzwungener Ausflug in diese Welt auch geprägt gewesen durch die Angst, etwas Wichtiges zwischen den spärlichen Zeilen zu überlesen. Leo war sich nicht sicher gewesen, ob es ihm nicht vielleicht sonst gefallen hätte. 

Als er mit dem Buch durch war, hatte er sich die Stellen der Eselsohren noch einmal genauer angesehen und festgestellt, dass sie als Lesezeichen dienten. Die Situationen waren anscheinend vollkommen willkürlich und Leo war es schwer gefallen, ein Schema zu finden, nachdem sie dort platziert worden waren. Norbert, the Norwegian Ridgeback, war eines dieser Lesezeichen und Leo hatte keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte. Diagon Alley hatte viele dieser Eselsohrenlesezeichen. Gute Szenen wechselten sich mit schlechten Szenen ab und die Eselohren beliefen sich nicht nur auf einen Charakter oder eine Seite der schwarz-weißen Erzählweise. 

Dass Schürks Handlanger ihm nun mit einem neutralen, aber strengen Blick die Tür aufmachte, war da nur bedingt eine Erleichterung. Mittlerweile wusste Leo, wem das Haus gehörte, zu dem er regelmäßig gezwungen wurde. Er hatte über ihre Datenbank nach dem Namen geforscht und ihn sich auf einen Zettel geschrieben, den er sorgsam in einer, wie er wusste, nicht angeschlossenen Steckdose versteckte. 
Die Adressen der Exposés, die er bei Schürk gesehen hatte, hatte er so gut es ging, ebenfalls rekapituliert und sie sich notiert. Er hatte am Rechner eines Kollegen aus der Wirtschaftskriminalität, der seinen Computer nie sperrte, nach den jetzigen Besitzern und deren Unternehmensstrukturen geforscht, Recherche über die sozialen Medien betrieben und über das Handelsregister Firmenzugehörigkeiten analysiert. 

Es waren Anhaltspunkte für Schürks Machenschaften und vielleicht würde es sie auch in ihrem Mordfall weiterbringen, wenn Schürk wirklich der Täter wäre. 

Knapp und wortkarg erhielt er dieses Mal seine Weisungen und Leo folgte ihnen schweigend. Mantel aus, Schuhe aus, ins Wohnzimmer an den Esstisch. Dort wartete bereits Schürk auf ihn, auf seinen Lippen ein grausames Lächeln, das Leo einen unwohlen Schauer den Rücken hinunterschickte. 
Leos Finger krallten sich an dem zerlesenen, zerknickten, markierten Buch fest wie an einen Anker. Auch jetzt noch, als Schürk seine Hand danach ausstreckte.

„Gib’s her.“

Leo sollte froh sein, es wieder loszuwerden und zum gewissen Teil war er das auch. Der andere Teil in ihm aber war im ersten Moment in der irrwitzigen Vorstellung gefangen, dass er wieder zurück in der Schule war und seine Klausuren zu schreiben hatte – ohne Netz und doppelten Boden, über ein Thema, das er nicht sicher beherrschte. Er wusste, dass dem nicht so war, denn hier war kein Detlef. Hier war nur Schürk. 

Die Ähnlichkeiten zwischen beiden waren mehr als erdrückend. 

Während er noch damit beschäftigt war, sich alle wichtigen Details nochmals vor Augen zu führen, betrat der junge Mann vom ersten Tag den Raum, in den Händen ein Topf dampfendes Etwas, das er nun auf den Tisch stellte. Er zwinkerte Leo freundlich zu, bevor er seinen Blick über den Tisch schweifen ließ, prüfend, was noch fehlte. Leo kannte diesen Blick von seinen Eltern. Jedes Mal, wenn sie für ihre Kinder kochten und den Tisch deckten. 

„Setz dich hin“, sagte Vincent und Leo folgte dem Fingerzeig. Wieder mit dem Rücken zum Raum, wieder nicht in der Kontrolle der Situation. Leo verstand den Sinn dessen, besser machte es das aber nicht. Seine Augen huschten zu der Anrichte, in der er die Exposés gefunden hatte. Sie waren mit Sicherheit nicht mehr dort zu finden. Dass ihm bisher noch nicht verboten wurde, in diese Richtung zu ermitteln, sprach mit Sicherheit einzig und allein von der Arroganz des blonden Mannes.

Bastian kam erneut zurück und brachte tiefe Teller und Besteck. Er deckte den Tisch und tunkte daraufhin eine große Schöpfkelle in die sämige Masse an irgendetwas, die sich mit einem trägen Schlörp bewegte. 

Verwirrt sah Leo ihm zu, verwirrt versuchte er, die ganze Situation für sich einzuordnen. Hatte er Demütigung und eine scharfe Befragung über das Buch erwartet, war er nun verpflichtet, mit ihnen am Tisch zu sitzen und zu essen? 
Oder würde er nichts bekommen und war das die Demütigung? Leo war es sogar lieber, er wollte sowieso nichts essen und glaubte auch nicht, dass er in der Gegenwart der beiden Männer genug herunterbekam.

Viel eher ließ er da seine Aufmerksamkeit und seine Gedanken zu dem Mann wandern, der mit einem zufriedenen Lächeln auftischte und der beim ersten Treffen Schürk mir nichts, dir nichts oral befriedigt hatte. Schamlos, offen, ohne zu zögern. Wurde er dazu gezwungen? Hatten sie ihn ebenso in der Hand wie Leo auch? Hatte er sich damit abgefunden, einfach gerufen zu werden und dann mit sexuellen Dienstleistungen aufwarten zu müssen?

Leo schluckte, als seine Gedankenspirale ihm genau diese Möglichkeit zeigte…vielleicht in ein paar Monaten, wenn er aufgegeben hatte, sich zu wehren. Wenn er festgestellt hatte, dass es einfacher sein würde, Schürk das zu geben, was er wollte. Wenn er die Arbeit für die Polizei nicht mehr ertrug und von sich aus das Beamtenverhältnis auflöste und es dann niemanden mehr interessierte, was mit ihm war. 

„Denkst du, dass es klug ist, uns keine Aufmerksamkeit zu schenken?“, fragte Schürk in eben jene Spirale hinein und Leo zuckte brachial zusammen, als er sah, dass der Mann – Bastian – eine Kelle der Masse über seinem Teller schweben ließ und ihn fragend ansah.
Leo schüttelte stumm den Kopf, doch der Mann ihm gegenüber lachte nur. 
„Tu ihm drauf, Bastian“, befahl Schürk und Leo sah mit Unwohlsein, was sich da auf den vor ihm stehenden Teller entlud. 

Möhrenkartoffeleintopf. 

Wenn es eines gab, was er nicht mochte, dann das. Wenn es eines gab, was er seit seiner Kindheit verachtete an Essen, dann das. Er hasste Möhren. Er mochte Kartoffeln in Eintopfform nicht. Er mochte Eintöpfe generell nicht. 

Es nun vor sich zu sehen, war der Horror für Leo.

Bastian tat ihm auch noch eine zweite Kelle auf und Leo spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. 

Nur am Rand nahm er wahr, dass er der Erste gewesen war, dem Bastian aufgetan hatte. Erst danach bekamen Schürk und sein Handlanger aufgetischt, die nun beide fast unisono zu den Löffeln griffen. 
„Braucht ihr noch was?“, fragte Bastian und Schürk verneinte schon mit vollem Mund und einem Schlag auf Bastians Hintern, den dieser mit einem lüsternen Hüftgewackel quittierte. 
„Brauchst du eine extra Einladung?“, fragte Schürk ihn lauernd, sobald sie nur zu dritt in dem Wohnzimmer saßen und Leo starrte auf die sämige Masse. Alles in ihm verweigerte sich. Alles in ihm rebellierte gegen dieses Essen. So war er immer schon gewesen, auch als kleiner Junge. 

Leos rechte Hand ballte sich zur Faust und einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich zu verweigern und nein zu sagen. Sicherlich würde Schürk ihn dann wieder knien lassen. Oder würde er dieses Mal etwas Schlimmeres tun, weil Leo sich seinen Befehlen beim letzten Mal widersetzt hatte?
Leo hielt sich vor Augen, dass es sich bei dem Mann um einen unberechenbaren Psychopathen handelte und dass er nicht sicher vorhersagen konnte, wie er auf so etwas Einfaches reagieren würde. 

Er griff zu dem Löffel, tauchte ihn in die Masse und führte ihn zum Mund. Alleine schon der Geruch der Karotten reichte ihm und Leo grub die Finger seiner freien Hand in seinen Oberschenkel, bildete ein schmerzhaftes Gegengewicht zu dem, was er seinen Geschmacksknospen antat. Was er sich selbst aufzwang um Schlimmeres zu verhindern. 
Schweigend würgte er hinunter, was ihm vorgesetzt worden war, den Blick beider Männer auf sich wissend. Wie gerne hätte er den fürchterlichen Geschmack mit Wasser heruntergespült, doch für ihn stand kein Glas auf dem Tisch. 

Bewusst nicht, erkannte Leo. So wie Schürk seine Vorliebe beim Wein kannte, kannte er vielleicht auch seine Abneigung beim Essen. Oder? 
Er krallte nun auch die Nägel in den Stoff seiner Chino um seiner Gefühle Herr zu werden. Du kannst es durchstehen, sagte er sich selbst. Du kannst das. Es ist nur Essen und zur Not erbrichst du es wieder. Wie so oft in der letzten Zeit. Du hast mittlerweile Übung darin. Iss, dann bist du schneller fertig, dann haben sie weniger Grund, dich zu strafen. 

Nichts davon half ihm jedoch bei seiner Wut und seinem Hass auf Schürk und den Mann, der neben ihm saß. Wo er vorher Verzweiflung und Angst gewesen waren, wurden diese nun nahtlos ersetzt durch die schwere Kälte des Zorns in seiner Magengrube. Noch war sie nur zart da, aber Leo spürte bereits, wie sie sich zu einem festen Knoten in ihm entwickelte. 

Schweigend aßen sie zu Ende und Leo legte erleichtert den Löffel zur Seite, als sein Teller leer war. 

Schürk und sein Handlanger waren schon fertig und es war der blonde Mann, der seine Ellbogen auf den Tisch stützte und ihm seine vollständige Aufmerksamkeit widmete. 
„Und, hat‘s geschmeckt?“, fragte er mit einem dunklen Lächeln auf seinen Lippen, das Leos Verdacht beinahe augenblicklich bestätigte. So war es auch nicht schlimm, dass Leo mit dem Kopf schüttelte, den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet, sein Mund voller ekelhaft süßer Möhrengeschmack, der einfach nicht weggehen wollte, egal, wie oft er schluckte. 

„Nein“, erwiderte er mit unterdrücktem Zorn und Schürk brummte. 
„Ich weiß.“

Da hatte er sie, seine Bestätigung und Leo kämpfte für den Bruchteil eines Momentes gegen den Schwindel an, den diese simple Bestätigung mit sich brachte. Sie hatten ihn bewusst dazu gezwungen, etwas zu essen, was er verabscheute und nicht mochte. Um was? Ihm zu zeigen, wie wenig er die Wahl in seinem Leben hatte, wenn sie es darauf anlegten? 

Vermutlich war es wohl so und Leo musste diese bittere Tatsache wortwörtlich schlucken. Das Rauschen in seinem Kopf wurde für einen Augenblick übermächtig und Leo wusste nicht, wie er dem Druck in seinem Inneren Herr werden sollte. Dem Hass, der so ungebremst in ihm aufwallte, wie er ihn noch nie erlebt hatte. So brennend, dass er nicht mehr wusste wohin mit diesen negativen Emotionen.  

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, fragte Schürk in einem abrupten Themenumschwung und Leo war auf eine bigotte Art und Weise dankbar darum. Er hätte nicht gewusst, ob er genug Beherrschung hätte aufbringen können, Schürk nicht ins Gesicht zu schlagen und seinen Kopf solange in den Topf mit Eintopf zu tunken, bis er aufhörte zu atmen. Es löste ihn aus seinem Hass, weil er sich nun auf andere Dinge konzentrieren musste.  
„Ja“, erwiderte er anstelle dessen rau, so tonlos, wie es möglich war. 
„Worum geht es?“
„Um einen elfjährigen Waisenjungen aus missbräuchlichem Pflegeelternhaus, der entdeckt, dass er ein Zauberer ist und auf eine Schule für Zauberer gehen soll. Dort wird er in eines der vier Häuser eingeteilt und kämpft mit seinen Freunden gegen das aufkommende Böse, das mithilfe eines Steins wieder zurück in seine menschliche Gestalt finden möchte.“

Wieder und wieder hatte Leo sich zuhause die Inhaltsangabe zurechtgelegt. Knapp, kurz, präzise ohne Hinweis darauf, wie er den Inhalt des Buches fand. 
„Was ist die Moral des Buches?“  
„Das Böse ist immer einen Schritt voraus.“ Auch das hatte Leo sich zurechtgelegt. Er sah es zwar nicht so, aber das wäre das, was Schürk hören wollte, der selbstverliebte Psychopath. Es würde auch den Verdacht von dem ablenken, was er gerade auf der Arbeit tat und sein Zähneknirschen war mit Sicherheit glaubwürdig genug. 
„Ist es das?“
„In diesem Buch schon.“
„Wie das?“
„Obwohl der junge Zauberer alles daran setzt, ihn zu vernichten, kann das böse Wesen zum Schluss fliehen. Da spielt es keine Rolle, dass sie den wahren Schuldigen enttarnen und der vermeintlich Böse dann doch nicht der Böse ist. Da spielt es auch keine Rolle, dass der gequälte Junge durch die Liebe seiner Mutter besonders geschützt ist, das Böse entkommt trotzdem um stärker zu werden.“

Schürk hörte ihm ruhig zu und für die Momente seines Monologes hatte sich die Mimik auf dem Gesicht des anderen Mannes subtil verändert. Vielleicht waren es nur Leos überreizte Nerven, seine brach liegende Ruhe, vielleicht war es auch einfach Wunschdenken, aber Schürks Gesicht wurde weicher, die Arroganz für einen Augenblick schweigend. Das spornte den Hass in ihm noch mehr an. 

„In wem siehst du dich?“, fragte Schürk neutral und überrascht musterte Leo ihn. 

Mit wem identifizierte er sich? Mit keiner der Figuren. Er war kein Kind mehr und selbst als Kind war er wie keine dieser Figuren gewesen. Ähnlichkeiten hatten bestanden, ja, aber nicht in einem solchen Maße. Seine Eltern waren nie etwas Anderes als gütig und wundervoll zu ihm gewesen. Gut, er hatte in der Schule Gewalt erlebt und er hatte seine Wege finden müssen, damit umzugehen. Aber er hatte sich nie so gewehrt, wie es der Junge in den Büchern getan hatte – er hatte sich in seine eigene Welt geflüchtet und dort Heilung erfahren. 

Es war nichts, was hier jemanden etwas anging. Leo schüttelte den Kopf. „In niemandem.“

Schürk lächelte und Leo wusste, was dieser fragen würde, noch bevor er den Mund aufmachte.  „Und ich?“ Vorhersehbar.

Die augenscheinlichste Antwort darauf war Voldemort. Das unbeschreibliche Böse, der, dessen Name nicht genannt werden durfte. Leo war durchaus versucht, diese Parallelen zu sehen und dennoch gab es da jemand anderen, den er sehr viel stärker mit Schürk in Verbindung brachte, mit dessen sinnloser, roher, brutaler Gewalt und dessem Sadismus. 

„Draco Malfoy“, lautete sein Urteil und Schürk war so ehrlich erstaunt darüber, dass Leo zur Seite sehen musste. 
„Das musst du mir näher erläutern“, schnarrte er und Leo presste die Lippen aufeinander. Er wollte nicht, aber was blieb ihm anderes übrig.
„Während Voldemorts Vorhaben lautet, wieder an die Macht zu kommen und an Stärke zu gewinnen, ist er ein durch und durch böses Wesen. Er hat einen Zweck dahinter, einen Plan. Draco Malfoy ist um der Lust willen böse, er liebt es, seine Gegner schlecht zu behandeln und sie durch seine Handlanger triezen zu lassen. Dabei ist er eingebunden in strikte Familienstrukturen alten Blutes, die viel Geld und damit auch Macht und Einfluss haben. Diese Strukturen und dieses Verhalten erkenne ich auch an dir“, erläuterte Leo und richtete seinen festen Blick auf Schürk, dessen blaue Augen ihn schier aufspießten. 

Schweigend maßen sie sich und nur der fragende Laut seines Handlangers durchbrach die Stille des Momentes. 

„Das Du steht dir nicht zu, Leo“, sagte er ruhig, aber mit einer Dominanz, die an Leos Selbstbeherrschung kratzte. Sie passte irrsinnigerweise nicht zu der Weichheit in der Stimme, sie passte schon gar nicht zum Aussehen des Mannes neben ihm und Leo erkannte, was für einen Fehler er begangen hatte, als er Vincent unterschätzt hatte. Nun zum zweiten Mal schon.

Er wagte es, seine Aufmerksamkeit von Schürk ab- und zu Vincent hinzuwenden. Er wagte es, ihm in die Augen zu starren und wurde sich bewusst, was dieser gerade gesagt hatte. Das Du stand ihm nicht zu. Dass er nicht lachte. Als wenn er es jemals gewollt hatte, dieses vertrauliche Du. Als wenn er jemals eine Wahl gehabt hatte, es abzulehnen. Leo reagierte mit innerer Wut auf diese Worte. War das ein weiterer, pervertierter Test? Ein Umsprung in den Gepflogenheiten, damit er absichtlich Fehler machte?

„Ich habe mir das Du nicht ausgesucht, richte mich aber gerne nach Ihren Regeln“, erwiderte er mit mühsam zurückgehaltenem Zorn und sah für eine Sekunde Überraschung auf dem Gesicht des Handlangers. Sie war schnell verschwunden, aber unmissverständlich da und Leos Ermittlergeist stürzte sich darauf wie ein Aasgeier auf einen Kadaver. 
Vincent hatte keine Ahnung, was Schürk getan hatte. Er war nicht dabei gewesen und Schürk hatte das seinem Handlanger verschwiegen. Bis jetzt. 

Sie führten keine hundertprozentig offene Informationspolitik. 

„Ich habe es ihm angeboten, wir saßen so nett zusammen“, erwiderte Schürk lapidar und lehnte sich wie ein Gönner auf seinem Stuhl zurück. Leo sah es nur aus dem Augenwinkel heraus, wollte er doch den neben ihm sitzenden Mann nicht aus den Augen lassen, dessen Unwissen ihm soviel mehr verriet als Schürks nonchalantes Gehabe. 

Auch wenn er sich beherrschen musste, bei Worten wie angeboten und nett nicht verächtlich zu schnauben. Beides war gelogen. 

Vincent erwiderte nichts, doch der Blick, den er zu Schürk schickte, sprach Bände. Ebenso wie Schürks nonverbale Antwort darauf. Leo nahm das zum Anlass, seinen wieder auf die Tischplatte zu senken und darauf zu hoffen, dass er nicht der Kollateralschaden der Unstimmigkeiten zwischen beiden Männern wurde. 

„Sei es drum“, erhob Vincent schließlich das Wort. „Wenn dem so ist, möchte ich dem natürlich auch nicht nachstehen. Mein Name ist Vincent, das Sie kannst du dir ab heute sparen.“
Leo schluckte. 
„Verstanden“, nutzte er die Floskel, die ihm mit am Leichtesten über die Lippen ging. Gelogen war sie alle Male. 

Er verstand nicht, aber er ahnte und sammelte Indizien. Er ließ das Wissen um diese Tatsache ein Gegengewicht zu dem ekelhaften Geschmack in seinem Mund sein. Ein kleiner Sieg, unbedeutend vielleicht. Aber er schenkte Leo Hoffnung. 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 6: Oktopusattacke

Notes:

Guten Start ins Wochenende euch allen,

hier nun der neue Teil. :) Vielen lieben Dank für eure Kommentare, Klicks, Kudos und co. Viel Spaß euch beim Lesen! ;)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Los, gib mir das Hörnchen!“ 
„Nö, das ist das Letzte, das will ich.“
„Ey, ich bin schon länger hier.“
„Na und? Alter vor Schönheit.“
„Klar, Oma!“

Seit Schürks Handlanger ihn auf der Parkbank ausgefragt und zu erkennen gegeben hatte, dass er von Frau Schillers Befragung wusste, war Leo sich nicht mehr sicher, was die Integrität seiner beiden Ermittlerinnen anbetraf. 
Woher sollte er es sonst wissen, wenn nicht von Pia oder Esther? Sie hatten noch keinen Vermerk darüber gefertigt, sie hatten das noch nicht verschriftlicht, also wussten nur sie drei davon. Leo hatte ja noch nicht einmal das Schaubild ergänzt, das sie auf ihrer großen Tafel erstellt hatten um die Verbindungen des Toten optisch darzustellen.  

Dass Frau Schiller diese Information weitergegeben hatte, glaubte er nicht, schließlich schien sie so gar keine Verbindung zu Schürk oder gar zur OK zu haben. Eigentlich. Uneigentlich war die Uhr, die er gestern mit vor Angst wild klopfendem Herzen und Übelkeit im Magen beiseite geschafft hatte, ein deutliches Indiz darauf, dass die beiden Fälle sehr wohl etwas miteinander zu tun hatten.

Mirko Linz war ein Drogendealer gewesen, jemand, der von seiner abweisenden Freundin in den Himmel gelobt und von seinen schweigsamen Nachbarn als freundlicher Mensch bezeichnet wurde. Bisschen seltsam, manchmal laute Musik, aber ansonsten nichts. Das war beinahe schon auffällig wenig Informationen, die sie erhielten. Und doch war er ermordet worden und hatte die Uhr eines Toten am Handgelenk. 
Auf seine erneute Frage an Miriam Holler, der Freundin des Dealers, ob Linz oder sie einen Elias Schiller kannten, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt, das Bild der Uhr hatte ihr nur ein verächtliches Schnauben entlockt. 
Hässliches Ding, hatte sie die Uhr genannt und alles daran war glaubwürdig gewesen. 

Leo hatte festgestellt, dass der Hass und Zorn auf Schürk nach dem aufgezwungenen Essen ein guter Motivator für ihn waren, sich in die Ermittlungsarbeit hinein zu knien und auch das kleinste Geheimnis aufzudecken, was sich hinter einer ungelösten Frage befand. Er war so derartig wütend auf Schürk und seinen verfluchten Handlanger, dass er in den vergangenen Tagen nichts unversucht gelassen hatte um an Informationen zu kommen. Freunde, Schulkollegen, Familie von Mirko Linz, auch den erweiterten Kreis. Lehrer, Ex-Freundinnen, soweit sie der Familie bekannt waren…sie alle hatte er durchtelefoniert. Nicht von seiner Nummer aus, sondern von einem ihrer Diensthandys, die eigentlich schon zur Vernichtung vorgesehen waren mit einer eigens gekauften Simkarte.

Seine Wut und die augenscheinlichen Unstimmigkeiten zwischen Schürk und seinem Handlanger halfen ihm dabei, die Unsicherheit zu ertragen, die mit der Frage einherging, ob er überhaupt das Richtige tat. Sie halfen ihm, ein wenig Hoffnung zu schöpfen, doch eine Chance gegen den Psychopathen zu haben. 
Immer wieder kehrten Leos Gedanken zu Schürk zurück, der einfach eingeschlafen war. Leo hatte in dem Moment die Befürchtung gehabt, dass er mit Gewalt auf seinen Ungehorsam reagieren würde, doch nein. An dem Abend war da nichts gewesen. Er hatte ihn gehen lassen, natürlich mit sadistischer Drohung, aber letzten Endes…

Und er hatte ihm dieses Buch gegeben, das Leo immer noch Rätsel aufgab. Seine Interpretation war Schürk-gefällig gewesen, ja, aber Leo spürte, dass es nicht alles war, was der blonde Mann damit hatte sagen wollen. Warum war dieses eine Buch so wichtig für ihn, dass er es Leo mitgegeben hatte? 

Das Stück Hörnchen, das ihn an der Nase anstupste, riss Leo nahtlos aus seinen Gedanken und abrupt sah er zu Pia hoch, die es ihm auffordernd vors Gesicht hielt. 

„Na los, Mund auf. Du siehst aus, als hättest du heute noch nicht gefrühstückt“, forderte sie und Leo konnte ihr nur beipflichten. Hatte er auch nicht, seitdem Schürk ihn dazu gezwungen hatte, den Eintopf zu essen, war ihm nicht danach gewesen, sich selbst etwas zu kochen oder mehr als ein paar Kleinigkeiten zu essen. Alles kalt und alles möglichst fest. Nun öffnete er aber gehorsam den Mund und kaute das Stückchen trockenen Süßgebäcks.
„Ich verstehe eure Vorliebe dafür nicht“, sagte er mit vollem Mund und Pia schnaubte. 
„Klar, du Exilsaarbrücker. In Berlin gab’s was Besseres oder wie?“
„Schrippen eben.“
„Kostverächter.“
„Provinzgourmetfrau.“ 

Es fiel ihm leicht, sich mit ihr zu foppen und es tat Leo gut. Es löste in Ansätzen seine Zweifel, dass sie für Schürk arbeitete, auch wenn diese Annahme einzig und allein auf einem Bauchgefühl beruhte, das er mit nichts begründen konnte. Esther dann vielleicht? 
Leos Augen huschten über Pias schelmisches Gesicht und er war in diesem Moment mehr als versucht, an ihre Unschuld zu glauben. Sie zwinkerte und warf dann einen Blick auf die Wand hinter ihm, die ihnen viel, aber nicht den Täter, offenbarte. 

„Was ist dein Bauchgefühl?“, fragte Leo und Pia zuckte mit schiefem Lächeln die Schultern. 
„Ich sage, es war das Syndikat. Vielleicht hat er sich etwas zu Schulden kommen lassen, wollte aussteigen, hat sich mit den falschen Leuten angelegt, sowas… das war kein Raubmord aus Gier. Man foltert niemandem und erdrosselt ihn dann, wenn man auf Profit aus ist. Das war ein Zeichen für andere.“

Leo drehte sich um und folgte ihrem Blick, blieb an dem Bild des Ermordeten hängen. Er erinnerte sich an Schürks Worte, an sein Handeln, an dessen Nähe und versuchte daraus Informationen zu gewinnen. Es schien, als wäre Schürk wütend über seinen Vorwurf gewesen, dass er Linz umgebracht hätte. Schürk hatte aber seine Aussage, dass er es wissen müsse, nie verneint, also hatte er eventuell eine Ahnung?
Was war mit seinem Handlanger? Traute Leo dem ruhigeren Mann so etwas zu? Bei Vincent sagte sein Bauchgefühl nein, aber konnte er sich in dem Fall überhaupt noch darauf verlassen? 

„Aber wir haben nichts“, erwiderte er nachdenklich und Pia nickte. 
„Nichts, außer dem Schatten namens Schürk und seinen Strukturen, die wir nicht zu fassen bekommen.“
Leo konnte mit Mühe verhindern, dass er bei dem Namen zusammenzuckte. Anstelle dessen presste er seine Lippen aufeinander und verschränkte seine Arme, um die vor Zorn geballten Fäuste zu verbergen. 
„Es ist erschreckend, wie wenig wir über sie wissen und wie verschwiegen sie sind. Dass er bei dir auch so aalglatt war“, fuhr Pia fort und Leo knirschte mit den Zähnen. Ach ja, seine mehr als hilflose Lüge, dass Schürk ihn hatte abblitzen lassen. Dass er ihn einfach so abgefertigt hatte. 

Leo war sich noch nie so schlecht vorgekommen wie in dem Moment und er hasste es auch jetzt noch, Pia deswegen anlügen zu müssen. 

„Gab es nichts, was ein Anhaltspunkt hätte sein können?“

Sie fragte das nicht zum ersten Mal und nicht zum ersten Mal schüttelte Leo den Kopf. „Seelenlose Wohnung, oberflächliche Worte. Nichts, was irgendwie darauf hindeutet, dass er Mirko Linz überhaupt kennt.“ Es war nur teilweise gelogen. 
„Wir haben im Übrigen den Vermieter des Hauses gecheckt und festgestellt, dass er über Umwege in geschäftlichen Verbindungen mit Schürk Senior und einer seiner Firmen steht. Das Ganze läuft über drei Ecken, aber eine Verbindung ist da.“
„Für eine Wohnung, die viel zu groß und viel zu teuer für jemanden ist, der sich mit Gelegenheitsjobs und Drogen über Wasser hält.“
„Genau. Das Haus gehört einem gewissen Barns. Boris Barns. Taucht immer wieder mal mit Schürks Namen in Verbindung auf.“
„Vorstrafen, Einträge, irgendetwas?“
„Nichts.“

Frustriert musterte Pia ihn und am Liebsten hätte Leo ihr alles erzählt. Hätte ihr eine Grundlage geliefert, Schürk sofort zu inhaftieren und zu verhören. 
„Also ist er genauso sauber wie alle anderen auch“, resümierte Leo und zog angewidert seine Lippen zurück. „Niemand von denen hat was auf dem Kerbholz.“ Er schüttelte frustriert den Kopf. Natürlich nicht, wenn sie die Polizei, Staatsanwaltschaft und die Gerichte unter Kontrolle hatten. Die Straftatbestände, wegen denen er bereits jetzt schon gegen Schürk aussagen könnte, waren mannigfaltig. 
„Alles okay mit dir? Das scheint dir nahezugehen“, fragte die aufmerksame Pia und Leo sah mit einem gezwungenen Lächeln hoch. 
„Alles gut. Ich bin nur frustriert, weil ich ein anderes Bauchgefühl habe.“ Eine Lüge nahe an der Wahrheit war immer noch die beste Lüge, befand er und Pia schien sie anstandslos zu schlucken. 

„Kommst du heute Abend eigentlich mit?“, fragte sie und Leo schüttelte den Kopf. Sie trafen sich wieder auf dem Schiff – etwas trinken, essen, quatschen. Gerne wäre er bei ihnen gewesen. 
„Nein, ich bin bereits verabredet.“ Das war auch eine dieser Lügen, denn eine Verabredung basierte auf Freiwilligkeit und gegenseitigem Wollen, nicht auf ~Heute Abend, 19:00 Uhr bei mir.~. 
„Du wirkst immer noch nicht glücklich darüber.“

Leo hob vielsagend seine Augenbraue und versteckte dahinter die kurz aufflammende Panik in ihm, dass er für seine Kollegin so leicht lesbar war. 

„Ist okay“, zwinkerte er und Pia boxte ihm spielerisch leicht gegen den Ellbogen. 
„Für ist okay sind das aber ziemlich viele Treffen.“

Ja. Leider. 


~~**~~


Aufmerksam beobachtete Leo die langen Finger, die die ihm zwangsweise entgegengestreckte Uhr ungewohnt vorsichtig entgegennahmen. Normalerweise waren Schürks Bewegungen ausladend, arrogant und selbstsicher. Sie waren ebenso hassenswert wie der Mann selbst. Das hier hingegen war ein Bruch in dem Schema und Leo ließ zu, dass sein Ermittlerverstand sich jedes einzelne Detail dessen einprägte. 

Wenn es nur ein Beweisstück war, warum war Schürk dann so vorsichtig? Warum war das arrogante, zynische Grinsen auf seinem Gesicht dann so eingefroren? 

„Braver Polizist“, lobte Schürk ihn herabwürdigend, aber er war nicht bei der Sache. Gerade jetzt nicht, als er sich von ihm wegdrehte und die Uhr zu seinem Bücherregal brachte und sie dort in eine Schatulle legte. Ein dunkles Holzding, das Leo bei seinem Streifzug durch die dort stehenden Werke zu spät gesehen hatte. Schürk kam zu ihm zurück und musterte ihn mit seichtem Amüsement. 

„War‘s schwer?“, fragte er und Leo erwiderte das Starren. Es fiel ihm leichter nach dem letzten Mal. Es fiel ihm leichter, wenn Schürks Handlanger nicht da war, der für Leo eine Art pervertierte Anstandsdame war. 
„Wer hat Elias Schiller umgebracht?“, erwiderte er deswegen Schürks Provokation mit seiner ganz eigenen und brachte den anderen Mann für die Dauer von wenigen Sekunden aus dem Konzept. Schürk fror ein, in seinen Reaktionen und seinem Denken. Er war darauf nicht vorbereitet gewesen. Er fand darauf keine Antwort oder eine Reaktion und rettete sich dann in Arroganz. 

„Neugier ist der Katze Tod“, rettete Schürk sich in drohende Plattitüden und zum ersten Mal sah Leo das klar und deutlich, ohne störende Angst. Es war eine non-Antwort und gleichzeitig eine Ablenkung. Die Frage war nur, von was? Der Wahrheit? War Schürk der Mörder? Leo traute es ihm zu, wenn er es sich ehrlich eingestand. 
„Aber hier gibt es keine Katzen“, griff Leo Schürks Worte von ihrem vorletzten Zusammentreffen auf und wieder war seine Antwort nicht erwartet worden. 
„Der besserwisserische Herr Hölzer“, raunte Schürk und unterschritt seinen persönlichen Sicherheitsabstand. Wieder um ihm zu drohen. Leo blieb verbissen stehen und beobachtete, auch wenn ihm das Herz bis zum Hals schlug. Wie würde Schürk mit dieser Provokation umgehen?

Seine Antwort erhielt Leo schneller, als es ihm lieb war und er hatte Mühe, bewegungslos auszuharren, während Schürk sich über seinen Hals beugte und seine blonden Haare Leos Ohren kitzelten. Er war ihm so nahe, dass Leo seine Körperwärme spürte und sein Aftershave roch. Schürk selbst roch an ihm, an seiner Halsbeuge. Schon wieder. 
Leo verharrte bewegungslos, insbesondere jetzt, da Schürks warmer Atem über seine Ohrmuschel strich.

„Miau“, gurrte er und Leo schauderte unkontrolliert. Es ließ Schürk lachen und ihm gönnerhaft die Wange tätscheln.

Eine Antwort erhielt er nicht. Wohl aber die Anweisung, sich auf die Couch zu begeben und mit Schürk einen Film zu schauen. Über einen korrupten Polizisten und ein hilfloses Rechtssystem ohne Happy End. Es war Schürks Art ihm zu zeigen, dass er Leo vermeintlich über war und um ihn zu provozieren. Leo ertrug es und dachte währenddessen an das kommende Treffen mit Caro, auf das er sich wirklich freute. 


~~**~~ 


Adam zog den Schal enger, den er sich mehrfach um den Hals geschlungen hatte. Er trug einen dicken Mantel und darunter einen seiner vielen Anzüge. Dieses Mal sogar mit Rollkragen, weil es einfach zu kalt war. War es denn zuviel verlangt, dass es Schnee gab und keinen Schneeregen und das auch noch drei Wochen vor Weihnachten? Ja war es und so lief die eiskalte Suppe in die Kanalisation, nachdem sie ihn gepeinigt hatte. 

Der Mantel, den er trug, war schwarz und das auch nur, weil er Außentermine hatte, die er für das Arschloch wahrnehmen musste. Ein Schürk hatte Präsenz im Imperium zu zeigen. Ein Schürk hatte seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu zeigen, dass er da war und wachte. Dass er alles in fester Hand hatte. 

Soweit zum Erfolgsrezept des Alten, dem auch er sich zu beugen hatte. 

Heute war ihr ansässiger Kunsthändler an der Reihe, der seine nahen und ausgezeichneten Verbindungen nach Frankreich nutzte, um illegale und legale Kunst über die Grenzen Europas zu bringen und ihren Geschäftspartnern jeden Wunsch zu erfüllen, den sie hatten. Bonhöffer war ein Experte auf seinem Gebiet und er liebte Geld…eine gute Kombination für seinen Alten. 

„Herr Schürk, wie außerordentlich schön Sie zu sehen, wie geht es Ihnen?“ Was Adam an Bonhöffer so hasste, war seine aalglatte und kriecherische Art. „Sie hier in meiner bescheidenen Stube. Kommen Sie doch. Kommen Sie. Tee, Kaffee, etwas Anderes?“
Adam hasste ihn wirklich.

Schweigend betrat er die Kunstgalerie und sah sich um. Nichts hiervon interessierte ihn wirklich und eigentlich war das alles auch nur Tarnung. Ein Galerist, ansässig in Saarbrücken, der sich auf moderne Kunst spezialisiert hatte. 
„Ich will nichts“, sagte Adam an der Grenze des Unfreundlichen und Bonhöffer verbeugte sich vor ihm. Angewidert wohnte Adam dem Schauspiel bei. 
„Wie geht es Ihrem geschätzten Vater? Gut, hoffe ich?“
„Erfreut sich bester Gesundheit.“
„Das ist wundervoll, richten sie ihm schöne Grüße aus.“
Den Teufel würde er tun. Adam erwiderte nichts, sondern nahm einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels. Der Alte hatte ihm eine Liste mit Kunstgegenständen aus Syrien gegeben, an denen ein chinesischer Partner Interesse hatte. Raubkunst im reinen Sinn. 

Er reichte die Liste oldschool weiter und der Mittfünfziger nahm sie mit einer weiteren, kleinen Verbeugung an. 
„Vielen Dank für Ihr Vertrauen. Danke vielmals“, hauchte er vor Ehrfurcht triefend und Adam fühlte sich alleine durch die Worte beschmutzt. 
„Wir erwarten Ihre Ergebnisse in zwei Wochen.“ 
„Selbstverständlich.“

Mit einem letzten Blick auf Bonhöffer, den er um gut einen Kopf überragte, verließ Adam die Galerie wieder und nahm den Eisregen dieses Mal als Befreiung und nicht als Last. Er hasste Arschkriecher, auch wenn er sich durchaus bewusst war, dass ihr System genau darauf beruhte. Angst, Unterdrückung, Belohnung. Das Recht des Stärkeren. Adam müsste lügen, wenn er die Vorteile dessen nicht genießen würde und es sich in diesem System nicht häuslich eingerichtet hätte. 

Bis jetzt. 

Der ewig gleiche Rhythmus seiner Aufgaben innerhalb des Syndikates, der immer aus den gleichen Prozessen bestand, war mit ihrer neusten Verknüpfung durcheinandergekommen. 

Leo Hölzer, der Mann, der sich nicht fügte.  

Er gehorchte, aber er war nicht unterwürfig dabei. Er fügte sich und doch war da Widerstand in jeder einzelnen Faser seines Daseins. In seinen Augen, seiner Mimik, seinen Worten. Adam wartete nur darauf, dass Hölzer eine seiner unverschämten Fragen stellte, die ihn herausforderten. Er wartete auf den Widerstand, der kam und kam und kam und nicht versiegte. Adam wollte mehr davon und genau da begann sein Problem. 

Vincent hatte Recht gehabt mit seinem Hinweis, dass sie Hölzers Gehorsam auf die Probe stellen mussten. Entsprechend gut war es gewesen, dass er beim letzten Treffen nicht dabei gewesen war, denn die Frage des Ermittlers wäre für Vincent ein weiterer Grund gewesen, ihn auf seine Position hinzuweisen. In der Frage hatte eine ganz klare Herausforderung geschlummert, ein verbaler Schlag. Da war kein „Weißt du, wer“ gewesen. Keine Vermutung, ob er es wissen könne. Nein. Hölzer hatte von der Uhr aus darauf geschlossen, dass Adam es wusste. 

Und er hatte Recht gehabt. 

Dass er darauf nie eine Antwort erhalten würde, stand auf einem anderen Blatt, aber Adam hatte in dem Moment mehr als stark mit sich und seinem Verlangen nach diesem Mann zu kämpfen gehabt. Oh wie gerne hätte er den strengen, unnachgiebigen Mann die Kontrolle entrissen und ihn solange gefickt, bis er nicht mehr gewusst hätte, wo er sich befand und wo er aufhörte und wo Adam begann. Er hatte es nicht getan und würde es auch nicht tun, aber dennoch. Seine Fantasie war frei und damit auch das Bedürfnis, sie anderweitig zu befriedigen. 

Durch Unterhaltungen, in denen Hölzer ihm respektlose Antworten gab. Und als würde er ihr System verstehen, war er bei Vincent handzahmer und beherrschter. Bei Adam jedoch kam das durch, was er Feuer nannte und deswegen würde Adam auch weiterhin versuchen, eben jenes zu entfachen. 

Ein oder zwei Treffen abseits der Vincentschen Normalität dürften ja nicht schaden.

Adam sah auf seine Uhr, als ihm eine Idee kam. 

Warum sollte er Hölzer eigentlich nicht in seiner Wohnung aufsuchen?


~~**~~


„Hey großer, kleiner Bruder“, grinste Caro, als sie schwer beladen mit ihrer Essenstüte und den beiden Flaschen Glühwein in seiner Tür stand und ihm ins Gesicht ächzte, als er ihr zumindest die Essenstüte abnahm. Wer auch immer das alles essen sollte – er nicht. Sein Hungergefühl war auch nach den Monaten, die seit seiner ersten Begegnung mit Schürk vergangen waren, immer noch nicht richtig zurückgekehrt. Ja, er aß, wenn er musste und nahm auch entsprechend hochkalorische Nahrung und Getränke zu sich, aber wirklich Lust am Essen oder Snacken hatte Leo schon lange nicht mehr. Schon gar nicht nach dem Eintopf.

Er hatte die Befürchtung, dass die lästige Ziege von einer Ärztin, die sich seine Schwester schimpfte, das bei ihrem letzten Videochat gesehen hatte, weswegen sie heute mit Chips, Schokolade, Lebkuchen und Lakritz aufwartete. Zusätzlich zum Chinesisch, das sie bestellen würden, weil es eigentlich Leos Lieblingsessen war. Weil sie das eigentlich immer machten, Leo aber die letzte drei Male abgesagt hatte.  

Er stellte den Glühwein auf seine Küchenanrichte und drehte sich rechtzeitig genug um, damit er in ihre enge, beinahe schon erstickende Umarmung laufen konnte, mit der sie ihn an sich zog. Leo zuckte im ersten Moment erschrocken zurück, dann erwiderte er diesen Schraubstock. Zögerlich zunächst, dann jedoch genauso eng, als er sich von ihrem vertrauten Geruch einlullen ließ. 
„Hab dich vermisst, Brüderchen. Was war denn los, viel zu tun auf der Arbeit?“

Leo nickte schweigend, weil er seiner Stimme nicht über den Weg traute. Viel los, dass er nicht lachte. Es wäre viel los, wenn er seine eigenen Fälle nicht sabotieren würde. Es wäre viel los, wenn er nicht regemäßig einem Mann Bericht erstatten müsste, dessen Straftaten für ein Hauptverfahren nicht reichen würden. Leo scheute sich, sich mit seiner Familie zu treffen. Er scheute sich vor dem Moment, in dem er ihnen nicht erklären konnte, warum er plötzlich weg musste. Er scheute sich vor ihren aufmerksamen Blicken und klugen Fragen. Er scheute sich davor, ihnen in die Augen sehen und sie anlügen zu müssen. 

Er scheute die Gefährdung, die von Schürk ausging. Selbst bei anderen Ermittlungsfällen der Wirtschaftler stellte er sich immer die Frage, ob sie nicht eigentlich auf das Konto des Schürk-Syndikates gingen und er mit jeder Nachfrage unwissentlich in ein Wespennest stach, das seine Familie die Lebensgrundlage und ihn seine Existenz und Freiheit kosten würde.   

Sie löste sich von ihm und grinste, drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. „Ach was freue ich mich auf den Abend!“ 
„Ich mich auch“, ging ihm leichter von den Lippen, denn das war keine Lüge, ganz im Gegenteil. Wenn er Caro, seine Mama oder seinen Papa hörte oder sah, wusste Leo, wofür er durchhielt. Wofür er fremdbestimmt und ohne Widerworte zu den Treffen mit Schürk fuhr und die Gegenwart des Psychopathen ertrug.

„Hast du schon bestellt?“, fragte Caro und Leo nickte seufzend. Ja, hatte er, weil sie immer das Gleiche nahmen. Sehr bieder, sehr langweilig, aber es gab immer Ente süß-sauer und Curry, zweimal Pekingsuppe und gebackene Banane. Dazu für Caro noch gebratene Nudeln und für Leo thailändisches Curry für den nächsten Tag. 
„Sollte auch gleich kommen, heute ist wohl nicht soviel zu tun.“

Caro bewegte ihren anscheinend ausgehungerten Körper wie eine Lavalampe und ging an ihm vorbei in die Küche, um dort Schalen für den ganzen Süßkram aus einem seiner Schränke zu nehmen. 
„Dir ist schon klar, dass wir nur zu zweit sind, oder?“, fragte Leo zögernd, als er ihr über die Schulter schaute und sich zwei Finger voll Chips klaute. Um den Schein zu wahren und sich daran zu erinnern, wonach das gute, einfache, gewohnte Leben schmeckte, das er vor Schürk geführt hatte. 

Viel zu scharf, stellte er fest, als brennender Geschmack in seinem Mund explodierte und ihm Tränen in die Augen schossen. Blinzelnd hustete er, sog scharf Luft ein und starrte ihr vorwurfsvoll in die Augen. 
„Was zur Hölle, Caro? Was ist das?“
„Neue Sorte, ich dachte, ich bring sie mal mit.“
„Und bringst mich damit um?“

Ihr nonchalantes Schulterzucken wurde durch das Türklingeln unterbrochen und Leo ging augenrollend zu seinem Türdrücker. Die Schärfe der Chips machte ihm immer noch zu schaffen und insgeheim war er froh, dass er sich damit rausreden konnte, sie nicht zu essen. Musste er sich nur noch was für den anderen Kram überlegen, doch da würde ihm schon etwas einfallen, wenn sie gemütlich vor dem Fernseher sitzen und einen Film schauen würden. 

Das Gepolter auf der Treppe des Altbaus klang ganz nach dem Liefermenschen und Leo machte mit einem letzten Versuch, den Geschmack von seiner Zunge zu vertreiben, die Tür auf. 

„Hal-“, sein Gruß blieb ihm im Hals stecken, als er sich bewusst wurde, wer dort vor ihm stand. Nicht Caros und sein Essen. Nicht Jun, der Liefermensch, den er nun schon seit seiner Rückkehr nach Saarbrücken und seinem Einzug in diese Wohnung kannte und der sich weigerte wahrzunehmen, dass Leo so etwas wie einen Nachnamen besaß. 

Schürk. 

Leos Herz setzte nicht nur für einen Schlag aus, als er sich der Bedeutung dessen bewusst wurde. Es war ein unangekündigter Besuch bei ihm zuhause. Das war noch nie vorgekommen und Leo hatte keine Ahnung, wie er mit der Situation umgehen sollte. Wie er Caro hier aus der Schusslinie herausbekam, denn mit Sicherheit war etwas schief gelaufen und nun würde der blonde Mann ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Hatte er zuviel ermittelt? Hatte er mit den falschen Personen gesprochen? Waren seine wohlversteckten Notizen aufgeflogen?

„Hallo Leo“, grinste Schürk und zu seinem absoluten Horror hörte Leo, wie hinter ihm Caro neugierig aus der Küche trat. Er drehte sich zu ihr um und sah, wie sie mit Tellern in der Hand und Besteck in der anderen überrascht stehen blieb. Instinktiv schob er sich zwischen sie und Schürk. 
„Huch, hast du noch Besuch eingeladen?“, fragte sie irritiert und Leo überlegte fieberhaft, wie er ihr sagen konnte, dass sie gehen musste. Arbeit? Arbeit, das…
„Nein nein, ich bin nur zufällig und spontan vorbeigekommen“, lächelte und winkte Schürk an Leo vorbei und Leos Kopf fuhr zu ihm herum. 

„Das ist…“, begann er und verstummte ratlos.
„Ein Freund. Kein Einbrecher oder sowas.“ Er zwinkerte und Leo hätte ihm liebend gerne das dumme Lächeln aus dem Gesicht geschlagen bis er blutete. 
„Ach dann komm doch rein, wir haben sowieso zuviel Essen bestellt“, erwiderte die freundliche Caro, die keinen blassen Schimmer hatte, wer vor ihr stand und in welcher Gefahr sie schwebte. Was es für Leo bedeutete, dass Schürk hier war. In seiner Wohnung. Doch, sie wusste darum, aber sie wusste nur um die andere Seite. Um das, was er ihr damals erzählt hatte.  
„Wenn ich das dürfte, dann wäre das super. Aber was sagt denn der Hausherr dazu?“ Schürk mit seiner verdammten, nur so vor falscher Freundlichkeit tropfenden Stimme. Wütend starrte Leo ihm in die Augen, ruhig und gelassen lächelte Schürk auf ihn hinunter. 

Was sollte Leo auch schon dazu sagen? Er hatte keine andere Wahl, er hatte zur Verfügung zu stehen, wann und wo Schürk ihn wollte. Anscheinend nun auch unangekündigt und in seiner Wohnung. Dort, wo die Gefahr noch größer war, dass jemand mitbekam, wie sich Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer mit dem Syndikatssprössling Schürk Junior traf. 

Leo musste ja sagen und sich von dem entspannten Abend mit Caro verabschieden, der ihm Kraft hätte geben sollen. Statt in einer sicheren Umgebung zu sein, zumindest zeitweise, war er nun dafür verantwortlich, dass seine Schwester sicher vor dem Psychopathen war. 
Er würdigte die scheinheilige Frage noch nicht einmal mit einem Nicken, sondern drehte sich einfach um und überließ Schürk den nun leeren Türrahmen. Wenn Caro dann nicht mit ihm alleine gewesen wäre, hätte Leo sich für die nächsten Minuten im Bad eingeschlossen um wieder zu Atem zu kommen. 

„Hey, alles gut?“, fragte Caro, als er auf sie zukam und Leo gab sich größte Mühe, ein Lächeln auf seine Lippen zu legen. Normalität, er musste Normalität vorspielen. Normalität schützte sie. Normalität hielt Schürk von ihr fern. Hoffte er. Er durfte dem anderen Mann keinen Anlass dazu geben, zu denken, dass er auch nur einen Fitzel an Information an seine Familie weitergegeben hatte. 
„Ja, ich hatte mich nur auf einen gemeinsamen Abend mit dir eingestellt“, nahm er das Harmloseste, was ihm als Begründung einfiel und sie rempelte ihn mit der Schulter an. Verschwörerisch beugte sie sich zu ihm und Leo schauderte, als ihr Atem sich für einen Moment so anfühlte wie Schürks auf seiner Ohrmuschel. 

„Ich wusste gar nicht, dass du so heiße Freunde hast. Ist er schon vergeben oder hast du ein Auge auf ihn geworfen?“, raunte sie und Leo schloss die Augen. Nein, das durfte nicht wahr sein. Als wenn er jemals auch nur in Betracht ziehen würde, den blonden Mann mit etwas außer Verachtung zu betrachten. Als wenn er auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde, ob und wie attraktiv Schürk war. Er war ja schon froh, wenn dieser sich ihm nicht aufzwang. Dass, nicht wenn, hielt Leo sich vor Augen, alleine schon um seines Seelenheils willen. 

Wut keimte in Leo auf, Zorn, den er wieder einmal überschäumend auf Schürk empfand.  Beinahe schon panisch schloss Leo ihn in sich ein. Er war der Prellbock zwischen Schürk und Caro. Niemand sonst. Es lag in seiner Hand.  

„Weder noch“, murmelte er und es klingelte ein zweites Mal, dieses Mal wirklich das Essen, hoffte Leo. 
„Jungs, macht mal auf, ich geh kurz auf Klo!“, zwitscherte Caro und Leo bemühte sich, das Essen so schnell wie möglich entgegen zu nehmen und einen fröhlich plaudernden Jun wegzuschicken, dessen Blick einen Moment zu lang erst auf ihm, dann auf Schürk, dann wieder auf ihm ruhte um unauffällig zu sein. 

Wenigstens trug Schürk etwas unter seinem Anzug, ein überraschend züchtiger Rollkragenpullover in Schwarz, unter dem sich das Goldkettchen, das er sonst trug, nur als Schemen abzeichnete. 

Leo stellte die Kartons in der Küche ab und drehte sich zu Schürk um, der so dicht hinter ihm stand, als würde er ihn wieder…riechen wollen. Leo schluckte schwer. 
„Lass sie da raus“, sagte er leise, die Hände zu Fäusten geballt. Schürk blinzelte mit einer Unschuld, die Leo ihm keine Sekunde abnahm. Es war nicht mehr als bittere Ironie und großflächiger Zynismus.  
„Woraus genau, Leo?“
Leo schluckte und senkte den Blick zu Boden. Am Liebsten hätte er geschrien, doch es ging um Caro. Um sie in ihre Sicherheit. „Sag du es mir“, nutzte er seine Worte von einem ihrer Treffen, doch sie waren nicht im Ansatz so rebellisch wie vor ein paar Wochen. Im Gegenteil, er gab sich Mühe, wenig konfrontativ zu klingen. Unterwürfig, sagte die gehässige Seite in ihm. 
„Willst du raten oder dich überraschen lassen?“, grinste Schürk überheblich und der latent drohende Unterton verursachte Leo Magenschmerzen und Herzrasen. Er musste für einen Moment die Augen schließen, besann sich dann jedoch eines Besseren. 

Lieber starrte er die Bodenfliesen in der Küche an, darauf wartend, dass Schürk ihm einen weiteren Hinweis gab, auf was er sich einstellen musste. In seiner eigenen Wohnung. In Anwesenheit seiner Schwester. Leo schluckte bittere Magensäure hinunter. 

„Ich war in der Gegend“, erwiderte Schürk schließlich, als ihm Leos Stille anscheinend zu bunt oder zu laut wurde. „Da lag es nahe, vorbei zu kommen und nach dem Rechten zu sehen.“

Sollte das die Wahrheit sein? In der Gegend? Nach dem Rechten sehen? Das hatte Schürk noch nie gemacht und auch nicht ohne vorherige Nachricht. Das hatte doch auch sein Handlanger so festgemacht. Ein Treffen nach einer Nachricht…wieso wich Schürk hiervon ab, wenn es nicht um eine Strafe ging? Ausgerechnet jetzt, wo auch seine Schwester da war, die er seit Wochen nicht gesehen hatte. 

„Was muss ich tun, damit du meine Schwester da raus lässt?“, fragte Leo ohne den Blick zu heben und Schürks Hand legte sich unter sein Kinn. Anstelle seinen Blick nach oben zu zwingen, beugte er sich zu ihm und strich ihm in falscher Vertrautheit über das Kinn. 
„Nichts“, raunte Schürk. „Noch habe ich kein Interesse an deiner Schwester. Und wenn du dich benimmst, mein Schöner, passiert nichts. Aber das hast du ja schon bewiesen, nicht wahr? Also dass du brav sein kannst.“

Caro kam in dem Moment aus dem Bad, in dem Schürk viel zu vertraut über seine Wange strich. Leo fing den erst überraschten, dann vielsagenden Blick auf und grollte, sich über die Wange reibend, die gerade Opfer von Schürk geworden war.
„Ui“, grinste Caro und kam zu ihnen, musterte Schürk mit neuem Interesse. Er sie ebenfalls und Leo wusste sich nicht anders zu helfen, als sich das Essen zu nehmen und es zum Tisch zu tragen. Als wenn er auch nur einen Bissen hinunterbekommen würde bei Anblick des blonden Mannes an seinem Esstisch. Beim Gedanken daran, dass seine eigene Schwester dachte, er hätte etwas mit dem Mann, der ihn gezwungen hatte, zuzusehen, wie er oral befriedigt wurde. 

Schweigend verteilte Leo die Teller auf dem Tisch, legte das Besteck dazu und benötigte einen Moment um mit der brutalen Bedeutung, die die Anwesenheit Schürks hier in seiner Wohnung hatte, fertig zu werden. 
Er war selbst hier nicht mehr sicher. War es nie gewesen, wenn sie selbst die Tagebücher bei ihm gefunden hatten. Dass er das in die hinterletzten Winkel seines Bewusstseins hatte schieben können, war Leo immer noch ein Wunder, doch jetzt war es so präsent wie nie zuvor. 

Nicht zuletzt auch durch ekelhaft warme, falsche Lachen Schürks, das auf einen von Caros schlechten Scherzen folgte und er Schürk am Liebsten anschreien würde, dass er gehen sollte.

Doch das tat er nicht und so setzten sie sich alle zum Essen, Caro und er wie geplant, Schürk…nicht. Niemals freiwillig. Dass er da Caros zweites Essen bekam, half gar nicht.  
„Da Leo uns ja nicht vorgestellt hat…ich bin Caro“, lächelte seine Schwester und Adam nahm die ihm entgegengestreckte Hand. 
„Hi, Adam.“
„Hi, Adam, das ist ein schicker Anzug.“
„Danke. Extra für heute angezogen.“ 

Leo lag eine wütende Antwort auf der Zunge. Eine Hasserfüllte. Ihm lag die Wahrheit auf der Zunge und doch sah er nur hoch zu Caro und lächelte versichernd. Wenn er genug lächelte, dann würde der Druck in seiner Brust irgendwann weggehen, oder?  

„Und sonst so, wie ist deine Arbeit?“, fragte Leo in einer offensichtlichen Ablenkung und überging, dass er Schürk nicht vorgestellt hatte und sich weiterhin weigern würde, seinen Vornamen auszusprechen. Dass er Schürk nicht in die Augen sah. Dass er nur Caro anlächelte. 
„Gut, wenig schlimme Fälle, aber viel ist’s gerade.“
„Kinderklinik, oder?“, hakte Schürk nach und Caro nickte ihm anerkennend zu. 
„Mein Bruder hat also schon über mich gesprochen. So weit seid ihr also schon. Mensch, Leo.“ Sie grinste und er starrte auf seinen Teller. Was für eine abscheuliche Lüge. Was für ein Possenspiel. Natürlich hatte er nicht über Caro gesprochen. Schürk hatte sich die Informationen geholt um ihn zu erpressen.
 
„Nur das Beste hat er gesagt. Er liebt seine Familie über alle Maßen und würde alles für sie tun.“ Die sanfte, leise Geschmeidigkeit, mit der Schürk das ausgesprochen hatte, passte zu seinem Lächeln, zu den scheinbar liebevollen Augen, die ihn maßen. 

Leo hörte nur die abgrundtief böse Drohung aus ihnen. 

Alles. Ja. Er würde wirklich alles für sie tun. 

„Und woher kennt ihr euch? Ich muss ja sagen, dass mein verschwiegener Bruder nichts über dich erzählt hat, zumindest würde ich mich an so einen schönen Menschen seinem Umfeld erinnern.“ …der dazu noch seinem Beuteschema entspricht, stand in ihren Augen. Laut und deutlich. 
Schürk kommentierte es gnädigerweise nicht, auch wenn Leo im Lächeln seiner Lippen Hohn erkannt. „Von der Polizeiarbeit.“
„Ach cool, also bist du auch Polizist? Oder Staatsanwalt? Du siehst aus wie einer.“
„Nein, ich bin eher ein freiberuflicher Ermittler“, erwiderte Adam abwiegelnd und Leo dachte an die Akte, die Schürk durch seinen Handlanger überreicht worden war. Natürlich war er es gewesen, der sein kleines, schmutziges Geheimnis aufgedeckt hatte. 
„Das gibt’s?“ 
„Hier ja.“
„Cool! Das ist dann doch eine tolle Entlastung, oder Leo?“

Leo lächelte, denn sonst hätte er geschrien. „Ja, selbstverständlich.“

„Das Essen ist wirklich gut“, merkte Adam an. „Welcher Lieferdienst ist das?“
Als wenn du das nicht wüsstest, erwiderte Leo stumm, während Caro nach ein paar Sekunden der Schweigsamkeit seinerseits auf einen der Kartons deutete. „Der goldene Palast. Klassischer Name eben.“ Sie zuckte amüsiert mit den Schultern und Schürk ließ sich von ihr ebenso amüsiert den Karton geben um ihn zu fotografieren. 

Leos Kehle war wie zugeschnürt, als er sah, wie offen die Beiden miteinander umgingen und zumindest Caro auch Spaß daran hatte, denn dass Schürk sich nur mit ihr beschäftigte, um ihm wehzutun und ihm zu drohen, wusste Leo nur zu gut. Insbesondere, weil er Schürks schweren Blick beinahe unablässig auf sich spürte. 

„Adam“, holte Caro seine Aufmerksamkeit wieder zu sich und Leo schluckte den plötzlich schal schmeckenden Curryrest hinunter. Adam. Wie wütend ihn dieser Name doch machte. Wie ungerne er ihn benutzen wollte. Niemals…niemals hätte er ihn freiwillig benutzt. Niemals würde er diesen Mann duzen, wenn er frei darüber entscheiden könnte. 
„Ja, Caro?“
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte sie neugierig und das Erste, was Leo dabei in den Sinn kam, war der Anblick Schürks, wie er von dem jungen Mann oral befriedigt wurde. Phantomschmerz durchschoss seine Knie, als er daran dachte, wie sehr sie ihm wehgetan hatten nach all der Zeit auf dem harten Boden. 54 Minuten, ein abscheuliches Possenspiel an Dominanz und Unterwerfung. Unwillkürlich rieb er über seine Knie, eine Geste, die von Schürk natürlich nicht unbemerkt blieb.
 
Er war froh, dass er sich keine Lüge zu dieser Frage ausdenken musste und bohrte seinen Blick in Schürks, den dieser ebenso intensiv und vielsagend erwiderte. 
„Über die Arbeit“, erwiderte er schließlich schulterzuckend und Leo hätte ihm am Liebsten sein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, an das er sich gerade klammerte. „Leo hat mich um Hilfe zu einem Fall gebeten und konnte mich in einem anderen Fall unterstützen. Seitdem treffen wir uns regelmäßig.“

So neutral hätte Leo es im Leben nicht formulieren können. So beißend zynisch und ekelhaft euphemistisch.

„Können wir das Thema wechseln und über etwas Anderes als die Arbeit sprechen?“, fragte er nicht nur Caro und sie strich ihm liebevoll über den Rücken. 
„Aber klar, kleiner Bruder. Was hältst du eigentlich davon, wenn wir nach dem Essen noch ein Spiel spielen?“, brachte sie sie tatsächlich auf ein anderes Thema und Schürk lehnte sich mit interessiertem Blick nach vorne. 
„Was für eins?“, fragte er neugierig und Caro grinste. Mit erhobenem Zeigefinger sprang sie auf und holte eines von Leos Spielen aus seinem Schrank hervor, hielt es triumphierend in die Höhe. Leo presste die Lippen aufeinander. Noch etwas, das Schürk ihm verleiden würde. 

„Holzklötzchen mit Fähnchen schnipsen“, fasste sie den Sinn des blau-pinken Spiels zusammen und Leo erkannte, dass das Interesse in Schürks blauen Augen echt war. Irritiert musterte er ihn und Caro nutzte die Gelegenheit, um die Teller vom Tisch abzuräumen. 

„Baut schonmal auf, Jungs, ich kümmere mich um das Abräumen.“

Dunkel starrte Leo Caro nach, als diese mit den Essenspackungen verschwand und er mit Schürk alleine war, der ihn nicht aus seinen Augen ließ. 
„Du siehst gut aus, selbst ohne das Shirt“, sagte dieser mit einem dunklen Lächeln und Leo erkannte seinen Fehler. Er hätte sich umziehen müssen, kaum, dass Schürk seine Wohnung betreten hatte. 
Seine Finger nestelten an dem Spielekarton, während er versucht, die Stimmung des anderen Mannes zu erraten. War er wütend darüber? Würde sein Ungehorsam etwas nach sich ziehen? 
„Ich habe es vergessen“, entschied sich Leo für das Neutralste und Ehrlichste, was er aufzubieten hatte und das Lächeln, das Schürks Lippen nach oben zog, war an Spott nicht zu überbieten. 
„Es sei dir verziehen. Ausnahmsweise.“

Leo erwiderte nichts, sondern platzierte in einer Art Übersprungshandlung die halbrunde, pinke Kugel auf den Tisch, samt Krakenarmen um sie herum. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Ebenso wenig wie Leo wusste, wie sehr er Schürks Geduld strapazieren konnte, bevor er für Caro gefährlich werden würde. 

„Ist das dein Lieblingsspiel?“, hakte der blonde Mann nach und Leo hörte ehrliches Interesse aus seinen Worten heraus. Nicht wissend, wie er mit dieser Information umgehen sollte, ließ er sich Zeit mit der Antwort, bis er alle Holzschiffchen aus den Plastiktüten befreit hatte. Zögernd sah er hoch. 
„Nein.“ Die eigentliche Antwort war ja, aber er würde Schürk diese Information nicht geben wollen. Nicht noch ein Detail über ihn, das der andere Mann dazu nutzen würde, ihm wehzutun oder ihm die pervertierte Variante dessen aufzuzwingen. 
„Macht es Spaß?“
„Manchmal.“ Eigentlich jedes Mal. Eigentlich sehr. Bislang.
„Wie spielt man es?“

Wenn Schürk normal kommunizierte, war seine Stimme beinahe annehmbar. Wenn all der dreckige Sadismus, die Lust am Leid anderer, verschwunden waren. All der beißende Zynismus. Und das war das Teuflische an Schürk oder vielmehr an den Gedanken an ihn. Wenn man alles außen vor ließ, was er Leo in den letzten Wochen angetan hatte und was er sich hatte zu Schulden kommen lassen, war er ein attraktiver Mann mit einer attraktiven Stimme und einem fragwürdigen, aber interessanten Kleidungsstil, der vollkommen im Spektrum von Leos Beuteschema lag. Da hatte Caro schon Recht gehabt. Nur dass sie nicht wusste, wie wenig Leo sich jemals auf den Mann einlassen würde. Wie sehr ihm Dinge aufgezwungen wurden, die er verachtete. Diese Fakten nutzte Schürk für sich, dessen war Leo sich sicher. Wie gut, dass er das Verdorbene an sich nicht einmal in Ansätzen verbergen konnte und Leo so Tag um Tag daran erinnerte, was für ein psychopathisches Monster dieser Mann eigentlich war. 

„Es geht darum, mit dem eigenen Fähnchen jeweils ein Teil von den verschiedenen Arten gegen das eigene Boot zu schnipsen. Berührt das Teil das Boot, darf man es aufnehmen. Wirft das Teil die sich bereits auf dem Boot befindlichen Teile hinunter, bleiben sie liegen. Und dazu gibt es noch Oktopusattacken.“
„Oktopusattacken?“
„Man lässt den Würfel auf den Halbkreis fallen und schaut, was er alles abräumt. Das bleibt dann liegen und der Oktopus oder einer seiner Tentakel bewegen sich dorthin.“
„Tentakel, hmmmh…“

Leo rollte mit den Augen, bevor er sich beherrschen konnte und Schürk lachte dreckig. 

Da war sie weg, die neutrale Stimmung. Abrupt verflüchtigt durch Schürks Intonation, durch seine gut hörbaren Gedanken. Leo schluckte schwer und wieder drängten sich die Erinnerungen an das erste Zusammentreffen in den Vordergrund. Schürk hatte zwar gesagt, dass er ihn nicht dazu zwingen würde, doch was war letzten Endes auf das Wort eines Monsters zu geben? 

Leo konzentrierte sich auf die letzten Spielvorbereitungen und war beinahe froh, als Caro zurückkehrte, grinsend und glücklich. 
„Hey Brüderchen, alles klar?“, fragte Caro und Leo sah hoch, zwang ein Lächeln auf seine Lippen. Es hatte klar zu sein. Er nickte mit mehr Elan, als er wirklich inne hatte.
„Alles bestens.“

Sie zweifelte, das sah er, sagte aber nichts mehr dazu, als sie sich zu ihnen setzte, Schürk anzwinkerte und sie mit dem Spiel begannen. 

Caro und der blonde Mann führten regelrecht Krieg gegeneinander und schlugen sich mit ihren Fähnchen, wo sie nur konnten. Mit Horror sah Leo, wie Caro Schürk beleidigte und sich dieser ebenfalls in seinen Äußerungen nicht zurückhielt, anscheinend amüsiert über den Widerstand, der ihm hier entgegengebracht wurde. 
„Sowas wie du will ein Pirat sein?“, fragte sie gehässig und Schürk schnaubte, ein Laut, der Leo mehr als überraschte und innehalten ließ. 
„Sagt wer? Diejenige, die gerade kilometerweit am Ziel vorbeigeschnippt hat?“
„Leck mich doch!“
„Falsches Geschlecht.“
„Jetzt mach hier mal nicht auf Diskriminierung.“

Leo verfluchte Caros große Klappe. Er verfluchte die Angst, die er verspürte, wie auch den Respekt vor ihrem unbewussten Mut. Er verfluchte, dass es ihm nicht zustand und verharrte schweigend, bis die Beiden sich zu Ende beleidigt hatten. Schürk schien nicht verärgert zu sein, sondern Spaß an dem Schlagabtausch zu haben und wenn es dazu führte, dass er von Caro abließ, dann wäre es Leo recht. Sollte er ihn nachher strafen, aber solange Caro unversehrt blieb, würde er es in Kauf nehmen. 
 
 Leo selbst hielt sich zurück, immer in der stetigen Angst, dass Schürk ihm oder seiner Schwester übel nahm, was sie hier taten. Dem schien nicht so und so gewann jeder von ihnen eine Runde, Caro und Schürk wetteifernd, Leo zurückhaltend. Er hielt es wie nach dem erzwungenen Eintopf und saugte die Informationen in sich auf. Den bitterbösen Humor des Mannes, seine Reaktionen auf Caro, auf Ungehorsam und Niederlage.

Es waren Anhaltspunkte, die Leo einspeicherte, auch wenn sie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein waren. Irgendetwas musste er doch daraus gewinnen, dass der Mann einfach so in seine Wohnung eindrang und Leo fürchterliche Angst um Caro bescherte. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Notes:

Sie spielen im Übrigen das hier.

Chapter 7: Wie Stiefmütterchen

Notes:

Einen guten Abend euch allen!

Hier auch schon, um einen Tag vorgezogen, der neue Teil :) Ich wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und vielen lieben Dank für all eure Kommentare, Kudos, Klicks... :)

Dieser Teil hat Triggerwarnungen: rauer, einvernehmlicher Sex, die Wegnahme sexueller Selbstbestimmung (nein, keine Vergewaltigung)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Der eiskalte Regen peitschte Leo ins Gesicht, als er sich an Matthias‘ Grab niederkniete. Schnee war diesen Winter Mangelware und von weihnachtlicher Gemütlichkeit keine Spur. Leo hatte sich auch noch nicht einmal aufraffen können, die Weihnachtsgeschenke für seine Familie zu kaufen, so sehr war er damit beschäftigt gewesen, zu ermitteln, Informationen oder Beweise an Schürk weiter zu geben und Beweise zu fälschen. Immer noch fürchtete er sich davor, dass sein Diebstahl der Uhr entdeckt wurde und sie ihn dafür verantwortlich machen würden. 

Seine Finger strichen über das Heidekraut, die kleinen, violetten Blüten, die selbst dem kältesten Regen trotzten. Ihnen konnte nichts etwas anhaben, stur und starrsinnig waren sie der Natur ausgesetzt und hatten sich angepasst. Leo wünschte sich, dass er ein wenig so wäre wie Heidekraut. Unbeugsam, aber anpassungsfähig. Stur genug um alles zu überleben. Normal genug um keine Aufmerksamkeit zu erregen. 

Leo griff mit zitternden Fingern nach dem mitgebrachten Feuerzeug und zündete die Grabkerze an, die er Matthias regelmäßig auf das Grab stellte. Immer dann, wenn er zum Reden herkam, sei es über schwierige Fälle oder andere Dinge, die ihm auf der Seele lagen. Dann saß er hier, egal bei welchem Wetter und sprach mit dem Stein. Manchmal laut, meistens in seinen Gedanken. Es half Leo, sich zu erden, seine Gedanken zu ordnen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Außerdem half es ihm, mit den Alpträumen fertig zu werden, die er immer noch von dem Moment hatte, in dem er Matthias‘ Vater ins Koma geschlagen hatte. Die von der Nachricht von Matthias Autounfall und dem Anblick des geschlossenen Sarges. 

Man hätte Matthias‘ Gesicht nicht mehr rekonstruieren können, so hatte es seine Mutter Leo erklärt. 

Matthias hatte ihn schon lange nicht mehr lieb gehabt zum Zeitpunkt seines Todes, das hatte aber Leos Gefühlen keinen Abbruch getan. Und mit Matthias war Leos erste und letzte romantische, zärtliche Beziehung vergangen. 

Sein Handy klingelte und riss ihn aus seinen Überlegungen. Unwillig zerrte er es aus seiner Manteltasche und hoffte inständig, dass es nicht Schürk war. 
War es nicht und erleichtert atmete Leo auf, als er Esthers Namen las. 
„Ja?“, nahm er ab und sie brummte begrüßend. 
„Wir haben eine Spur im Fall Linz. Wir haben jemanden, der etwas gesehen haben will in der Mordnacht. Das solltest du dir ansehen.“

Erleichterung und Angst flossen zu gleichen Teilen durch Leo hindurch. Wenn sie endlich eine Spur hatten, standen sie einer Lösung des Falls näher als zuvor. Aber wenn sie den Fall lösten, dann würde Schürk mit Sicherheit davon erfahren. Wenn sein Interesse sich also wirklich darauf bezog, die Lösung zu verhindern, würde Leo in einen unüberbrückbaren Zwiespalt geraten, bei dem er aller Wahrscheinlichkeit nach sein Team verraten würde. Wie immer zog sich sein Magen bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen. 

„Ich komme gleich.“
„Beeil dich.“ Das sagte sie immer, zu jedem. Es war eine ihrer guten Eigenschaften, dachte Leo mit einem Schmunzeln.
„Natürlich.“

Er erhob sich, im ersten Moment strauchelnd, weil seine Knie steif waren von der kalten Erde und dem langen Knien. 
„Ich komme bald wieder“, murmelte er und strich liebevoll über den Stein. Und dann erzähle ich dir von ihm, von dem Mann, der mich erpresst und aus dem ich nicht schlau werde.  

Das wurde er in der Tat nicht. Schürk war in seine Wohnung eingedrungen und hatte sich fälschlicherweise in sein Leben geschrieben. Leo konnte das in Caros Blicken sehen, die sie ihm zugeworfen hatte, während sie sein Lieblingsspiel gespielt hatten. Schürk hatte mit ihr gescherzt und das, was Leo anfänglich als Drohung angesehen hatte, war zwischenzeitlich zu etwas Offenem, Unbedachten geworden, ohne Arroganz und ohne Sadismus.

Leo war mit sich übereingekommen, dass es eine Falle des anderen Mannes gewesen sein musste, um ihn in eine falsche Sicherheit zu führen. Ein bigottes Spiel des Kriminellen. Wie so oft kehrten seine Gedanken zu Schürk zurück, auf der Suche nach einem Einfallstor. Wie so oft trug er in Gedanken das zusammen, was er über Schürk herausgefunden hatte. 

Schürk war 35, wie er auch, geboren hier in Saarbrücken. Zur Schule gegangen ebenfalls hier in der Stadt, zumindest bis zum Ende der Grundschule. Dann folgte anscheinend Privatunterricht bis zum Abitur, das er mit außerordentlich guten Noten bestanden hatte. Jura- und BWL-Studium parallel in Regelstudienzeit an der Universität das Saarlandes abgeschlossen. Die Noten ebenfalls außerordentlich gut, die Kurse im normalen Spektrum. Dann Übernahme im elterlichen Betrieb, normale Steuererklärungen, nichts Auffälliges. Von außen ein Saubermannimage. Keine eingetragenen Kinder oder eine Ehefrau, aber das wunderte Leo nicht. So einer wie Schürk hatte die Pseudofrau nicht nötig, die ihm ein Feigenblatt war.

Das, was vom Staat nicht erfasst wurde, schwebte wie ein Schatten über der Persona Schürk. All die Straftaten, die er beging, der Sadismus, mit dem er sich umgab. Leo war immer noch nicht weiter damit, heraus zu finden, wer alles unter Schürks Erpressungen litt, wer von ihm geschmiert wurde. 

Die Immobilien, die er bei Schürk gesehen hatte, wurden allesamt normal verkauft und gehörten auch nicht Schürk, sondern Boris Barns, der, so schien es, eine engere Verbindung zum Syndikat zu haben schien. Barns war ein Mensch ohne Ausbildung, ohne Schulabschluss, der laut Steuererklärungen ein erhebliches Vermögen sowie einige Firmen im Sicherheits- und Finanzsektor sein Eigen nennen konnte, erlangt durch den Verkauf und Ankauf von Luxusimmobilien. Im erweiterten Vorstrafenregister befand sich ebenfalls nichts, die sozialen Medien kannten ihn nicht. 

Er war ein glatzköpfiges Phantom, zumindest, wenn man dem Foto aus der Personalausweisdatenbank Glauben schenkte. 

Leo fuhr zurück ins Landespolizeipräsidium und nahm die Treppen zu ihrem Fensterfrontbüro, von dem aus man alles auf der Straße beachten konnte, durch dessen Glasfront man jedoch nicht nach innen sehen konnte. Ein großer, moderner Spiegelglasklotz hatte das Land ihnen hier hingestellt, im Sommer zu warm, im Winter zu kalt. Dennoch hatte Leo das helle Büro gemocht, in welches sie umgezogen waren von ihrer alten, dunklen Kaschemme. 

Als Belohnung, weil sie so gut waren in dem, was sie taten. 

Der Gedanke daran schnürte Leo die Kehle zu und verkniffen lächelte er, als ihr Büro betrat und Pia ihm winkte. Sie maß ihn und verzog das Gesicht. 
„Ist nass draußen?“
Leo grollte. „Du mich auch, Pia.“
„Charmant ist dein zweiter Vorname, wie?“
Er streckte ihr den Mittelfinger entgegen und zog seinen durchnässten Mantel aus. Sein dunkelroter Rollkragenpullover, den er gegen die Kälte trug, hatte auch schon einiges an Regen abbekommen und Leo dankte seinem Mantelhersteller dafür, dass er nur schön-Wetter-Mäntel produzierte. 

Er schob sein Kinn in den hochgeschlossenen Kragen und nahm sich einen warmen Kaffee aus ihrer Maschine, der ihn zumindest von innen wärmen würde. Erwartungsvoll drehte er sich um und sah Esther in das siegessichere Gesicht. 
„Also, was haben wir?“, fragte er und sie zog ein Blatt Papier hervor, hielt es triumphierend hoch. 
„Ich habe mir die Obdachlosenunterkünfte vorgenommen und die Bewohner befragt, ob einer von ihnen rund um den Park oder ein paar Straßen weiter etwas gesehen oder gehört hat. Es gibt einen alten Mann, der hat unser Opfer gesehen, wie er aus einem Auto gezerrt wurde, direkt am Rand des Parks. Er hat die Männer nicht erkannt, dafür aber die Buchstaben des Kennzeichens und die Farbe des Wagens.“ Sie lächelte grimmig. „Wir haben eine echte Spur, der wir folgen können.“

Angst und Erleichterung kämpften in Leos Innerem um die Vorherrschaft und Erleichterung gewann den Kampf. Mirko Linz‘ Mörder könnte trotz Beweismittelvernichtung überführt werden.  

„Dann checkt bitte alle Kennzeichen und Fabrikate, Halterinnen und Halter sowie eventuelle Vorbesitzer oder Familienmitglieder.“
Esther nickte. „Alles klar, Chef.“

Was für ein Hoffnungsschimmer nach all den Monaten. 


~~**~~


„Onkel Boris?“

Der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren sah von seinen Unterlagen hoch und lächelte, als er Adam im Türrahmen seines Büros stehen sah. 
„Adam, schön dich zu sehen. Was machst du hier?“, fragte er und deutete auf den Stuhl am anderen Ende des beladenen Schreibtisches. „Kaffee?“
Adam bejahte und sah sich um. „Der Alte ist nicht da?“, fragte er und konnte die Hoffnung nicht aus seiner Stimme heraushalten. Boris hörte das und lächelte. 
„Er hat heute den ganzen Tag Außentermine. Er kommt nicht zurück.“

Adam ließ sich erleichtert in dem unbequemen Stuhl zusammensinken und stellte die ihm gereichte Kaffeetasse auf seinem Bauch ab. Sie wärmte seine bloße Haut und war beinahe zu heiß. Er trug heute wieder oberkörperfrei mit Goldkette, dazu ein schwarzes Jackett. Es war angenehm, zumindest in Onkel Boris‘ Büro, außerdem wollte er Hölzer heute Abend noch einen weiteren Besuch abstatten. Es war schon ein paar Tage her, seitdem er spontan bei ihm aufgekreuzt war und den Abend sehr genossen hatte. 

Die große Schwester, Caro, ein Sinnbild des trockenen Humors. Bitterböse und offen ihm gegenüber. Sie wusste nicht, wer er war und in ihren Augen, das hatte Adam deutlich gesehen, war er ein potenzieller Partner für ihren Bruder. Natürlich sah Hölzer das anders, aber es amüsierte Adam, denn es gab ihm die Möglichkeit, seine Gedanken auf das Undenkbare zu richten.  Zumal Hölzer sich seiner Schwester anders gegenüber verhielt als ihm oder Vincent gegenüber. Das war ebenso erfrischend zu sehen.
Er mochte das Familienleben, das er mit seiner Anwesenheit gestört hatte und hatte Lust auf mehr. Er mochte außerdem Hölzers Wohnung, die soviel belebter war als seine eigene. 

„Was möchtest du denn von mir, Junge?“, fragte Onkel Boris und holte Adam aus seinen angenehmen Erinnerungen zurück, die er mit niemandem teilen konnte. Noch nicht einmal Vincent, auch nicht Onkel Boris. 
„Wer hat Mirko Linz umgebracht?“, fragte er die Frage, die Hölzer ihm gestellt hatte. Linz war einer von Onkel Boris‘ Dealern gewesen, wieder eine dieser gescheiterten Existenzen, die sich leicht ausbeuten ließen und damit umso steuerbarer waren. Sein Tod hatte Adam nun wirklich nicht überrascht, wohl aber, dass er Elias Uhr am Handgelenk getragen hatte. 

Adam dachte an den Armschmuck in seinem Kästchen zuhause und an die Inschrift, die noch gut lesbar war. Er hatte sie immer mal wieder hervorgeholt in den letzten Tagen und über die Gravur gestrichen, seine Gedanken bei dem Träger dieser Uhr. An dessen Lachen, dessen Fröhlichkeit, dessen uneingeschränktes Vertrauen in die Welt und in das Schicksal. 

Wie dumm Elias Schiller doch gewesen war.

„Warum willst du das wissen?“, fragte Boris mit Nachsicht, hinter der ein scharfer Verstand lauerte. 
„Weil die Polizei vermutet, dass es mit uns zusammenhängen könnte.“ Gelogen war das nicht.
„Und? Seit wann sind die Idioten ein Problem für uns?
Hölzer war kein Idiot, das war ja das Problem. Er war klug, hatte einen scharfen Verstand und den Mut, nachzufragen. Er war verbissen genug um nicht locker zu lassen und noch nicht verängstigt genug, um ganz aufzugeben. 
„Ich wüsste es gerne“, erwiderte Adam ohne Hölzers Namen in den Mund zu nehmen. Er hatte keine Lust auf einen weiteren Polizistenmord und der Gedanke, dass die Dreckssau Hölzer ebenfalls unter die Erde schickte, verursachte ihm Unbehagen. 

„Dein Vater war es nicht.“
Adam schnaubte. „Ich weiß, der kümmert sich nur um Bullen.“
Onkel Boris nickte. „Linz hat sich an unserem Eigentum vergriffen. Wollte das große Geschäft machen. Er hat uns beklaut und auch nach der ersten Warnung nicht damit aufgehört. Das konnte ich ihm nicht mehr durchgehen lassen.“
Aufmerksam hörte Adam dem Mann zu, den er Onkel nannte. Der ihm von klein auf ein Gegengewicht zu seinem Vater gewesen war. Jemand, der ihm Zuneigung zeigte, ihn lobte, der ihm das Gefühl gab, auch mal Kind sein zu dürfen. Onkel Boris hatte sich dafür stark gemacht, dass Adam seine eigene Wohnung bekam und somit dem unmittelbaren Zugriff des Alten entkommen konnte. 

Er hatte nur gute Erinnerungen an den Mann, der sein Onkel war, obwohl sie nicht verwandt waren. Seinen mörderischen Onkel. 
Adam wusste, dass es die Erziehung der Dreckssau war, die ihn emotionslos und mitleidslos auf den toten Dealer sehen ließ. Er hatte Linz nicht gekannt, hatte keine Verbindung zu ihm. Ob er dafür umgebracht hätte werden sollen? Adam war es egal. Die Menschen, die ihm etwas bedeuteten, die waren ihm nicht egal. Onkel Boris, Vincent. Der Rest…

Na gut, vielleicht wollte er noch etwas länger die Gegenwart von Hölzer genießen, dem Widerspenstigen. Der war ihm deswegen also auch nicht egal. Zumindest ein bisschen weniger egal als andere. 


~~**~~


Leo wusste schon seit längerem, das bei ihm etwas falsch verdrahtet war. Eigentlich schon, seit er damals in der Schule regelmäßig gemobbt und verprügelt worden war und sich in seine damalige Traumwelt geflüchtet hatte, als es zu unerträglich geworden war. In dieser war er stark genug, das auszuhalten, was ihm angetan wurde. In dieser empfand er keinen Schmerz. In dieser machten ihm die Beleidigungen und Beschimpfungen, die Gewalt nichts aus, die seinen Schulalltag begleiteten. 

Seine Traumwelt hatte dann, als er erwachsen genug geworden war, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, zu etwas geführt, was Leo bis heute begleitete. Ein Guilty Pleasure, mit dem er über niemanden sprach. Eine verkorkste Vorstellung von Lust, die ihm Erleichterung verschaffte und die ihn sich frei und stark fühlen ließ. Manchmal brauchte er die Gewalt, die Demütigung, die scheinbare Hilflosigkeit, an deren Enden immer wieder Lust und Erleichterung standen. Der Höhepunkt, die Erlösung, war eine Katharsis. Er befreite sich von dem dauerhaften Unwohlsein seiner Jugend, von der Angst, dass der Schmerz nicht aufhören würde. 

Leo triumphierte jedes einzelne Mal über die Schmerzen, die in ihm tobten. Er besiegte sie und zog auch noch etwas Gutes daraus. Wenn er in der Stimmung war, sich ohne Rücksichtnahme ficken zu lassen und nicht selbst dominant und hart fickte. 
Das Wort an sich war vulgär und das, was er tat, hatte auch keine andere Bezeichnung verdient. Er ließ sich ficken, benutzen, von harmonischer Lust keine Spur. Er wollte Schmerz, er wollte die Hilflosigkeit von damals, er wollte das Wissen, dass er sie nun jederzeit beenden konnte. Er wollte Lust. 

Alles bekam er und wenn es über der Motorhaube seines Wagens irgendwo am Waldrand in der Nähe von Saarbrücken war, dann sollte das für Leo gangbar sein. Überall, nur nicht in seiner Wohnung. Noch nie in seiner Wohnung, weil seine Wohnung für den anderen Leo stand. Derjenige, der eine Höhle brauchte, um sich zurück zu ziehen. Derjenige, der seine Bücher, seine Vorlieben, seine Wohlfühlzone in seinen vier Wänden hatte.

Da konnte er rein sein, nicht so verkorkst und verdorben wie hier draußen. 

Leo stöhnte auf, als der Typ hinter ihm seine schwere Erregung in die Hand nahm und ihm zusätzlich zu dem Unwohlsein des Eindringens auch noch Lust bereitete. Ja, so brauchte er das. 
Wieder und wieder wurde er hart gegen das warme Metall seines Autos gedrückt, das Klatschen von Haut auf Haut obszön laut in der Stille des dunklen, kalten Waldes. Er wurde in die enge Faust des Mannes gefickt und ließ Welle um Welle der Lust über sich hinwegwaschen. Der Mann auf ihm stöhnte und auch Leo konnte sein eigenes Grollen, sein Stöhnen und Wimmern nicht zurückhalten. Er musste den Mann hinter ihm nicht sehen, ganz im Gegenteil. Es war immer der gleiche Typ Mann, groß, blond, schlaksig, so wie Detlef damals. 

Detlef, der ihn verprügelt hatte. Und das war das noch viel Abgefucktere. Er ließ sich von Kerlen ficken und fickte Kerle, die ihm ähnlich sahen, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. 
Leo lächelte bitter und wimmerte laut, als der namenlose Kerl hinter ihm ihn gefährlich nahe in die Ekstase trieb. Er spürte seinen Orgasmus unweigerlich kommen, sich aufbauen, wie eine Welle, die langsam, aber unaufhaltsam über ihn hineinbrechen würde. 

„Jaa…verflucht, hast du einen engen Arsch. Verdammt…verdammt, bist du gut.“

Ja, Leo war gut darin, zu ertragen. Leo war gut darin, sich zu bücken. Wundervoll, es war eine seiner besten Qualitäten. 

Fast kam er nicht zum Höhepunkt, weil der Kerl hinter ihm den Mund aufmachte. Fast fand er keine Erlösung, weil der Mann irgendwelchen Stuss sülzte, der Leo mitnichten interessierte. Irgendwo im Hintergrund pingte ein Handy und Leo war sich nicht sicher, welches es war. Jetzt, in diesem Moment war es aber auch egal, denn er jagte seinem Orgasmus hinterher, er ließ sich mittreiben von der orkanartigen Welle, die nun über ihn kam. 

Noch während er auf den Nachwellen des eigenen Orgasmus ritt, kam der Mann in ihm in das Kondom und grunzte dabei wie ein brunftiger Eber. Leo blendete das aus, ebenso sehr, wie er die letzten Stöße ausblendete. 

Der Mann hatte seine Schuldigkeit getan und Leo hatte für den Abend seine Erlösung und Ruhe, konnte sich zufrieden in seine Wohnung zurückziehen und duschen, einsam und in Sicherheit, seine schmutzigen Fantasien dort, wo sie hingehörten. Nach draußen. So konnte er schnell vergessen, was er hier getan hatte, wenn er sich geduscht auf die Couch fläzen und einschlafen würde. Er spürte nach, wie er freigegeben wurde und richtete seine eilig heruntergezogene Boxershorts und Hose. Es tat weh, als er sich bewegte und Leo schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass es noch weitere Tage wehtun würde. So wollte er es. So und nicht anders. Er war Herr seiner Lust, Herr seiner Sinne und dieses Gefühl von Macht würde ihn begleiten. Zumindest bis Schürk ihn das nächste Mal zu sich holte, um eines seiner Hobbys zu beschmutzen. 

„War cool mit dir, gerne wieder“, sagte der Typ, als würde er eine Google-Rezension schreiben und Leo nickte abwesend. 
„Wir sehen uns“, sagte er und in den wenigstens Fällen gab es ein zweites Mal. Er wollte die Typen nicht sehen, aber im Gegensatz zu Berlin hatte Leo in Saarbrücken nicht soviel Auswahl. 

Als er gedankenverloren den Rücklichtern des anderen Autos hinterherstarrte, klingelte sein Telefon. 

Er nahm es auf und sah die private Nummer. 
„Ja?“, hob er ab, noch etwas rau in der Stimme. Wovon, wusste Leo nicht, schließlich hatte er nicht geschrien. Das war schon einmal vorgekommen, aber es war selten.
„Wo bist du?“, drang Schürks pseudo-samtene Stimme vom anderen Ende der Leitung und alles in Leo, was gerade noch entspannt und gelöst war, verkrampfte sich abrupt. 
„Im Wald“, erwiderte er ehrlich, denn was hatte es für einen Sinn, Schürk anzulügen? Keinen. 
„Wie lange brauchst du zurück? Ich stehe vor deiner Wohnung.“

Das war eine Drohung und Leo schloss die Augen. Ihm wurde kalt bei Schürks Worten. Als wenn es nicht gereicht hatte, dass Schürk überraschend vorbeigekommen waren, als Caro bei ihm war, nein. Nun tauchte er auch noch abends auf. Stand vor seiner Wohnung, als wollte er dort gesehen werden.
„Zwanzig Minuten.“ Leo presste die Lippen aufeinander. 
„Dann beeil dich, mir wird kalt.“

Er schluckte. Das Letzte, was er jetzt wollte, war Schürk in seiner Wohnung. Groß, blond, schlaksig, der aktuelle Detlef. Derjenige, der ihn schlug – mit Worten, Blicken, seiner Erpressung. Wieder einer, der ihn zum Opfer machte. 

Nicht in seiner Wohnung. Bitte nicht. Nicht jetzt, nachdem er noch offen von dem anderen Detlef-Double war.

„Können…“ Leo räusperte sich, als seine Stimme versagte. „Kann ich zu deiner Wohnung kommen?“, fragte er und konnte die Hoffnung nicht gänzlich aus seiner Stimme verbannen. Die Hoffnung auf einen Ort, mit dem er nur Schlechtes verband, der aber besser sein würde als seine Wohnung. 
„Kannst du sicherlich, aber nicht heute. Und jetzt hör auf zu reden, du kennst deinen Auftrag.“

Schürk legte auf, bevor Verzweiflung in Leo Fuß fassen konnte und ihn zu dummen Dingen verleitete. Die kam jetzt und sie war um einiges schlimmer als die Erlösung des Orgasmus, der mit einem Mal eine Unendlichkeit her zu sein schien. Übrig blieb bittere Verzweiflung, dass das, was er am Meisten brauchte, ihm am Brutalsten genommen werden würde.


~~**~~


Hölzer kam sieben Minuten zu spät, stark humpelnd und mit einem derart seltsamen Ausdruck auf seinem sonst so verschlossenen Gesicht, dass Adam seine scharfen Worte nahtlos im Hals stecken blieben. 
Irgendetwas stimmte nicht und das lag nicht daran, dass er hier plötzlich aufgetaucht war. So hatte Hölzer nicht ausgesehen, er vor kurzem vor seiner Tür gestanden hatte. Nicht so…durcheinander. So unstet. 
Adam wusste nicht genau, wie er es benennen sollte. 

„Pünktlichkeit ist dir kein Fremdwort, oder?“, schnarrte Adam, alleine schon, um eine normale Abwehrreaktion aus dem anderen Mann herauszubekommen, doch dieses Mal war da kein feindseliger Blick aus grünen Augen. Dieses Mal war da kein zusammengepresster Kiefer. Dieses Mal waren da nur zu Boden gerichtete Augen, die überall hinsahen, nur nicht zu ihm. Die Fingerknöchel um den Schlüsselbund waren selbst im Schein der LED-Straßenlaterne weiß und angespannt. 

Adam schnaubte. „Los, schließ die Tür auf, ich habe keine Lust, mir die Beine in den Bauch zu stehen.“

Außerdem hatte er Alte wieder schlechte Laune gehabt und Adam wollte sich einfach nur noch setzen. Er wollte einfach nur noch in Hölzers hilflose Wut sehen und sich sicher sein, dass dieser niemals so zuschlagen würde wie sein Alter. Weil er es nicht durfte. Und weil er es nicht würde. Zumindest hatte Adam den starken Verdacht. Bulle eben. Den Schlag ganz am Anfang außen vorgelassen. Der zählte nicht, weil Hölzer verzweifelt gewesen war, nicht wütend. 

Hölzer benötigte ein paar Sekunden, bevor er an ihm vorbeiging und die Tür aufschloss. Nach zwei Versuchen gelang es ihm und Adam folgte ihm die Treppe zu seiner Wohnung empor. Ein Aufzug hätte diesem Haus auch gut getan, beschwerte Adam sich innerlich, als seine Knie sich deutlich bemerkbar machten. Es knackte und knirschte verdächtig, doch sie waren schneller oben als Adam sich über den pochenden Schmerz Gedanken machen konnte. 

Hölzer schloss ihnen die Tür auf und stand in seinem Flur, als wäre das hier nicht seine Wohnung. Angewurzelt, stocksteif, nicht dazu bereit, einen weiteren Schritt in Richtung Wohnzimmer oder Küche zu tun. Adam runzelte die Stirn und schloss die Tür hinter sich. 
„Was willst du?“, presste Hölzer hervor und da waren eindeutig mannigfaltige Emotionen in seiner Stimme, die nichts mit Widerstand zu tun hatten. 
„Vielleicht erstmal nen Kaffee“, grinste Adam und ruckartig sah der andere Mann hoch. Wo Adam Wut erwartet hatte, war nur Verzweiflung und Widerwillen, was ihn zu der Frage brachte, was Hölzer eigentlich im Wald gemacht hatte. Wenn er überhaupt wirklich dagewesen war.

Er kam einen Schritt auf Hölzer zu und dieser zog die Schultern hoch. Instinktiv trat er einen Schritt zurück, obwohl Adam nur an ihm vorbei zur Kaffeemaschine wollte. 
„Mach dir keine Mühe, ich bediene mich. Ich weiß ja, wo alles steht.“
Auch das schenkte Adam keine Wut und so langsam gingen ihm die harmlosen Provokationen aus, mit denen er Hölzer an die Decke treiben und so seinen Widerstand hervorrufen konnte. 

Also nahm er sich seinen Kaffee und lauschte andächtig dem lauten Malen der Kaffeebohnen. Hölzer stand immer noch im Flur, als wisse er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Das war schlimmer als am Anfang und eigentlich hatte Adam gedacht, dass Hölzer sich mittlerweile an seine Präsenz gewöhnt hatte. 
  
„Warum verhältst du dich so?“, fragte er über den Rand der Tasse mit dem schwarzen, gut schmeckenden Kaffee hinweg und Hölzer biss sich auf die Lippen, eine beinahe kindliche Geste auf dem bärtigen Gesicht. 
„Ich bin müde“, bekam Adam die Nichtantwort des Jahrhunderts und er schnaubte. 
„Glückwunsch, ich auch und hier sind wir. Beide wach, auf zwei Beinen und zumindest einer von uns mit Kaffee. Ach übrigens, willst du auch?“
„Was willst du hier?“, wiederholte Hölzer stumpf seine Frage von vorher und Adam schlürfte deutlich hörbar den Inhalt seiner Tasse. 
„Nach dem Rechten sehen.“
„Ich bin hier.“
„Das sehe ich. Und sonst?“
„Nichts.“

Da war ja gar kein Feuer heute. Adam zog enttäuscht einen Flunsch und leerte die Tasse mit zwei restlichen großen Schlucken. Er stellte sie ab und kam mit ausladenden Schritten zu Hölzer, der wieder beinahe panisch vor ihm zurückzuckte, als würden sie sich zum ersten Mal sehen. Der körperlich drei Schritte zurücktrat, immer noch mit dieser Unsicherheit im Gang, die Adam nun davon abhielt, ihm zu zeigen, wie wenig er es schätzte, dass sich Verknüpfungen ihm widersetzten oder entzogen.

Er hielt inne und seine Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln, als er begriff, was Hölzer im Wald gemacht hatte.

„Na sowas, da wurde jemand aber richtig gefickt. Hat‘s Spaß gemacht?“, fragte Adam alleine um zu provozieren und der nun offen erschrockene Blick aus grünen Augen sagte ihm alles, was er über seinen Testballon wissen musste. Ein dreckiges Lächeln zog seine Lippen nach oben. 

„Tatsächlich“, grinste er und schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose. „Hab ich dich dabei gestört, ordentlich verräumt zu werden?“ 
Im ersten Moment liefen seine Provokationen ins Leere und trafen auf nichts Anderes als Schweigen, auf Augen, die ihn anstarrten, als wäre er der Antichrist, auf Lippen, die sich öffneten und schlossen, als wüssten sie nicht, was sie sagen sollten. Dann ging ein Wechsel durch den vor ihm stehenden Mann, der Adam durchaus überraschte. 

Hölzer wurde wütend, was an sich nichts Neues war. Dieses Mal war es jedoch destruktive, höhnische Wut, die Hölzer die Zähne fletschen ließ. 
„War schon alles vorbei, als du angerufen hast. Aber ich bin noch offen, wenn du auch noch willst. Ist noch alles entspannt da unten, dürfte sogar noch was Gleitgel übrig sein.“

Hölzers schmutzige, obszöne und wütende Worte überrumpelten Adam, insbesondere, da der andere Mann ihm immer noch nicht glaubte, dass er ihn nicht bei erstbester Gelegenheit über die nächste Oberfläche beugen und ficken würde. Der destruktive Fatalismus, der sich ihm entgegentrug, überraschte ihn mehr als gedacht.

Langsam legte Adam den Kopf schief und musterte die personifizierte Unruhe vor sich. „Ich weiß gar nicht, worüber ich erstaunter sein soll. Dass du denkst, ich würde darauf stehen, noch die Wärme eines anderen Schwanzes in deinem Arsch spüren zu wollen, während ich dich ficke, oder die Frage, wie hart er es dir besorgt haben muss, dass du humpelst und nicht gerade stehen kannst.“

Letzteres war ein Punkt, der Adam kaum, dass er ihn ausgesprochen hatte, mehr beschäftigte als geplant. Hart besorgt war noch freundlich ausgedrückt für zu hart gefickt, als dass schmerzloses Gehen oder stehen möglich wäre. Er kannte das von Bastian. Vor zwei Jahren war dieser mit Schmerzen zur Arbeit gekommen und hatte auf Nachfrage gestanden, dass einer seiner Kunden zu brutal mit ihm umgegangen war. 

Dass er geblutet hatte und nun nicht ohne Schmerzen laufen und sitzen konnte. Drei Tage lang war das so gegangen und am vierten hatte Adam dem Kunden einen Besuch abgestattet und ein eindringliches Kundenservicegespräch geführt. Der Mann hatte Bastian nie wieder gebucht, hatte aber brav sein Schmerzensgeld in fünfstelliger Höhe gezahlt. 

Seine Worte überraschten Hölzer in dessen Wut und ließen ihn für einen Augenblick ratlos dort stehen, unweit von Adam, der Körper angespannt. 
„Was geht’s dich an?“, zischte er schließlich recht hilflos und Adam zuckte mit den Schultern. 
„Wenn ich jetzt „nichts“ sage, bringt dir das gar nichts, da ich sowieso eine Antwort von dir erwarte.“ Bei aller Sorge, Hölzer hatte sich sehr wohl darauf zu besinnen, dass er hier nicht die Entscheidungsgewalt hatte. Mit dem Widerstand war jetzt Schluss, so sehr Adam diesen auch bis gerade eben toleriert hatte. Vincent würde ihn umbringen, wenn er ihm die Arbeit erschwerte oder vernichtete – noch mehr als jetzt schon. 

Hölzer erkannte das – wenn auch erst nach ein paar Sekunden und Adam sah den Bruch mehr in den Augen und der abrupt einfallenden Mimik.

„Hart genug“, war die nichtssagende, gegrollte Antwort. Ja, das sah Adam auch. Das brachte ihn aber nicht weiter.
„Hart genug für was? Blutest du? Hat er nicht aufgehört, als du gesagt hast, dass du Schmerzen hast?“

Was genau an seiner Frage so schlimm war, wusste Adam nicht. Nichtsdestotrotz wurde Hölzer mit einem Mal kreidebleich, nur um dann in ein Feuerrot zu wechseln. Adam hatte also Recht, ein schief gelaufenes Sexdate. Ein übermotiviertes Arschloch, das meinte, der passive Part hätte alles zu schlucken und zu ertragen, was er diesem aufzwang. 
„Wer war’s?“, fragte Adam scharf und Hölzer zuckte zurück, schüttelte den Kopf. 
„Keine Ahnung, ich…was? Wieso interessiert dich das?“
„Wer war es?“, wiederholte Adam leise. „Onlinedate oder Club?“ 
„Ich…“ Störrisch presste Hölzer seine Lippen aufeinander und verschränkte die Arme eisern vor seiner Körpermitte. Dass er das Arschloch auch noch schützte, war Adam ein Rätsel und es stimmte ihn nicht froh. Ganz und gar nicht. Es machte ihn richtig wütend. 
„Antworte mir auf meine Frage“, zischte er und ließ unverhohlen die Drohung zwischen ihnen im Raum stehen, was geschehen würde, wenn nicht. Hölzer war klug, er hörte sie und antizipierte sie.
„Online.“

Sehr gut, dann hatte er das Profil des Arschlochs sicherlich noch gespeichert und Vincent würde sich darum kümmern, die Adresse herauszufinden. Auffordernd streckte er Hölzer die Hand entgegen. „Her mit deinem Handy.“
Erschrocken weiteten sich die grünen Augen. „Nein!“
Spielerisch irritiert hielt Adam inne. Derartige Verweigerungen tolerierte er nicht, da würde ihm selbst Vincent zustimmen. Ein Nein wollte er von seinen Verknüpfungen nur in Ausnahmefällen hören oder wenn er darauf aus war, Widerstand zu erhalten. Das war bei Hölzer durchaus auch der Fall gewesen. Nun traf es nicht zu. 
Er machte einen Schritt auf den Ermittler zu, der wieder einen Stück weit vor ihm floh. Es war offener Widerstand, der ihm hier entgegenbracht wurde und das war kein gutes Zeichen. Wut konkurrierte mit Sorge darum, dass Hölzer ihm die Daten nicht geben wollte. 

„Her mit deinem Telefon, Hölzer“, sagte Adam so leise, dass man es beinahe nicht hörte. Er war so wütend wie schon lange nicht mehr und anscheinend sickerte auch das in die Gedanken des anderen Mannes ein. „Du hast drei Sekunden.“
Die brauchte Hölzer auch, bis er mit zitternden Fingern das Telefon aus seiner Tasche zog und es Adam hinhielt. 
„Entsperr das Ding.“
Adam erkannte, dass Hölzers Fingerabdruck dafür ausreichte. Gut zu wissen fürs nächste Mal. 
„Über welche App habt ihr geschrieben?“
„Grindr.“
„Sehr innovativ“, spottete Adam und sah Hölzer in seinem Augenwinkel zusammenzucken. 

Er rief die App auf und hob rechtzeitig den Kopf, um Hölzers Verzweiflung zu sehen. 
„Wie heißt das Arschloch?“, fragte er, weil er nun wirklich kein Bedürfnis hatte, sich durch Hölzers gesamte Korrespondenz zu lesen und festzustellen, dass viele andere, blonde, schlaksige Männer das bekamen, was er niemals haben würde. 

„Ich wollte es so!“, presste Hölzer anstelle einer direkten Antwort hervor und im ersten Moment war Adam versucht zu antworten, dass dies ein komischer Name sei. Im zweiten wurde ihm bewusst, was Hölzer gesagt hatte. 
„Du wolltest, dass er dich so hart rannimmt, dass du nicht laufen kannst? Du wolltest, dass er nicht aufhört, während du Schmerzen hattest?“, fragte er höhnisch, das Handy vergessen in seiner Hand. „Ne, ist klar. Hat er dir den Mund zugehalten und du konntest dein Safeword nicht rauspressen?“

Hölzers Blick zuckte immer wieder von seinem Telefon zu Adam, von dort aus zum Boden. Sein Kiefer war mehr als angespannt. „Ich habe keins.“
„Kein was?“, fuhr Adam Hölzer lauter als beabsichtigt an.
„Safeword“, wisperte Hölzer so leise, dass Adams Hirn ihm erst verspätet eine Antwort auf seine Frage gab. Kein Safeword? Der Mann traf sich mit anderen im Wald, ließ sich hart ficken und hatte kein Safeword? 
„Ja klar. Bullshit. Du, als Bulle, kein Safeword.“

Adams Hohn erstarb auf seinen Stimmbändern, als er sah, dass nichts an Hölzer darauf hindeutete, dass er log. Er schnaubte und rief den Chat zwischen den Beiden auf, der, oh Wunder, ganz oben auf der Liste der blonden Männer-Sexdates war. 

Das, was sich die beiden Männer hin und hergeschrieben hatten, bestätigte nahtlos Hölzers Version der Geschichte. Der Ermittler wollte keine Rücksicht, aber einen Höhepunkt. Er hatte kein Safeword und erklärte sich explizit damit einverstanden, auch ohne gefickt zu werden. Nüchterne, ehrliche, direkte Worte.
  
„Bist du dumm?“, fragte Adam ehrlich erstaunt, aber mit deutlicher Wut in der Stimme. „Tickst du noch ganz sauber? Kein Safeword…kein Wunder, dass dir der Arsch brennt, wenn es keine Grenzen gibt.“
Hölzer erwiderte nichts und nun war die Verzweiflung in seinen Augen viel mehr als ein Schatten. Sie war allumfassend und nahm ihm den kompletten Widerstand. Wünschenswert, aber komisch zu diesem Zeitpunkt ihres Gespräches, befand Adam. 

„Ich wollte das so“, wiederholte er wie eine kaputte Schallplatte und Adam warf das Telefon verächtlich auf den Tisch neben sich. Es schlitterte bis zum Rand und blieb gekonnt dort liegen.  
„Sowas macht man nicht ohne, Idiot. Was bist du, lebensmüde?“
Hölzer hatte keine Antwort darauf und Adam hatte nicht übel Lust, ihm dafür einen Schlag in den Nacken zu geben. 

„Wenn du künftig nicht einsatzfähig sein solltest, weil dir der Arsch brennt oder dich gerade jemand fickt, ist der Schmerz, den du spürst, wenn er dich fickt, dein geringstes Problem, verstanden?“, grollte Adam, da er drohen musste. Er konnte Hölzer nicht damit entkommen lassen, dass dieser ihm offenen Widerstand geleistet hatte. Er konnte es nicht riskieren, dass Hölzer nicht einsatzfähig war. Außerdem musste ja jemand vernünftig sein und ihm sagen, dass das scheiße war, was er machte. 

„Wenn ich nach dir verlange, springst du. Wenn ich Antworten von dir möchte, gibst du sie mir. Und du hast eine Pflicht zur Gesunderhaltung. Auch deines Arsches. Klar soweit?“ Es war für Adam ein Stilmittel, um Hölzer seine Position und seinen Gehorsam zu verdeutlichen, nicht jedoch, um ihn noch mehr zu strafen. Es war notwendig, damit Vincent nicht noch zusätzliche Arbeit hatte. 

„Du verbietest mir…Sex zu haben?“, fragte Hölzer nach einer Sekunde des Zögerns tonlos nach und Adam lachte unerfreut. Ja, warum eigentlich nicht?
„Wenn Sex für dich bedeutet, Schmerzen in dich reinzuficken, dann ja. Von nun an wirst du Blümchensex oder gar keinen Sex mehr haben und glaube ja nicht, dass ich das nicht mitbekommen würde.“

Hölzer starrte ihn an, als wäre er der Anti-Christ und Adam war es recht so. Wenn der Polizist sich nicht selbst schützen könnte, dann würde er das für ihn übernehmen. Was sollte das denn? Was dachte sich der Andere dabei? Das war doch fahrlässig und gefährlich noch dazu, wenn es jemand ausnutzte. Hölzer konnte sich doch nie im Leben damit wohlfühlen.
„Hast du mich verstanden?“, schob Adam nach und der andere Mann starrte zu Boden. 
„Ja, habe ich“, erwiderte er rau und seine Stimme brach. 

Bevor er Hölzer beim Weinen zusah, verließ Adam lieber die Wohnung, wütend auf Hölzer und den Abend, den er anderes geplant hatte. Ein Spiel wäre toll gewesen, sowas wie beim letzten Mal. Eine Diskussion über Safewörter oder vielmehr das Fehlen derselben…

Nein danke. 


~~**~~


Leo wusste nicht, wie lange er schlotternd in seinem Wohnzimmer stand, seine Gedanken ein einziges, schlimmes Chaos, das sich immer wieder um die Worte des Mannes drehte, der ihm Stück für Stück seine Selbstbestimmung nahm. 
Er durfte nicht mehr anziehen, was er wollte. Er durfte nicht mehr ermitteln, wie er wollte. Er durfte nicht mehr den Sex haben, den er wollte. Schürk entzog ihm Stück für Stück sein Sein und Leo begriff im ersten Schockmoment gar nicht, was das für ihn bedeutete. Im zweiten überrollte ihn das Wissen um die Tatsache wie ein Tsunami und ließ ihn verstört in seiner Wohnung zurück, dem Raum, der eigentlich sein Rückzugsort sein sollte. Schürk hatte ihn entweiht, auf so viele Arten und Weisen, er trat seine Bedürfnisse mit Füßen. 
Es ist nur Sex, versuchte die verzweifelte Seite in ihm zu beschwichtigen, doch Leo wusste bereits, dass dieses Standbein seiner Selbst, dieser Bewältigungsmechanismus, mehr als das war. 

Es war ein notwendiger Mechanismus um mit dem Trauma seiner Jugend fertig zu werden.

Es dauerte, bis Leo sich aus seiner Starre lösen und zum Tisch gehen konnte. Mit zittrigen Fingern griff er zu seinem Telefon und entsperrte es im zweiten Versuch. Er rief Caros Kontakt auf und presste das Telefon an sein Ohr. 
„Leo?“, fragte seine Schwester verwundert, kurz nachdem sie abgenommen hatte und Leo presste die Lider aufeinander. 
„Kann…kann ich vorbeikommen? Bitte Caro…kann ich heute bei dir schlafen?“, wisperte er und sie machte ihrer Besorgnis nur zu deutlich Luft.
„Ja sicher. Leo, ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Bitte sprich mit mir.“
Er schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Bitte lass mich bei dir schlafen“, wiederholte er mechanisch und Caro schnaufte.
„Jederzeit, kleiner Bruder, da musst du doch nicht fragen. Soll ich dich abholen kommen?“

Es brauchte etwas, bis er dem zustimmte und sie legte auf, bevor Leo es sich anders überlegen konnte. Als sie ihn vor seiner Wohnung am Straßenrand einsammelte, umarmte sie ihn, sobald er unter Schmerzen in ihr Auto gestiegen war. 

In ihrer Wohnung verfrachtete Caro ihn erst unter die Dusche, dann in ihr Bett, wo sie ihn in eine große Schwestern-Umarmung zog. Leo weinte stumm und er wusste noch nicht einmal warum. Ob es aufgrund des Verlustes seiner Selbstbestimmung war oder aufgrund der Hoffnungslosigkeit, die ihn so fest im Griff hatte, dass er glaubte, an ihr zu ersticken. 

Er wusste nur eins mit Sicherheit. Er durfte mitnichten auf Caros sanfte Frage, ob er darüber reden wolle, mit ja antworten.


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Notes:

Sorry! o.O Es wird besser, ich schwöre!

Chapter 8: Zersprungenes Glas

Notes:

Einen wunderschönen euch allen,

Sommerpause ist vorbei, hier ist nun der neue Teil! Ich wünsche euch allen einen schönen, sonnigen Tag, sei es auf der Arbeit oder m Urlaub bzw. in den Ferien! Vielen lieben Dank für all eure Kommentare, Kudos und Klicks! :)

Für diesen Teil gibt es einige Triggerwarnungen: Gewalt, Suizidgedanken, Mord(gedanken), Beleidigungen, Erpressung, Nötigung

Denkt immer dran, es muss erst schlimm werden, bevor es bergauf gehen kann *husträusper*

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Caro war weder dumm, blind noch taub. Ebenso wenig hatte sie die gemeinsame Zeit mit ihrem kleinen Bruder in ihrer Kindheit und Jugend damit verbracht, ihn zu ignorieren. Sie wusste, wie Leo tickte und was er vor ihr verbarg, ohne mit ihr darüber zu sprechen. 

So auch jetzt. Er hatte die Nacht bei ihr verbracht, gefangen in unruhigem Schlummer, der immer wieder durchbrochen wurde durch beginnende Alpträume, aus denen er panisch hochschreckte. Nach Matthias‘ Tod hatten sie zugenommen und Caro hatte sich Leo vor Jahren bereits geschnappt und jede Information aus ihm herausgepresst, die sie bekommen konnte. Der große-Schwester-Bonus der Strenge. So hatte sie erfahren, was er für Matthias getan hatte und wie sehr ihr Bruder darunter litt. So hatte sie zwei Jahre später auch erfahren, warum ihr Bruder keinen Freund mehr mit nach Hause brachte und sich auch sonst nicht mit Männern in seiner Wohnung traf.

Den Blick, mit dem er sie gemessen hatte, war unvergessen für Caro gewesen und ein Mahnmal, wie groß Leos Angst vor Ausgrenzung war. Immer noch. Er hatte sie so angesehen, als würde sie ihn verstoßen, dafür, dass er versuchte, das Trauma seiner Jugend zu kompensieren. 

Caro hatte ihm ordentlich den Kopf gewaschen dafür. 

Nun traf sie auf eine neue Mauer und die saß am Frühstückstisch, sich an eine Tasse Kaffee klammernd. Leo ließ die Schultern hängen, als würde das Gewicht der Welt auf ihm ruhen und sie kam zu ihm, wuschelte ihm durch die Haare. 
„Hey, Grummel“, grüßte sie ihn und er sah schweigend zu ihr hoch, dunkle Ringe unter seinen Augen. 
„Hey.“
„Magst du mir sagen, was los ist?“
Wie gestern auch schüttelte er den Kopf und starrte lieber zurück in seinen Kaffee, als ihr zu ermöglich, die Wahrheit in seinem Gesicht zu sehen.
„Hat es was mit diesem blonden Mann zu tun? Adam hieß er doch.“

So sehr, wie Leo sich bemühte, nicht zusammen zu zucken, brauchte sie gar nicht so genau hinsehen. Tatsächlich also Adam. 
„Hat er dir wehgetan?“, fragte sie und er schüttelte den Kopf. Die Lüge darin erkannte sie in der Art, wie Leo eine Sekunde brauchte um ihr zu antworten. Wie er es nicht verbalisieren konnte, ohne sich selbst zu verraten.
Sie zog sich ihren Stuhl heran und setzte sich neben ihn. 
„Wie hat er dir wehgetan?“, formulierte Caro ihre Frage um und Leo presste die Zähne aufeinander. 
„Bitte, Caro, frag nicht. Ich möchte nicht darüber reden“, flüsterte er mehr, als dass er wirklich mit ihr sprach und sie legte ihre Hand auf seine. Warnend drückte sie zu. „Er…hat mir nicht wehgetan. Wirklich nicht.“

Caro kannte ihren Bruder schon, seit er ein glucksendes, zufriedenes Baby mit Grübchen und strahlend blauen Augen gewesen war, die erst im Nachhinein ihre jetzige Grünfärbung erhalten hatten. Sie kannte seine Macken und seine Stärken, sie kannte alles von ihm.

Und sie wusste auch, wann er log. So wie jetzt. Sie wusste aber auch, wann es keinen Sinn machte, weiter auf ihn zu drängen, weil es da noch etwas Anderes gab, dass einer ehrlichen Antwort im Wege stand. 

So wie jetzt. 

Anstatt weiter auf ihn einzureden, drückte Caro ihm einen schwesterlichen Kuss auf die Haare. „Bin für dich da, kleiner Bruder“, murmelte sie. „Immer.“


~~**~~


Adam hatte ein Problem. 

Genaugenommen nicht nur eins, aber eins, über das er nicht mit Vincent sprechen konnte. Er wusste, dass er Ärger dafür bekommen würde, was unlängst mit Hölzer geschehen war. Vincent würde ihn dafür schelten, dass er schon wieder alleine bei Hölzer war und dabei hatte Adam ihm noch nicht einmal vom ersten Mal erzählt. Er würde ihn dafür schelten, dass er Hölzer soviel hatte durchgehen lassen. Er würde auf ihr System verweisen und all das wusste Adam. 

Wäre da nicht der Mann, der sich von anderen Männern so hart ficken ließ, dass er Schmerzen beim Gehen hatte. Der das freiwillig tat. 

Adam hatte die richtige und wichtige Entscheidung getroffen, es ihm zu verbieten und doch war Hölzer in der Nacht nicht in der Wohnung gewesen. Selbst der Peilsender an seinem Wagen hatte nichts verraten, denn der stand nach wie vor in der gleichen Parklücke zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt. Nur die Überprüfung durch eine seiner Mitarbeiterinnen hatte ihm Aufschluss darüber gegeben, dass Hölzer sich bei seiner Schwester befand, deren Wohnung sie natürlich nicht verwanzt hatten. 
Was er dort tat, was er sagte und wie er reagierte, das konnte Adam nicht sehen und nun war er alleine mit den Erinnerungen an das Gespräch und Hölzers Reaktionen, die er nicht deuten konnte. 

Beinahe schon devot verzweifelt und resigniert schien der andere Mann gewesen zu sein. Anders als sonst, ohne den Widerstand in seinen Augen, dafür umso mehr Widerstand im Rest seines Körpers. Bevor auch jener erlosch und etwas zurückgelassen hatte, was Adam nicht wollte. 

Er hätte gerne Vincent gefragt, doch dann müsste er offenbaren, was er getan hatte und Vincents Missfallen wollte Adam sich nicht stellen. Er hatte die Situation doch unter Kontrolle. Er hatte Hölzer unter Kontrolle. 

So war sein Problem eher das, dass er blind in Hölzers Gefühlswelt navigieren musste, in dem Mariannengraben, der sich anscheinend dort aufgetan hatte. Eines wusste Adam jedoch mit Sicherheit: Er wollte den geschlagenen Ausdruck nie wieder auf Hölzers Gesicht sehen. Und da er Vincent nicht nach dem Grund fragen konnte, musste er es selbst herausfinden und das Feuer in Hölzer zurückholen. Die Wut und den Zorn, nicht das Selbstzerstörerische von vor einem Tag. 

Adam griff zu seinem Handy und zögerte nur für den Bruchteil von Augenblicken, bevor er dem anderen Mann eine Nachricht schrieb. 

~Heute Abend, 19:00 Uhr, bei mir.~

Es reichte, um Hölzer erscheinen zu lassen. Alles Weitere würde Adam sich im Laufe des Tages ausdenken. 


~~**~~


„Wir haben eine verdächtige Person“, sagte Esther und pinnte das Bild eines hageren Mannes mit kurzgeschorenen Haaren an ihre Wand. „Boris Barns, Vermieter von Mirko Linz und Angehöriger des Schürk-Clans.“ Triumphierend lächelnd drehte sie sich zu ihnen um, steckte die Hände in ihre Hosentaschen. 
„Ich habe mir die Videoaufnahmen noch einmal angesehen und die Kennzeichen verglichen, die wir auf seinen Namen haben. Da wurde ich nicht fündig, aber bei den Kennzeichen, die er über eine seiner Firmen führt. Beide, er und sein schicker VW Passat Kombi in mausgrau wurden in der erweiterten Nähe des Tatorts gesehen. Aber in direkter Nähe eines guten Zugangs zum Park, in dem Linz gefunden wurde.“

Leo hörte ihr erschöpft zu und beugte sich nach vorne, lehnte sich auf seine Ellbogen. Sein Herz hatte bei Esthers Worten einen schmerzhaften Satz getan. Wenn Barns tatsächlich zu Schürk gehörte, dann ahnte Leo, was auf ihn zukam. Dann ahnte er, zu was er gezwungen würde. Es sei denn, Barns war unwichtig oder loyal genug um das Syndikat nicht verraten. Solange Schürk nichts fragte, würde Leo nichts antworten. Das hatte ihn die Erfahrung der letzten Wochen und Monate gelehrt. 

Insbesondere der letzten beiden Wochen, in denen sein Leben nur noch aus Arbeiten gehen und Schürk sehen bestand. Immer im gleichen Rhythmus. Jeden Tag, auch am Wochenende. Dort noch soviel schlimmer, weil er Samstag und Sonntag nicht über die Ablenkung seines Dienstes verfügte. 

Seitdem Schürk ihm verboten hatte, sich mit anderen Männern zu treffen, war er eine stetige und erdrückende Präsenz in seinem Leben geworden. Die regelmäßigen, aber seltenen Treffen von Anfang seiner Erpressung waren Geschichte und nun konnte Leo sich auf gar nichts Anderes mehr konzentrieren als diesen Mann. Er durfte nicht. Weggehen mit seinem Team? Niemals. Weihnachtsfeier? Hatte er abgesagt, mit der Begründung, dass er Magen-Darm-Probleme hatte. Der Name des Virus? Schürk. Die Krankheit? Chronisch. Das hatte er Pia aber nicht unter die Nase gerieben. Die Einladung zum Adventsfrühstück von seinen Eltern? Hatte er abgelehnt, weil er ahnte, dass Schürk ihn auch an dem Tag sehen wollte. 

Leo wusste nicht mehr, was er tun durfte, also tat er gar nichts. 

Er ging zu Schürk oder wartete auf den anderen Mann in seiner eigenen Wohnung. Jeden Abend wollte Schürk ihn sehen um mit ihm sein pervertiertes Spiel aus Provokation und Strafe zu spielen. Provokation, auf die Leo keine Antworten mehr hatte und ertrug, was der andere Mann ihm sagte und was er von ihm wollte. Filme sehen, Spiele spielen, über Bücher sprechen…Leo nahm alles hin und gab automatisierte Antworten, die ihm leicht von den Lippen gingen. Kein Widerstand, dafür hatte er keine Kraft mehr. Keinen Antagonismus, denn Schürk hatte mit Sicherheit noch andere Möglichkeiten, ihm das Leben zur Hölle zu machen. 

In der Dienststelle schrieb er Tage an einem Ermittlungsvermerk und vergaß Dinge, begrub sie unter seiner tonnenschweren Unsicherheit. Pia und Esther versuchten ihn auf Spur zu bringen, doch Leo verweigerte so gut es ging dem Kontakt zu ihnen. Privat sowieso und dienstlich nur dann, wenn es notwendig war. Es war soweit gegangen, dass ihrer Abteilungsleiterin auf ihn zugetreten war um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Leo hatte genickt und an Schürks Worte gedacht. 

Ich habe so viele von euch in meiner Tasche…wer weiß, wem von denen du noch vertrauen kannst, wenn du planst, das Maul aufzumachen?

Alles war gut, alles war klar. Alles lief.

Nur ohne ihn. Er war nicht mehr er, er lief neben der Spur, neben sich. Und so war jeder Tag ein Kampf, jeder Morgen der Krieg gegen sich selbst und der Versuchung, einfach liegen zu bleiben, die dumpfe Ergebenheit ein Schutzschirm für all das, was kommen mochte. Dann würde es ihm auch egal sein, wie Pia und Esther ihn ansahen. Dann würde es auch egal sein, dass er noch nicht alle Geschenke für seine Familie hatte und dass er sie nicht kaufen können würde. Vielleicht konnte er Weihnachten auch nicht mit ihnen verbringen, weil Schürk ihn in einer Art der pervertierten Feier bei sich behalten wollte. 

Das Einzige, was noch fehlte, war, dass Schürk ihn auch körperlich einsperrte, doch wäre das wirklich schlimmer als das, was der Sadist ihm in den letzten Wochen angetan hatte? Leo war sich nicht so sicher. Aber es wäre wenigstens ehrlich.

„Wissen wir schon etwas über sein Alibi?“, fragte Pia in seine Gedanken hinein und Leo blinzelte. Mühevoll konzentrierte er sich auf das Hier und Jetzt. 
Esther schüttelte unerfreut den Kopf. „Nein, noch nichts. Ich habe seinen Weg über die Verkehrskameras nachverfolgt und er verliert sich irgendwann außerhalb von Saarbrücken in Richtung des Anwesens des Schürk-Patriarchen.“
„Funkzellenabfrage?“
„Ist noch nicht durch. Kommt aber.“

„Das heißt, wir haben eine erste, feste Spur“, sagte Leo nachdenklich und sowohl Pias als auch Esthers Augen ruhten auf ihm. Er fühlte sich unwohl unter ihrer Aufmerksamkeit und entsprechend schnell versteiften sich seine Muskeln.
„Du klingst enttäuscht darüber“, merkte Esther mit einem seltsamen Ausdruck an, den Leo nicht ganz deuten konnte. Pia warf ihr einen Blick zu und Esthers Haltung änderte sich minimal. Beinahe unmerklich für Leo. Irgendetwas geschah zwischen den Beiden, das er nicht benennen konnte. Ohne ihn, aber über ihn.

„Nein, ich finde es gut“, erwiderte er deswegen, um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen, auch wenn es eine Lüge war. Er hatte Angst, davor, es preisgeben zu müssen. Er hatte Angst vor den Konsequenzen, die das haben würde.  
Esther grollte. „Gut, dann sollten wir den Staatsanwalt schon mal informieren, damit der nicht Ewigkeiten dafür braucht, den Haftbefehl zu beantragen. Nicht, dass er uns am Ende noch durch die Lappen geht und sich ins Ausland absetzt.“

Insbesondere die Steuer- und Wirtschaftskriminalität hatten Probleme damit und Leo vermutete, dass einer der bestochenen Richter oder Staatsanwälte sich genau um die Verfahren kümmerte. Beweise hatte er nicht. 

„Machst du das, Leo?“, fragte Pia und ihr Ton hatte etwas Abwartendes, etwas, das Leo im Nachhinein als lauernd bezeichnen würde. Vermutlich, weil er seit zwei Wochen und eigentlich seit Monaten nicht mehr auf der Höhe war. 
Jetzt aber nickte er. „Klar, mache ich.“

Er hatte ja schließlich einmal den Eid auf die Bundesrepublik Deutschland geschworen und dass er ihre Grundsätze achten und ehren würde. 


~~**~~


Leo schreckte abrupt aus seinem unruhigen Schlaf hoch und versuchte die Fetzen des Alptraumes loszuschütteln, der ihn auch noch die wenigen Stunden Schlaf gekostet hatte, die ihm sein Geist gegönnt hatte. 

Schürk hatte ihn in seinem Traum ins Gefängnis gebracht, weil er ihm nichts von der anstehenden Durchsuchung erzählt hatte. Das hatte Leo tatsächlich nicht, aber nur, weil Schürk nicht gefragt hatte. Schürk fragte schon seit Tagen nichts Dienstliches mehr, alleine darauf beschränkt, sein Privatleben gläsern zu machen. Der Beschluss war in Arbeit und wann der Staatsanwalt ihn ausstellen würde, war noch nicht bekannt. Es würde vermutlich wie immer zwei Tage dauern, also rechnete er morgen damit. 

Im Gefängnis hatte Detlef auf ihn gewartet und nahtlos da weitergemacht, wo er in ihrer Jugend aufgehört hatte…Leo war so hilflos wie damals gewesen und hatte gleichzeitig zusehen müssen, wie seiner Familie die Existenzgrundlage genommen wurde. Hilflos im Gefängnis gefangen. 
Leo konnte sich nicht genau erinnern, ob er geschrien hatte, doch als er sich räusperte, war seine Kehle rau.

Offengestanden wusste Leo nicht, wie er sich aus der Spirale der absoluten Hoffnungslosigkeit lösen konnte, die ihn fest in ihrem Würgegriff hatte. Er ahnte, dass er den Punkt, an dem er jemals wieder etwas Richtiges könnte, längst überschritten hatte. Es gab für ihn kein Zurück mehr und der Traum war nur eine weitere Bestätigung dafür, dass sein Leben verflucht war.

Irgendwann würde die interne Ermittlung darauf stoßen, dass in Saarbrücken nichts lief. Sie würden darauf stoßen, dass die Polizei, Staatsanwaltschaft und einzelne Richter mit drinhingen. Sie würden jeden einzelnen ausfindig machen und sie alle verhaften. Aber war es nicht auch besser so? Was taten sie denn gerade? Sie führten den Rechtsstaat ad absurdum und das Schürk-Syndikat kam mit allem durch, was sie getan hatten.

Wie betäubt starrte Leo seinen Kleiderschrank an, der Teil seines fremdbestimmten Lebens war. Er durfte nicht mehr das anziehen, was er wollte und mittlerweile hatte er das weiße Henleyshirt zu hassen gelernt. Die offenen Knöpfe, die Schürk starren ließen, als wäre er nicht mehr als ein Objekt zum Begaffen. Ein Lustobjekt, kein Mensch, ein Ding, das man nutzen konnte, wie man wollte. 

Leo wandte sich von seinem Kleiderschrank ab ohne sich etwas herauszunehmen und strauchelte mehr als dass er ging von seinem Schlafzimmer aus ins Bad. Sein Spiegelbild teilte ihm das mit, was er auch schon erahnte. Chaotische Haare, tiefe Augenringe, ein zerknautschtes Schlafshirt. Kein Leben mehr in seinen Augen. 

„Ich will nicht mehr“, flüsterte er seinem eigenen Spiegelbild zu. „Ich kann nicht mehr.“

Nicht nach der Belastung der letzten Monate. Nicht nach der Dauerbelastung der letzten beiden Wochen. Nicht nach den Verboten, die sein Innerstes trafen. 

Resigniert stellte Leo fest, dass er sein Badehandtuch im Wohnzimmer vergessen hatte. Er verließ das Bad und kam in dem Moment in seinen Flur, in dem die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. 
Caro hat einen Ersatzschlüssel, schoss es ihm durch den Kopf, aber sie würde nicht reinkommen. Nicht einfach so. Sie würde klingeln. 

Es war auch nicht Caro, sondern Schürk, der mit einem vielsagenden Lächeln seine Wohnung betrat, in der Hand eine Brötchentüte. 

„Guten Morgen Sonnenschein, gut geschlafen?“, fragte er viel zu laut, viel zu präsent und das Einzige, was Leo in diesem Moment erfüllte, war absolute Verzweiflung. 
Sie hatten seine Wohnung kompromittiert, das wusste er. Aber dass Schürk jederzeit auch Zutritt hatte und nicht einmal mehr klingeln musste, versetzte ihm einen derartigen Schlag, dass Leo ein paar Sekunden lang die Luft zum Atmen wegblieb. 

Stumm stand er ihm gegenüber und sah ihm dabei zu, wie er die Brötchen in die offene Küche brachte und Teller herausholte. Schürk war doch erst gestern Abend hier gewesen und hatte ihn gezwungen, einen Film mit ihm zu sehen und nachher mit ihm darüber zu sprechen. Er war doch… bisher konnte Leo doch vor seiner Arbeit alleine sein. 
Wieso…?

„Na los, geh dich duschen, ich mache derweil Frühstück“, sagte Schürk mit dem Rücken zu ihm, als wären sie…was? Ein Liebespaar? Freunde? Leo schluckte die Übelkeit hinunter, die rasend schnell von seinem Magen aus seine Speiseröhre hochkletterte.  
Anscheinend brauchte er zu lange um zu reagieren, denn Schürk stand plötzlich vor ihm und strich ihm durch die Haare. Er kam ihm wie so oft nahe in den letzten zwei Wochen, der Geruch mittlerweile eine stetige Konstante in seinem Leben. Leo schauderte.

„Na komm, geh dich duschen, Schlafmütze“, sagte der blonde Mann mit einem dunklen Lächeln auf dem Gesicht, das Leo entzweiriss. Erst ein Schubs in die Richtung seines Bades ließ ihn einen Fuß vor den anderen setzen. 

Für deine Familie, sagte er sich. Für ihr Wohlergehen. 

Ein Gedanke fasste Fuß, den Leo bisher nicht berücksichtigt hatte. Schürk konzentrierte sich nur auf ihn, das hatten die letzten beiden Wochen gezeigt. Leo glaubte nicht, dass der Syndikatssprössling allen anderen die gleiche Aufmerksamkeit widmete. Nein, es lag an ihm. Weil er in irgendeiner Art und Weise Interesse in dem anderen Mann geweckt hatte. 

Wenn er nicht da wäre, dann würde auch Schürks ungesundes Interesse an ihm und seiner Familie enden. Dann hätten seine Eltern keinen Polizistensohn, seine Schwester keinen Polizistenbruder, der ihre Leben in Gefahr brachte. Vielleicht sollte er Schürk einfach seine Erpressungsgrundlage entziehen. Leo starrte seinem Spiegelbild in die erschöpften Augen. Ein heilsamer Gedanke. 

Als er geduscht und in dem weißen Shirt zu Schürk kam, war der Tisch bereits gedeckt. Der andere Mann hatte Kaffee gekocht. Er hatte Caros Blumenstrauß, den sie ihm auf der Arbeit vorbeigebracht hatte, auf den Küchentisch geholt. Schweigend setzte Leo sich und ließ sich Kaffee einschenken. Er ließ sich ein Brötchen geben und hielt es betäubt zwischen den Fingern. 

Schürk trug, wie er jetzt erst erkannte, ein einfaches Shirt und eine Jeans, keinen Anzug mit nichts drunter. Er sah beinahe menschlich aus damit. Anders. Leo würde sich wünschen, dass es etwas an der Gesamtsituation ändern würde, doch das war Utopie. Es gab keinen Mann hinter dem Psychopathen, der andere Gründe hatte, als ihn zu quälen und reine Lust aus seinem Leid zu ziehen.  

„Ich wusste gar nicht, dass du so ein Morgenmuffel bist“, führte Schürk den Monolog fort und Leo erinnerte sich daran, dass er das Brötchen auch ablegen konnte. Mechanisch griff er anstelle dessen zu seinem Kaffee und trank einen Schluck. Er war…perfekt und damit fürchterlich. Schürk wusste alles, selbst, wie er seinen Kaffee trank. Geheimnisse hatte Leo anscheinend keine mehr vor dem Mann, der für ihn immer noch undurchdringlich war.
„Was machst du hier?“, fragte Leo, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. Und selbst wenn nicht, war er sich nicht hundertprozentig sicher, ob er sie wirklich hören wollte.  
„Frühstücken, mit dir.“

Leo starrte an Schürk vorbei nach draußen auf seinen Balkon. „Wird das jetzt immer so sein?“, fragte er wider besseren Wissens und Schürk lachte. Es kratzte in Leos Gehörgängen.
„Was? Dass ich dir Brötchen mitbringe? Warum nicht. Dein schlafzerzauster Anblick ist auf jeden Fall reizend.“

Da war es wieder, das Anzügliche. Die Komplimente, die Leo nicht wollte, weil sie auf ein Interesse hindeuteten, dass ihm trotz Schürks Versicherung irgendwann einmal zum Verhängnis werden würde. 

Leo erwiderte das Starren der blauen, durchdringenden Augen, die ihm genau das sagten. 

Zwei Wochen voller ungewolltem Besuch und Restriktionen zerrten an ihm. Zwei Wochen ohne Unterlass Kontakt zu Schürk, dessen Fragen ausgesetzt. Dessen Befehlen, Filme mit ihm zu sehen, Spiele mit ihm zu spielen, sich über Bücher mit ihm zu unterhalten, die Leo gelesen hatte. Zwei Wochen und er war gläserner als je zuvor, zwei Wochen und er war am Ende, ausgelöst durch Verbote, die die Grundfesten seines Seins erschütterten. 

Der Wunsch, dass Vincent ihn anstelle Schürk kontaktieren möge, zeigte Leo, wie gebrochen er eigentlich schon war. Wie sehr er es aufgegeben hatte, gegen seine Realität zu kämpfen. 

Schürks Handy klingelte und Leo zuckte zusammen, verschüttete dabei fast den Rest seines Kaffees. Sicherlich sein Handlanger oder andere Geschäfte, wenn er Schürks fragenden Gesichtsausdruck sah. 

„Ja?“, fragte dieser ungnädig und ungehalten über die Störung und die Person am anderen Ende der Leitung sagte etwas, das Leo nicht wirklich verstand. Schürk hörte zu und in seinem Gesicht sah Leo, wie es ihn von Sekunde zu Sekunde wütender machte, was er hörte. 
„Ist das so…?“, fragte er schließlich lauernd mit seinem Blick auf Leo und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Die Stimme am Telefon nahm erneut das Gespräch an sich und mit jeder Sekunde wurde Schürk wütender und hasserfüllter. Leo hatte ihn noch nie so gesehen und es machte ihm eine solche Angst, dass sie selbst seine Resignation durchbrach. 

„Nein, ich werde mich selbst darum kümmern“, schloss Schürk das Gespräch und legte auf. Er starrte auf sein Handy und legte es dann mit Bedacht auf Leos Esstisch. Neben seinem Teller und unweit von Caros Blumen. Leo verharrte still, auch wenn sein Instinkt ihn anschrie, vor dem anderen Mann zu fliehen. 

Schürk war wütend und er würde seine Wut an Leo auslassen. Mit Sicherheit. Insbesondere jetzt, da der andere Mann hochsah und Leo direkt in die Augen starrte, erkannte er die Gefahr, in der er schwebte. 
„Der verschwiegene Herr Hölzer. Ein gutes Buch, findest du nicht auch?“, fragte Schürk so leise nach, dass Leo beinahe Probleme hatte, ihn zu verstehen. Er schluckte, als er den Sinn der Worte verstand. Was meinte der andere Mann damit? 

Der blonde Mann erhob sich und kam zu ihm, eines Jägers gleich. Nur dass dieses Mal da kein Amüsement war, keine Freude, sondern unverhohlene Wut. Das hier war der eigentliche Mann hinter der Maske. Hier war der Schürk, dessen Lebensinhalt darin bestand, andere zu quälen und sie sich zu unterwerfen. 

Leo sah zu ihm hoch, sein Herzschlag nicht mehr als ein schnelles Dahinfliegen, das Rauschen in seinen Ohren viel zu laut für die Stille zwischen ihnen. 
„Da sitzen wir beide gemütlich am Frühstückstisch und was muss ich hören? Dass heute Morgen um vier Uhr Boris Barns verhaftet worden ist mit dem Verdacht, Mirko Linz ermordet zu haben.“

Leo schluckte. Barns war bereits verhaftet worden? Wieso? Er hatte doch… der Staatsanwalt würde doch mit ihnen sprechen, wenn er… das war noch nie vorgekommen, dass er nicht darüber informiert worden war, wenn es zu einer Verhaftung kam. Wieso jetzt? Wieso war er nicht darüber in Kenntnis gesetzt worden? 
„Dein Fall, deine Ermittlung, deine Beantragung beim Staatsanwalt. Und du sitzt hier in aller Seelenruhe, trinkst deinen Kaffee und hast mich nicht darüber informiert.“

Schürks Stimme troff nur so vor Zorn und Leo öffnete seine Lippen, um etwas zu sagen, doch nichts kam heraus. Kein Ton kam heraus, keine Verteidigung. Selbst wenn er etwas hätte sagen können, es gäbe nichts, mit dem er sich verteidigen konnte. Schlussendlich hatte er selbst den Beschluss beantragt und Schürk eigeninitiativ nichts davon gesagt. Der andere Mann hatte auch nicht gefragt, aber dennoch.

Die Hand, die ihn am Hals packte und mit ungeahnter Kraft daran hochzog, sah Leo nicht kommen und sein Instinkt als Polizist griff durch, noch bevor er sich davon abhalten konnte. Das hier war eine Bedrohung und er hatte wieder und wieder gelernt, sich gegen Bedrohungen zur Wehr zur setzen. 
Nur war Schürk stärker als er und setzte das Momentum der Überraschung mit spielerischer Leichtigkeit gegen Leo ein. Egal, wie sehr Leo sich auf sein Polizei- und Kampfsporttraining berief, Schürk parierte seine Versuche, sich von ihm loszumachen mit einer überheblichen Leichtigkeit, die Leos Angst um ein Vielfaches anfeuerte. 

Sie rangen beinahe lautlos, bis Schürk ihn mit seinem Rücken schmerzhaft gegen die Bilder seiner Familie an seiner Flurwand presste, Leos anderen Arm im schmerzhaften Haltegriff.
Er drückte zu und Leo presste seinen Hinterkopf gegen die Wand, im verzweifelten Versuch, Schürks Händen zu entkommen, Luft zu bekommen, zu atmen, irgendwas…

Schürk zischte erbost und Leo keuchte, versuchte röchelnd nach Luft zu schnappen. 
„Hör…auf“, presste er hervor, obwohl er eigentlich keine Luft mehr dazu übrig hatte. Obwohl erste bunte Sterne bereits vor seinen Augen tanzten und sein Sichtfeld minimierten, während der Druck der mangelnden Atmung in seinem Kopf beinahe unerträglich wurde. 

„Dachtest du also, du könntest unterm Radar ermitteln? Dachtest du also, du könntest Verhaftungen durchführen, ohne, dass ich etwas davon erfahre? Dachtest du, ich würde dir das durchgehen lassen?“ Schürk fletschte seine Zähne und Leo schloss die Augen, als er den Anblick seines Untergangs nicht mehr ertrug.

„Ein Haftbefehl gegen Boris Barns, vollstreckt heute Morgen. Und du hast gestern Abend nicht das Maul aufbekommen um mir das zu sagen. Oder die Tage davor“, drangen Worte an Leos Ohr, die er nur noch gedämpft hörte. 
„Du…bringst…mich….um“, keuchte er und die Hand um seinen Hals lockerte ihren Griff gerade soweit, dass Leo hustend und nach Luft schnappend wertvollen Sauerstoff in seine Lungen bekam. 

„Ich habe den Haftbefehl beantragt, wusste aber nicht, dass er bereits heute vollstreckt wird“, sagte er, sobald er Luft zum Sprechen hatte, auch wenn seine Rechtfertigung es nicht besser machen würde. Anders, aber nicht besser. 
„Und in all der Zeit hast du es nicht für nötig gehalten, mir das zu sagen?“
„Du hast nicht gefragt“, erwiderte Leo beinahe schon trotzig, weil es das Einzige war, was ihm blieb, wo Schürk ihm doch mit Sicherheit Gewalt antun würde. Egal, was er tun oder sagen würde. 

Der Schlag ins Gesicht kam daher nicht überraschend, aber dennoch abrupt genug, dass Leo sich keine Sekunde lang darauf vorbereiten konnte. Entsprechend unkontrolliert stolperte er zur Seite und riss damit gleich ein paar Bilder mit sich zu Boden. Er hielt sich aufstöhnend die Wange und war im ersten Moment froh, Schürks Griff entkommen zu sein, auch wenn es in seinem Kopf dröhnte. 

Schürk verlor jedoch keine Zeit und griff in seine Haare, zog ihn schmerzhaft daran zu sich hoch. Leo stöhnte gepeinigt auf und erwiderte das Starren aus eisblauen Augen panisch, das ihm nicht weniger als den eigenen Tod versprach. 

„Du siehst zu, dass er freikommt. Ich gebe dir bis morgen Zeit dafür“, grollte Schürk und Leo schluckte schwer. 
„Das geht nicht. Ich kann das nicht…das liegt nicht in meiner Macht“, versuchte er sich an einem Widerspruch, doch Schürk lachte nur hart. 
„Anscheinend warst du gut genug, einen Haftbefehl zu erwirken. Dann sei auch für alles Andere ausreichend.“
„Nein, ich…“

Schürk packte ihn erneut grob an seinem Hals und lächelte eisig. „Vielleicht hilft dir das, du Möchtegernpolizist: Wenn du meine Familie angreifst, vergreife ich mich an deiner. Ist er bis morgen nicht frei, fange ich mit deiner nichtsahnenden Schwester an. Verstanden?“

Leos Herz setzte ein paar Schläge aus, nur um danach umso schneller und panischer seinen Betrieb wieder aufzunehmen. Nein, nicht Caro! Nicht seine Familie. Er schon, aber nicht Caro. 
Schürk löste sich abrupt von ihm und Leo kämpfte sich trotz seiner Schmerzen und des Schwindels auf die Beine. Nur am Rand spürte er, dass er sich anscheinend am Knie und an den Händen an den Glasscherben der heruntergefallenen Bilder geschnitten hatte. 
 
Er strauchelte Schürk hinterher, der sich zum Gehen gewandt hatte und bekam ihn an seinem Oberarm zu fassen. 
„Nicht Caro!“, flehte Leo und Schürks sadistisches Lächeln teilte ihm nahtlos mit, dass er keine Gnade zu erwarten hatte. 
„Dann lieber deine Eltern? Die liebenswerte Babsi oder den strengen Georg? Ja? Ist dir das lieber?“
Leo schluckte panisch. „Nein! Wenn du jemanden für mein Versagen bestrafen willst, dann mich. Nicht sie, mich. Sie haben damit nichts zu tun!“
Schürk machte sich gewaltsam von ihm los. „Quid pro quo, Bulle“, erwiderte er verächtlich. „Deine Familie für meine.“

Aber Barns stand doch gar nicht in einer verwandtschaftlichen Beziehung zu Schürk, wieso…?

Leo hatte nicht die Kraft und die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, als Schürk ihn schon alleine ließ, seine Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter sich zuwerfend. Mit einem Blick auf die geschlossene Tür sank Leo auf den Boden, kraft- und mutlos im Angesicht der Katastrophe, die er mit eigenen Händen heraufbeschworen hatte. Er, und nur er, hatte seine Schwester in Gefahr gebracht und würde sie nun nicht mehr aus dieser herausholen können. Nichts würde den anderen Mann aufhalten, nicht mit seinen Verbindungen. Selbst wenn er Caro der Obhut der Polizei übergeben würde, so wüsste er nicht, wer von Schürk bezahlt würde. Selbst, wenn er zu einer anderen Dienststelle fahren würde. Er würde sich erklären müssen und dann wurde sein Alptraum wahr, dass sie ihn verhaften würden. Aus dem Gefängnis heraus konnte er seiner Familie noch viel weniger helfen als jetzt und hier. 

Leos starrte auf seine Wohnungstür und von dort aus zu seiner Garderobe, an der er wie immer sein Holster aufhängte. Blind starrte er es an und lauschte auf die Stimme in ihm, die ihm einflüsterte, dass seine Situation nicht aussichtslos war. Noch nicht. 
Schürk ließ nicht mit sich reden, aber das musste auch nicht sein. Schürk war eine Bedrohung für ihr Rechtssystem und für Leos Familie…es gab also noch einen Ausweg. 

Vor dem alles in Leo zurückschreckte. 

Sein Handy pingte und er zog es zitternd aus seiner Tasche. 

~Heute Abend, 19:00 Uhr, in meiner Wohnung.~

Leo starrte blind auf den Satz, der in ihm Übelkeit hervorrief. Bis heute Abend hatte er Zeit, sich eine Lösung zu überlegen. Für eine aussichtslose Situation. 


~~**~~


„Ihr habt ohne mich die Festnahme durchgeführt“, wiederholte Leo tonlos das, was Esther ihm in knappen Worten erläutert hatte. Dass sie heute Morgen von Weiersberger aus dem Bett geklingelt worden waren. Sie und Pia, nicht er. Angeblich, weil Weiersberger ihn nicht erreicht hatte, doch das stimmte nicht. Leo hatte guten Empfang und der Staatsanwalt hatte ihn bisher immer erreicht. Außerdem war es absolut unüblich, dass ein Beschluss mit einer derart kurzen Frist eintraf. 

Sie hatten ihn kalt gestellt, zumindest meinte Leo das zu erahnen. Sie hatten die Festnahme ohne ihn durchgeführt, weil sie ahnten, dass er kompromittiert worden war. Oder weil er nicht Teil dessen werden sollte. 

Er war noch nicht einmal wütend darüber, sondern…verzweifelt. Alles um ihn herum zerbrach in seine Einzelteile und Leo stand in den nicht mehr zu kittenden Überresten seines Tuns. 

„Das war eine einmalige Sache“, beschwichtigte Pia diplomatisch und Leo starrte auf die Tischplatte. So einmalig sie auch war, so sehr zementierte sie nun Caros Gefährdung, aus der er keinen Ausweg mehr sah. Mit jeder Stunde, die verstrich und die ihn näher an 19:00 Uhr heranbrachte. 
Leo nickte, weil er nicht die Kraft für Widerstand aufbrachte. 

Er hatte versagt, als Mensch, Polizist und Familienmitglied. Er hatte sich in eine Situation hineinmanövriert, die nur noch einen Ausweg kannte. Diesen Ausweg zu nehmen, wäre fatal, bedeutete es doch, dass er alles verriet, an das er jemals geglaubt hatte. 

Doch hatte er eine andere Wahl? Wenn er sich weigerte, würde Schürk Caro wehtun oder sie umbringen. Wenn er an die hasserfüllten Worte von heute Morgen dachte, dann eher Letzteres. Anscheinend war Schürk mit dem potenziellen Mörder in ihrem Fall enger verbunden, als Leo es bisher vermutet hatte, als sie alle es bisher gewusst hatten. Und nun würde er sich für die Festnahme rächen. Vermutlich würde er erst Caro umbringen und ihn dabei zusehen lassen, bevor er ihn ins Gefängnis steckte, wo endlich das wahr wurde, was Leo dem anderen Mann schon die ganze Zeit unterstellte. 

Leos Angstspirale half nicht, ganz im Gegenteil. Die Horrorszenarien, die er sich ausmalte, waren schlimmer als alles, was er bisher erlebt hatte – doch hatte er sich jemals träumen lassen, erpresst zu werden? Auch das war undenkbar gewesen. 

Bis vor ein paar Monaten.

Nun war er eine Gefahr für seine Kolleginnen und Kollegen. Er war eine Gefahr für seine Familie. Und Gefahren schaltete man aus. 

Der Gedanke, sich trotz allem zu stellen, war da. Den ganzen Vormittag. Ebenso wie die Vermutung, dass er vermutlich an den falschen Haftrichter und Staatsanwalt geriet und damit erst recht seiner Familie Schaden zufügte. 
Nein… es gab nur einen anderen Weg und seitdem der erste Gedanke in Leo aufgekommen war, ruhte seine Waffe schwer an seiner Seite. Es endete erst, wenn Schürk nicht mehr da war. Sein Handlanger nicht. Und…er auch nicht mehr. 

Dann endete es. Mit ihnen Dreien. 

Und vielleicht würden seine Notizen irgendwann gefunden werden und sie würde dem Syndikat auf eine gute Spur kommen.  

Leo schleppte sich mit dem Wissen und einem reifenden Plan durch den Tag, ertrug Pias und Esthers vorsichtigen Bericht zur Festnahme und die Tatsache, dass Barns durch die Beiden und nicht durch ihn befragt wurde. Er konnte nicht und alles in ihm hatte sich bei dem Gedanken daran zusammengezogen, dass er mit dem Mann in einem Raum saß, der anscheinend mehr für Schürk war als ein bloßer Angestellter. Er konnte nicht klar denken, nur noch ein Ziel vor Augen. Es war ihm noch nicht einmal möglich, in die Nähe des Vernehmungsraumes zu kommen. 

In Zukunft würden Pia und Esther sowieso ohne ihn auskommen müssen. So oder so. 

Er beobachtete sie und kam zu dem Schluss, dass keine der Beiden für Schürk arbeitete. Es beruhigte ihn und er wünschte sich, dass es ihnen gelingen würde, das Syndikat schließlich auszuheben. 

Es war Pia, die im Laufe des Tages immer wieder zu ihm kam und ihm Kaffee oder die Dachterrasse zum Reden anbot. Leo lehnte alles davon mit einem großen Kloß und einem starr auf seinen Bildschirm gesenkten Blick ab. Er konnte und wollte ihr nicht in die Augen sehen, denn dort würde er die Bestätigung finden, dass das, was er tat, falsch war. Illegal, falsch und menschenverachtend. Die größte Sünde, der er sich jemals schuldig machen konnte.

„Hey Leo, schönen Feierabend“, rief sie schlussendlich und er schreckte aus seinen Gedanken hoch. Ohne sich zu ihr umzudrehen, hob er die Hand. Die mit den Schnitten von heute Morgen. 
„Bis morgen!“
Leo schluckte mühevoll. Nein, nicht bis morgen. Bis gar nicht. Er sah hoch und stellte fest, dass er Esther übersehen hatte, die ihn nachdenklich musterte. Sie war nicht wie Pia, sie und ihre Missbilligung waren keine Gefahr für seinen Entschluss. 
„Ja, bis morgen“, log er krächzend und das auch noch schlecht. Esther sah es, Leo sah, dass Esther es sah. Einen Augenblick lang wirkte es so, als würde sie etwas sagen wollen, doch dann schulte sie ihre Mimik auf neutral und nickte knapp. 
„Wir sehen uns“, sagte sie und Leo war froh, dass keine Antwort von ihm erwartet werden würde. Sie würde ihn sehen, als Beamtin der Mordkommission und er als Täter, der sich selbst gerichtet hatte.

Auch das war ein Gedanke, der sich in ihm manifestiert hatte. Er würde den schnellen Tod durch seine eigene Waffe jederzeit einer langen Folter im Gefängnis vorziehen. Feige genug dazu war er.  

Leos Hände zitterten und ihm war kalt, wenn er an die Notwendigkeit seines Handelns dachte. Dass dies nichts mit Recht und Gerechtigkeit zu tun hatte, wusste er nur zu gut und es ließ ihn gegen das wunde Gefühl in seinem Rachen anschlucken. 
Schürk hatte es verdient. Das sagte Leo sich immer und immer wieder. Schürk hatte heute sein wahres Gesicht gezeigt. Ob er Leo in seine Rage umgebracht hätte? Vielleicht. Aber das zeigte sehr gut, was er bereit war, seiner Familie anzutun. 

Sein Handlanger wäre der Kollateralschaden und mehr als bei Schürk hatte Leo Probleme damit. Doch auch er durfte nicht überleben, schließlich war es mit Sicherheit am anderen Ende der Leitung gewesen. Er hatte die Information weitergegeben, in dem Wissen, was Schürk tun würde. 

Punkt 18:45 Uhr verließ Leo das Präsidium, die Dienstwaffe ein schweres Gewicht an seiner Seite. Schürks Wohnung befand sich in Laufreichweite des Präsidiums und was könnte zynischer sein als das? Für ihn war es nun gut, konnte er doch seinen Wagen in der Tiefgarage des Präsidiums stehen lassen. Da musste die Spurensicherung nicht so weit laufen, wenn sie erst einmal feststellten, wer der Mörder war. Und warum. 

Es regnete wieder einmal, als Leo durch die Straßen ging, sich nur auf seine Schritte konzentrierend. Schnee wäre schön gewesen, befand er. Ein letztes Mal die dicken, weißen Flocken, die die Welt mit einer romantisierenden Puderzuckerschicht bestäubten. 
Leo hielt die Augen gesenkt. Wenn er die Menschen ansah, die sich um ihn herum bewegten, dann würde er nicht mehr die Kraft haben, das zu tun, was er tun musste. Er war kein Mörder. Er wollte nie einer werden. Menschenleben waren kostbar. Leben waren kostbar. 

Und doch konnte in Mensch in seinem Leben so derart zerstörerisch sein. Ein Widerspruch in sich. 

Um fünf vor klingelte er bei Schürk, der ihm beinahe augenblicklich die Tür öffnete. Nein, nicht er. Der Handlanger, wieder einmal. 

„Komm rein“, begrüßte er ihn und Leo hörte die Dominanz in der falsch weichen Stimme. Er wartete, bis ihm der Weg freigemacht wurde und zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Es war, als wäre das das finale Zeichen für Leo, dass es kein Zurück mehr gab. Dass er nicht mehr zurückkonnte, egal, was nun noch kommen mochte. Kurz vor Weihnachten…seine Eltern würden traurig sein, ein Weihnachten ohne ihn. Und Caro erst einmal. Aber sie wären in Sicherheit und das war gut so. Sie würden überleben und für ihre Leben würde er seins mit Sicherheit opfern. 

„Schuhe und Jacke aus“, erinnerte der Handlanger und Leo entspannte seine Fäuste. Er musste sich konzentrieren, keiner der Beiden durfte etwas erfahren, bis es zu spät war. Bis er getan hatte, was er tun musste. Mit klammen und zittrigen Händen. Kein einziger Einsatz hatte ihn so nervös gemacht wie dieser hier. Keiner. 

Leo folgte dem Befehl und erkannte, dass er vergessen hatte, die obersten beiden Knöpfe des Hemdes aufzumachen. Es war egal. Es würde egal sein. Schlussendlich. 
„Sieh mir in die Augen.“ Nein, das wollte er nicht. Nicht in diese blauen Augen, die ihm so tief in die Seele blickten. Die das Wissen dazu nutzten, ihn zum ungeliebten Essen zu zwingen. Ihn zum Gehorsam zu zwingen. Der Handlanger war ebenso schuldig. Vincent – wie ihm sein Hirn absolut nicht hilfreich zu verstehen gab. 
Leo verweigerte sich nonverbal, doch Vincent legte einen Finger unter sein Kinn. Das erste Mal, dass der andere Mann ihn berührte und es war schlimm. Es brannte tief in ihm. „Leo Hölzer“, mahnte er ruhig und leise und dirigierte seinen Blick mit sanfter Gewalt nach oben. 

Als sich ihre Blicke trafen, las Leo Überraschung auf dem strengen Gesicht. „Was ist los?“, hakte Vincent noch einmal nach und wenn Leo gerade eben noch die Kraft gehabt hätte zu weinen, wäre er jetzt sicherlich in Tränen ausgebrochen. Wäre es nicht der Handlanger, der vor ihm stand und von dem er nur seinen Vornamen kannte, sonst nichts. 

Eine Bewegung hinter Vincent ließ ihn zu Schürk sehen, der nur mit einer Anzughose bekleidet aus dem Schlafzimmer kam, sein Oberkörper nackt und gezeichnet von Narben, wie Leo erkannte. Er zuckte zusammen, als die eisblauen Augen wütend auf ihm zum Ruhen kamen.  
„Na da ist ja unser kleiner Verräter“, grollte er und Vincent maß ihn nur mit einem kurzen Seitenblick. 
„Dazu kommen wir gleich, Adam“, mahnte er. Leo starrte an die Wand. Würde es nun weitergehen? Würde er ihn wieder schlagen oder würgen? Würden sie seine Schwester holen, aus der sicheren Nachtschicht heraus?
„Später ist es zu spät für Boris. Ich will jetzt einen Sachstand. Den wird er mir trotz seiner Dummheit ja noch geben können“, gab Schürk zurück. Es kratzte an Leos Beherrschung. Sie sprachen über ihn wie über einen Gegenstand. Nein, Schürk tat es. Sein Handlanger runzelte die Stirn und Leo hörte Missbilligung in seiner Stimme.
„Das hat Zeit, bis wir im Wohnzimmer sind“, hielt Vincent dagegen und nahm seine Hand von Leos Kinn. Beinahe augenblicklich senkte er den Blick, aus der Angst heraus, dass man ihm seinen Plan vom Gesicht und vor allen Dingen aus den Augen heraus ablesen konnte. 

Schürk rollte mit den Augen und wandte sich an Vincent. Er nickte ihm knapp zu und bedeutete ihm zu folgen, Leo da stehen lassend, wo er war. Mit ihrer beider Rücken zu ihm. 

Leo, dessen Herz raste, als er die Halterung um seine Waffe löste. 
Leo, dessen Herz raste, als er die Waffe zog und auf die beiden Männer richtete, die ihm den Rücken zudrehten. Es war eine Geste, die er schon so oft geübt und ausgeführt hatte, doch niemals mit der Absicht zu töten. Niemals. 

Er war kein Mörder, aber es musste enden. Er würde niemals jemandem freiwillig in den Kopf schießen, aber es musste enden. Von hinten…schon gar nicht. 

Aber es musste enden. 

Er zitterte, seine Waffe zitterte und ihm war so übel, dass er das Gefühl hatte, dass sein Magen sich selbst zersetzte. Das war gegen alles, dem er sich verschworen hatte. Das war gegen jeden Diensteid, den er je in seinem Leben geleistet hatte. 

„Adam, wir müssen in Ruhe darüber sprechen“, sagte Vincent bestimmt und blieb stehen. Als er sich Leo zudrehte, erstarrte er in seiner Bewegung und Leo hatte sich noch nie in seinem ganzen Leben so fürchterlich gefühlt als in dem Moment, in dem die blauen Augen sich auf ihn richteten und der Handlanger verstand, was er im Begriff war zu tun. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

 

Notes:

Sorry...? o.O

Chapter 9: Fünf Schüsse

Notes:

Ein wunderbares Bergfest euch allen,

hier nun der neue Teil ohne Cliffhanger, dafür aber mit einem Fortschritt. Ich kann mit Fug und Recht und ohne Spoiler sagen, dass es ab nun bergauf geht mit den Dreien.

Dennoch gibt es für diesen Teil noch eine Triggerwarnung: Suizidversuch.

Chapter Text

 

Schürk drehte sich mit ihm um und war um Längen nicht so schockiert wie sein Handlanger. Er war…nichts. Er stand einfach da und sagte nichts, tat nichts, zeigte keine Regung auf seinem Gesicht. Wie eine Statue, die nicht im Geringsten davon beeindruckt war, dass Leo seine Waffe auf zwei Männer richtete und sie nun auch vorspannte. 

Mitten in ihre gemeinsame Stille hinein. 

Zwei Schüsse, zwei Nachschüsse, um sicher zu sein, einen Schuss für sich selbst. Er war ein guter Schütze, vielleicht kam er mit drei anstelle von fünf Kugeln aus. Sein Trefferbild war schließlich immer ausgezeichnet gewesen. Er hatte Auszeichnungen dafür erhalten.

Zorn und Hass krochen Schürk nun doch über das Gesicht und Leo fühlte sich an den heutigen Morgen erinnert. Und war es nicht auch eine Steigerung? War es nicht die ultimative Steigerung seines Widerstandes gegen Schürk und seinen Handlanger? Die Finger des blonden Mannes zuckten, der ganze Körper immer mehr angriffsbereit. 

„Was tust du da?“, zischte er wütend und Leo zuckte in Gedanken an den heutigen Morgen zusammen. „Nimm das scheiß Ding runter und zwar sofort.“ Da war er, der eiskalte Sadist, der ihn leiden lassen wollte. Da war der Mann hinter der Fassade, der ihn seit Monaten quälte.

„Adam, sei still“, flüsterte sein Handlanger, auf dessen Gesicht der Schrecken stand, den Leo fühlte. „Halt bitte den Mund.“

„Ach ja? Ich soll den Mund halten, wenn uns dieser unnütze Bulle hier mit seiner Waffe bedroht, obwohl er es besser wissen sollte?“

„Leo…“, betonte Vincent extra seinen Namen. „…ist weder ein unnützer Bulle noch sollte er es besser wissen. Das ist der falsche Ansatz, Adam.“ Vincent atmete tief durch, bevor er sich erneut Leo zudrehte, seine Mimik neutral und weg von der sonstigen Strenge, die er Leo ausnahmslos gezeigt hatte.

„Sag mir, was los ist. Sprich mit mir und teile mir mit, warum du uns mit deiner Waffe bedrohst“, wies er ihn mit ruhigen, bestimmten Worten an, im Nachhall dessen.

Die monatelange Indoktrinierung, dieser Stimme zu gehorchen, war fast zu gewaltig für Leo. Er erzitterte, presste die Lippen zusammen.  

„Es ist genug“, stieß er hervor, wider besseren Wissens. „Ich kann das nicht mehr. Ich bin Polizist. Ich habe geschworen, dass…“

Ihm versiegten die Worte, als die Welt vor seinen Augen verschwamm. Durch den Tränenfilm sah er, wie Schürk einen Schritt auf ihn zutrat und mit einem lauten „Nein!“ richtete er seine Waffe nur auf ihn und trat einen Schritt nach hinten. Gleichzeitig zog Vincent den blonden Mann zu sich zurück, halb hinter sich, als könnte er den Psychopathen damit vor Leo schützen. 

„Adam!“, zischte er. „Bleib wo du bist, verdammt nochmal.“

Der Handlanger sollte aufhören zu reden. Er sollte aufhören, sich derart menschlich zu geben. 

Er sollte aufhören.

„Leo, bitte sprich mit mir. Was ist heute passiert?“

„Heute?“, brach es aus ihm hervor, bitter und zittrig, ohne seine Erlaubnis. Vincent…er war die Gefahr. Der Psychologe. Er wusste ganz genau, was er tat. Und Leo wusste es, konnte sich aber dennoch nicht dagegen wehren. „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will keine Beweise mehr vernichten. Ich will die Ermittlungen nicht mehr behindern. Ich will keine Gefahr mehr für meine Familie sein. Ich will es nicht.“

„Deine Familie ist nicht in Gefahr, wenn du spurst und das tust, was du sollst, du Idiot!“, grollte Schürk wütend und Vincent hielt ihn ein weiteres Mal zurück, in dem sonst so überlegenen Gesicht zum ersten Mal Angst. 

„Adam, du bist jetzt still, hast du mich verstanden?“

Leo spürte die kitzelnden Tränen auf seinen Wangen und nahm sich vor, sie wegzuwischen, bevor er sich selbst eine Kugel in den Schädel jagte. Er wollte so nicht sterben. 

„Ich kann das nicht. Ich kann meine Familie nicht gefährden. Ich darf sie nicht gefährden. Ich kann euch nicht weiter damit durchkommen lassen. Es muss enden. Es. Muss. Enden.“
Vincent nickte, als hätte er Verständnis dafür, durch Leos Hand zu sterben. „Und deswegen willst du was tun?“, hakte er ruhig nach und Leo schnaubte. Er zwang ihn, es laut auszusprechen. Geschickt. 
„Ich beende es“, wiederholte er deswegen rau, die direkte Bezeichnung umschiffend, auch wenn sie wie eine Neonreklame vor seinen Augen leuchtete. 

Erschießen. Ermorden.

„Aber du bist kein Mörder. Deswegen bist du nicht zur Polizei gegangen.“ Leo hatte wirklich unterschätzt, wie gefährlich Vincent war. 

„Halt den Mund“, befahl er tonlos und Schürks kurzes Auflachen zog gefährlich an seiner Selbstbeherrschung. 

„Und du glaubst, dass du lebend hier herauskommst? Das Haus gehört meinem Alten, seine Leute sind hier überall. Bevor du auch nur ins Treppenhaus kommst, werden sie da stehen und dich umbringen.“

Nun war es an Leo zu grollen, seine Finger schwer um das mittlerweile warme, vertraute Metall. „Ich mache deinem System aus Erpressungen und Bestechungen ein Ende, Schürk. Ich werde dich davon abhalten, meiner Familie wehzutun. Es endet mit dir und ihm“, hielt Leo rau dagegen und schluckte gegen seine schmerzende Kehle an. „Die Männer im Treppenhaus sind mir egal.“ Wie schlimm es doch war, seinen kommenden Tod derart neutral zu formulieren. 

Fünf Schüsse maximal. 

Schürk schnaubte. „Ach? Willst du dich hier drin verschanzen und auf die Verstärkung deiner Kollegen warten, die nie eintreffen wird?“, höhnte er und steckte die Hände in die Taschen, als würden sie sich hier normal unterhalten.
Leo erwiderte nichts und es war der Handlanger, der mit einem erschrockenen Weiten seiner Augen begriff, was Leo nicht gesagt hatte. Der gelockte Mann schluckte schwer und schüttelte den Kopf, als könne er so verhindern, was geschehen würde. „Du willst dich umbringen“, sagte er und es war keine Frage. 

Abgehackt nickte Leo, bevor er sich davon abhalten konnte. Etwas in ihm reagierte immer noch auf Vincent. „Ich bin eine Last für meine Familie. Ohne mich sind sie besser dran. Ohne mich bleiben sie am Leben“, äußerte er zum ersten Mal das, was seit Wochen Zeit gehabt hatte, in ihm zu wachsen. Es war fürchterlich auf der einen Seite, befreiend auf der anderen. Es ließ seine Stimme brechen vor unterdrückter, monatelanger Verzweiflung. Vor Angst um sie, die am heutigen Tag ihren verzweifelten Höhepunkt gefunden hatte.

Was?“ 

Schürks Bestürzung war echt, das sah und hörte Leo. Seine absolute Fassungslosigkeit, mit der er erst ihn, dann seine rechte Hand maß. Bigott, mochte man meinen, angesichts dessen, was der andere Mann heute getan hatte. Welche Masken er fallen gelassen hatte. „Warum solltest du das tun?“

Das musste Schürk allen Ernstes fragen? Wut ließ das Blut in Leos Ohren Rauschen, Wut auf den Mann, auf dessen Terror. Wut, die er seit Monaten hatte unterdrücken müssen und der er zum ersten Mal, seit Schürk ihn in seiner Gewalt hatte, freien Lauf lassen konnte.

„Weil ich nicht mehr kann!“, schrie Leo. „Weil du mich hierin getrieben hast, du verdammter Psychopath!“ 

Stille folgte auf seine Worte, Stille und Bewegungslosigkeit. So er Schürk mit seinen Worten getroffen hatte, zeigte dieser es nicht, sondern verharrte schweigend, wie zur Salzsäule erstarrt, seine Augen Speerspitzen seiner Grausamkeit. 

„Du zerbrichst daran“, äußerte Vincent anstelle dessen ruhig und Leo nickte betäubt wie erschrocken. Warum sprach er mit den Beiden? Warum gab er dem anderen Mann Antworten? Er wollte doch nicht…denn, wenn er sie als Menschen sah, würde er nicht in der Lage sein… 

„Darf ich dir eine Frage stellen, Leo?“, hakte Vincent nach und Leo schüttelte den Kopf. Keine Fragen mehr. Keine Gespräche. Nichts. Sie sollten schweigen um es ihm möglich zu machen, sie als die Monster zu sehen, die sie waren.

Der Handlanger lenkte mit sacht erhobenen Händen ein. „Okay, Leo. Okay. Es ist okay. Was du willst. Aber stell dir bitte eins vor. Stell dir vor, wie traurig deine Eltern ohne dich sind. Sie haben dich großgezogen und dich zu einem wundervollen Mann gemacht, der sich um sie sorgt und der sich um sie kümmert. Der versucht, alles Schlimme von ihnen fernzuhalten. Oder deine Schwester…sie-“

„Halt den Mund und wage es ja nicht, meine Familie mit hinein zu ziehen. Nicht nach heute Morgen“, presste Leo hervor und Vincent runzelte die Stirn.

„Was ist heute Morgen geschehen?“, fragte er und Leo schüttelte unwirsch den Kopf. 

„Hör auf mit deinen verdammten Lügen!“, grollte er und wieder lenkte Vincent beinahe schon demütig ein. Beinahe schon menschlich.  

„Leo, du bist kein Mörder. Du bist verzweifelt und siehst keinen Ausweg. Aber den gibt es, mit Sicherheit. Wir finden ihn gemeinsam.“

„Ihr seid erst der Grund, warum ich hier bin und warum es keinen Ausweg gibt!“, wiederholte Leo zischend und Vincent nickte. Beschwichtigend senkte er die kajalbewehrten Augen. Sie passten zu ihm, befand Leos Seite, die keinem Menschen schaden wollte. Die an den Rechtsstaat glaubte.

Vincent stimmt ihm zu, ein Unding in der jetzigen Situation. „Das sind wir. Aber wir sind auch diejenigen, die es ändern können, wenn du uns lässt.“

Leo schnaubte. „Als wenn ihr daran Interesse hättet.“

„Das haben wir. Leo, es gibt Möglichkeiten. Dich umzubringen, gehört nicht dazu. Uns umzubringen, auch nicht. Es gibt andere. Gemeinsame.“

Leo trat einen Schritt zurück und es war mehr ein instinktives Zurückweichen als eine notwendige Handlung, denn aus dieser Entfernung traf er mit Sicherheit. Der Raum war auch so groß genug, dass der andere, den er als zweiten hinrichtete, ihn nicht überwältigen konnte.

Er zuckte zusammen, als er erkannte, dass es tatsächlich genau das war. Eine Hinrichtung. Er war Henker, Geschworener, Richter, Polizist, alles in einem. Die Beweislage war erdrückend, aber…

Schürk bewegte sich und mit blankem Horror sah Leo, dass er auf ihn zukam. Einen Schritt, dann einen zweiten. Unwirsch schüttelte der blonde Mann Vincents Hand ab, die ihn zurückhalten wollte. 

„Tu’s nicht“, warnte er, doch Schürk ließ sich davon nicht beeindrucken.  

„Und ob.“

„Adam? Was machst du da?“, mischte sich nun auch Vincent ein und Leo konnte der Frage nur zustimmen. Wie lebensmüde war Schürk? Was sollte das? 

„Du wirst weder uns noch dich umbringen.“ Das war eine Aussage, die keinen Widerspruch zuließ. Leo schluckte und sagte nichts. Anstelle dessen visierte er Schürk an, doch dieser ließ sich davon nicht abbringen, noch einen Schritt näher zu treten.

„Unterschätz mich nicht“, warnte Leo rau und die blauen Augen musterten ihn ernst und nachdenklich, ruhig gar. 

„Das mache ich mit Sicherheit nicht.“

„Die Waffe ist geladen und schussbereit.“

„Das sehe ich.“

„Es gibt keinen anderen Ausweg. Nicht nach heute Morgen.“

Anstelle einer Antwort trat Schürk näher, ganz zu Vincents Entsetzen. Leo verfluchte sein Zögern und zielte auf seinen Kopf, sein Puls ein einziges Rauschen in seinen Ohren, seine Hände klamm und zittrig. Ihm war übel.    

„Die Anderen sind nicht so ausgerastet wie du“, sagte er und Leo glaubte nicht richtig zu hören. Nicht so ausgerastet? Er…er war…

„Adam, sei still. Hör auf damit! Das ist Wahnsinn“, sagte Vincent streng – nicht zum ersten Mal und Leo fragte sich, ob Schürk überhaupt jemals auf jemanden gehört hatte. Er fragte sich, wer ihm anerzogen hatte, Menschen als Objekte anzusehen, als Figuren, die er hin und herschieben konnte.  

„Woran liegt es? Ich habe dir Frühstück gebracht. Ich nehme Rücksicht auf dich. Auf deine Hobbys. Ich kümmere mich um deine selbstzerstörerischen Dummheiten“, empörte Schürk sich, als wäre Leo derjenige, der undankbar war. Als wäre er derjenige, der Schuld hatte. 

„Adam!“
Leo fiel auf, dass er Vincent noch nie hatte brüllen hören. Bis jetzt und die Verzweiflung darin schmeckte ihm nicht. 

„Du hast mich gewürgt und geschlagen…du hast mir verboten…“, begann er leise und würgt sich selbst doch im gleichen Augenblick ab. Das war hier war eine Ablenkung. Als wenn Schürk nicht wusste, was er getan hatte. 

Alles hieran schmeckte Leo nicht, hatte er sich doch nicht vorgestellt, dass es so schwierig werden würde. Zwei Schüsse, zwei Nachschüsse, einen für sich. Eine Hürde, die er nehmen musste. Aber nicht, dass er zweifeln würde. Dass er diskutieren würde. Dass ihm Vorwürfe gemacht wurden. 

„Na los, schieß, wenn du kannst. Mach!“, herrschte Schürk ihn an und Leo begriff mit eiskaltem Entsetzen, dass er es niemals schaffen würde. Nicht Vincent und damit auch nicht Schürk selbst. Er hatte zu lange gezögert, er hatte zu lange gesehen, dass es Menschen waren, die vor ihm standen. Selbst Schürk war einer. Er konnte es nicht, dafür war er zu weich. 
 
Leo nickte mit verschwimmendem Sichtfeld. Aber für sich war er nicht zu weich. Sich selbst konnte er aus der Rechnung herausnehmen und Schürk damit seine Erpressungsgrundlage entziehen. 
Abrupt richtete er die Waffe auf sich selbst und öffnete den Mund, um sich den Lauf zwischen die Lippen zu stecken und abzudrücken. Keine bewussten Gedanken, schon gar nicht das Schreien in seinem Inneren, zulassend, schloss Leo die Augen und sein Finger zuckte am Abzug.

Bevor sich jedoch der erlösende Schuss durch seine Mundhöhle ins Gehirn bohren konnte, wurde die Waffe hart und brutal aus seiner Hand gerissen. Das Begreifen dessen setzte erst nach ein paar Sekunden ein, viel zu verspätet, um noch etwas tun zu können und auch dann war das Verstehen seiner Situation eine Ungeheuerlichkeit für Leo. Die Leere in seinen Händen, der Schmerz der groben, unnatürlichen Bewegung. Das untrügliche Gefühl der Anwesenheit beider Männer in seiner direkten Nähe. 

All das kumulierte sich zu dem unumstößlichen Wissen, dass er versagt hatte. Dass er noch nicht einmal dazu in der Lage war, seine Familie zu schützen und dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Nein, er machte es anstelle dessen nur noch schlimmer. Für sich. Für seine Familie. 

Leo wollte seine Augen nicht öffnen und sich dem stellen, was nun kommen würde. Er wollte nicht Zorn, Hass und auch Schadenfreude Schürks kantigem Gesicht sehen. Warum er dennoch hinsah, wusste Leo nicht und die ersten Emotionen, die ihm begegneten, waren Schürks Fassungslosigkeit und Entsetzen. Der andere Mann hielt die Waffe seitlich von ihm weg, außerhalb von Leos Reichweite. Der Winkel war so unnatürlich, dass es ihn schmerzen würde, soufflierten Leos chaotische Gedanken.

Warum denkst du an so etwas, wenn das Erste, was er dir antun wird, sadistische Gewalt sein wird?, fragte er sich selbst und war kaum in der Lage zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Er wagte es ja nicht einmal zu blinzeln oder seine Hand zu senken, die zwischen ihnen dem Zug der Waffe gefolgt war und nun nutzlos verharrte, in dem Glauben, dass sie noch irgendetwas von dem, was geschehen war, wieder gutmachen können würde. 

Gib sie mir zurück, forderte eine stumme, verzweifelte Stimme in Leo, die naiv genug war, anzunehmen, dass er seine Familie und sich nicht dem sicheren Untergang geweiht hatte. 

Auch dann, als Schürk schweigend seine Waffe an Vincent übergab und dieser sie vorsichtig entgegennahm. Er ging zu einem Wandtresor, der Leo bisher entgangen war und schloss sie ein. Weg. Außerhalb seiner Reichweite. Es trieb Leo unsinnige Tränen in die Augen und durch diesen Film sah er, wie der Handlanger auf ihn zukam. 
Nun würde die Maske der Freundlichkeit fallen, dessen war Leo sich sicher. Nun würden sie beide über ihn herfallen wie Tiere. 

Doch das Einzige, was Vincent tat, als er ihn erreichte, war, seine ausgestreckte Hand in seine eiskalten Finger zu nehmen und sie mit sanftem Nachdruck zu senken. Er barg seine klamme, zittrige Hand in seine ebenfalls zittrigen Hände und lächelte unstet, schob sich dabei zwischen Schürk und ihn. 

„Hey.“ Ein schlichter, ruhiger Ruf nach…ihm? „Leo? Bist du bei mir?“

Warum gab sich der Mann Mühe? Er musste es doch nicht mehr.     

„Leo, komm, setzen wir uns.“ Immer wieder sein Name, als wäre er wichtig. „Adam, komm du auch. Setzen wir uns.“

„Nein.“ Der scharfe Hass in Schürks Stimme ließ Leo zusammenzucken und nur Vincents sachter, aber unnachgiebiger Griff um seine Hand hielt ihn davon ab, panisch Abstand zu gewinnen und aus der Wohnung zu fliehen, in dem irrationalen Glauben, dass er mit einer Flucht auch nur ein My besser machen würde. Es war die Flucht vor dem Unausweichlichen und in wie vielen Verfolgungsjagden hatte Leo da schon den längeren Atem bewiesen? Nur dass er nun nicht am längeren Hebel saß, schon seit Monaten nicht. Er konnte nichts gegen die Männer ausrichten. Absolut rein gar nichts. 

Vincent nickte knapp. „Dann bleibst du hier. Aber du kommst mit mir“, richtete er sich an Leo und zog ihn mit sich, hin zum Schlafzimmer des blonden Mannes. Leo ließ sich führen, betäubt und unfähig, sich zu wehren, selbst, wenn er noch einen Funken an Kraft in sich gehabt hätte.

Er wehrte sich auch dann nicht, als Vincent ihm bedeutete, sich auf das sauber gemachte Bett zu setzen, während er die Tür hinter sich schloss und danach vorsichtig auf Leo zukam. 

Bevor Leo sich weitere Gedanken darüber machen konnte, was das zu bedeuten hatte, setzte sich Vincent neben ihn und nahm seine Hände in seine. Sacht strich er mit seinen Fingern über Leos Knöchel, als hätte er nicht gerade eine Waffe auf ihn gerichtet und ihn mit dem Tod bedroht. 
Vincent verhielt sich so nachgiebig, wie er es noch nie an dem anderen Mann erlebt hatte und verständnislos blinzelte Leo. Wieso tat der andere Mann das? Wieso…passierte nichts Schlimmeres? Wo war die Wut, die nur zu berechtigt gewesen wäre?

Leo wusste nicht, ob er das Vincent oder sich selbst fragte. 

„Was ist wirklich passiert, hm?“, fragte Vincent zielsicher nach dem, was das Fass zum Überlaufen gebracht hatte und Leo schloss die Augen. Wieso war das noch wichtig? Er war doch jetzt nicht mehr bewaffnet. Er war doch keine Gefahr mehr…und war auch nie eine gewesen, wie er nun wusste. 

„Du hast Würgemale am Hals und er hat dich geschlagen“, griff Vincent die Offensichtlichkeiten auf und Leo presste seine Lider zusammen, als er an den heutigen Morgen dachte. Es war keine Frage, also würde er auch nicht darauf antworten müssen, oder? Ganz zu schweigen davon, dass er nicht die Kraft hatte, etwas Sinnvolles darauf zu erwidern. 

„Weißt du, warum er es getan hat?“ Und ob er es wusste. Nur zu gut. Weil Leo es gewagt hatte, seinem Beruf nachzugehen. Weil er nichts gesagt hatte. Leo nickte erneut und spürte den Händen auf seinen nach, die ihn so zärtlich berührten, wie es zuletzt seine Schwester getan hatte. Nur dass Vincent keinerlei Grund dafür hatte, das zu tun. Nur dass Leo diese Berührungen nicht einfach so annehmen sollte, stammten sie doch von einem der Menschen, die ihn erst in diese Lage gebracht hatten. Wäre er stärker, würde er sich verweigern. Aber stark, so hatte Leo über die letzten Monate gelernt, war nichts, was er mit sich selbst in Verbindung bringen sollte.

„Boris Barns“, flüsterte er und öffnete die Augen, starrte auf den weißen Langflorteppich, der weich unter seinen Füßen war und sie beinahe mit seinen Fasern verschluckte. 

„Die Verhaftung?“

Leo nickte erneut und Vincent seufzte. 

„Ist Adam heute Morgen zu dir gefahren, nachdem er davon gehört hat?“, fragte Vincent weiter und machte es ihm einfach, seinen Kopf zu schütteln. 

„Vorher.“

„Vorher?“

Leo schluckte, als sein Sichtfeld verschwamm und er schon wieder weinte. Unnötig, mochte man meinen, wussten die Beiden doch, wie schwach er war. 

„Er hat…meine Wohnungstür aufgeschlossen und hat Brötchen mitgebracht, zum Frühstücken“, sagte er Worte, die keinen Sinn machten. Sie waren so läppisch und unnötig, dass er sie bereute, kaum, dass sie seine Lippen verlassen hatten. In all dem, was Schürk und sein Handlanger taten, war das bis zu dem Telefonat das Geringste gewesen. Eigentlich. Es war doch Leos Problem, dass er das wiederholte Eindringen in seine Wohnung nicht kompensieren konnte. 

Ein Problem, das ihm Magenkrämpfe verursachte. 

„Er ist in deine Wohnung gekommen und hat mit dir gefrühstückt“, echote Vincent langsam, beinahe schon nachdenklich und Leo schnaubte. Als wenn er das nicht wüsste. Schließlich hatte er doch das System festgelegt, in welchem Rhythmus sie sich treffen würden, nur um Leo in einer falschen Sicherheit zu wiegen. 

„Hat er das öfter gemacht?“

Leo schüttelte den Kopf. „Sonst hat er sich vorher immer angekündigt. Oder hat geklingelt“, erwiderte er leise und der Luftzug von Vincents Bewegung kündete seinem Instinkt von ungewollter Überraschung. 

„Wie oft war er bei dir?“, hakte Vincent nach und Leo hörte das Stirnrunzeln ohne es sehen zu müssen. 

„Jeden Tag“, erwiderte er und seine Stimme versagte ihm. Die Belastung der letzten Wochen, die Angst, die Resignation, all das bahnte sich seinen Weg hinaus und Leo beugte sich nach vorne, presste seine Stirn gegen seine Oberschenkel, in dem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. 

Vincent entzog ihm eine seiner Hände, doch nur, um ihm damit beruhigend über seinen Rücken zu streichen.

„Atme, Leo, atme. Ganz ruhig, ein und aus. Es ist genug Luft da, deine Lungen funktionieren“, dämmte Vincent durch seine ruhige Strenge die aufkommende Panikattacke ein. „Du erstickst nicht, das ist nur eine natürliche Reaktion deines Körpers auf den Stress der letzten Zeit. Atme. Kontrolliere deine Atmung, denn du bist der Herr über deinen Körper.“

Trotz seines Unvermögens, seinen Lungen Luft zuzuführen, die sie dringend benötigten, lachte Leo rau auf. 

„Selbst das nicht“, presste er hervor und zog rasselnd Luft ein. „Selbst das kontrolliert er.“ Als wenn Vincent das nicht wusste. Mit Sicherheit würde Schürk mit ihm auch darüber sprechen und ihn gläsern machen. Wieder stockte sein Atem und wieder kämpfte er um jeden Atemzug.

„Was kontrolliert er?“, hakte der andere Mann dennoch nach und Leo knirschte mit den Zähnen. Er wollte nicht. Wieso musste er es aussprechen? Wieso fragte und fragte und fragte der Handlanger Dinge, die er schon längst wusste und zögerte damit heraus, was kommen würde?

Wenn Leo nicht soviel Angst gehabt hätte, er hätte Vincent angeschrien. Oder wenn er noch genug Kraft dafür gehabt hätte. 

„Er hat es verboten.“ Wieviel Kraft diese paar Worte doch von ihm forderten, wie sehr er vor Scham doch auch noch im Angesicht der kommenden Strafe brennen konnte. Leo hob den Oberkörper, richtete sich gerade so weit auf, dass er atmen konnte.

„Was ist es?“ Wie sehr er doch darauf indoktriniert war, dieser ruhigen Stimme die Fragen zu beantworten, die sie stellte. Der Handlanger wollte, dass Leo es noch einmal aussprach? 

„Sex. Er hat mir verboten, Sex zu haben“, würgte er jedes einzelne Wort hervor und neben ihm herrschte Stille. Der ganze Mann neben ihm fror ein und Leo verkrampfte sich unweigerlich. Nach heute Morgen erwartete er nichts Anderes als Gewalt von Schürk und dem Syndikat. 
Als die Hand auf seinem Rücken ihre Arbeit wieder aufnahm, schauderte er entsprechend überrascht. 

„Davon wusste ich nichts, Leo. Wann hat er das getan?“

Nun war es an Leo, irritiert inne zu halten. Er sah hoch und wagte einen Blick in die blauen Augen, die ihn ehrlich erschüttert musterten. Vincent wusste nichts davon? Warum nicht?

„Vor zwei Wochen“, beantwortete Leo die ihm gestellte Frage und Vincent zog seine Augenbrauen in einer Imitation von Mitleid zusammen, die Leo ihm schwerlich glauben konnte. 

„Hat er sonst noch etwas getan?“, hakte der anderen Mann sacht nach und Leo dachte an das gemeinsame Essen mit seiner Schwester. 

„Davor...hat er sich eingeladen. Als meine Schwester zu Besuch war.“

„Hat er ihr etwas getan?“

Leo schüttelte den Kopf und Erleichterung ließ Vincent stoßweise ausatmen.

„Wozu hat er dich in den letzten beiden Wochen gezwungen?“, fragte er, als wisse er nicht, was sein Auftraggeber getan hatte und genau das ließ Leo Vincent in einem Anflug aus Verzweiflung nun auch sehen. 

„Wozu muss ich wiederholen, was du schon ohnehin schon weißt?“, fragte er gepeinigt und etwas, das Leo sonst als Mitleid klassifiziert hätte, huschte erneut über das Gesicht des Mannes neben ihm. 

„Weil ich es nicht weiß, Leo. Ich weiß gar nichts über die letzten zwei Wochen und was zwischen dir und Adam passiert ist. Deswegen möchte ich, dass du mir davon erzählst.“

Gar nichts? Leo hielt irritiert inne. Da war sie wieder, diese Nichtkommunikation zwischen Schürk und seinem Handlanger. Wie schon vor Monaten, beim Duzen. Dieses Mal war es jedoch anders. Dieses Mal war es schlimmer, katastrophal schlimmer. 

„Er hat mich dazu gezwungen, mit ihm Filme zu sehen und Gesellschaftsspiele zu spielen. Er hat…Bücher mit mir besprochen.“ Wieder presste Leo Worte hervor, die Scham in ihm aufwühlten. Wenn er sie so veräußerte, kam er sich albern vor, schwach. Schürk hätte ihn auch zu anderen Dingen zwingen können, die weitaus schlimmer gewesen wären. Unzählige Menschen wurden zu anderen Dingen gezwungen und er fühlte sich mit solchen Alltäglichkeiten schlecht. 

Die Hand, die wieder über seine Fingerknöchel strich, sagte ihm anderes. Vincents Mimik sagte ihm anderes. 
„Ich wusste nichts davon“, bekräftigte er und Leo fragte sich, was es ändert hätte, wenn. Nichts, denn Schürk war sein Auftraggeber. Als wenn er sich davon hätte abhalten lassen. „Und es hätte nicht passieren sollen. Nichts davon.“ 

Leo wandte vor der schieren Unmöglichkeit dieser Worte seinen Blick ab und sah zurück auf den Teppich. „Er hat gesagt, dass er meiner Schwester wehtut, wenn ich es nicht schaffe, Barns bis morgen aus der Haft zu holen. Aber das kann ich nicht. Es geht nicht. Ich… bin dazu nicht in der Lage. Ich nehme auch die Strafe dafür auf mich, aber bitte tut meiner Schwester nichts“, flüsterte er. „Ich nehme alles auf mich, aber bitte lasst sie da raus. Und meine Mutter und meinen Vater. Ich trage alles. Bitte.“ Er musste es versuchen, auch wenn die Chancen klein waren, nachdem, was er gerade getan hatte. Schürk würde sich rächen und das mit aller Grausamkeit, die er aufzubieten hatte. Aber vielleicht könnte Leo Vincent dazu überreden, die Strafe nur auf ihn auszurichten.  

„Darüber sprechen wir später, Leo. Das ist kein Thema für jetzt, in Ordnung? Ich kann dir aber versprechen, dass jetzt und hier niemand deine Familie angreifen wird. Auch nicht dafür, dass du Boris Barns nicht aus der Haft holen kannst. Das wird nicht geschehen.“ Nein, es war nicht in Ordnung und die Wortwahl passte auch nicht im Geringsten zu Vincents sachtem, versichernden Ton, der ihm anscheinend Hoffnung machen sollte. Leo hasste, dass Vincent damit Erfolg hatte.  

„Warum arbeitest du für ihn?“, fragte er deswegen eher zu sich als zu Vincent. Er verstand es nicht…es sei denn, es war ein abgekartetes Spiel zwischen den Beiden um ihn noch mehr zu brechen. Erst Hoffnung, dann vollkommene Zerstörung. Warum er gerade jetzt fragte, obwohl er doch andere Sorgen haben sollte, war Leo ein Rätsel und dennoch wurden seine Worte nicht mit Hohn, Spott oder Ablehnung angenommen. 

Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie ein kurzes Lächeln über die vollen Lippen des lockigen Mannes huschte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, schlussendlich aufseufzend. 

„Weil Adam Unterstützung braucht“, erwiderte er und Leo runzelte die Stirn. Natürlich brauchte er diese, wenn sie sich Psychotricks bedienten, um die Amtsträger in Saarbrücken zu erpressen und zu bestechen. 

„Hast du ihm gesagt, wie er mich am Besten unter Druck setzen kann?“, fragte Leo und Vincent brauchte einen Moment zu lange, um nicht auf eine Bestätigung herauszukommen. Abrupt entzog Leo ihm seine Hände und versteckte sie zwischen seinen Knien. 

Der andere Mann verharrte, dann atmete er langsam aus. „Ich habe die Recherche betrieben und ihm berichtet, mit was er dich erpressen kann. Ich habe ihm deine Vorlieben und Abneigungen aufgelistet und ich habe mit mitgeteilt, welche sexuellen Vorlieben du hast. Ich habe ihm nicht gesagt, dass er dich an den Rand einer Katastrophe treiben soll. Das ist nicht Bestandteil unseres Systems, Leo.“

Leo schwieg dazu. Selbst wenn die letzten Wochen nicht in Vincents Verantwortung lagen, hatte er doch einen erheblichen Grundstock gelegt. 

„Warum lässt er mich nicht in Ruhe?“, presste Leo schließlich hervor. „Warum nicht? Ich kann nicht mehr atmen, ich bin noch nicht einmal in meiner Wohnung mehr sicher. Ich kann das nicht. Ich ertrage das nicht mehr.“ Worte wie ein Wasserfall kamen über Leos Lippen und es waren Worte, die er in den vergangenen Wochen immer in sich eingeschlossen hatte. 

Warum er sie jetzt sagte, ausgerechnet Vincent gegenüber, das wusste er nicht. Als wenn es etwas nützen würde. Als wenn es irgendetwas ändern oder bessern würde.

„Ich werde nicht für Adam sprechen, das soll er selbst tun. Aber es lag mit Sicherheit nicht in seiner Absicht, dich damit so weit in die Verzweiflung zu treiben, dass du nur noch den Ausweg siehst, dich und uns umzubringen.“

„Ach nein?“ Leo sah in das verständnisvolle Gesicht. Er selbst hatte mitnichten Verständnis übrig. Weder für Vincent noch für Schürk. „Ihr beide zwingt mich dazu, Beweise zu vernichten und zu manipulieren. Er zwingt mich dazu Zeit mit ihm zu verbringen. Ihr habt mich gezwungen ihm dabei zuzusehen, wie er befriedigt wird. Er hat mir gedroht, sich an meiner Schwester zu vergreifen und ihr wehzutun. Ist das nichts? Sind die stetigen Drohungen nichts? Ist der Verrat an meinem Beruf nichts? Für euch ist das Normalität, aber ich zerbreche daran.“

Verzweifelt und bitter waren die letzten Worte seinen Lippen entkommen und Vincent strich sich nachdenklich die Locken hinter sein linkes Ohr. 

„Das ist etwas, das du mit Adam besprechen solltest“, gab er schließlich zu und Leo verschluckte sich an seinem momentanen Atemzug. 

„Besprechen? Mit ihm? Bevor oder nachdem er mich in die Bewusstlosigkeit gewürgt hat?“, fragte er verzweifelt und Vincent schüttelte den Kopf. 

„Das wird er nicht, ich halte ihn davon ab.“ 

Leo schwieg. Die Bitte, ihn gehen zu lassen, so weiterzumachen, wie bisher, lag ihm auf der Zunge, doch er wusste, dass sie so unnütz wie naiv war. Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen und er wischte sie unwirsch weg, als würde es jetzt noch einen Unterschied machen, wie Vincent ihn sah. Tief atmete er ein und bewusst wieder aus. Er hatte von keinem der beiden Gnade zu erwarten.  

„Es ist nicht notwendig, dass du mich weiter beruhigst. Ich würde es vorziehen, die hierauf folgende Strafe zu erhalten.“ Seine eigenen Worte taten ihm weh, doch welche Wahl hatte Leo denn? Seine Waffe? Weggeschlossen. Sein Plan? Vergangenheit. Zeit, sich an dem Scherbenhaufen, den er selbst produziert hatte, zu schneiden.

Vincent biss sich auf die Lippe und seufzte. „Darüber möchte ich mit Adam sprechen, so wie ich gerade mit dir gesprochen habe.“

Das Zögern am Ende des Satzes ließ Leo die Stirn runzeln. Das Aber stand groß und in dicken, fetten Lettern auf Vincents Stirn. 

„Ich möchte jetzt gleich mit ihm reden und ich glaube nicht, dass es ratsam wäre, dich in der jetzigen Situation alleine zu lassen.“

Leo wusste immer noch nicht, woher das Zögern kam und es irritierte ihn. „Wo soll ich denn hin?“ Jedes einzelne seiner Worte schmerzte ihn und tat ihm weh. Jeder Satz ließ ihn sich wünschen, schneller abgedrückt zu haben. Gerade jetzt schien ihm das, was ihm nicht gelungen war, verlockender und einfacher als jedes Gespräch, das er führen würde. Jede Strafe, die er erhalten würde. 
 
„Leo, das meine ich nicht.“

„Sondern?“

„Du hast versucht, dich umzubringen.“

Leo schnaubte mit Selbstverachtung, sehr wohl die restliche Unterlassung wahrnehmend. Er hatte nicht nur sich selbst versucht zu töten, wahrlich nicht. „Erfolglos.“

„Das ist nicht sehr beruhigend.“ Vincent schüttelte den Kopf und Leo verharrte schweigend. Was sollte er darauf auch erwidern? Er war sich ja noch nicht einmal selbst im Klaren, ob er es nicht noch einmal versuchen würde, nun, wo er gezeigt hatte, dass es ihm möglich war, in einem Akt der absoluten Brutalität gegen sich selbst bereit zu sein, sich den Lauf seiner eigenen Waffe in den Mund zu stecken. 

„Ich möchte gerne sicher sein, dass du hier bist und dass du sicher bist, während ich mit Adam spreche.“

Immer noch wusste Leo nicht, worauf Vincent hinauswollte und warum er so zögernd mit seinen Worten umging, unablässig seine Hände knetend. Unsicher verharrte er, schweigend und angespannt. 

„Gibst du mir bitte deine Handschellen, Leo?“, fragte Vincent so sanft, dass er zunächst Probleme hatte, die Bedeutung dahinter zu erkennen. Ein paar Sekunden war er versucht, nein zu sagen, dann sickerte Vincents Absicht in seine Gedanken ein und Leo erstarrte. 

„Was?“, presste er hervor und Vincent hob beschwichtigend seine Hände. 

„Hör mich bitte zu Ende an. Du bist gerade ruhiger als im Wohnzimmer. Dort hast du versucht, dich umzubringen und uns…ebenso. Ich fürchte, dass es noch einmal passieren könnte, wenn ich mit Adam rede und du alleine bist. Also dass du versuchst, dir das Leben zu nehmen. Und dass wir dieses Mal nicht da sind um es zu verhindern. Deswegen möchte ich, dass du hierbleibst. Ich denke, ich werde ungefähr eine Stunde mit Adam brauchen. Aber ich möchte dich sicher hier in diesem Zimmer wissen. Ohne die Möglichkeit, dich im Affekt zu töten, weil die Verzweiflung zu stark wird. Ich möchte nicht, dass du stirbst, Leo. “

Leo konnte noch nicht einmal bestreiten, dass der andere Mann Recht hatte. Nein, im Gegenteil. Er wusste, dass Vincent Recht hatte, denn so ruhig, wie er jetzt war, so sehr schlummerte alles Schlimme unter der Oberfläche. Konnte er dabei sich selbst versprechen, es nicht noch einmal zu versuchen? 

Nein. So lautete die klare Antwort. Das konnte er nicht. Nicht jetzt. Und was brachte es ihm überhaupt, sich zu wehren? Schürk hatte bewiesen, dass er ihm körperlich überlegen war. Entweder er stimmte zu, ohne, dass sie ihn dazu zwangen oder sie zwangen ihn mit roher Gewalt in seine eigenen Handschellen. So bitter es auch war, Leo würde letzteres nicht ertragen. Auch wenn ersteres eine größere Schmach und mit weitaus mehr Scham bedacht sein würde, so würde er es leichter ertragen können. 

„Es ist nur für die Zeit, in der ich mit Adam spreche, danach wirst du die Handschellen auf jeden Fall wieder los sein, das verspreche ich dir, Leo. Und ich verspreche dir ebenso, dass dir nichts geschehen wird, während du hier bist. Niemand wird dich anrühren, versprochen.“

Machte das die Aussicht, gefesselt zu werden, besser? Nicht wirklich. Aber die Verbindlichkeit in Vincents Worten machte es leichter, das Unausweichliche durchzustehen. 

„Möchtest du vorher noch zur Toilette oder etwas trinken?“ 

Leo schüttelte den Kopf und löste mit zitternden Fingern seine Handschellen, warf sie zwischen sich und Vincent. 

„Geht das mit dem Holster oder wird das unbequem für dich?“, hakte der andere Mann nach und unwirsch grollte Leo. 

„Mach einfach.“ Als wenn es ihm damit überhaupt gut gehen würde. 

Vincent seufzte. „Okay. Dann leg dich bitte hin.“

Leo starrte auf das Bett, an die für die Handschellen vorgesehenen Halterungen. Er starrte auf die Implikationen, die sie hatten. Es war für SM-Spiele gedacht, für einen eindeutig sexuellen Kontext. Er schauderte.

„Nicht daran“, versuchte er sich an vorsichtigem Widerspruch und Vincent folgte seinem Blick. Aufmerksam musterte er die Halterungen und nickte schließlich. 

„Die Heizung wäre unbequemer, aber eine Möglichkeit.“

Die Dankbarkeit, die in Leo diesbezüglich aufkam, war ekelerregend, und doch ließ er sich von ihr leiten, als er nun vom Bett aufstand und zu dem weißen Heizkörper ging, der unweit des Fensters montiert worden war. Vincent musterte ihn sorgenvoll, griff sich dann jedoch die Handschellen und folgte ihm nach.  

„Deine Hände bitte.“

Leo gehorchte ihm in dem Wissen, dass er sowieso nichts dagegen ausrichten konnte und dass jede Kooperation, die er jetzt zeigte, seine Familie ein Stück weit vor Schürks Rachedurst schützen würde. Somit konnte er sich auch auf einfache Sachen konzentrieren. Auf lebensrettende Maßnahmen. Das war die Maßgabe. Auch wenn, das wusste Leo, er das nicht mehr lange durchhalten würde. Hysterie schlummerte unter seiner eisern ruhigen Fassade und würde sich in Dingen entladen, die sie alle in Gefahr brachten. 

Vincent nahm seine Hände und schloss die Handschellen erst um das eine Handgelenk und nachdem er die Handschellen um das Zuflussrohr geführt hatte auch um das andere. Er ließ sie locker genug und doch viel zu eng für Leos aufkommende Panik. 

Kaum hatte sich der metallene Ring um sein zweites Handgelenk geschlossen, zog Vincent seine Hände zurück. Nervös strich er sich seine lockigen Haare zurück und musterte Leo lange. 

„Es ist bald vorbei. Nur noch ein bisschen durchhalten.“

Nur noch ein Bisschen? Dass Leo nicht lachte. Er schloss die Augen, erfüllt von einer tiefen, bodenlosen Verzweiflung.  


~~**~~


Kaum hatte er die Tür des Schlafzimmers hinter sich geschlossen, rutschte Vincent an der Wand hinunter und barg seinen Kopf zwischen seinen Händen. 

Er wäre beinahe gestorben. Jemand hatte eine Waffe auf ihn gerichtet und beinahe abgedrückt. Es war unzweifelhaft, was Leo bereit zu gewesen war, da hatte es keinen Funken Gnade in seinen Augen gegeben. Nur tiefe, bodenlose Verzweiflung vor dem, was kommen mochte. Das war es, was Affekttäter auszeichnete, die vollkommene Blindheit allem Rationalen gegenüber. Auch Leo hatte diesen Ausdruck gehabt und Vincent hatte fest damit gerechnet, es nicht zu schaffen. 

Doch es war ihnen gelungen, Adam und ihm, auch wenn er Adam am Liebsten zum Mond schießen würde. Er war so wütend auf Adam und das war nur eine von vielen Emotionen, die Vincent auf der Zunge lagen und in seinem Innersten tobten. 

Er hatte Angst und er spürte die Überreste der Gefahr immer noch in seinen Adern pulsieren. Er war hoffnungslos, denn sie hatten einen Punkt erreicht, von dem aus es kein Zurück mehr gab zu ihrer Normalität. Alles, was er je als System gesponnen hatte, was auf einem fragilen Gleichgewicht beruhte, war von Adam zerschmettert worden. Es hatte zu einer Beinahekatastrophe geführt, für die Vincent keine Lösung hatte. 

Er musste weiterhin stark sein, aber das konnte Vincent in diesem Moment nicht und so nutzte er die Stille der Wohnung, um sich so sehr in sich selbst zu verkriechen, wie es nur ging. Aus sich selbst zog er Stärke, nicht aus anderen. Er war sich selbst genug, seine Stärke reichte aus. Langsam und bedacht atmete Vincent und gewann mit jedem Atemzug, den er tat, mehr an Kraft, mehr an Ruhe. Er war das Zentrum dieses Konfliktes und an ihm lag es, diesen zu lösen. Leo Hölzer war ein instabiler, unberechenbarer Faktor und seit neuestem Adam ebenso sehr. 

Adam hatte ihm die letzten Wochen komplett verschwiegen. Nichts von dem, was Leo Hölzer ihm gesagt hatte, war Vincent bekannt gewesen. 

Aus welchen Gründen, das würde Vincent erforschen, aber das war nur ein Nebenkriegsschauplatz. Seine Hauptaufgabe bestand darin, ihrer aller Leben zu retten. Adams, seins und allem voran Leo Hölzers. Wenn Adams Vater mitbekam, dass einer der Polizisten nicht mehr steuerbar war, würde er ihn töten. Das hatte er in der Vergangenheit auch gemacht und das wollte Vincent mit aller Macht verhindern. 

Doch wie sie Leo Hölzer wieder unter Kontrolle bringen konnten, war ihm ein Rätsel. Der Mann war unter dem Druck, den Adam auf ihn ausgeübt hatte, zerbrochen und neuer Druck würde alles nur noch schlimmer machen. Sie konnten ihn nicht vollständig überwachen, das ging nicht. Sie konnten ihn auch nicht wegsperren. Das Einzige, was Vincent in der vergangenen Stunde also übrig geblieben war, war Verständnis gewesen. Und das, was zu Beginn noch ein Schutzmechanismus für ihn selbst und eine Taktik gewesen war, war am Ende ein willkommenes Gefühl gewesen. Er verstand Leo, er fühlte mit Leo. Er hatte zugelassen, dass er mit Leo fühlte und so war es nun auch für ihn zu spät. 

Die Identifikation und das Mitfühlen mit ihren Verknüpfungen hatte Vincent sich aus gutem Grund von Anfang an verboten. Dass er nun seine eigenen Regeln missachtete, führte dazu, dass er nicht mehr in der Lage war, objektiv und zum gewissen Teil auch menschenverachtend über Leo Hölzer zu urteilen. Damit gingen Gefühle einher. Für Leo. Aber auch für Adam.

Vincent sah hoch und atmete tief ein. Er straffte seine Schultern und erhob sich, ging zu dem Tresor im Wohnzimmer, in dem er Leos Waffe eingeschlossen hatte. 

Er öffnete ihn und suchte Adam, der es sich in der Küche gemütlich gemacht hatte und vor dem eine angefangene Flasche Rum stand. Eine der guten, die sie aus Cuba mitgebracht hatten. 

Bei allem, was er fühlte, war der zentrale Dreh- und Angelpunkt seine Wut auf Adam. Adam und seinem Schweigen. Adam und seiner Obsession. Adam und seiner Naivität. Er hatte alles zerstört, was Vincent aufgebaut hatte. Für was? Leo Hölzer, der ihn von Anfang an interessiert hatte? Für einen schnellen Fick mit dem Polizisten, dem dieser niemals zustimmen würde? 

Vincent kam zu ihm und wartete, bis er Adams angetrunkene Aufmerksamkeit hatte. Er hob die Waffe in seiner Hand und legte sie neben Adam auf den Küchentisch. 

„Geh ins Schlafzimmer und erschieß ihn“, sagte er streng und starrte ohne jedwede Emotion in die sich weitenden, blauen Augen. 

Adam brachte noch nicht einmal einen Ton hervor, so überrumpelt war er von Vincents Worten. Gut. Wütend nahm er die Flasche Rum vom Tisch und leerte sie über dem Spülbecken aus. Das Letzte, was Adam jetzt brauchte, war, dass er sich Leo betrunken stellte. Mit vielsagendem Blick stellte Vincent dem immer noch bewegungslosen Mann ein Glas Wasser hin, die stumme Anklagen über den Verlust des guten Alkohols ignorierend. 

„Na los, geh. Vollende das Werk, das du angefangen hast. Oder wolltest du ihn mit deinem dummen, rücksichtlosen, unabgesprochenen Handeln nicht in den Tod treiben?“, fragte Vincent mit lauernder Eiseskälte. „Wenn ja, dann hast du es hervorragend geschafft, denn eine andere Wahl hast du kaum noch nach deinem Exzess. Wenn nein, wirst du mir jetzt alles erzählen, was geschehen ist und ich rate dir dringend, nichts von dem auszulassen, was du mir die letzten Wochen darüber verschwiegen hast.“

Adams Augen zuckten immer und immer wieder von der Waffe aus zu Vincent und wieder zurück. Er war fassungslos und Vincent hatte ihn genau in dem ungeschützten Moment erwischt, den er brauchte. Und in den er sich nun auch weiter hineinbohrte, denn die Zeit für Gnade mit dem blonden Mann war wahrlich vorbei. 

„Er hat Onkel Boris verhaften lassen!“, entkam der erste, wirkliche Satz Adams Lippen, trotzig und wütend. „Er hat ihn verhaften lassen und soll ihn mir jetzt zurückbringen. Onkel Boris kann nicht im Gefängnis bleiben. Das darf er nicht! Er…“

„Ist er schuldig?“, fragte Vincent knapp und nach viel zu langer Zeit nickte Adam kläglich. 

„Ja.“

„Dann gehört er rein rechtlich gesehen ins Gefängnis und Leo Hölzer ist nur der Arbeit nachgegangen, für die er bezahlt wird. Zumal es auch gar nicht in Leo Hölzers Macht liegt, ihn aus der Untersuchungshaft herauszuholen. Was du weißt. Ich nehme nicht an, dass du in den vergangenen zwei Wochen auch nur eine Frage über das Verfahren gestellt hast, oder?“
Wieder brauchte es eine unendlich lange Zeit, bis Adam en Kopf schüttelte. „Nein.“

Vincent nickte mit zusammengepressten Lippen. 

„Was hast du anstelle dessen gemacht?“, fragte er und ließ Adam erkennen, dass dieser ihm bloß nicht ins Gesicht log. Unsicher sah der blonde Mann zu Boden und eigentlich hatte Vincent da schon seine Bestätigung von Leos Worten. Hier saß ein personifiziertes, schlechtes Gewissen. Zu spät, mochte Vincent meinen. Um Längen zu spät. 

„Ich habe mich mit ihm getroffen.“

„Wie oft?“

„Täglich.“

„Was hast du gemacht?“

„Filme geschaut.“

„Und?“

„Spiele gespielt.“

„Und?“

„Bücher besprochen.“

„Und?“

Adam blinzelte. „Nichts weiter.“

„Du hast dich nicht ihm und seiner Schwester genähert? Du hast ihm nicht verboten, Sex zu haben? Du hast ihn nicht gewürgt, geschlagen und ihm damit gedroht, seiner Schwester wehzutun, wenn er deinem unmöglich auszuführenden Befehl nicht gehorcht?“ Vincents Stimme war mit jedem Wort leiser geworden, ein Testament an seinen Zorn. Er schrie nicht, er wurde leise. Je leiser er wurde, desto wütender war er. 

„Sie war eben da, als ich bei ihm geklingelt habe! Und ich habe ihm garantiert nicht verboten, Sex zu haben! Nur solchen Sex, wie er ihn hat. Er fügt sich dabei Schmerzen zu und das lasse ich nicht zu! Und…“ Adam hielt inne und gab Vincent somit die Gelegenheit, seinen Kopf in seinen Händen zu bergen. Was zur Hölle. Was hatte Adam sich dabei gedacht? Was? Sie ging es nichts an, was ihre Verknüpfungen an sexuellen Vorlieben hatten. Das einzige Mal, wo sie wichtig wurden, war, wenn sie dadurch erpressbar waren. 

„Bitte…was?“, presste Vincent hervor und Adam zog einem gescholtenen Kind gleich den Kopf zwischen die Schultern. 

 „Und ja, ich habe ihn heute Morgen gewürgt und geschlagen. Ja, ich habe ihm damit gedroht, seiner Schwester wehzutun, aber nur, weil er Boris ins Gefängnis gebracht hat! Ich war so wütend, ich hatte soviel Hass in mir, ich…“

„Du warst wie dein Vater, ja“, vollendete Vincent den begonnenen Satz gnadenlos und kalt. Er wollte Adam dort bekommen, wo es wehtat, nicht nur, weil dieser all das über Bord geworfen hatte, was sie beide entworfen hatten und weil er Vincent nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Adams Kopf ruckte hoch und seine Augen starrten ihn an, als hätte Vincent ihn körperlich geschlagen. 

„Du hast ihn terrorisiert, ihn unterdrückt, ihm jedwede Freiheit in seinem Leben genommen. Hast du ihn atmen lassen in den letzten zwei Wochen? Aufatmen lassen von deiner Gegenwart? Nein. Du hast das System, was wir beide entworfen haben, für die kurzfristige Befriedigung deiner Gier über Bord geworfen und uns alle damit in Gefahr gebracht. Und zu allem Überfluss rechtfertigst du auch noch die körperliche Gewalt, die du an ihm ausgeübt hast, mit was? Damit, dass er einen Haftbefehl beantragt hat? Das geht alleine auf dein Konto, nicht auf seins. Wenn du besser aufgepasst hättest, dann wäre das nicht passiert. Und selbst wenn es alleinig sein Verdienst wäre, so solltest du dir die Frage stellen, woher der Drang kommt, ihm wehzutun. Ist es deine DNA oder wirst du langsam zu ihm? Hat er mit seiner Erziehung doch noch Erfolg gehabt?“

Adam räusperte sich. „Das…ist nicht wahr. Ich habe das nicht…ich…nein…“, begann er und Vincent richtete sich auf und verschränkte die Arme. 

„Willst du diesen Weg gehen? Wenn ja, dann werde ich ihn nicht mit dir gehen. Das hier beruht auf Gegenseitigkeit und Offenheit. Nichts Anderes hast du je von mir bekommen, Adam. Auf was Anderes werde ich mich nicht einlassen, was du auch weißt. Das, was du getan hast, war schlimm, fürchterlich, ein Unding. Sowohl, dass du dich körperlich an ihm vergriffen hast als auch, dass du mich über keinen deiner Schritte in den letzten Wochen informiert hast. Deine Gründe dafür? Flappsig und wenig glaubwürdig.“

Der blonde Mann brachte immer noch nicht wirklich etwas heraus. Vincent verharrte abwartend und gewann das darauffolgende Blickduell mit Leichtigkeit. 

„Ich will nicht, dass du gehst“, sagte Adam schließlich kleinlaut.

„Dann verhalte dich auch so.“

„Aber ich wollte doch nur…“ Adam ließ seinen Satz verhallen und Vincent wartete vergeblich auf ein Ende dessen. 

„Egal, was du wolltest, du hast so sehr danebengelegen, wie ich es selten bei dir erlebt habe. Er hat aus Verzweiflung versucht uns umzubringen, weil du ihm einem derartigen Druck ausgesetzt hast, dass er daran zerbrochen ist. Hast du das auch nur eine Sekunde in Betracht gezogen? Hast du ihm auch nur eine Sekunde einen zweiten Blick gegönnt um das zu sehen? Nein.“

„Nachdem ich ihm verboten habe, seinen schmerzhaften Sex zu haben, war er so widerstandslos…da habe ich versucht, das Feuer zurück zu bekommen.“

„Zwei Wochen lang, jeden Tag?“

Adam nickte zögernd und Vincent raufte sich die Locken. „Unglaublich, Adam. Unglaublich.“

Er drehte sich um und starrte aus dem Fenster in die kalte Dunkelheit hinein. Lange hielt Vincent das jedoch nicht aus und drehte sich wieder zurück zu dem Häufchen Elend auf dem Designerküchenstuhl. „Dir ist klar, dass er praktisch tot ist, oder? So unkontrollierbar, wie er gerade ist, wird er deinem Vater auffallen und dieser wird ihn wie die anderen auch töten. Ich sehe keine Möglichkeit, ihn weiterhin zum Gehorsam zu zwingen und die Unauffälligkeit unseres Systems zu gewährleisten. Im Gegenteil, ich sehe eine reelle Chance, dass er sich bei der nächstbietenden Gelegenheit umbringt, wenn wir so weitermachen wie bisher um ihn vom Radar deines Vaters zu holen.“  

Wie seine Worte einschlugen, konnte Vincent sehr gut sehen und er prägte sich jede Sekunde des Erschreckens ein, das über Adams Gesichtszüge kroch. 

„Ich will nicht, dass er stirbt. Ich will nicht, dass er sich umbringt“, sagte er tonlos und Vincent konnte ihm da nur beipflichten. Er wollte es auch nicht. 

„Dann sage mir, was die Lösung für den Mann ist, den ich an deinen Heizkörper gefesselt habe, weil ich Angst habe, dass er sich sonst das Leben nimmt.“

Für Augenblicke reagierte Adam nicht, dann barg er seinen Kopf in seinen Händen. „Ich bin nicht wie die Dreckssau“, wisperte er dann scheinbar ohne Zusammenhang. „Ich bin nicht er.“
Vincent wartete stumm, ob Adam das ausführen würde. 

„Ich will Hölzer nicht tot sehen. Er soll leben. Er soll nicht zerbrechen.“

Das war ein Anfang, aber kein guter. Das war vor allen Dingen kein Plan und somit blieb das wieder an Vincent hängen. Natürlich.  

„Und bist du mit deinen Überlegungen noch weitergekommen als bis zu diesem Punkt?“, fragte Vincent herausfordernd und erntete wenig überraschend ein Kopfschütteln. 

„Ich lasse ihn in Ruhe“, lenkte Adam schließlich ein, zu abgehackt, zu kompromisslos, zu glatt. Vincent schnaubte enttäuscht. 

„Und in der Hölle regnet’s.“

„Ich meine es ernst.“

„Zunächst einmal wirst du jetzt mit ihm reden, Adam Schürk. Er ist in deinem Schlafzimmer und wartet nur darauf, dass er seine Strafe erhält.“

Vincent stieß sich von der Anrichte ab und kam zu Adam. Sacht dirigierte er Adams Gesicht zu sich und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. 

„Du gehst jetzt in dein Schlafzimmer, fragst, wo er den Schlüssel für seine Handschellen hat. Dann fragst du ihn, ob du ihn berühren darfst und nimmst den Schlüssel heraus, befreist ihn von seinen eigenen Handschellen. Sonst nichts, denn dann fahre ich euch zum See, damit ihr euch in aller Ruhe aussprechen und anschreien könnt, mit weniger neugierigen Ohren als hier. Du wirst ihm sagen, dass er keine Strafe für sein Handeln zu befürchten hat und du wirst dich dafür entschuldigen, ihn gewürgt und geschlagen zu haben.“

„In der Reihenfolge?“

Vincent seufzte, doch Adam erhob sich bereits, als hätte er einer Aufziehpuppe gleich nur auf seine Anweisung gewartet, wie er mit Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer umzugehen hatte. Unwillkürlich fragte Vincent sich, ob er nicht viel früher damit hätte anfangen sollen, um die Katastrophe abzuwenden. 

Was er auf jeden Fall wusste, war, dass er es zukünftig immer machen würde. Also ein Puffer zwischen Adam und Leo Hölzer sein. Ein Übersetzer, wenn notwendig. Zumindest war das sein erster, mit heißer Nadel gestrickter Plan. 

„Ich meine es ernst, Adam. Ich liebe dich, das weißt du. Aber ich bin bereit zu gehen, wenn du weiterhin so destruktiv handelst und damit Menschen in den Abgrund reißt“, stellte Vincent in aller Deutlichkeit klar und Adam sah ihn mit großen, kindlich erschrockenen Augen an. 

„Ich will nicht, dass du gehst“, presste er hervor und Vincent nickte.

„Dann verhalte dich entsprechend.“

 

 

~~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 10: Die eiskalte Wahrheit

Notes:

Einen wunderbaren Abend euch allen,

hier nun der neue Teil zur Anatomie. Ich wünsche euch viel Spaß mit den Dreien, von denen zwei absolute Sprachunbegabte sind. ;)

Vielen lieben Dank euch allen für eure Kommentare, Kudos, für eure Klicks und generell für euer Mitleiden und Mitfiebern. Ich muss gestehen, ich betreibe hier reverse-Werther-Leiden. Erst ist alles schlimm, dann wird's besser. ;) Baby-steps und so!

Chapter Text

 

Dass Hölzer an seinem Heizkörper gefesselt am Boden kauerte, überraschte Adam mehr, als er es erwartet hatte. Er hatte ihn auf dem Bett vermutet, an eine seiner Vorrichtungen gefesselt, doch das war vermutlich zuviel Erotik für den Mann gewesen, der versucht hatte, sich selbst und ihm das Leben zu nehmen. 

Der Schreck über Vincents Worte steckte Adam noch in den Knochen und dämpfte die Wut und die Verzweiflung über Onkel Boris‘ Verhaftung. Es dämpfte die Wut darüber, dass Hölzers Team dafür verantwortlich war und dass Hölzer ihn mit einer Waffe bedroht hatte, bereit abzudrücken. 

Es war lange her, dass ihn jemand mit einer Waffe bedroht hatte. Lange. Fäuste und Gürtel spürte er beinahe wöchentlich, doch eine Waffe…das war Jahre her gewesen. 

Jetzt stand Adam stand in seinem Schlafzimmer, am Leben und atmend, allerdings wie angewurzelt und starrte Hölzer an. Vincents Weisung war eindeutig gewesen, doch irrwitziger Weise hatte Adam das Gefühl, dass der Polizist fliehen würde, kaum, dass Adam die Handschellen löste. Dass dem nicht so war, wusste er, aber dennoch, die irrationale Angst war da.

Hölzer starrte ihn stumm an und es war Angst, die Adam in den grünen Augen sah. Angst vor ihm und seiner Gewalt. Die mittlerweile deutlichen Beweise dessen sah Adam an Hölzers Hals und er machte sich noch einmal bewusst, dass er es nicht hätte tun dürfen. Er hatte in dem Moment so viele Möglichkeiten gehabt, Hölzer sein Missfallen auszudrücken und er hatte sich für die Brutalsten entschieden. Ihn würgen. Ihn schlagen. 
 
Adam trat einen Schritt näher und der andere Mann zuckte zusammen, vergrub seinen Kopf ruckartig zwischen seinen Armen, als könne er sich so vor Adam schützen. Es ließ Adam innehalten, weil für einen Moment nicht Hölzer da unten auf dem Boden kauerte, sondern er selbst. Für einen Augenblick stand nicht er hier, sondern die Dreckssau und Adam fragte sich, wie sehr Vincent mit seinen wütenden Worten Recht gehabt hatte und er zu dem Mann wurde, den er über alles hasste. 

Das letzte Mal, als er jemanden geschlagen hatte, war es Bastians Kunde gewesen. Und der hatte es wahrlich verdient. Auch da war Adam wütend gewesen, hatte aber den rechtfertigenden Drang verspürt, dass sein Tun das Richtige war. Verspürte es immer noch. 
In Bezug auf Hölzer aber sah das anders aus. 

Vorrangig um seine ungewohnten Gedanken abzuschütteln, trat Adam einen weiteren Schritt nach vorne und Hölzer machte sich noch kleiner. Vor ihm. Adam blieb endgültig stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. 
„Wo ist der Schlüssel zu deinen Handschellen?“, hielt er sich an Vincents Anweisungen und erhielt als Dank dafür erst einmal keine Antwort. Das lief ja großartig. Was sollte er denn machen, wenn Hölzer gar nichts mehr sagte? Das hatte Vincent nicht bedacht. Adam runzelte die Stirn und ließ die unangenehme Stille noch etwas unangenehmer werden. 

„In der Nebentasche zur Handschellenhalterung“, erwiderte Hölzer schließlich leise, bevor Adam auf dumme Gedanken kam und er beugte sich instinktiv nach vorne, bevor er innehielt, Vincents Stimme in seinem Ohr. Fragen, dann berühren. 

„Ich will sie da rausholen und damit die Handschellen aufschließen.“ Das war keine Frage, nicht wirklich und so reagierte Hölzer auch nicht darauf, den Kopf weiterhin zwischen seinen Armen vergraben. 
„Darf ich?“, presste Adam deswegen hervor, als würde er auf Stein beißen und der Kopf des anderen Mannes kam zögerlich hoch, Überraschung deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. Vorsichtig nickte er und Adam befand, dass das genug Zustimmung sein musste. 

Adam suchte nach der Halterung und stellte fest, dass Hölzer den Zugang zu ihr durch seine momentane Position auf dem Boden blockierte. Er schluckte. 
„Ich komm da nicht dran.“ Wieder brauchte er etwas, um eine Frage zu formulieren. „Kannst du dich aufsetzen?“
Sicher konnte Hölzer das und er tat es schlussendlich umständlich auch, aber es war dennoch komisch. Ebenso komisch, dass er dem Hintern des anderen Mannes noch nie so nahe gekommen war wie jetzt, als er sich zu ihm hinunterbeugte und sich an der kleinen Tasche zu schaffen machte. Es brauchte zwei Anläufe, dann hatte er den Schlüssel befreit und steckte ihn in das Schloss, das weitaus einfacher aufging als gedacht. Adam löste erst das eine, dann das andere Handgelenk aus den metallenen Schellen und warf die Fesseln samt Schlüssel dann auf den Boden seines Schlafzimmers. Sie machten sich gut auf dem Teppich, befand Adam. In einem anderen Kontext würde er den Anblick lieben. 

Die darauf eintretende Stille war ohrenbetäubend und Adam beobachtete Hölzer dabei, wie er sich auf Knien seine Handgelenke rieb, den Blick weiterhin starr auf seinen verfluchten Teppich gerichtet. Es schien, als ginge etwas hinter der sonst so stürmisch gerunzelten Stirn vor, denn als Hölzer mit sich zu einem Ergebnis kam, drehte er sich auf dem Boden gerade so weit, dass er in Adams Richtung kniete. Seine ganze Position, die gesamte Gestik und Mimik waren dabei auf Unterordnung programmiert und ein ungutes Ziehen in seiner Bauchgegend ließ Adam kritisch die Stirn runzeln. 

„Würdest du meine Familie verschonen, wenn…wenn ich dich befriedige und…dich mich ficken lasse? Ich würde alles tun, was du von mir verlangst“, sagte der Mann, dessen Widerstand und Feuer Adams Interesse erst geweckt hatten, in einer derartig devoten Verzweiflung, dass es nun wie ein fürchterlicher Schlag in Adams Magengrube war. 

Leo Hölzer, der mit Herausforderung in seinen Augen lieber auf die Knie gesunken war, anstelle mit ihm ein Glas Wein zu trinken, bot Adam nun alles an. Seinen Körper, Lust, eine Vergewaltigung, denn nichts Anderes würde es sein. 
Adam machte das wütend und dieses Mal kam die Wut durch seinen eigenen Schock hindurch. Alles tun? Sich opfern für seine Familie? Er trat auf den knienden Mann zu und legte ihm eine Hand unters Kinn. Sacht strich er über Hölzers Wange und bedeutete ihm mit seinem Daumen, seine Lippen zu öffnen. 

Die Tränen, die in die grünen Augen schossen, hatte Adam erwartet und er ließ den anderen Mann kopfschüttelnd los. 

Er war kein Vergewaltiger. 

„Nein, ich werde nicht gegen deinen Willen mit dir vögeln“, äußerte er klar und deutlich, kühl im ganzen Tenor. Er hatte es Hölzer einmal gesagt und anscheinend war es nötig, dass er dieses Wissen auffrischte. 
Der andere Mann blinzelte, als die ersten Tränen fielen. „Wenn es zum Schutz meiner Familie dient, ist es wohl kaum gegen meinen Willen“, sagte er rau, leise und hoffnungslos.

Hölzers Worte verursachten ihm Übelkeit, auch wenn Adam das nach all dem, was er gesehen und erlebt hatte, nicht mehr wirklich für möglich gehalten hatte. Er verstand nicht, wie familiäre Bande so eng sein konnte, dass man seinen eigenen Körper dafür opferte. Für seinen Alten? Niemals. Niemals würde er das tun. Der Mann hier jedoch… beizeiten würde Adam fragen, was das für ein Gefühl war. So verbunden, abhängig und erpressbar zu sein. 

„Auch dann nicht. Ich liebe es zwar, wenn sie heulen, aber dann doch bitte nur vor Lust und nicht aus Erniedrigung oder Schmerz.“ Adam winkte ab und versuchte mit dieser Geste auch sein eigenes Unwohlsein vom Tisch zu wischen, das ihm in Vincents Tonlage sehr eindringlich zu verstehen gab, dass er Hölzer so weit getrieben hatte. Nur er. 

Ein Polizist, der sich zur Hure machen wollte. Niemals.

Nur dass sein Unwohlsein blieb, mitnichten geneigt, sich mit einer Geste wegwischen zu lassen. 

„Außerdem werde ich das Wohlergehen deiner Familie niemals an sexuelle Dienstleistungen knüpfen“, erinnerte er sich an die dringend notwendige Versicherung, die sichtbare Erleichterung in Hölzer hervorbrachte. Immer noch starrte er auf den Boden von Adams Schlafzimmer, immer noch arbeitete es hinter dem schönen Gesicht.  
„Ich nehme jede Strafe auf mich, aber bitte verschone sie.“
Adam presste die Lippen aufeinander, an Vincents Worte denkend. „Du hast keine Strafe für dein Verhalten zu erwarten“, wiederholte er steif dessen Wortlaut und grollte. „Und jetzt komm hoch, ich will nicht, dass du kniest.“

Nicht in diesem Kontext. Nicht mit Tränen der Furcht in seinen Augen. Nicht, nachdem Vincent ihm Dinge gesagt hatte, die Adam Angst machten. 

Hölzer kam auf die Beine, unsicher wie ein Fohlen, zumindest kam es Adam im ersten Moment so vor. Doch der Polizist war alles andere als das und jedwede Form der Verniedlichung war unpassend für den Mann, den er vor Monaten das erste Mal gesehen und festgestellt hatte, dass dieser eine besondere Herausforderung für ihn war. Für seine Aufgabe im Syndikat und für ihn persönlich.  

Im Nachhinein konnte Adam durchaus sagen, dass er Hölzers Feuer und seine Wut genossen hatte. Von Anfang an. Sein Kampfgeist und seine Widerstandskraft waren wie ein Magnet für Adam gewesen, befeuert durch Hölzers Aussehen und Körperbau. Wenn sie sich privat begegnet wären, hätte er alles daran gesetzt, den Polizisten nach allen Regeln der Kunst zu verführen und ihm nächtelang einen Höhepunkt nach dem anderen zu beschweren. So lange, bis Hölzer nur noch seinen Namen und nichts Anderes mehr kannte. 

Doch sie waren sich nicht privat begegnet, sondern Hölzer wurde durch ihn erpresst und für den Großteil von Adams Wesen war die Verknüpfung, die sie dadurch hatten, auch vollkommen in Ordnung gewesen. Er sagte, wo es lang ging, Hölzer folgte und leistete hin und wieder Widerstand, den Adam genoss, niederzuschlagen. 

Dachte er zumindest.

Blickte er auf die letzten beiden Wochen zurück, fielen ihm Dinge auf, die er vorher gänzlich anders bewertet hatte. Hölzers fehlender Widerstand – kein Phlegmatismus, wie Adam es bis heute Abend angenommen hatte, sondern der allzu deutliche Hinweis auf eine Selbstaufgabe, die zu Verzweiflung und damit zu einer nahenden Katastrophe geführt hatte.

Hölzer hatte ertragen, was Adam mit ihm gemacht hatte und die lustlosen Antworten, die einsilbigen Retouren waren nichts Anderes als kraftlose Erwiderungen gewesen. Und Adam hatte weiter und weiter und weiter gedrängt. Hatte es heute Morgen für einen guten und heilsamen Schock gehalten, dass er bei Hölzer in der Wohnung stand um ihm Frühstück vorbeizubringen, fest in der Annahme, dass der andere Mann ihm die Tüte an den Kopf werfen würde.

Doch da war nichts und anstelle dessen hatte Adam ihn gewürgt und geschlagen. Adam sah, dass sein Verhalten und sein unschaffbares Ultimatum zur Katastrophe geführt hatten. Jetzt, nachdem Vincent ihm den Kopf gewaschen hatte. Nachdem Hölzer seine Waffe auf ihn gerichtet hatte und Adams Wut darüber einer Erkenntnis Platz gemacht hatte, die bitterer nicht sein konnte. 

Er war es selbst, der Boris hinter Gittern gebracht hatte. Er war es selbst, der Hölzer der Dreckssau auslieferte und der am Ende alleine dastehen würde, weil Vincent es nicht mehr ertrug und ging. 

Adam wollte das nicht, er wollte nicht alleine sein, also musste er versuchen, zu retten, was zu retten war. Irgendwie. 

„Entschuldigung“, fing er an, Wiedergutmachung zu betreiben, und Hölzer hielt darin inne, die Handschellen vom Boden aufzusammeln und wieder in seine Tasche zu stecken. Immer noch sah er Adam nicht in die Augen und verwehrte ihm so einen Einblick auf das, was er dachte. Lieber starrte er auf seine doofen Edelstahlschellen, die nun wirklich kein neuer Anblick für ihn sein dürften. 

Es machte Adam unruhig, denn mit freiwilligen Entschuldigungen kannte er sich nicht wirklich aus. Die Dreckssau erzwang sie von ihm und es waren nur leere Floskeln, doch dass er sie von sich aus äußerte…
Überhaupt war Vincent der Einzige, gegenüber dem er es schon einmal gesagt hatte. Also nicht wirklich gesagt, sondern gezeigt. Nonverbal. Es zu sagen, kam der leeren Floskel gleich, die er seinem Vater gegenüber benutzte, doch wie sollte er es Hölzer sonst zeigen, wenn der die ganze Zeit zu Boden starrte?

„Also das Würgen. Und der Schlag.“ Dass er bei Hölzer einen gut hatte, weil dieser ihn am ersten Tag ihres Kennenlernens seine Faust ins Gesicht getrieben hatte, verkniff sich Adam. Selbst ohne Vincent wusste er, dass das auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Zumal er es ja auch gewohnt war. 
Tatsächlich brachte ihm das einen kurzen Blick aus grünen Augen ein, nicht lange, aber lang genug, um eine einzelne Frage in Hölzers Gesicht erkennen zu können. 

Nur dafür?

„Pack zusammen, wie fahren zum See“, sagte Adam anstelle der bissigen Antwort, die ihm auf der Zunge lag und Hölzer schluckte sichtbar. 
„Wirst du mich umbringen?“, fragte er und Adam wusste im ersten Moment nicht, woher dieser Gedanke kommen konnte. Dann jedoch wurde er sich bewusst, dass der Ermittler natürlich nichts von Vincents und seinem Ort am See wissen konnte, an dem sie Dinge offen besprechen konnten, die seinem Alten verborgen bleiben sollten. Für den Ermittler war der See ein Ort, in dem Mann Menschen verschwinden lassen konnte.  
„Nein. Wir werden reden“, erwiderte Adam anstelle dessen. Wie auch immer das vonstatten gehen sollte. Vermutlich würde Vincent das Gespräch leiten und das wäre auch gut so. 

In der Dunkelheit musste Hölzer ihn dann auch nicht ansehen. 


~~**~~


Hölzer aus der Wohnung zu lassen, war eine Vertrauensprobe für Adam, die er vollkommen unterschätzt hatte, insbesondere, weil Vincent um Längen angespannter war als sonst. Anscheinend hatte nicht nur er den dringenden Verdacht, dass Hölzer eine Flucht wagen würde und so fanden sie sich mit gebotener Hast in seinem hinten abgedunkelten SUV wieder. Vincent fuhr, Hölzer befand sich auf der Rücksitzbank, Adam mit ihm dort, um zu verhindern, dass der in sich gekehrte Mann vielleicht noch einen Sprung aus dem Auto wagte oder auf den Gedankengang kam, dass es eine gute Idee sein würde, Vincent ins Lenkrad zu greifen. Dass sich ihm bei der Position auf der Rückbank der Magen vor Übelkeit umdrehte, war in diesem Moment nachrangig, befand Adam. 

Die Fahrt zum See dauerte lange genug, dass Adam Hölzer in das verschlossene Gesicht starren konnte, mit dem er aus dem Fenster starrte und sie ignorierte. Reden sollten sie und Adam fragte sich worüber. Und wie.

Mit jedem Kilometer, dem sie sich dem See näherten, wurde Adam ratloser. Es machte ihre Ankunft auch nicht besser, denn jetzt hieß es, aussteigen und Butter bei die Fische. Im hellen Kegel der Scheinwerfer gingen sie hinunter zum Wasser, Vincent an Hölzers Seite, Adam im Stechschritt voraus. Vincent blieb schlussendlich stehen sah mit sorgenvoll gerunzelter Stirn auf Hölzer, der etwas verloren im kalten LED-Licht stand und Adam anscheinend kein Wort geglaubt hatte, als dieser ihm versichert hatte, dass er ihn nicht umbringen würde. 

„Sprich“, kam er Vincent zuvor, wollte zeigen, dass auch er Hölzer zum Reden bekommen konnte. Doch da war nur verwirrtes Schweigen und Adam wusste, dass er mit seiner Aufforderung danebengelegen hatte. Fragen hatte ihn in seiner Wohnung bei Hölzer weitergebracht als die zwei Wochen vorher. Und als jetzt.
„Was willst du mir sagen?“, präzisierte er und Vincent hob vielsagend seine rechte Augenbraue. Adam hob fragend die Schultern. Was sollte er denn noch anders formulieren, damit der Polizist ans Reden kam?

Wieder herrschte Stille und dieses Mal räusperte Vincent sich. „Leo, gibt es etwas, das du Adam oder mir sagen möchtest? Du kannst offen sprechen, nichts hiervon wird dir zum Nachteil gereichen, das versprechen wir dir.“

Wieder kam nichts, aber hinter der kritischen Stirn begann es zu arbeiten. Schlussendlich sah Hölzer hoch, aber nicht zu ihm, sondern zu Vincent und das fuchste Adam. Er wusste, warum, aber es fuchste ihn, schlussendlich hatte er versucht, den Polizisten seit zwei Wochen aus seiner Lethargie zu reißen. Außerdem sah er etwas in Hölzers Augen, das verdächtig nach Vertrauen aussah. Nach Hoffnung. Und die richtete er auf Vincent, der im Prinzip das Gleiche gesagt hatte, wie Adam selbst.

Doch so sehr musste sich Adam keine Gedanken machen, befand er, denn schließlich wandelten sich auch Hoffnung und Vertrauen innerhalb von Sekundenbruchteilen in Wut und Ablehnung. 
„Es gibt nichts“, presste er hervor und Adam hörte die Lüge bis zu seiner Position. 
„Bullshit“, fuhr er dazwischen und sowohl Vincent als auch Hölzer sahen überrascht zu ihm. „Was für ne Grütze. Du hast die einmalige Gelegenheit, mich anzuschreien und mich für das verantwortlich zu machen, was dir passiert ist. Also?“ 
„Adam…“, begann Vincent, doch anscheinend hatte genau das Hölzer aus seiner Starre gebracht. Dunkel musterte er Adam. 
„Einmalig? Da kann ich mich ja richtig glücklich schätzen für diese Gelegenheit“, kam zum ersten Mal so etwas wie beißender Zynismus hervor, den Adam in der humorvollen Variante bereits bei Hölzers Schwester gesehen hatte. Die erste Stufe zum Zorn und das war gut so. 

„Leo, es ist wirklich okay, wenn du ehrlich bist“, sagte Vincent so sanft, wie er sonst nur mit ihm sprach und Adam grollte. 

Verächtlich schnaubte Hölzer und wandte sich an Vincent. „Das ist es schon seit Monaten nicht. Seit ich deinem Auftraggeber auf Knien dabei zusehen musste, wie ihm einer geblasen wurde. Wenn es okay wäre, dann würde ich nicht meine Dienststelle und meinen Beruf verraten müssen. Dann würde ich nicht wie sein persönlicher Sklave auf Abruf stehen müssen um ihm eine pervertierte Befriedigung zu verschaffen, dass ich das tun muss, was er will. Dass ich all seinen Hohn, seinen Spott, seine ungewollten Berührungen, sein Herumgeschnüffle an mir, seine Nähe nicht ertragen müsste. Das…“

„Ich stehe direkt neben dir, verdammt!“, grollte Adam laut, als es ihm reichte, dass Hölzer über ihn sprach, als wäre er nicht da. Finster kehrten die grünen Augen zu ihm zurück. 
„Und genauso fühle ich mich in eurer beider Gegenwart. Wie ein Gegenstand, jemand, über den gesprochen wird, aber nicht mit ihm. Wie ein Objekt, das zum Begaffen und Betatschen dient, aber nicht den Respekt eines eigenständigen Lebewesens hat.“

„Ganz schön hübsches Objekt, wenn du mich fragst“, hielt Adam gegen das ungute Gefühl in seinem Bauch dagegen und Hölzer grollte so dunkel und wild, wie er ihn noch nicht erlebt hatte. 
„Ja, da ist es, dein wahres Gesicht. Heute Morgen hast du gezeigt, wie wenig dir Gewaltlosigkeit bedeutet. Dann kannst du mich auch gleich gegen meinen Willen ficken, dann haben wir es hinter uns. Aber mach‘s schön mit Safeword, so wie du’s mir aufgezwungen hast.“

Beißend war gar kein Ausdruck mehr, was diesen schändlichen Lippen entkam, befand Adam. Er wusste nicht, ob er wütend oder angetan darüber sein sollte. Überhaupt wusste Adam in diesem Moment nicht, was er fühlte und das wiederum fühlte sich fürchterlich an. So eine Situation hatte er noch, einem derartigen Konflikt war er noch niemals ausgesetzt gewesen. War es so, wenn sich normale Menschen stritten?  

„Oh, Leo, muss ich dich wirklich daran erinnern, dass du zuerst zugeschlagen hast? Am ersten Tag unseres Kennenlernens?“, höhnte Adam nun doch und erntete genau die Reaktion, die er vorhergesagt hatte. Wut, Hass, Zorn, da war alles. Hölzer kam auf ihn zu und stieß ihn so hart vor die Brust, dass Adam ein paar Schritte nach hinten stolperte. 
„Wir haben uns nie kennengelernt. Ich bin im Rahmen einer Ermittlung zu dir gekommen und du hast mich mit meiner Familie und der Aussicht auf Körperverletzung und Vergewaltigung im Knast erpresst! Und ja, ich habe zugeschlagen, aber tu nicht so, als wäre ich der Böse in dieser Geschichte.“
„…wenn du der Gute bist, bin ich Aschenputtel und warte darauf, aus meiner Knechtschaft erlöst zu werden“, schnaubte Adam und hielt inne, als er sich bewusst wurde, was Hölzer gerade gesagt hatte. 

„Ich habe dir niemals…“, begann Adam, wurde aber von Hölzer erneut gestoßen, in Richtung Wasser. Weg von Vincent, der verdächtig ruhig und untätig dem Ganzen beiwohnte. 
„Du verlogenes Stück Dreck! Ich erinnere mich noch ganz genau an das, was du mir gesagt hast! Ich soll an meinen Polizistenarsch denken oder ich würde bäuchlings in Lerchesflur enden, unter einem stinkenden Polizistenhasser, der mir seinen Schwanz ganz tief in den Arsch steckt. DAS hast du gesagt. Damit hast du mir gedroht. Du nimmst billigend in Kauf, dass mir das passiert, wenn ich in den Knast gehe. Und du hast Recht. Als Bulle im Knast habe ich kein leichtes Leben. Tagsüber Prügelknabe für die inhaftierten Häftlinge, nachts dann Schwänze lutschen. So wie Bastian bei dir, den du vermutlich mit einer ähnlichen Drohung gefügig gemacht hast.“

Nun war es an Adam, Hölzer wütend vor die Brust zu stoßen und ihn in Richtung Vincent taumeln zu lassen, der sie aufmerksam musterte. 
„Wag es ja nicht, mir das zu unterstellen! Bastian ist freiwillig bei mir, ich zwinge ihn zu nichts! Und natürlich habe ich dir das gesagt, aber das war nur Show um dich gefügig zu halten. Als wenn ich irgendjemandem im Knast deinen armseligen, kleinen Arsch zumuten wollen würde!“
Hölzer grollte erneut, die Hände zu Fäusten geballt. „Da kann ich mich ja richtig glücklich schätzen!“
So langsam wurde Adam richtig wütend. Nein, nicht so langsam, sagte eine kleine Stimme in ihm. Er war beinahe blind wütend, so wie heute Morgen. Nur, dass er es nun besser wusste, als mit seinen Händen auf Hölzer loszugehen. Dafür reichten auch Worte. 
„Ja, kannst du auch, du undankbarer Scheißbulle, der sich in seiner eigenen schwarz-weiß-Blase suhlt!“, spottete er und der Mann vor ihm fror ein, was mit Sicherheit nicht an den dicken, weißen Flocken lag, die mit einem Mal lautlos im Scheinwerferlicht fielen und den Boden bedeckten. 

„Undankbar“, echote Hölzer schleppend und seine Lippen zogen sich zu einem verächtlichen Lächeln hoch. „Wofür soll ich dankbar sein? Für Monate der Erpressung und der Angst? Für dein Entgegenkommen, mich zu meinem Glück zu zwingen, meinen körperlichen Bedürfnissen nicht nachkommen zu können? Wofür, Schürk? Sag’s mir“, zischte er und Adam öffnete den Mund. 

„Adam, nein! Tu’s nicht“, mischte sich Vincent ein, bevor er auch nur einen Ton herausbringen konnte, doch Adam war wenig geneigt, auf seine rechte Hand zu hören. Nicht jetzt, nicht unter dem selbstgefälligen Ton des Polizisten. 
„Oh doch, Vincent. Oh doch. Unser kleiner Besserwisser hier hat es sich redlich verdient.“

Schritt und Schritt trat er auf Hölzer zu, der mit großen Augen vor ihm zurückwich. „Ist dir schon einmal aufgegangen, dass es weder für Vincent noch für mich eine abendfüllende Beschäftigung ist, dich zu erpressen und deinen rebellischen kleinen Arsch unter Kontrolle zu halten? Uns regelmäßig mit dir zu treffen und dir zu sagen, dass es in deinem kleinen Spatzenhirn noch nicht angekommen ist, dass wir alle Informationen von dir möchten? Nein… das hast du dir natürlich nicht gedacht. Oder dass dein armseliger kleiner Arsch jetzt unter der Erde liegen würde, wenn wir dich nicht mit Erpressung unter Kontrolle gebracht hätten, da es Arschlöcher auf dieser Welt gibt, die es für sinnvoller halten, Bullen wie dich umzubringen? Hast du auch nur einen Gedanken darüber verschwendet, dass das hier das kleinere Übel ist und dass das, was von dir verlangt wird – das bisschen Verrat an deiner korrupten Dienststelle plus hübsch aussehen plus ab und an mal gepflegte Konversation zu betreiben – eigentlich gar nicht so lebensbedrohlich ist? Nein, lieber eskalierst du. Lieber verschweigst du mir den Haftbefehl für Boris Barns und hältst mir dann deine scheiß Waffe in die Fresse.“

Der Laut, der Vincent hinter seinem Rücken entwich, würde Adam im Nachhinein als ersticktes Entsetzen interpretieren. Jetzt, in diesem Moment der absoluten Wut, befriedigte ihn dieser Laut, denn das war wenigstens eine Reaktion auf seine Worte. Hölzer starrte ihn nur an, stumm wie ein Fisch. 

„Was…?“, presste er dann wenig intellektuell hervor und Adam war dankbar darum, dass er das Verratsfass nicht aufmachen würde. Zumindest jetzt nicht. Vermutlich gleich. „Wer?“
„Das geht dich einen Scheißdreck an, wer“, zischte Adam. „Aber sei dir versichert, wenn du weiterhin ein braver Polizist bist und das tust, was ich dir sage, dann ist dein Arsch sicher. Vor dem Gefängnis und davor, unter der Erde zu liegen.“
„Fick dich, Schürk! Fick dich! Das, was für dich eine kleine Erpressung ist, bedeutet für mich den Untergang in der Dienststelle! Oder warum glaubst du, hat die Durchsuchung heute ohne mich stattgefunden, wenn nicht aus dem Grund, dass sie Verdacht schöpfen? Was glaubst du, wie ich mich fühle, meinen Beruf verraten zu müssen?!“, brüllte Hölzer und Adam verzog spöttisch das Gesicht.
„Lebendig, wenn ich dir einen Vorschlag machen darf.“
„Fick dich, nein!“

Dieser selbstgerechte, kleine Pisser. Adam konnte seine Wut darüber gar nicht in Worte fassen. In Worte nicht, aber in Taten, denn er ließ es sich nicht nehmen, Hölzer ein weiteres Mal in Richtung Wasser zu treiben und mit kindhafter Genugtuung zu sehen, wie dieser mit seinen Sneaker im halbgefrorenen Ufer stand. Wenn er auch noch davon Notiz nehmen würde, wäre es noch besser, doch den Gefallen tat Hölzer ihm nicht, während er ihm störrisch in die Augen starrte. 

„Ja, dich zu ficken hätte was.“

Adam wusste im Nachhinein nicht, was genau ihm in dem Moment geschehen war, in dem seine durchaus wahren Worte seinen Mund verlassen hatten. Er hatte Hölzer nicht kommen sehen und hatte mitnichten auf dessen Hände reagieren können, die ihn mit einem festen, harten, unnachgiebigen Griff rücklings ins Wasser beförderten. 

In das eiskalte, halb gefrorene Wasser, das Adam wie ein Schlag traf. 

Er jaulte und keuchte, als Schmerz und Atemlosigkeit durch seinen Körper peitschten. Adam glaubte im ersten Moment, dass er nie wieder Luft holen können würde, doch dieser Eindruck verflüchtigte sich spätestens dann, als der erste Schock vorbei war und er hochsprang. Zornig starrte Adam Hölzer an, der wie ein Racheengel am Ufer stand, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht ein einziger Gewittersturm. Er sagte nichts, auch wenn Adam deutlich erkannte, dass Worte hinauswollten, die Hölzer zwischen eisern zusammengepressten Lippen gefangenhielt. 
Vincent kam langsam auf sie zu und Adam wünschte sich mit allem, was er zur Verfügung hatte, dass dieser dreckige Bastard von Vincent in seine Schranken gewiesen wurde. 

Doch…es geschah nichts. Ruhig stellte Vincent sich neben Hölzer und tat nichts. Hob nur bedeutungsschwanger die Augenbraue. 

„Das hast du dir selbst eingebrockt, Adam“, erdreistete er sich und Adam kämpfte sich klatschnass und frierend ans Ufer. Wütend stapfte er auf Hölzer zu, der keinen Schritt zurückwich und dessen ganze Gestik davon sprach, ihn nochmal in den See zu werfen.
„Das wirst du mir-“
„Geh dir eine Decke aus dem Auto holen, Adam“, fuhr Vincent ihm über den Mund, streng und unnachgiebig. Adam weigerte sich, verweigerte sich dem Ton, doch lange konnte er das nicht durchhalten. Nicht mit Vincents Augen, die ihn aufmerksam und tadelnd musterten. 
„Du bist klatschnass und du wirst dich erkälten. Geh.“
„Fick dich, Vincent!“

„Nicht hier und nicht jetzt. Und generell würde ich es begrüßen, wenn wir alle weniger über das Ficken sprächen, sondern über das, was künftig geschehen wird.“
Ja, das würde Adam auch – wenn er nicht durch diesen Idioten im See landen würde. „Blöder Bulle“, zischte Adam in Richtung Hölzer und stapfte zum Auto, holte sich mit klappernden Zähnen eine dicke Decke aus dem Kofferraum. Mit finsterem Blick sah er, wie Vincent leise auf Hölzer einredete, der graduell ruhiger wurde und schließlich tatsächlich den Blick hob um Vincent in die Augen zu sehen. Von dort aus hatte er tatsächlich die Unverfrorenheit, nicht ihn anzusehen, sondern in den scheiß schneienden Himmel zu starren. 

Aber er wurde in den See geworfen. 

Adam kam zurück, seine Wut zwar unter dem Gefrierpunkt, jedoch noch ordentlich am Gären. 
Ohne auf das einzugehen, was Vincent zu Hölzer gesagt hatte, was er oben drein noch erfragen musste, wandte er sich dem Polizisten zu. 

„Ich sage dir jetzt, was weiterhin passieren wird. Du willst deinen ach so geliebten Freiraum? Gut. Dann lass dich von ganz Saarbrücken ficken. Ohne Safeword. Wenn du dann zu unseren Treffen kriechen wirst, ist das jetzt erstmal Vincents Problem, denn der wird dich nach Hause begleiten und da 24/7 auf deinen Masochistenarsch aufpassen. Du wirst von all dem hier niemandem etwas sagen, denn sonst werde ich deine armselige Existenz nicht mehr schützen, ist das klar? Du wirst auch weiterhin ein braver, kleiner, erpresster Polizist bleiben, dessen Geheimnis bei mir sicher ist. Solange du spurst, versteht sich. Deine Familie interessiert mich da nur peripher.“ Tödlich ruhig waren Adams Worte und selbst Vincent begriff, dass er ihn nun besser nicht übersteuerte. 

Nein, er machte es anders. „Ich möchte gerne einen abweichenden Vorschlag machen, wenn ich darf“, sagte er sanft und Adam spießte ihn mit seinen Augen auf. 
„Klär mich auf“, schnarrte er und Vincent lächelte. 
„Lass Leo ab morgen bis nach Weihnachten bei seinen Eltern sein. Ich werde mich jeden Tag mit ihm treffen und über die notwendigen Dinge sprechen. So haben wir alle Zeit, herunterzukommen und wieder zu uns zu finden.“
„Wie immer ein Menschenfreund“, spottete Adam beißend, nickte jedoch knapp. „Dann wünsche ich euch viel Spaß in trauter Zweisamkeit und wir beide“, er trat einen Schritt auf Hölzer zu, hielt sich aber aus dessen Reichweite heraus. „…sehen uns im neuen Jahr. Glaube ja nicht, dass du so einfach von mir loskommst.“

Es war eine Drohung und Adam zog seine Befriedigung daraus, sie auch wie eine klingen zu lassen. Er grinste freudlos und wandte sich dann an Vincent. 
„Ich nehme den Wagen. Ihr beiden könnt laufen, ihr kennt den Weg ja. Und dann könnt ihr mit euren Findungsgesprächen schonmal anfangen.“

Der aufkommende Widerspruch in Vincents Augen erlosch schnell, als er Adams Ausdruck sah und mit befriedigter Wut drehte Adam sich um. Er ging zum Auto und fuhr mit hochgradiger Befriedigung weg. Weg von den Beiden. Weg von Hölzer. Nur weg. 


~~**~~


Vincent starrte Adam hinterher und konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Ob er sich verhört hatte, vielleicht einfach bewusstlos irgendwo lag, geplagt durch Fieberträume. Ja, er hatte die beiden zum See gefahren, damit sie reden konnten. Offen und ehrlich. Dass Adam das zum Anlass machte, ihr ganzes System offen zu legen und dem viel zu scharfen Verstand von Leo Hölzer auch noch mehr Futter zu geben, damit hatte er mitnichten gerechnet. 

Auch wenn Leo gerade jetzt nicht den Anschein machte, als würde er darüber nachdenken, würde das kommen. Und mit den Gedanken würden die Nachforschungen beginnen, mit ihnen ein mögliches Auftauchen auf Roland Schürks Radar. Das mussten sie verhindern und Adam hatte genau das nun ungleich schwerer gemacht. 

Am Liebsten hätte Vincent Adam gleich auch noch einmal in den See geschubst. Oder so kunstvoll geworfen wie Leo es getan hatte. 

Aber nein. Wie sehr würde sich Vincent im Gegensatz dazu wünschen, dass jemand wie Leo Hölzer kam, Roland Schürk verhaftete und damit Adam von einem Fluch befreite, der ihn seit seiner frühesten Kindheit begleitete. Es bedeutete allerdings gleichzeitig auch, dass sowohl Adam als auch er ins Gefängnis gehen würden. Erpressung, Nötigung und Korruption waren da nur die offensichtlichen Straftatbestände und wenn die ermittelnden Beamtinnen und Beamten tiefer graben würden, würden sie auch noch Geldwäsche, Kunstraub und Drogenhandel finden. Wobei Adam aus letzterem immer weitestgehend herausgehalten worden war. Dennoch reichte es auch, dass sie für lange Jahre keine Freiheit mehr sehen würden und Vincent versuchte mit aller Macht, sie davon fernzuhalten. 

Solange er es konnte. 

Was war, wenn sie ihr System beenden mussten, stand in den Sternen. Was zählte, war das Jetzt und in diesem arbeitete Vincent mit dem, was er hatte. 

Und mit denen, die vor ihm standen – Leo Hölzer.
„Geht es mit deinen nassen Füßen?“, fragte Vincent und ließ durchaus die Besorgnis zum Vorschein treten, die er sich sonst bei ihren Verknüpfungen verbot. Hier brauchte er es, auch wenn ihn das Wissen, dass er nun alleine mit dem Ermittler war, unruhig machte. Hölzer hatte seine Waffe nicht mehr, das hieß aber nicht, dass Vincents eigene, emotionale Seite ihm nicht einflüsterte, dass der Mann durchaus in der Lage sein würde, ihn im See zu ertränken. 

„Es wird auffallen, dass meine Dienstwaffe nicht da ist“, erwiderte eben jener aus dem Zusammenhang gerissen mit einer beunruhigenden Fähigkeit, Vincents Gedanken zu lesen und Vincent blinzelte überrascht. Daran hatte er bis eben nicht gedacht, aber Leo hatte Recht. Eigentlich sollte er seine Dienstwaffe zum Dienstschluss im Tresor einschließen. Spätestens, wenn er sich morgen krank meldete, würden Fragen aufkommen. 

„Sie werden noch mehr Verdacht schöpfen als jetzt schon und dann werden sie ermitteln.“ Vincent konnte Leos Gesicht im Dunkeln nicht richtig sehen, doch er hörte, wie die Stimme brach. Er wusste auch, wen Leo mit sie meinte. Sein eigenes Team, die eine Durchsuchung ohne ihren Teamleiter durchgeführt hatten – eigentlich eine Warnung sondergleichen, dass er kurz davor war aufzufliegen. Was blieb dem Mann dann noch? Das Gefängnis als wahrscheinlichste Alternative, die Flucht als Unwahrscheinlichste. Der Tod… Vincent schauderte. Nein, darüber wollte er mit Sicherheit nicht nachdenken. 

Vincent zog sein Handy hervor und rief Adams Kontaktdaten auf. ~Kümmere dich um Leo Hölzers Dienstwaffe, sie muss zurück in den Tresor.~, schrieb er knapp und steckte das Handy zurück in die Tasche. Adam würde ihm einen schlecht gelaunten Kommentar zurückschreiben, aber letzten Endes dafür sorgen, dass Leo Hölzer sich keinem erhöhten Verdacht der Korruption oder der Erpressung aussetzte. 

„Es wird sich darum gekümmert“, gab er Leo eine hoffentlich beruhigende Antwort. Sicher sein konnte er sich damit nicht, denn der andere Mann schwieg eisern. 
„Leo, deine Füße…“, versuchte er es nochmal und erntete ein Grollen dafür. Sonst nichts. Vincent konnte es Leo nicht verübeln, dennoch war es nicht dazu geeignet, seine blank liegenden Nerven zu beruhigen.
„Ich würde uns jetzt ein Taxi rufen, damit wir nicht den ganzen Weg zu deiner Wohnung laufen müssen“, sagte Vincent, als ob er eine normale Unterhaltung führen würde. Die sie mit Sicherheit gerade nicht führten. Nichts daran war normal, der ganze Tag war es nicht und die Verantwortung, die auf Vincents Schultern lag, war immens. Wenn er nicht aufpasste, erdrückte sie ihn und dann war er für niemanden mehr eine Hilfe. 

Vincent steckte seine zitternden Hände in die Taschen seines Mantels und war froh, zumindest mit seinen Fingern den dicken, weißen Flocken zu entkommen, die auf sie fielen. 
„Ich werde laufen“, ergriff Leo das Wort und Vincent blinzelte. 
„Okay…aber bis zu deiner Wohnung ist es mit Sicherheit an die zwei Stunden und deine Füße sind nass, da wäre es…“
„Es schneit zum ersten Mal seit Jahren vor Weihnachten. Ich möchte das spüren“, schnitt ihm Leo knapp das Wort ab und Vincent verstummte. Den Mann zu weiteren Dingen zu zwingen, wäre nicht gut, auch wenn sie besser für ihn waren. Deswegen schwieg er auch, was die dünnere Jacke des anderen Mannes anbetraf. 

„Ich laufe mit dir“, entschloss Vincent sich für den langen, quälenden Weg in Richtung Innenstadt und seufzte innerlich. Vermutlich würden sie beide an Weihnachten mit einer Grippe flachliegen. Die Aussicht, dass sich Adam dann um ihn kümmern würde, hatte etwas durchaus Befriedigendes. Die Aussicht, dass Adam versuchen würde, sich um Leo zu kümmern, dahingehend nicht. Also musste er gesund bleiben. Vincent seufzte innerlich. Die Katastrophe, die sich daraus ergeben würde, brauchte niemand.

Auch wenn das bedeutete, dass sie nun die erste Stunde schweigend nebeneinander herliefen und Vincent über Leos Tempo ächzte. Er sagte nichts dazu, weil es Leo warmhielt und weil Leo sich mit Sicherheit vieles von der Seele laufen musste, was passiert war. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 11: Schneewanderung

Notes:

Einen schönen guten Abend euch!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. Und es geht vorwärts (zumindest bewegungsmäßig ;) ). Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Den nächsten Teil gibt es Ende nächster Woche.

Vielen Dank euch allen, die ihr mitlest, die ihr Kudos da lasst und/oder kommentiert. :3

Chapter Text

 

Erst, als sie den Stadtrand erreichten, wurde Leo langsamer. 

Er war schier vor dem davongelaufen, was sich in den letzten Monaten, Wochen und Tagen in ihm aufgestaut hatte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er gerannt, immer und immer weiter durch die verschneite Nacht, ohne Rücksicht auf seinen müden und erschöpften Körper, ohne Rücksicht auf seine kalten und nassen Füße. Er wäre durch die glatten, weißen Straßen gerannt, bis das Chaos und die schlimmen Gefühle in seinem Inneren seiner Müdigkeit zum Opfer gefallen wären. 

Leo wusste nicht, wohin mit sich und es schien, als hätte er sich nach seinem Vorhaben, die beiden Männer und sich zu töten aufgelöst in seinem Sein. Er wusste nicht mehr, wer er war und welche Ziele er verfolgte. Er hatte Angst vor dem Menschen, der er geworden war und der dazu fähig schien, zu töten. 

Nein…das war er nicht. Er hatte es nicht über sich gebracht, zu töten. Er hatte noch nicht einmal geschossen und ein Teil in ihm war froh, dass er heute Nacht seine Waffe nicht zur Hand hatte. Er war eine Gefahr für andere und Leo wurde schlecht bei dem Gedanken an die verzweifelte Selbstjustiz, die er hatte üben wollen. 

Deswegen ignorierte er auch den Mann, der mit Mühe neben ihm Schritt hielt. Wieso sich Schürks rechte Hand ihm gegenüber so verhielt, wusste Leo nicht, aber es schmerzte ihn jedes Mal wieder, Vincent zu sehen. Er hatte ihm eine Waffe an den Kopf gehalten, warum war der andere Mann so ruhig? So nachgiebig?

„Leo?“, holte ihn eben jener aus seinen Gedanken und er blieb stehen. Hier im warm-gelben Licht der Straßenlaternen sah er erst einmal das Wunder, was sich über Saarbrücken legte. Eine dicke, weiße Puderschicht, die den Schneeregen der letzten Wochen ablöste. Die ihn einschneite und…den Mann an seiner Seite ebenso. 
„Du bist nicht Schuld, an dem, was dir passiert ist. Du bist auch nicht unfähig, deine Familie zu schützen. Beides trifft nicht zu und ich möchte, dass du das weißt.“

Er hörte Vincent zu und kämpfte jede Sekunde danach mit dem Drang, wegzulaufen vor diesen Worten und der Bedeutung, die in ihnen lag. Die Vincent ihm so plötzlich offenbart hatte.
„Du konntest nichts von dem beeinflussen, was passiert und auch deswegen ist es nicht deine Schuld, Leo.“
Leo wünschte sich, dass der andere Mann aufhörte zu sprechen. Aber was er sich wünschte und was wirklich passierte, das stand auf zwei unterschiedlichen Blatt Papieren, zumal er auch nicht vergessen durfte zu kooperieren. Die beiden Männer hatten ihm zwar in Aussicht gestellt, dass seiner Familie nicht geschadet würde, aber er hatte Schürk auch wütend gemacht mit seinem unvorsichtigen, instinktiven Handeln. Natürlich, wie auch nicht, wo er ihn doch ins eiskalte Wasser geworfen hatte? 

Die darauffolgende Drohung war noch nicht einmal überraschend gewesen.

„Ich hätte niemals aus Berlin zurückkehren sollen“, sagte er leise, unbewusst fast. „Dann wäre das alles nicht passiert. Nichts davon.“
Vincent trat zu ihm und legte ihm zwei eiskalte Finger unter das Kinn. Hob es an, damit Leo ihm in die Augen sehen konnte. Es war schlimm, das zu tun, denn die blauen Augen zeigten keine Wut, keinen Hass, nichts, was Leo sich selbst zugeschrieben hätte, wenn ihn jemand mit dem Tod bedroht hätte. 
„Das ist richtig. Jedoch hast du dich entschieden, nach Saarbrücken zurück zu kehren. Nichts von dem, was darauf passiert ist, konntest du wissen oder beeinflussen, Leo. Nichts. Wir hatten dich schon auf dem Schirm, bevor du Kontakt zu Adam aufgenommen hast, weil du und deine Art zu ermitteln in der Organisation bereits aufgefallen waren. Es hätte nichts gegeben, was du hättest anders machen können.“

Es war Vincents Ton, der Leo die Tränen in die Augen trieb, erkannte er. Der sanfte, nachgiebige, verständnisvolle Ton. 

„Ich möchte, dass es aufhört“, sagte er und jedes der Worte schmerzte ihn, weil es so wahr war. Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Er stand die Angst nicht weiter durch. Nicht so wie bisher. 
„Verständlich, Leo.“
Er schnaubte. „Aber nicht genug. Es geht so weiter wie bisher, egal, wie es mir damit geht.“
Dass Vincent die verschneiten Locken schüttelte, machte es nicht besser. Leo glaubte es ihm nicht. Wenn er wirklich die Wahl hatte zwischen tot und erpresst, dann würden sie ihn nicht gehen lassen. 
„Es wird nicht mehr so sein wie die Monate vor…heute“, präzisierte der Mann und schluckte selbst. Auch das erkannte Leo im fahlen Licht der Stadtbeleuchtung. 
„Sondern?“

Vincent atmete aus. „Das weiß ich noch nicht, Leo. Aber ich stehe dazu, dass es einen gemeinsamen Weg geben wird.“

Und was brachte es ihm?, fragte Leo sich und sah zur Seite. 
„Wer wird mich umbringen, wenn die Erpressung endet?“, fragte der Ermittler in ihm, der sich mit Gewalt an Fakten halten wollte, während die Welt um ihn herum zu Asche und Staub zerfiel. Die Frage stieß nicht auf Gegenliebe, ganz und gar nicht. 
„Das kann ich dir nicht sagen“, versuchte Vincent ihn zu beschwichtigen. Vergeblich. Leo sah hoch, starrte in die um Verzeihung bittenden Augen.  
„Wer?“, hakte er nach und der andere Mann wich seinem Blick aus. 
„Leo, das kann ich nicht.“
Wer?
„Das ist nichts, was ich dir…“
Leo grollte, mit einer Wut in sich, die beinahe schon zerstörerisch war. „Ich habe mir diese Antwort verdient, Vincent! Ich habe sie mir mit allem, was ihr mir angetan habt, verdient. Ihr habt mich nicht nur erpresst. Ihr habt mich zum Essen gezwungen. Ihr habt mich dazu gezwungen, ihm beim Kommen zuzusehen. Ihr habt mich dazu gezwungen, bestimmte Kleidung anzuziehen. Das ist Folter. All das davon. Das hat kein hehres Ziel, keinen höheren Zweck, was ihr getan habt. Das war Befriedigung eurer persönlichen Lust an der Unterdrückung anderer.“

So wütend seine Worte waren, so ungerecht wurden sie gesehen. Zumindest wenn er auf die vollen Lippen des Handlangers sah, die sich protestierend öffneten und dann wieder schlossen. 

„Dieses System ist nicht dazu gedacht, bekannt zu werden“, rettete sich Vincent in nichtssagende Floskeln, auf die Leo mit Verachtung heruntersah. 
„Dann hätte dein Auftraggeber nicht sagen sollen, dass ich die Wahl habe zwischen erpresst werden oder sterben.“
„Das…war der Wut geschuldet.“
„Aber es ist da!“, explodierte Leo und Vincent hob ruckartig die Hände, eine Geste, die Leo heute schon einmal gesehen hatte und die, so erkannte er auch jetzt, eine Geste der Angst vor ihm war. 
„Ja, das ist es und das ist schlimm genug. Belasse es dabei, Leo. Es ist besser.“
Verächtlich schnaubte er. „Es ist der Patriarch, oder? Der uns immer wieder durch die Finger gleitet, bei allem, was wir gegen ihn aufbringen können.“ 

Vincent schloss gepeinigt die Augen. „Nur Adam wird dir darauf eine Antwort geben können“, sagte er beinahe schon unterwürfig und Leo drehte sich kommentarlos weg. Er ließ den anderen Mann stehen und ging die letzten Kilometer in seiner viel zu dünnen Jacke und seinen nassen Schuhen. 

Wenigstens waren das körperliche Unzulänglichkeiten, die ihn von seinen Gedanken ablenkten.  


~~**~~


Vincent konnte es Leo nicht verübeln, dass er den restlichen Weg über eisern schwieg. Er konnte es ihm nicht verübeln, dass er ignoriert wurde, als wäre er Luft. Ebenso wenig konnte Vincent Leo seine wütenden Worte nicht verübeln, die er Adam ins Gesicht geschleudert hatte. Dass Adam gleich die Gelegenheit genutzt hatte, ungefiltert das System seines Vaters und ihr eigenes auszuplaudern, war weniger schön und etwas, über das Vincent auf jeden Fall noch mit Adam sprechen musste. 

Nicht heute, nicht in den nächsten Tagen. 

Sie alle brauchten die Ruhe des Abstands. Adam brauchte Zeit um wieder zu sich zu finden und Leo brauchte Zeit der Einsamkeit. Doch vorher musste Vincent mit Leo Regeln festzulegen, die Leo zum einen nicht direkt zu seinen Kolleginnen liefen ließen und die ihn zum anderen nicht in einen erneuten Selbstmordversuch trieben. 
Letzteres hielt Vincent für eine nicht zu unterschätzende Gefahr und entsprechend angespannt war er auch. 

Zum wiederholten Mal fragte er sich, ob er wirklich gut genug hierfür bezahlt wurde und was genau an Leo Adams sonst so scharfen Verstand aussetzen ließ. Da brachte er sie beide zum See um zu reden und die beiden erwachsenen Männer schubsten sich und machten sich Vorwürfe. Adam hatte nichts Besseres zu tun, als Leo den jahrelangen, sorgsam ausgearbeiteten Plan aus Bestechung und Erpressung herauszuposaunen als wäre es etwas, mit dem man hausieren gehen könnte. 

So ein hitziger Dummkopf! Anders konnte Vincent es wirklich nicht sagen, denn dieser eine Satz gefährdete alles. Was, wenn Leo im Affekt dafür sorgte, dass alles aufflog und Adams Vater sich dieses Mal nicht damit begnügte, seinen Sohn zu schlagen oder zu demütigen?

Vincent hatte Angst um Adam, wenn er es sich offen eingestand. Und nun hatte er auch noch Angst um Leo. Dann kam irgendwann die Angst um sich. Er seufzte und zog die Aufmerksamkeit des Polizisten auf dem Bürgersteig neben ihm auf sich.

„Was passiert jetzt?“, fragte Leo rau ohne seine vorherige Aggression und Kampfbereitschaft und Vincent wurde sich bewusst, wie schwer diese Frage in Leo wiegen musste. Es öffnete ihm aber auch das Verständnis dafür, wie verloren Leo sich fühlen musste, wie verwirrt und ohne Halt. 

Er hatte mit Adam ein ausgeklügeltes System entworfen, das vor allen Dingen auf dem Schatten des Möglichen basierte, was die Erpressungen anbetraf. Sie wussten eigentlich ganz genau, wie weit sie gehen konnten, damit jemand spurte, aber nicht ausrastete. Bei Leo hatte Adam diese Grenze kilometerweit überschritten, ob bewusst oder unbewusst, das würde Vincent noch herausfinden. Es war nachvollziehbar, dass dieser verzweifelt genug gewesen war, sie alle töten zu wollen, doch Vincent war auch nur ein Mensch mit Ängsten und der fahlen Hoffnung, das hohe Alter zu erreichen.

„Wie Adam es gesagt hat. Ich bringe dich nach Hause und du ruhst dich aus. Ich bleibe heute bei dir und schaue, ob du etwas benötigst. Morgen fahren wir zu deinen Eltern und dann treffen wir uns in der nächsten Zeit einmal am Tag, damit ich weiß, dass es dir…dass du lebst.“

Seine Stimme brach beim letzten Wort und Leos Augen musterten ihn viel zu aufmerksam, huschten analysierend über sein Gesicht. Leo hatte die Angst in seiner Stimme gehört und etwas in ihm reagierte darauf. Zumindest seine Züge wurden weicher, weniger abweisend. Ob alle seine Gedanken offen auf seinem Gesicht standen, wusste Vincent nicht, aber es graute ihm bereits jetzt, unweit von Leos Wohnung, davor, all die Möglichkeiten durchgehen zu müssen, die alleine in Leos Wohnung bestanden, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Leo genug Vertrauen entgegen zu bringen, um ihn nicht wieder mit seinen eigenen Handschellen zu fesseln. 

Was mit Sicherheit in einer Katastrophe enden würde. 

„Jeden Tag?“
„Ja, aber ich werde nicht bei deinem Elternhaus klingeln“, erwiderte Vincent sanft und Leo presste die Lippen aufeinander. 
„Ich habe aber gar nicht alle Geschenke“, sagte er und es war eine solch bodenständige Sorge, dass es Vincent tief in seinem Magen wehtat. „Und was soll ich ihnen sagen, dass ich schon da bin? Ich habe ja nichts.“
„Du bist fertig, Leo. Das ist nicht nichts“, korrigierte Vincent ruhig, aber vorsichtig. Er wusste nicht, wie der andere Mann diese Wahrheit aufnehmen würde, die Adam und er zu verantworten hatten. Doch anstelle von neuer Wut war da nur stumme Akzeptanz. „Deine Familie wird für dich da sein und dir eine Stärkung sein über die Weihnachtstage. Und im neuen Jahr kehrst du dann zurück auf die Arbeit.“
„Um wieder meine Ermittlungen zu sabotieren“, schnaubte Leo verächtlich und Vincent berührte ihn leicht am Arm. 
„Wenn euer nächster Fall nicht mit uns zusammenhängt, hast du erst einmal Ruhe vor uns. Dann geht es nur um Informationen.“

„Die dem Syndikat dazu dienen, mehr Macht zu erhalten“, schloss Leo und Vincent wusste wirklich nicht, was er Beschönigendes darauf erwidern sollte. Aber hatte der Ermittler vor ihm nicht die Wahrheit verdient? 
„Ja, das ist wahr.“
Abrupt wandte Leo sich ab, blieb dieses Mal jedoch stehen. Wie so oft an diesem Abend starrte er in den Himmel, reckte seinen Kopf gen dicker Flocken. „Es wird irgendwann auffliegen, was ihr tut. Irgendwann. Dann wird jemand von außerhalb kommen und eure Machenschaften aufdecken“, sagte er leise und Vincent konnte ihm da nur zustimmen. 
„Du wirst vermutlich Recht behalten, Leo. Aber bis dahin wird es so weitergehen wie bisher.“
„Hast du Angst vor dem Gefängnis?“

Überrascht schossen Vincents Augenbrauen in die Höhe und er schluckte. Ja, hatte er. Sehr. Er hatte die gleiche Angst wie Leo und der Gedanke daran war beinahe unaushaltbar. Dennoch hatte er sich vor Jahren für Adam entschieden und dafür, dessen Leben ein bisschen heller und normaler zu gestalten. 
War es das wert? 
Trotz allem, was Adam noch an sozialem Verhalten fehlte, war es das. 

„Darüber denke ich nach, wenn es soweit ist“, erwiderte er und Leo schnaubte. 
„Lügner“, entkam es den schmalen Lippen mit Leichtigkeit und Vincent gestattete sich ein schiefes Lächeln. Leo war gefährlich, schon immer gewesen. Ein äußerst würdiger Gegenspieler, den Vincent niemals auch nur eine Sekunde hätte unterschätzen sollen.    
„Hast du Hunger?“, fragte er anstelle einer Antwort und Leo verdrehte die Augen. Es war die erste, ehrlich genervte Reaktion, die Vincent von ihm erhalten hatte und sie missfiel ihm nicht. Nicht heute. Nicht, wenn er darauf angewiesen war, Leo lesen zu können. 
„Nein“, kam die vorhersehbare Antwort und Leos Magen grollte bestätigend. Vincent kommentierte das nicht, sondern deutete auf das Fast Food Restaurant unweit von ihnen. Kentucky Fried Chicken, Leos Nummer eins unter den Fast Food Ketten, wie er wusste. Adams auch, aber das verschwieg er wohlweißlich der allzu vorhersehbaren Abwehrreaktion.

„Wir könnten etwas zum Mitnehmen holen und es auf dem Weg essen“, schlug er vor und das stieß auf weniger Ablehnung als erwartet. Doch schlussendlich schüttelte Leo den Kopf. 
„Ich habe kein Geld dabei. Mir reicht es, erpresst zu werden, ich will nicht auch noch Zuwendungen annehmen“, sagte er leise und Vincent nickte. Er verstand, woher diese Grenze kam und wie nötig Leo sie hatte. Er respektierte sie, in der Hoffnung darauf, dass Leo zuhause etwas zu essen hatte, dass er ihm zubereiten konnte. 


~~**~~


In seine Wohnung zurück zu kehren, die er so überstürzt heute Morgen verlassen hatte, war um Längen schlimmer für Leo, als er es erwartet hätte. 

Der vertraute Geruch, der Anblick der Gewaltspuren von heute Morgen, die schlussendliche Wärme, die ihn mit einer eisernen Faust umschloss und zudrückte, all das raubte ihm zuverlässig den Atem. Bewegungslos stand er im Flur seines Zuhauses und begriff zum ersten Mal an diesem fürchterlichen Tag, dass er überlebt hatte. 

Dass er weiterleben würde, mit sämtlichen Erinnerungen, die dieser Tag mit sich brachte. 

Sein Bewacher, denn nichts Anderes war Schürks rechte Hand, stand in gemessenem Abstand hinter ihm und wartete darauf, dass Leo weiterging. Um mit ihm in seine Wohnung zu kommen, die seit zwei Wochen nicht mehr das Sanktuarium für Leo war, das er für seinen Seelenfrieden benötigte. Vincent war der erste Mann, der über Nacht hierbleiben würde und wie Schürks Erscheinen war auch das nicht freiwillig. 

Wie so vieles blieb auch das nicht so, wie Leo es für sich geplant hatte und es kratzte an seiner Selbstbeherrschung. Es konterkarierte sein Bedürfnis nach Sicherheit. Vielleicht sollte er im neuen Jahr umziehen, in eine andere Wohnung. Ein Neustart, doch lohnte sich dieser, wenn auch die Wohnung dann kompromittiert wurde?

Leo gab sich einen Ruck und ging ein paar Schritte weiter, streifte sich schlussendlich die nassen Schuhe und Socken von seinen eiskalten Füßen. Sie würden so schnell nicht mehr warm werden, wusste er, es sei denn, er ging duschen. Auch das war ein derart absurder Gedanke angesichts des anderen Mannes hinter ihm, der bereits weiter als er war und seinen Mantel ausgezogen hatte. 

„Wie wäre es, du gehst duschen und ich schaue, ob ich dir etwas kochen kann?“, schlug Vincent vorsichtig vor, mit traumwandlerischer Sicherheit seine Gedanken aufgreifend, und es war das dritte Mal, dass er das Thema Essen auf den Tisch brachte. Gerade so, als würde es ihn kümmern, dass Leo entgegen seiner Worte wirklich Hunger hatte. 
„Warum machst du das?“, fragte er deswegen. „Du bist sonst nicht so. Ich habe vor Stunden versucht, dich umzubringen.“ Bei den letzten Worten schnürte sich Leos Kehle zu. Wie unmöglich die Worte sich in seinen Ohren anhörten, wie surreal. 

Leo wagte den Blick in die blauen Augen und für einen Moment stand ungebremste Furcht auf dem ebenmäßigen Gesicht. Vincent verbarg den Schrecken schnell, aber nicht schnell genug für Leo, was es für ihn nur schlimmer machte. Sieh hin, sagte er sich. Sieh deinem Opfer in die Augen. Du hast diesen Schrecken hervorgebracht, du und deine Waffe. Egal, wer er ist. Egal, was er getan hat. Die Todesangst gilt dir. 
„Ich mache das, um uns alle drei zu retten, allen voran dich“, entschied der andere Mann sich schlussendlich für die Wahrheit. „Ich möchte nicht, dass du an dem, was passiert ist, verzweifelst. Ich möchte nicht, dass du aus Verzweiflung Dinge tust, die dein Leben gefährden werden.“

So schonungslos, wie Vincent die Wahrheit aussprach, so schonungslos bohrte sie sich in Leos Magen. 

„Mich retten“, echote er nachdenklich und Vincent nickte. „Gäbe es euch nicht, müsste ich nicht gerettet werden. Gäbe es euch nicht, wäre mein Leben nicht Gefahr“, schlussfolgerte Leo gnadenlos und drehte sich um ohne auf eine Antwort zu warten. Er ging in sein Schlafzimmer und holte sich trockene Kleidung aus seinem Kleiderschrank. Einen dunklen Kapuzenpullover und eine bequeme Trainingshose, dicke Socken für seine Füße. 

Er ignorierte Vincent, der immer noch wie bestellt und nicht abgeholt im Flur stand und ging in sein Bad. Er schloss die Tür hinter sich, verschloss sie mit einem deutlichen Laut des Widerstandes gegen den Mann, der Sorge zeigte, wo vorher nur Strenge gewesen war. Der Gedanke, dass Vincent ihn manipulierte, kam auf, aber Leo hatte nicht die Kraft, sich vollumfänglich dagegen zu wehren. Also konnte er auch froh darum sein, dass der andere Mann seine sonstige Strenge momentan außen vor ließ um ihm nicht weiter zu demütigen und zu unterdrücken. 

Er zog sich aus und wagte einen Blick in den Spiegel. Zunächst nur auf seinen Körper, auf das muskulöse Ding, was Schürks Interesse geweckt hatte. Er wäre gut zu ficken, das hatte der verzogene Syndikatssprössling gesagt, kurz bevor Leo ihn dafür ins eiskalte Wasser geworfen hatte. Ja, objektiv betrachtet war er das. Durchtrainiert, gewohnt, gefickt zu werden. Gierig danach, wenn die Stimmung gut war. Aber nicht von Schürk. Nicht von diesem Arschloch. 

Seine Augen glitten nach oben und Leos Herz setzte einen schmerzhaften Moment aus. Die Würgemale zeichneten sich dunkel von seiner blassen Haut ab und waren ein brutales Zeugnis davon, was Schürk ihm angetan hatte in seiner Wut. Genauso wie der Schlag ins Gesicht eine dunkle, unmissverständliche Spur auf seinem Wangenknochen hinterlassen hatte. Sacht fuhr er sich über seine Haut. Leo spürte immer noch, wie ihm die Todesangst des Augenblicks in den Knochen steckte, die dunkle Verzweiflung, seine Familie dem sicheren Tod ausgeliefert zu haben. 

Seine Gedanken zerrten Schürks Entschuldigung hervor, die Leo für diesen Gewaltexzess erhalten hatte. Knappe, mechanische Worte, von denen Leo sich im ersten Moment nicht einmal sicher gewesen war, ob er sie sich eingebildet hatte. Worte wie einstudiert und hölzern und mit Sicherheit auf Geheiß von Vincent. Was Schürk über ihn dachte, hatte er am See klar und deutlich formuliert und ihm noch einmal mitgegeben. 

Er würde weiter erpresst werden, doch aus noblen Gründen. Dass Leo nicht lachte. Was hatte er nun für eine Wahl? Entweder er gehorchte oder er wurde umgebracht? Und seine Eltern…nein, Leo glaubte Schürk kein Wort. Seine Eltern waren nicht von geringem Interesse. Der andere Mann würde mit Sicherheit zu diesem Mittel greifen um ihn dazu zu zwingen, ihm weiterhin Informationen zu liefern oder die Ermittlungen zu sabotieren. 

Vermutlich war es Pia und Esther sowieso schon längst aufgefallen, dass die Uhr nicht mehr da war und deswegen hatten sie die Durchsuchung ohne ihn durchgeführt. Die fadenscheinigen Gründe, warum sie ihn nicht informiert hatten, waren so offensichtlich, dass es Leo tief in der Seele schmerzte. So sehr, dass er den körperlichen wie geistigen Schmerz darüber tief in sich begrub, weil er sonst unaushaltbar wurde. 

Lieber stellte er sich nun unter die Dusche und drehte das Wasser so heiß auf wie es für ihn erträglich war. Er lauschte dem Plätschern der Wassertropfen und es beruhigte ihn dabei ebenso wie der vertraute Geruch seines seit Jahren ewig gleichen Duschgels. Das gehörte ihm, nicht Schürk oder seinem Handlanger. Das war er und das war in diesem Moment so immens wichtig, dass es die Erschütterungen in Leos Grundfesten mit gleichriechendem Schaum kittete. 

Der Gedanke, sich alles Weitere zurück zu erkämpfen, kam kurz in ihm auf und Leo dämpfte ihn beinahe schon panisch. Diese Gedanken durfte er nicht haben, nicht jetzt, denn das würde ihn an der Hoffnungslosigkeit zerbrechen lassen, die damit einherging. 
Seine Familie. Seine Unversehrtheit. Diese Dinge waren wichtig. Heute war er mit einem blauen Auge und Würgespuren am Hals davon gekommen. Das nächste Mal war es vielleicht anders.  

Tief einatmend beendete Leo seine Dusche und stieg in seine wärmende Kleidung. Er schob die Kapuze über seine noch nassen Haare und öffnete die Tür, nur um zu sehen, wie Vincent in seinem Flur die Scherben des heutigen Gewaltexzesses mit seinen Händen aufsammelte. In seiner linken barg er vorsichtig die Splitter, die er mit seiner rechten aufsammelte. 
Überrascht hielt Leo inne. Er sah den Flur entlang und erkannte, dass der andere Mann selbst das Bild seiner Eltern wieder aufgehängt hatte.

„Ich bin gleich fertig“, murmelte Vincent. „Ich habe dir eine deiner Raviolidosen aufgemacht und erwärmt. Wenn du etwas essen möchtest, steht es auf dem Herd. Daneben habe dir einen Teller mit Löffel hingestellt.“

Da war sie schon wieder, diese Fürsorge, die Leo vor eine noch ganz andere Herausforderung stellte, wie er nun erkannte. Seine Familie sorgte sich um ihn und ihnen wich er diesbezüglich schon aus. Dass ihn jemand bekochte oder dass jemand seine Aufräumarbeiten für ihn erledigte, war so viel mehr als das, was in seinem Erwachsenenleben für ihn getan worden war und was er akzeptieren konnte. 

„Ich habe noch eine zweite Dose“, sagte er, um das unwirsche Gefühl in seinem Inneren zu betäuben. Es entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte insgesamt zwölf Dosen, die er sich geholt hatte, als es sie im Sonderangebot gegeben hatte. Er mochte das Kindheitsessen, auch wenn es nun wahrlich nichts mit echten Ravioli zu tun hatte. 
Vincent sah hoch und ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. „Ich hab’s gesehen.“
„Du kannst sie dir nehmen“, machte Leo ein zähneknirschendes Zugeständnis an das, was einer Gastfreundschaft am Ähnlichsten kam. Vincent schüttelte den Kopf. 
„Ich danke dir, Leo, aber ich ernähre mich vegan.“
Wenn Möchtegernravioli mit Bolognesesauce eines nicht waren, dann das. 
Bevor Leo sich davon abhalten konnte, ging er in Gedanken durch, was er an veganen Lebensmitteln zuhause hatte um sie dem anderen Mann anbieten zu können. So als wäre er ein Gast, den Leo freiwillig bewirtete. Aber andererseits hatte er den Mann mit einer Waffe bedroht. 

„Ich habe eine Gemüsepfanne im Tiefkühlfach“, erwiderte er und Vincent nickte dankbar. 
„Ich habe noch keinen Hunger“, lehnte er dennoch ab und Leo wandte sich ab. Dann würde nur er ein oder zwei Bissen nehmen. 

Wenn er sie hinunterbekam.


~~**~~


„Möchtest du schlafen gehen, Leo?“, fragte Vincent sacht, als Leo sich nicht vom Tisch wegbewegte, nachdem er die ganze Portion Ravioli aufgegessen hatte. Er saß dort wie eine Statue, die Augen weit ab von der Realität, wie jemand, der nicht am Leben teilnahm, wenn man ihn nicht ansprach. Es verschaffte Vincent ein ungutes Gefühl, denn es war immer noch möglich, dass Leo einen weiteren Versuch unternahm und dass es hinter der stillen Fassade brodelte. 

Seine Frage wurde nicht gehört, so kam Vincent zum Tisch und hockte sich neben dem Mann, der sich dagegen entschieden hatte, ihn umzubringen, weil er es nicht konnte. Leo war ein Polizist durch und durch und in diesem Moment fragte Vincent sich, ob er nicht schon unter dem Druck, den Adam ungesehen aufgebaut hatte, zerbrochen war. 

„Leo, hey“, wiederholte er und berührte die Hand, die wie vergessen auf dem Tisch lag. Es hatte Erfolg und abrupt maß Leo ihn. 
„Bist du müde? Du siehst sehr erschöpft aus.“
Unmerklich schüttelte Leo den Kopf. „Ich kann nicht schlafen…konnte es die letzten Nächte auch nicht“, sagte er leise. Alpträume, stand in seinen Augen, in seinem verhärmten Gesicht und Vincent verstand. 
„Ich hätte etwas gegen die Schlaflosigkeit.“ Er fummelte etwas umständlich in der Tasche seiner Hose und zog einen Blister mit Schlaftabletten heraus, die er für Adam immer bereithielt, wenn dieser sie brauchte. Ruhig hielt er Leos überraschtem Blick stand. 
„Schlaftabletten?“
„Ja.“
„Habe ich eine Wahl?“

Am Liebsten wäre es Vincent gewesen, nein zu sagen. Doch er fürchtete, dass das zuviel für Leo war. Nach Adam heute Morgen beim Frühstück. Nachdem er selbst Leo an die Heizung gefesselt hatte. 

„Ja, hast du. Ich würde dir auch keine Ganze geben, sondern eine halbe, zerstoßen in heißer Milch mit Honig“, erläuterte Vincent. „Zur Schlafunterstützung, nicht, um dich vollständig auszuknocken. Wenn du sie nicht möchtest, dann würde ich dir heiße Milch mit Honig machen, ohne Zusatz. Wenn du das auch nicht willst, bin ich einfach da und...höre zu, wenn du reden willst.“

Sachlichkeit war das, mit dem Leo am Besten konnte, das sah Vincent ein weiteres Mal, denn es ließ Leo in Ruhe über seine Vorschläge nachdenken. Natürlich war das die beste Herangehensweise, denn Vincent tat gerade nichts anderes als Leo wie einen gleichgestellten Menschen zu behandeln. Nicht wie eine ihrer Verknüpfungen, in der die Über- und Unterordnung klar geregelt war. Es tat Vincent in der Seele weh, das Ergebnis ihrer Taten hier vor sich zu sehen, doch was war die Alternative gewesen? 

Leo Hölzer, ein junger, aufstrebender Kriminalhauptkommissar aus Berlin, der tot unter der Erde lag – ermordet von einem Unbekannten, der Vincent und Adam mit Sicherheit nicht unbekannt war. 
Die andere Alternative, den Mann vor sich zu bestechen, war beinahe in dem Moment ausgeschieden, als Vincent sich Leos Personalakte angesehen hatte. Der Mann war durch und durch gut. Er stand für die Gerechtigkeit und das Recht. Niemals hätte er Bestechungsgelder angenommen. 

Mehr sich selbst als Leo beruhigend strich Vincent ihm über die warme, lebendige Haut.

„Ich möchte, dass du lebst, Leo“, sagte er, scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen. „Wir möchten das.“ Mehr würde er heute nicht sagen, mehr durfte er heute nicht sagen, auch wenn Vincent ihm am Liebsten eine ganze Litanei an Gründen mitgegeben hätte. Eine ganze Litanei an Sorge, was der andere Mann sich eventuell antun könnte, wenn er nicht dabei wäre. Angefangen über Rasierklingen oder der Sturz aus dem Fenster. Vielleicht gab es noch Schmerztabletten oder andere Medikamente…

Generell war diese Wohnung voller Gegenstände, die in einem unbedachten Moment dazu genutzt werden konnten, sich letale Gewalt anzutun und das ließ Vincent erheblich daran zweifeln, ob Leo letzten Endes nicht besser auf einer Station aufgehoben wäre, in der er rund um die Uhr überwacht werden würde. 

Doch das würde Fragen aufwerfen, insbesondere bei Leos Familie und seinem Team. Diese Fragen würden Arbeit bedeuten und das sorgsam errichtete Geflecht aus Lügen und Teilwahrheiten würde zerbersten. 

Leo starrte auf ihn hinunter und Vincent sah die Wut, die hinter der allumfassenden Erschöpfung lauerte. „Ich möchte mein eigenes Leben leben“, hielt er dagegen und Vincent nickte. 
„Wir finden einen Weg, beides miteinander zu verknüpfen“, sagte er, sich aber selbst nicht sicher, wie ihnen das gelingen sollte. Selbiges sah er auch in Leos Augen, die so erheblichen Zweifel an dem hatten, was Vincent gerade gesagt hatte, dass es ihm beinahe körperlich wehtat. 

„Ich nehme die heiße Milch mit Honig und die halbe Schlaftablette“, sagte dieser schließlich rau und wer war Vincent, dass er diesem Wunsch nicht Folge leistete? 


~~**~~


Leo kam so langsam und sanft zu sich wie die ganzen, letzten Wochen über nicht. Er hatte das Gefühl, wirklich geschlafen zu haben, nicht nur die paar unruhigen Stunden der letzten Zeit. Von Entspannung war weit und breit keine Spur, aber er war nicht mehr so grundlegend erschöpft wie gestern Morgen. 

Blinzelnd starrte er auf seinen Wecker, der ihm anzeigte, dass er noch rechtzeitig genug wach geworden war um sich krank zu melden. In großen Ziffern zeigte er ihm eine Uhrzeit und ein Datum an, das Leo nicht mehr geglaubt hatte, sehen zu werden. Den nächsten Morgen. 

Noch acht Tage bis Heiligabend.

Regungslos blieb er liegen und ließ die Reste des Schlafmittels durch seine Blutbahnen wandern. Das erste Schlafmittel in seinem Leben und Leo war jetzt und hier dankbar für eine ruhige Nacht. Eine Nacht ohne Alpträume. Eine Nacht ohne nachts wach zu werden. Sein Kissen roch gewohnt und die Decke war ein schweres, warmes Gewicht auf seinem Körper. Er lebte, er atmete und er war froh darüber, auch wenn die Ereignisse der letzten Nacht immer noch wie ein schweres Gewicht in seinem Magen lagen. 

Und noch lange liegen bleiben würden. 

Seine Schlafzimmertür war einen Spalt auf und Leo konnte sich nicht daran erinnern, sie offen gelassen zu haben. Im Gegenteil. Aber vermutlich gehörte das zu der neuen Kontrolle, unter der er stand. Ob er noch da war. Ob er sich nicht umgebracht hatte. Ob er nicht aufstand und Vincent im Schlaf umbrachte. Deswegen auch die täglichen Treffen, obwohl er sich zu seinen Eltern zu begeben hatte. 

So sehr Leo auch gegen diese neue Art der Bevormundung wehrte, so sehr sehnte sich die tief verletzte Seite in ihm nach der Gegenwart seiner Mutter und seines Vaters. Er wollte sich bei ihnen verkriechen und vor allem die Augen verschließen, was da noch kommen mochte. Er wollte sie sehen um sich zu versichern, dass es ihnen gut ging. 
Was war da schon der tägliche Kontakt zu Vincent? Ein notwendiges Übel, aber ertragbar. Hoffentlich. Leo glaubte nicht, dass der andere Mann weiterhin so menschenfreundlich sein würde wie gestern. Er würde zu seiner ursprünglichen Strenge zurückkehren und Leo hoffte inständig, dass er dieses Verhalten bis dahin kompensieren konnte. 

Er schraubte sich hoch und schlug die Bettdecke zurück, verharrte Momente auf der Bettkante. Es gab Dinge zu regeln und die waren einfacher zu händeln als seine Gedanken, also schrieb er Esther und Pia über ihren Gruppenchat und dem Abteilungsvorzimmer per Mail seine Krankmeldung. Mit seinem Handy in der Hand erhob er sich und verließ das Schlafzimmer, sich innerlich gegen Vincent stählend, auch wenn er ihn zunächst zugunsten seiner Badrunde ignorierte. 

Es war wie gestern…als er das Bad verließ, dieses Mal geduscht, kam er in sein Wohnzimmer und dort saß ein Mann, den er nicht eingeladen hatte. Ohne Brötchentüte, aber ebenso aufmerksam. 
„Hallo Leo“, sparte Vincent ihnen beiden den guten Morgen mit einem immer noch ruhigen Unterton und Leo starrte auf ihn hinunter. 
„Wann soll ich zu meinen Eltern?“, fragte er und Vincents Mimik wurde weich. 
„Wann du willst. Ich rufe uns ein Taxi und das wird dich dann zu deinen Eltern bringen. Ich nehme nicht an, dass du mit mir tagsüber durch Saarbrücken laufen möchtest. Von dort aus werde ich zurückfahren und wir werden uns morgen in dem Wald hinter der Wohnsiedlung deiner Eltern treffen.“

Leo akzeptierte das schweigend. 

„Darf ich dir etwas zum Frühstück machen?“, fragte Vincent und es war ein solcher Kontrast zum gestrigen Morgen, dass Leo unweigerlich zusammenzuckte. Sein Einverständnis wurde eingefordert und es war so seltsam, dass es ihm beinahe surreal vorkam. 
Leo wusste, was Vincent tat, sein Unterbewusstsein erkannte es. Verwehren konnte er sich den Auswirkungen dessen aber dennoch nicht. 
„Ich hätte gerne einen Kaffee“, sagte er und hörte, wie Vincent sich von seiner Couch erhob. 
„Kommt sofort. Milch und Zucker?“
„Weißt du das nicht?“
Schuldbewusst lächelte Vincent und nickte. „Schon.“
Vielsagend starrte Leo ihm in die Augen und ließ sich seinen Kaffee mit wenig Milch und wenig Zucker zubereiten. Schweigend nahm er ihn an und trank einen Schluck. Er war perfekt und Leo fühlte sich gesehen. Nachdenklich starrte er in die Tasse. 

„Es gehört zu unseren Aufgaben, viel, wenn nicht sogar alles über unsere Verknüpfungen zu wissen“, sagte Vincent und die ruhigen Informationen, die er ihm gab, waren Futter für Leos inneren Ermittler. „Dazu gehören auch deine Ess- und Trinkgewohnheiten.“
„Damit ihr mich dazu zwingen könnt, etwas zu essen, was mir Übelkeit bereitet.“
Es dauerte etwas, dann nickte Vincent und sah ihm in die Augen. „Es war eine Gehorsamsprobe, nachdem du beim vorherigen Besuch Adams Wohnzimmer durchsucht hast. Es diente dazu, herauszufinden, ob da noch mehr Widerstand in dir ist“, gab er die Leo die Informationen, die er so dringend brauchte, sie im Moment aber schlicht und ergreifend nicht verarbeiten konnte. 

Leo musterte Vincent lange und eindringlich, bewegungslos, die Tasse Kaffee vergessen in seiner Hand.
„Das ist widerlich“, fällte er schließlich sein Urteil.
„Es war notwendig, aber weder Adam noch ich haben es gerne getan.“

Notwendig? Das war die Rechtfertigung für das, was sie getan haben? Und dass sie es nicht gerne getan hatten? 
Leo kam die bittere Galle hoch bei den Worten und er schüttete die noch halb volle Tasse Kaffee kommentarlos in den Abfluss. Anscheinend würde heute wieder einer dieser Tage werden, an dem er nichts essen konnte, ausgelöst durch Informationen, die menschenverachtender nicht sein konnten. 

„Wenn ihr es nicht gerne getan habt, hättet ihr es euch sparen können. Ich habe doch sowieso keine andere Wahl als zu gehorchen“, sagte er mit bitterer Wut und sah, wie Vincent neben ihn kam. Er spürte dessen brennenden Blick auf sich. 
„Es wird nicht wieder passieren, das verspreche ich dir.“
Zynisch schürzte Leo die Lippen und starrte auf die weiße Pracht außerhalb des Fensters. Anscheinend war der Puderzuckerschnee liegen geblieben und hatte nun alles mit einer zentimeterdicken Schicht bedeckt. Malerisch sah es aus. 

Ein Versprechen also. 

Schweigend spülte Leo die Tasse aus und stellte sie kopfüber auf die Abtropffläche. 

„Was ist ein Versprechen aus deinem Mund wert?“, stellte er Vincent die direkte und ernste Frage. An den sich hilflos bewegenden Lippen sah er, welche Antwort er zu erwarten hatte. 

Keine ehrliche.


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Wird fortgesetzt.

Chapter 12: Das Wesen der Angst

Notes:

Einen wunderbaren guten Abend zusammen!

Hier nun der zwölfte Teil zur Anatomie. The plot thickens und der comfort geht weiter. ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Chapter Text

 

Adam fror sich den Arsch ab. Seinen verdammten, verfickten, elenden Arsch und das nur dank des Bullen, der plötzlich und unerwartet seine schon seit Monaten schlummernden Kampfkünste auspackte. 

Oh Adam konnte mithalten, ja, das konnte er. Nach Hölzers Zurückzucken vor ihm hatte er sich aber geschworen, den anderen Mann nie wieder in einer solch gewalttätigen Art anzugehen und ihn mit destruktivem Hass zu verletzen. Und was war die Quittung, die er dafür erhielt? Klatschnasse Klamotten und zitternde Muskeln trotz Fahrzeugheizung und Sitzheizung auf Anschlag. 

Mit bebenden Fingern wählte Adam die Nummer desjenigen, von dem er wusste, dass er nicht gegen ihn stand. Auch wenn er dafür zahlen musste, aber Bastian würde da sein für ihn, wenn er Zeit hatte. Er würde weder urteilen noch fragen, noch Geständnisse aus ihm herauslocken, die Adam im Nachhinein besser nicht gemacht hätte. 

„Adam“, grinste die Stimme des Mannes durch die Leitung und erleichtert atmete er aus. 
„Hast du Zeit?“, fragte er ohne Umschweife und sein Koch schnaubte amüsiert. 
„Direkt zur Sache. Für dich doch immer. Hast du Lust?“
Adam brummte zustimmend und setzte den Blinker links, fuhr ab zu Bastians Privatwohnung. Er hatte sie ihm gegeben, als er mitbekommen hatte, dass Bastian aus seiner alten Wohnung herausgeflogen war, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte. Gegen ein verhältnismäßig geringes Entgelt, das es ihm ermöglichte, nebenbei sein Fernstudium zum Ökotrophologen zu finanzieren. 

„Hart oder zart?“

Er hatte damit angefangen, Bastian das zu fragen und Bastian hatte es nahtlos übernommen, abzuklopfen, wie sie miteinander umgehen würden im Bett. 
„Hart“, presste Adam nach einer kurzen Überlegung hervor und Bastian brummte erneut. 
„Dann komm vorbei, ich bin bereit, wenn du da bist, mein Schöner.“

Adam legte auf und fuhr die letzten drei Kilometer mit laut aufgedrehter Musik zu Bastian. Er war wütend, auf den Tag, auf alle Menschen in seinem Umfeld, auf die Dreckssau, auf Hölzer, auf alles. Er war wütend auf Onkel Boris, dass er überhaupt den Mord begangen hatte, der ihn nun ins Gefängnis brachte. Ein Tag und sein Leben stellte sich mir nichts, dir nichts auf den Kopf und als das noch nicht genug war, machte er auch fleißig mit. Zerstörte beinahe das fragile System, das Vincent und er auf die Beine gestellt hatten, damit nicht noch mehr Polizisten sterben mussten für die Gier seines Alten. 

Was der wache und scharfe Verstand Hölzers damit machen würde, wenn er wieder ganz bei Sinnen war, konnte Adam nur erahnen und selbst das war schwer. Schließlich hatte er mitnichten vorhergesehen, dass der andere Mann ihnen seine scheiß Waffe an den Kopf halten würde. 

Unwirsch parkte Adam vor Bastians Wohnung im Halteverbot und stapfte durch den eiskalten Schnee zum Eingang. Der Summer wurde in dem Moment gedrückt, als Adams Finger über der Klingel schwebte er stieß mürrisch die Tür auf, stieg ungelenk mit quietschenden Schuhen die Treppen empor. 
Die Kälte setzte seinen Knien zu und als er oben ankam, war es Bastians viel zu sanftes Lächeln, das ihm mitteilte, wie wütend er sein musste. 

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er, als Adam die Tür hinter sich schloss und seine klatschnassen Schuhe loswurde. Direkt danach die Socken, dann seine Jacke, das Jackett, die Hose und sein Oberteil, gefolgt schlussendlich von der Unterwäsche. 

Bastian beobachtete ihn aufmerksam dabei und holte währenddessen eine Decke, in die er Adam einwickelte, kaum, dass er aufgehört hatte, sich in abgehackten Bewegungen die Klamotten vom Leib zu reißen. 
„Komm, wärm dich erstmal auf. Du bist schon ganz blau um die Lippen.“

Das Gute an Bastian war schon immer gewesen, dass er akzeptierte und antizipierte. Er fragte nicht nach dem Grund, darauf vertrauend, dass Adam schon mit ihm sprechen würde, wenn er es für richtig erachtete. Wenn er die Kraft dazu fand. 
Adam ließ sich zu Bastians Bett führen, dem bequemen, aber viel zu kleinen 140 cm Ding. Ohne viel Federlesens drückte der andere Mann ihn auf die weiche Matratze und zog sich nun selbst aus, vollkommen ohne Scham. Er kam zu Adam und kuschelte sich der Länge nach an ihn, warf eine zusätzliche Decke über sie. 

„Ich bin da“, sagte er wie so oft, wenn er spürte, dass Adam nicht im Reinen mit sich war. Dass er mit etwas kämpfte. Für einen Augenblick erlaubte Adam sich, die Augen zu schließen und die ihn umfassende Wärme zu genießen. Er sog Bastians vertrauten Geruch ein und schickte seine Hände dann auf selbstverständliche Wanderschaft. So wie ihn Bastians Geruch beruhigte, beruhigte ihn auch das Gefühl von Bastians Haut unter seinen Fingern. Das Gefühl des vertrauten Körpers, den er so oft genommen hatte. 

Der Mann neben ihm lächelte hörbar. „Das tut gut“, murmelte er und musterte Adam aufmerksam. 
„Willst du mich erst spüren oder soll ich schonmal nach unten?“
Ihm einen blasen. Adam schüttelte den Kopf. Das wollte er noch nicht. „Bleib. Ich will deinen Körper erkunden.“

Bastian blieb und Adam strich jeden Muskelstrang nach, den er finden konnte. Er ließ sich Zeit, um die Ungeduld in sich zu zähmen, die ihm sagte, dass er den anderen Mann mit dem Gesicht nach unten in die Matratze ficken sollte, roh und an der Grenze zum Erträglichen, so wie es Bastian manchmal wollte. Doch Adam beherrschte sich, als er in das gerötete Gesicht des anderen Mannes sah, in die hoffnungsvollen, braunen Augen. 

In das Vertrauen, das dieser in Adam hatte. 

Bastian wusste, dass Adam ihm nicht wehtun würde und so beherrschte Adam sich. Selbst, als er in ihn eindrang und alles in ihm schrie, den Mann, der unter ihm lag, einzunehmen und ihn wieder und wieder zum Höhepunkt zu treiben, beherrschte er sich und machte langsam. 
Er fand einen quälenden Rhythmus, der sie beide an den Rand des Wahnsinns brachte. Er fand einen Rhythmus, der es ihm erlaubte, in Bastians Gesicht zu sehen und sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Hölzer unter ihm liegen und darum betteln würde, dass er endlich schneller machte, dass er härter zustieß, dass er ihn richtig fickte. 

So wie Bastian gerade. 

Doch es war nicht Hölzer und so gab sich Adam letzten Endes vollumfänglich ihrer beider Lust hin und vergaß die Zeit um sich herum. Vergaß die Verpflichtungen, die er hatte und die Dinge, die er heute erlebt hatte. 

Adam vergaß sich selbst, sein Tun, seine Vergangenheit und es war gut so. Für lange Stunden bis in den Morgen hinein war es das.


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Das ungute Gefühl, das Pia beschlich, seit Möller von der Waffenrevision heute ihre Schließfächer und Waffen kontrolliert hatte, steigerte sich von Stufe zu Stufe, die sie zusammen mit Esther wieder nach oben in ihr Gemeinschaftsbüro ging. Leo hatte seine Waffe mit nach Hause genommen, bevor er sich heute Morgen krankgemeldet hatte? Das tat er für gewöhnlich nicht, hatte er eigentlich noch nie getan. Unwohl schob sie die Hände in die Taschen ihrer Jeans. 

„Warum sollte er sie mit nach Hause nehmen?“, fragte Esther und schloss die Tür hinter ihnen beiden. In ihren Augen stand, was Pia dachte. Seit Monaten schon hatte ein Wechsel in Leo stattgefunden, langsam zwar, aber stetig. Er hatte einiges von seinem stringenten und teilweise auch strengen Feuer vom Anfang eingebüßt. In den letzten Wochen war es besonders schlimm geworden und sie beide hatten nur miterleben können, wie er sich mehr und mehr in sich zurückgezogen hatte. Sie hatten ihn nicht aus seiner Isolation herausholen können und die letzten beiden Wochen war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen, fahrig und unfähig, genug klare Gedanken zu fassen um ihren Fall weiter zu bringen. 

Er hatte abgenommen und in seinen Augen stand etwas, das weder Esther noch Pia zu beziffern wagten, wies sie das doch auf etwas hin, was sie sich nicht eingestehen wollten. 

Wieder einer.

Leo, ausgerechnet er? Das war schwer vorstellbar und dennoch befand es sich bereits jetzt schon im Bereich des Möglichen. Wieder einer in einer Dienststelle, die immer wieder durch Unregelmäßigkeiten auffiel. So auch in ihrem Fall. Die Uhr von Schiller war verschwunden, was Esther und sie durch Zufall vor sieben Tagen festgestellt hatten. Bisher hatte keine von ihnen beiden Leo damit konfrontiert und Leo hatte jegliche Andeutungen in die Richtung vollkommen ignoriert. 

Pia dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, was bei Leos Besuch bei Schürk wirklich passiert war. Nach dem er sich krank gemeldet hatte – Magen-Darm-Probleme, wie so häufig in der Zeit danach. 

„Machst du dir Sorgen um ihn?“, fragte Esther in ihre Gedanken hinein und Pia nickte zähneknirschend. 
„Wir sollten mit Rainer sprechen, ob ihm etwas zu Ohren gekommen ist. Ob wir mit Barns‘ Verhaftung Staub aufgewirbelt haben, der bis hierhin reicht.“ Wenn. Falls. Die Mauer des Schweigens in dieser Dienststelle war gewaltig. Auch wenn man so gute Ohren hatte wie Rainer und so unauffällig war, so war es doch schwierig, etwas aus den Kolleginnen und Kollegen herauszubekommen. 

Verschwiegene Saarländer, alle miteinander. 

„Wir könnten ihm heute Nachmittag einen Genesungskorb vorbeibringen“, schlug Esther vor und Pia nickte nachdenklich. Um zu schauen, wie es ihm ging. Um ihn mit seiner Waffe zu konfrontieren.  

Mal sehen, was Rainer zum Flurfunk sagte. 


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Georg war nicht der liebevollste Mensch auf dem ganzen Planeten. Das wusste er auch, ebenso wie er wusste, dass es eine Schwäche war, die er auch Jahre nach dem Tod seines eigenen Vaters nicht ablegen konnte, der ihn in alter Manier zu einem schweigsamen Mann erzogen hatte, der seine Gefühle nicht offen zeigte. Babsi war da anders, beinahe überschwänglich in ihren Emotionsäußerungen, aber das störte Georg nicht. Im Gegenteil. Er gönnte es ihr, dass sie so sein konnte. 

Dass seine Art des Schweigens auch dazu geführt hatte, dass sein Jüngster in seiner Kindheit gehänselt und gemobbt worden war und ihnen nichts davon erzählt hatte, warf sich Georg auch heute noch vor und tat sein Bestes, Leo dabei zu unterstützen, glücklich zu werden. 
Seitdem er hier in Saarbrücken war, schien ihm das auch zu gelingen und er genoss die häufigere Anwesenheit seines Sohnes. 

Dass dieser ihm heute Morgen eine Nachricht geschrieben und darum gebeten hatte, früher kommen und bis nach Weihnachten bei ihnen zu bleiben zu können, hatte Georg dann doch überrascht und dementsprechend aufmerksam sah er sich seinem Sprössling nun gegenüber, der mit einer Tasche, bleichem Gesicht und deutlich sichtbarem Hämatom auf der Wange und Würgespuren am Hals vor ihm stand, die von seiner Mutter geerbten, grünen Augen mit dunklen Schatten unterlegt. 

Ein Einsatz, der schiefgelaufen war und der ihn in die vorübergehende Dienstunfähigkeit geschickt hatte, so war der zweite Satz in der Nachricht gewesen und es zog Georg das Herz zusammen, Leo nun so zu sehen. 
„Hallo Papa“, sagte er leise und seine Stimme brach mit der letzten Silbe. Unstet huschten die Augen weg von ihm. 
„Leo.“ Früher hatte Georg sich aktiv daran erinnern müssen, dass es in Ordnung war, den eigenen Sohn zu umarmen. Heute musste er das nicht, eben weil er auch geübt hatte. So ging es ihm mittlerweile leicht von der Hand und er schloss Leo in eine allumfassende, enge Umarmung. 
„Komm her“, murmelte er und strich seinem Jungen über den Hinterkopf. Seinem stumm weinenden Jungen, wie er nun erkannte und ließ ihn für eine lange Zeit nicht los. 

„Schon gut, Leo. Schon gut. Du bleibst erstmal bei uns und wir schauen dann weiter. Erstmal ist bald Weihnachten und deine Mutter und ich freuen uns, dass du da bist.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Herbert seinen massiven Kopf um die Ecke der Küche schob und die ganze Situation im Wohnzimmer mit Argwohn und Vorsicht betrachtete. Wenn es Leo wieder ein bisschen besser ging, würde er die Beiden einander vorstellen. 


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„Du hast Leos Waffe nicht zurückbringen lassen?“

Vincent gab sich größte Mühe, seinen Tonfall ruhig und beherrscht zu halten. Er gab sich Mühe, nicht zu klingen, als würde er gleich gehen wollen und nie wieder kommen – eine Variante, die ihm immer erstrebenswerter schien. Wollte Adam mit Gewalt herbeiführen, dass Leo aufflog? Dass dieser seine Waffe mit nach Hause nahm, kam selten bis gar nicht vor, wie sie wussten. Wie sicherlich auch Leos Team wusste, schloss er seine Waffe doch immer mit ihnen zusammen ein, wenn sie gemeinsam gingen.

„War zu spät halt. Ich war bis heute Morgen beschäftigt. Hab deine Nachricht nicht gesehen.“

So sehr, wie Adam nach Sex und Alkohol stank, wusste Vincent sehr wohl, womit. Mit wem. 

„Hast du wenigstens den Wagen stehen lassen?“, fragte er, sich auf das Wesentliche konzentrierend und Adam schüttelte grinsend den Kopf. 
„Nö. War aber okay.“
Nein, das war es nicht und Vincent runzelte entsprechend missbilligend die Stirn. „Warum findest du diese Situation amüsant, Adam?“, fragte er ruhig in den Hohn hinein und gab keinen Millimeter nach, als Adam versuchte, noch eine Schippe drauf zu legen. „Ich habe dir gestern etwas dazu gesagt und du ignorierst es heute schon. Ich habe nicht gespaßt. Und ich mache mir Sorgen um dich. Verstehst du das?“

Wie immer verschaffte seine Ruhe Adam genug Raum, seine eigentlich hinter der Wut und dem Spott liegenden Gefühle hervorzuholen. Wie immer brauchte er ein paar Sekunden dafür. Wie immer ging es nicht einfach, sondern mit Kampf und Ringen um die Vorherrschaft seiner langsam menschlichen Seite. 

Vincent gewann auch dieses Mal das Rennen gegen die Erziehung von Adams Vater und Adams menschenverachtendes Grinsen verflüchtigte sich im Angesicht seiner Ruhe.

„Ja, ich verstehe“, nuschelte er und sah zur Seite. Vincent nickte aufmerksam und bedächtig. 
„Dann geh dich bitte duschen. Ich regle das in der Zwischenzeit mit der Waffe und danach möchte ich mit dir über gestern Abend und die kommenden Wochen sprechen.“
Adam stand vor ihm, wie eine schwankende, angewurzelte Statue. „Ich brauchte halt den Abstand“, sagte er immer noch schmollend und Vincent hob die rechte Augenbraue. Er hatte sich heute einen Rock erlaubt – eben auch, weil er mit dem eigenen Wagen da war, den Adam ihm nicht unter seinem Hintern wegziehen konnte.
„Deswegen hast du einen verstörten, traumatisierten Polizisten und mich im kalten Dunkel stehen lassen.“
„Ist halt so.“
„Das war nicht schön, Adam. Das hättest du anders lösen sollen.“
„Ich setz mich mit dem ollen Bullen doch nicht in ein Auto, wenn….“
„…er dich berechtigt darauf hinweist, dass deine Wortwahl der Situation nicht angemessen war“, vollendete Vincent den Satz, bevor Adam auf die dumme Idee kam, Dinge zu sagen, die er im Nachhinein nicht so meinte. „Du musst ihm zur Zeit zugestehen, dass er sich gegen dich wehren kann. Er braucht das, Adam. Er braucht den Widerstand und wir müssen ihn ihm geben, damit er nicht an dem zerbricht, was du getan hast.“

Vincent war die schlaflose Nacht über zu einem vorsichtigen Schluss gekommen, wie es mit Leo Hölzer eventuell klappen könnte. Er hatte, basierend auf dem Charakter und dem Verhalten ihrer Verknüpfung ein Schema entworfen, das vielleicht zum Erfolg führen und Leo besänftigen würde. Vor allen Dingen letzteres war nun wichtig und Vincent war mehr als bereit, das auszuprobieren und es zumindest ein wichtiges Standbein ihrer künftigen Zusammenarbeit sein zu lassen. Der Tropfen auf dem heißen Stein, der vielleicht dazu führen würde, die Lage etwas zu entspannen. Leo Kontrolle zurück zu geben über das, was sie ihm in den letzten Monaten genommen hatten.  

Das interessierte Glitzern in Adams Augen zeigte ihm wie sehr das Adams Jagdinstinkt anfachte und Vincent schüttelte den Kopf.
„Lass ihm diesen Widerstand und die Macht, die er dadurch erhält, Adam. Schlag ihn nicht nieder.“
„Ich dachte auch eher ans Hervorrufen.“
„Nein, das machst du nicht unkontrolliert.“
Adam rollte mit den Augen. „Natürlich nur unter deiner Aufsicht“, lenkte er ein, wohlwissend um ihre Diskussion vom gestrigen Abend. Adam hatte Angst davor, alleine zu sein und diese Angst war mit jedem Monat, den sie zusammen verbrachten, größer geworden, auch wenn Adam sie gut zu verbergen wusste. So als würde Adam mit seiner Menschlichkeit auch die Verletzlichkeit, die das mit sich brachte, erkennen. 

„Genau das. Und nun geh duschen. Du stinkst.“ Vincent mochte den Gestank nicht und Adam wusste das. 
„Kommst du mich holen, wenn ich einschlafen sollte?“
„Wenn du einschläfst, stelle ich die Dusche auf kalt.“
„Arschloch.“
„Habe ich.“
„Bah.“
„Sagt der, der bis zum Anschlag in Bastian gesteckt hat.“
„Das weißt du gar nicht.“
„Du läufst, als wäre dein Schwanz wund. Also ja, doch.“

Adam hatte wenigstens den Anstand, ein bisschen beschämt auszusehen. Hinter dem ganzen, vielsagenden Grinsen.


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Leo starrte Herbert in die aufmerksamen, hellbraunen Augen. Herbert wiederum starrte zurück, mit hängendem Kopf, eingezogenem Schwanz und über alle Maßen wachsam. 

Herbert war eine Deutsche Dogge, hatte ihm sein Papa erklärt, als er durch ein leises Winseln aus der Umarmung hochgeschreckt war und den Hund gesehen hatte, der sich nicht aus der Küche heraustraute. Herbert kam aus einem verwahrlosten Haushalt, war durch den Tierschutz aufgegriffen worden und nun – seit zwei Wochen – Teil der Familie Hölzer. Er fürchtete sich vor allem, Menschen im Besonderen, und hatte bislang nur zu Leos Vater eine tiefere Verbindung aufgebaut. Die auch beinhaltete, dass Herbert die ganze Zeit bei ihm sein wollte und entsprechend verzweifelt war, als Leo seinen Platz eingenommen hatte. 

Ein Mensch, den er nicht kannte und vor dem er Angst hatte. 

Als der Hund sich einen Schritt aus der Küche gewagt hatte, hatte Leo sehen können, wie groß das Tier war – höher als die Couch. Er war ein Berg von einem Hund, ein Riese voller Angst und es erweichte Leos Herz schneller und nachdrücklicher, als er es gedacht hätte. 

„Er gewöhnt sich an dich. Gib ihm ein paar Stunden“, sagte sein Vater und reichte ihm eine Tasse Friesentee mit einem dicken Kluntje drin. Leo nahm sie dankbar an und beäugte Herbert, der sich wieder in die Küche zurückgezogen hatte. 
„Ihr habt gar nichts geschrieben.“ Im Familienchat auf WhatsApp. In den Leo aus Angst nicht oft hineingeschaut hatte in den letzten Wochen. 
„Wir wollten dich zu Weihnachten überraschen. Du magst doch Hunde so gerne.“
Das stimmte, auch wenn Leo nie Zeit für einen eigenen gehabt hatte. Es ließ sich einfach nicht mit seiner Arbeit als Polizist vereinbaren und den Mord mochte er lieber als eine Arbeit als Hundeführer.
„Er ist hübsch.“
„Und groß.“
„Sabbert er?“
„Frag nicht wie.“

Leo nickte und starrte auf seine Tasse, in der sich langsam der große Zuckerklumpen auflöste. 
„Wie geht es dir jetzt, Junge?“, fragte sein wortkarger Vater und Leo zuckte mit den Schultern. Als ihm aufging, dass es der Mann, der ihn so eben umarmt hatte, nicht verdiente, lächelte er. 
„Bisschen besser.“
„Das ist gut.“
Ja, das war es wohl. Die Umarmung hatte gut getan, das Weinen ebenso, auch wenn Leo nicht einen Ton hervorgebracht hatte. Er würde es seinen Eltern nicht sagen können, was passiert war, aber er fühlte sich jetzt schon wohler damit, bei ihnen zu sein. In ihrer Nähe, wissend, dass sie lebten. 

„Kann ich dich für einen Moment alleine lassen?“, fragte sein Vater und Leo bejahte das nonverbal. Alleine lassen bedeutete, dass sein Vater zurück ins Homeoffice ging und sich eine Etage höher an den dienstlichen Rechner setzte. Das war okay, denn Leo war damit nicht alleine. Jemand war bei ihm, wenn auch nicht direkt. 
„Geh ruhig, ich bleibe hier auf der Couch.“ Von der er aus in den Garten starren konnte, wie dieser unter einer grauen Wolkendecke von weißen, dicken Flocken eingeschneit wurde. Es war ein schönes Panorama und in den vergangenen Jahren hätte Leo sich sehr darüber gefreut. 
„Wenn was ist, sag Bescheid, dann bin ich da.“

Das war nicht immer so gewesen und es hatte erst seines zornigen Geständnisses gebraucht, dass sein Vater viel hatte, aber keine Ahnung von seinem Leben, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen beiden gebessert hatte. 
„Danke, Papa.“
Sein Vater strich ihm über die Schulter und ging mit einem versichernden Lächeln nach oben, ließ ihn alleine mit dem sich nicht aus der Küche heraustrauenden Hund und seinen Gedanken, die mit der Stille wieder umso präsenter waren. 

Auch wenn er sich davor scheute, kehrten seine Gedanken doch immer wieder zu den letzten Monaten zurück, zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem er Schürk kennengelernt hatte. Wenn er Vincents Worten Glauben schenkte, wäre er so oder so in die Fänge des Syndikats geraten und der Gedanke war ebenso bitter, wie er heilsam war, nahm ihm dieser doch die Verantwortung, dass er irgendetwas anders hätte machen können.

Außer nie wieder nach Saarbrücken zurück zu kehren.

Der Gedanke zu gehen, drängte sich ihm auf, doch zu welchem Zweck? Dass er eine neue Kollegin oder einen neuen Kollegen genau der gleichen Hölle aussetzte, in der er sich befand? Pia oder Esther womöglich? Niemals. Das konnte Leo nicht verantworten, also hatte er diese Option nicht. 

Die Angst, die Leo vor Schürk und auch vor Vincent, insbesondere jedoch vor den beiden zusammen, hatte, ähnelte seiner Angst vor Detlef aus Kindertagen. Die gleiche Hilflosigkeit, die gleiche Rücksichtslosigkeit, was das Leid anderer anging. Leo runzelte die Stirn. Nein, nicht die gleiche. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schien es, dass Schürk nicht hundertprozentig Detlef glich. Als er Schürk vorgeworfen hatte, was dieser ihm antat, hatte er Vorwürfe zurückbekommen. Dass er ihm Frühstück bringen würde. Dass er Rücksicht auf ihn nehmen würde. Auf Leos Hobbys. Dass er sich darum kümmern würde, dass Leo sich nicht selbst zerstörte. 

Das war nicht die stumpfe Gewalt, die Detlef auf ihn ausgeübt hatte, sondern es war schlimmer. Es war psychopathisch. Schürk glaubte im Recht zu sein, weil er was? Rücksicht gezeigt hatte? Vincent war darüber ebenso empört gewesen wie Leo, was aber auch daran liegen mochte, dass er zu dem Zeitpunkt – vor ein paar Stunden – seine Waffe auf sie beide gerichtet hatte. 
Dennoch. Wenn Leo sich richtig erinnerte, so hatte es Schürk ernst gemeint. 

Genauso, wie er anscheinend aus humanitären Aspekten erpresst wurde. 

Leo schnaubte und nahm einen Schluck Tee. Er vergrub sich unter der Decke, als könne diese ihn vor den Auswirkungen dieser Aussage schützen. Sein Leben war bedroht durch sein Tun, also hielt man ihn unter Kontrolle, indem man ihn erpresste und damit seine Ermittlungsergebnisse sabotierte. Das klang nach einem schlechten Roman. Nach einem schlechten, schnulzigen Roman, in dem der Böse am Ende doch der Gute war. 

Als wenn. Einer solch illusorischen Vorstellung gab sich Leo schon lange nicht mehr hin. 

Und dennoch stand diese Aussage im Raum, die streng genommen darauf hindeutete, dass Schürk trotz den Drohungen und Demütigungen, die er ihm aufgezwungen hatte, parallel noch etwas anderes beabsichtigt hatte. Und stimmte es nicht? Sie hatten Filme gesehen. Leo mochte es, sich Filme anzuschauen. Schürk hatte mit Caro und ihm gespielt. 

Dem stand vieles anderes gegenüber und der Gesamtkontext war für Leo nicht positiv, aber das machte die Aussage des blonden Mannes nicht weniger wahr. 

Was es für ihn selbst bedeutete, dass wusste Leo nicht und er nahm sich vor, Vincent danach zu fragen. Der für ihn nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln war, hin und hergerissen zwischen Dominanz und sanften Emotionen. Während Schürk ein Spieler war, war Vincent der Spielleiter, der die Nichteihaltung der Regeln bestrafte. Das hatte in den letzten Monaten unweigerlich dazu geführt, dass Leo eine tiefere Angst vor Vincent gehabt hatte als vor Adam und es für ihn schlimm gewesen war, wenn er sich mit beiden hatte treffen müssen.

Dass Schürk hinter Vincents Rücken sich dann mit ihm getroffen hatte, ohne seinem Handlanger etwas davon zu sagen… das war auch etwas, was Leo sich nicht erklären konnte. Warum sollte er das nicht tun? Was hatte er davon? Auch das würde er Vincent fragen. Ob er darauf eine Antwort bekommen würde? Er wusste es nicht. 

Das Klacken von tierischen Krallen auf dem Parkettboden des Wohnzimmers holte Leo aus seinen Überlegungen und er sah aus dem Augenwinkel heraus, wie Herbert zögerlich hinter der Couch herschlich um zu ihm zu kommen. Dass er dabei die Lehne bequem überragte, überraschte Leo nicht wirklich. Es dauerte nicht lang, dann hörte Leo, wie er beschnuppert wurde. Er spürte den Luftzug an seinen Haaren und an seinem Ohr. 
Schürk hatte das auch getan und Leo hatte es für eine Geste der Dominanz gehalten. 

Herbert war aber alles andere als dominant, sondern wollte nur wissen, wer hier saß, wer er war. Es war seine Art, ihn kennenzulernen und für einen wahnwitzigen Moment dachte Leo, dass Schürk es ebenfalls über Geruch so handhabte. 
Der Hund schnaufte ihm ins Ohr und Leo wagte es, seinen Kopf langsam zur Seite zu drehen und zu ihm aufzusehen. Die aufmerksamen, hellbraunen Augen musterten ihn und Leo lächelte. 
„Hey“, sagte er leise, um den Rüden nicht zu verschrecken und dessen Rute schlug einmal ganz sacht. Er war aber immer noch vorsichtig und scheu, so behielt Leo seine Hände bei sich und begnügte sich damit, Herbert zu zeigen, dass er keine Bedrohung war.
„Ich bin Leo“, stellte er sich vor, etwas, das er sich vor Jahren angeeignet hatte. Herberts rechtes Ohr hob sich probeweise und er schnüffelte erneut, dieses Mal an der Couch. Das war dann auch erst einmal genug und er ließ sich in der Nähe des brennenden Kamins auf dem Boden nieder, Leo fest im Blick. 

Sein Handy pingte und Leo schloss einen Moment die Augen. Was auch immer das für eine Nachricht war, sie würde nichts Gutes sein. Sein ganzes Leben war momentan durchsetzt von Unsicherheiten und Angst, von Dingen, die zu regeln waren und für die er keinen Fahrplan hatte. Er konnte sich dem nicht entziehen, das wusste Leo, aber für Sekunden so tun, als gäbe es diese Dinge nicht. 
Die Sekunden waren vorbei, als ein zweiter Ping ertönte und er sein Smartphone aufnahm. 

Pia war es, über ihren Gruppenchat, mit einer Nachricht, die Leo schlucken ließ. 

~Hey Leo, geht es dir gut? Wir sind gerade bei deiner Wohnung und wollten dir einen Genesungskorb vorbeibringen.~ 
~Bist du zuhause?~, schob sie zwei Sekunden später nach.

Was blieb ihm anderes übrig, als darauf zu antworten, fragte Leo sich und tippte.
~Nein, ich bin bei meinen Eltern im Haus.~
Er überlegte. Er durfte keinen Verdacht erregen und sie hatten schon öfter gegenseitige Krankheitsbesuche gemacht um sich Essen oder andere Dinge vorbeizubringen. Das war nichts Ungewöhnliches. 
~Kommt gerne vorbei~, schob er nach, wobei gerne eine Lüge war. Er wusste nicht, ob er seinen Kolleginnen in die Augen sehen konnte mit dem, was er gestern beinahe getan hätte. 
~Super! Wir sind in zwanzig Minuten da.~ Esther dieses Mal. 

Sie hatten von ihnen allen ihre Notfallkontakte, damit sie die Familien des Teams kontaktieren konnten, falls ihnen etwas passierte. So wussten die beiden auch, wo seine Eltern und seine Schwester wohnten und es war für Leo okay. Es beruhigte ihn, normalerweise. Dies hier war aber nicht normalerweise und er erinnerte sich, dass er seinen Hals abdecken musste, damit sie keine Fragen stellten. Oder nachforschten. 

Leo erhob sich langsam und scheuchte damit Herbert auf, der sich schier panisch aufrappelte und in die Küche floh. 
„Entschuldigung“, murmelte er und ging nach oben, hinein in sein altes Kinderzimmer, dort, wo er die Sporttasche mit seinen Sachen gelagert hatte. Er zog sich einen der eigentlich viel zu warmen Rollkragenpullover an.

Nach Weihnachten würden Schürks Spuren verschwunden sein, dann würde niemand mehr Verdacht schöpfen. So wie die letzten Monate hoffentlich auch nicht. 


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„Hallo Leo.“

Er wünschte sich wirklich, dass Esther ihn weniger kritisch ansehen würde, eingehüllt in ihren weinroten, dicken Wintermantel. Er wünschte sich, dass er sich unter ihrer Musterung nicht sofort schuldig fühlen würde. Bloßgestellt. Offengelegt. Doch Leo hatte es bereits geahnt und nun war es nahtlos eingetreten. 

„Hallo Esther“, grüßte er zurück und schickte ein angestrengtes Lächeln in Richtung Pia. Sie hatten tatsächlich einen kleinen Korb mit Süßigkeiten und Glühwein dabei. Ob dieser ein Vorwand war, ihn zu sehen, oder tatsächlich der Grund, vermochte Leo in diesem Moment nicht zu sagen. 

„Du siehst schlecht aus“, urteilte Esther wie immer gnadenlos und Leo schnaubte. 
„So fühle ich mich auch“, gab er zu und es war noch nicht einmal gelogen. Aber die Gründe waren vollkommen andere. Er schluckte schwer und sah zur Seite. Ich habe gestern versucht, zwei Menschen umzubringen. Ich werde seit Monaten erpresst und dazu gezwungen, illoyal zu sein. Ich habe unsere Ermittlung sabotiert.  

Worte, die direkt unter der Oberfläche schlummerten und die er sich verbot zu äußern, weil die Konsequenzen fürchterlich sein würden. 

„Es wird dir gut tun, dich auszuruhen“, sagte Pia und es klang versöhnlich. Sie trat einen Schritt nach vorne und reichte ihm den Korb mit Süßigkeiten, nutzte die Gelegenheit, um ihm dabei über den Oberarm zu streichen. Es tat gut, stellte Leo fest.
„Die Waffenrevision war heute da und deine Waffe war nicht in ihrem Fach“, sagte Esther aus heiterem Himmel und Leo starrte sie wie ein Reh im Scheinwerferlicht an. 

Seine Waffe lag bei Schürk im Tresor, weil Vincent sie ihm abgenommen hatte. Zurecht. Leo wurde schlecht bei dem Gedanken an sie und an das, was er getan hatte. Was beinahe passiert wäre. 
Hätte Schürk ihn nicht davon abgehalten, wäre er heute nicht mehr hier, dann hätte es nur einen Mord gegeben, nämlich den an sich selbst. Was genau das bedeutete, dass er dem blonden Mann sein Leben zu verdanken hatte, darüber wollte Leo noch nicht einmal im Ansatz nachdenken. 

„Leo?“

Abrupt tauchte er aus seinen Gedanken wieder auf und sah, dass er durch sein Schweigen noch mehr Verdacht erregt hatte. Dazu wurde er zu aufmerksam gemustert. 
„Ich habe gestern Abend vergessen, meine Waffe in den Tresor zu legen. Das ist mir zuhause aufgefallen und ich habe sie dort in meinen Waffentresor gelegt. Soll ich sie in die Dienststelle bringen? Dann würde ich das tun, sobald es mir besser geht.“ Leo hoffte, dass seine schnell zusammengeklaubte Lüge zumindest in Ansätzen glaubwürdig war und Esthers kritisches Stirnrunzeln glättete sich etwas. 
„Das wird den Hinweis, den Möller jetzt schon in seinen Vermerk geschrieben hat, auch nicht verhindern. Du wirst nach deiner Rückkehr vermutlich zur Stellungnahme aufgefordert.“

Leo nickte schweigend. Noch war also nicht alles verloren. „Werde ich machen.“
Esther brummte zustimmend und sah an ihm vorbei ins Haus, in das Leo sie nicht eingeladen hatte, weil er ein Zusammentreffen mit seinem Vater befürchtete. 
„Seit wann habt ihr einen Hund?“, fragte sie verwundert und Leo wandte sich um. Unweit von ihnen, im Durchgang zwischen Wohnzimmer und Flur, stand Herbert und starrte neugierig, aber unsicher zu ihnen hinüber. 
„Meine Eltern haben ihn seit zwei Wochen aus dem Tierschutz. Er heißt Herbert und ist eine deutsche Dogge. Er hat Angst vor allem und ist schüchtern.“
Pia sah ihn mit großen Augen an. „Darf ich?“, fragte sie und nickte in Richtung Herbert. Leo nickte. Er glaubte zwar, dass der Hund weglaufen würde, aber einen Versuch war es wert. 

Sie stellte sich in den Eingang und ging auf die Knie. Sacht streckte sie die Hand aus und lächelte.
„Hallo Herbert. Hey, Hübscher. Es ist okay. Alles ist gut. Ich will dir nicht wehtun…du musst keine Angst vor mir haben. Alles wird gut werden, Herbert. Niemand will dir hier wehtun. Du bist in Sicherheit.“

Herbert ließ sich mitnichten von Pias lockenden Worten beeindrucken, aber das war auch nicht so wichtig. 

Leos Polizeiinstinkt, so verkümmert er unter all der Angst auch war, flüsterte ihm zu, dass diese Worte nicht dem Rüden galten. 

Sondern ihm. 

 

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Wird fortgesetzt. 

 

Chapter 13: Der Väter Wille

Notes:

Einen wunderbaren Sonntagnachmittag euch allen,

endlich regnet's und es wird herbstlich. :3 Was freue ich mich auf die kommende Saison und irgendwann dann auch auf Weihnachten. Hier ist der Geschichte ist Weihnachten schon um Einiges näher und damit auch die großen und kleinen Unwägbarkeiten, die damit einhergehen.

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und danke euch allen für eure Kommentare, Kudos, Klicks... :3

Bleibt gesund und ein schönes Restwochenende euch!

Chapter Text

 

Die wuchtige Ohrfeige brannte, war aber gemessen an dem, was Adam sonst noch so erwarten konnte, eine geringe Strafe. 

Und verdient war sie alle Male, denn Adam hatte sich mit seinem dummen Handeln nicht um das Wesentliche gekümmert und stand nun vor dem Fallout dessen. Onkel Boris war im Gefängnis und damit war der beruhigende, ausgleichende, rationale Teil der Führungsspitze des Syndikates weg. In Lerchesflur in U-Haft. Weil er Hölzer nicht danach gefragt hatte. Weil er Hölzer nicht gut genug unter Kontrolle gehabt hatte, weil er seinem eigenen Trieb nachgegangen war. 

„Wozu bist du eigentlich zu gebrauchen?“

Zu vielem, würde Vincent sagen, der auf diese Art des psychischen Missbrauchs die richtigen Antworten hatte und Adam über die vergangenen Jahre Stück für Stück aufgebaut hatte. So war auch seine Schuld an Elias Tod Stück für Stück geschrumpft und Adam hatte schlussendlich gelernt, mit ihr zu leben. Wobei er das nicht Vincent sagte, der hatte nämlich eine andere Meinung zum Thema Schuld und Unschuld als Adam. 

„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte er mit demütig gesenktem Kopf, hängenden Schultern und dem Blick fest auf den Teppich. So wie es das Arschloch immer von ihm wollte. Keine Widerworte, nur Eingeständnisse. Das alle anderen fehlbar waren, nur er nicht. 
„Oh das wird es auch nicht, denn dein kleines Experiment mit dem Bullen endet jetzt. Wenn er nicht spurt, dann jage ich ihm eine Kugel durch den Kopf. Das ist der einzig wahre Weg. Deine Spinnereien mit den Erpressungen und Bestechungen ist nichts weiter als eine Luftnummer, dumm und naiv. So wie du. Und wie dein ekelhaftes Bückstück, das du auch noch dafür bezahlst, dein Berater zu sein. Eine Nutte wäre billiger und geschäftstüchtiger.“

Dass Worte schmerzhafter als Schläge sein konnten, erlebte Adam tagtäglich und bisher war er gut damit klar gekommen. Er steckte jedes Mal di Kritik für sich und für Vincent ein, gab sie nicht weiter. Er wollte nicht, dass Vincent die ekelhaften Worte seines Vaters zu Ohren kamen. Doch jetzt…im Angesicht eines neuen Mordes und in Erinnerung an das, was Hölzer sich beinahe angetan hätte, spürte er sie wie einen Faustschlag in den Magen. 
„Das System jetzt zu zerbrechen, wäre schädlich für das Imperium, Vater“, presste er hervor, als wären die Worte Scherben in seinem Mund. „Es würde dir unnötige Arbeit schaffen und ein unkalkulierbares Risiko sein. Hölzer hingegen wird spuren, das habe ich schon sichergestellt, ich habe ihm am Morgen von Onkel Boris Verhaftung gezeigt, was ich von ihm erwarte. Der Haftbefehl war unumgänglich, da in Anwesenheit von allen anderen das Überwachungsvideo gezeigt worden ist. Er konnte keinen Einfluss nehmen. Ihn umzubringen, beraubt mich und damit dich einer Informationsquelle und es lenkt unnötigen Fokus auf uns.“

Noch während Adam seine schändlichen und schlimmen Worte aussprach, stellte er fest, dass er Angst hatte. Das beißende, brennende Etwas, das ihm die Kehle zuschnürte, war Angst. Um Hölzers Leben, das er hier verteidigte und zu retten versuchte. Er wollte nicht, dass Hölzer starb. Hölzer war ihm nicht egal und der Gedanke, dass er mit einer Kugel im Kopf auf dem Boden lag und ihn nie wieder so wütend ansehen würde, war unerträglich. 

Für unendlich lange Zeit herrschte Stille, dann schnaubte sein Vater verächtlich. „Eine Chance hat er noch. Wenn er nochmal über die Stränge schlägt, dann schlag ich ihn tot und du guckst zu, klar soweit?“
Adam nickte mit fest zugeschnürter Kehle. Er musste mit Vincent sprechen. Sie durften Hölzer nicht von der Leine lassen. Nicht, wenn die Alternative der Tod war. 
„Und jetzt hol mir Rahel, sie soll deinen Job machen und zusehen, dass Boris freikommt.“

Adam nickte erneut und floh beinahe aus dem Raum heraus. Fahrig und unruhig suchte er die hauseigene Anwältin seines Vaters auf und teilte ihr mit, dass sie einen Termin hatte. Kaum hatte er das Anwesen verlassen, griff er mit zitternden Fingern zu seinem Handy und rief Vincent an. 


~~**~~


Leo hatte den Abend in der festen Umarmung seiner Mutter verbracht, die ihn keinen Widerstand zulassend in eben jene gezogen und ihm über den Kopf gestrichen hatte. So sanft wie vor Jahren das letzte Mal. Sie hatte ihm kleine Dinge aus ihrem Beruf erzählt, lustige und schöne Geschichten, während er mit abwesendem Blick in das Feuer ihres Kamins gestarrt und über Pias Worte nachgedacht hatte. Es hatte ihn beruhigt, ebenso wie der Nachmittag ihm erste Ruhe geschenkt hatte und als es Zeit war, schlafen zu gehen, war Leo auch wirklich müde gewesen. 

Er hatte die folgende Nacht nicht viel geschlafen, aber die Stunden, die ihm vergönnt gewesen waren, hatten ausgereicht, um ihm die Stärke zu geben, am nächsten Morgen aufzustehen und einen weiteren Versuch zu starten, Herbert für sich zu gewinnen, der – weil sein Vater in die Dienststelle musste – für vier Stunden mit Leo alleine war. 

Zwei davon beäugte er ihn aus sicherer Entfernung, in der dritten klackten erneut seine Krallen auf dem Parkett und Leo hob erstaunt die Augenbraue, als plötzlich der riesige Kopf neben ihm auf der Rückenlehne der Couch lag und eine feuchte, schlabbrige Zunge probeweise sein Ohr ableckte. Auch wenn es ihn schauderte, hielt Leo zunächst still und hauchte dann der feuchten Hundeschnauze einen kleinen Kuss auf die Nase. 
„Hey.“
Die Zunge kam erneut. Das war schon…gar nicht mal so angenehm. 
„Kommst du zu mir?“, fragte er Herbert und drehte sich sacht um, sodass er ihm hoch in die Augen sehen konnte. „Na komm.“
Herbert war innerlich zerrissen zwischen Couch, auf der er laut Aussage seines Vaters wirklich gerne saß, und weiterhin in Sicherheit sein, doch am Ende obsiegten die bequemen Polster. Zunächst am anderen Ende der Couch, auch wenn der Riese von einem Hund mehr als die Hälfte davon einnahm. Als Leo seine Hand zu ihm ausstreckte, robbte er schließlich näher und nach dreieinhalb Stunden vorsichtiger Annäherung durfte Leo ihn sogar streicheln. 

„Ich habe auch Angst, weißt du?“, erzählte Leo. „Angst, dass mich mein Geheimnis ins Gefängnis bringt. Ich habe jemanden retten wollen, doch dieser jemand ist gestorben und der Mann, dem ich wehgetan habe, liegt heute noch im Koma. Ich habe den Fehler gemacht und meine Tagebücher aufbewahrt, weil ich die Erinnerung an Matthias nicht verlieren möchte. Das ist dumm, oder? Dumm und sentimental.“ Leo schnaubte und Herbert tat es ihm gleich. 
„Und jetzt ist da dieses Arschloch“, schloss er. „Dieses blöde Arschloch, das mich erpresst.“

Eines von Herberts Ohren hob sich kurz und er legte den Kopf schief. Langsam wuchtete er seinen massigen Körper auf die Seite und hob probeweise seine Pfote. Leo verstand seinen Auftrag und legte seine Hand probeweise an den Brustkorb. Anscheinend war das okay und als er kraulte, war das noch viel besser, zumindest wenn er Herberts Augen glaubte. 

Es lenkte ihn ab, von Pias Warnung, die Leo nicht losließ. Es lenkte ihn ab von dem nachmittäglichen Termin mit Vincent. Es lenkte ihn ab von seinen Gedanken über Schürk, die mit Wut getränkt waren, nicht jedoch mit Angst. Momentan zumindest nicht und Leo verbuchte das als Fortschritt. 


~~**~~


„Oh.“ 

Der Laut war eher ungewollt, als er auf das Riesentier hinter Leo hinunterstarrte, das mit Sicherheit größer als er war, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte. Also der Hund, nicht Vincent. Vincent selbst schluckte seine Überraschung hinunter und stellte fest, dass er darauf nicht vorbereitet war. Sicherlich, er konnte auf Dinge eingehen, die unvorbereitet kamen, aber dennoch.  

Von dem Tier wusste er nichts und die eingeklemmte Rute und die hängenden Ohren schienen auch nicht ganz dafür zu sprechen, dass der Hund sich in seiner Gegenwart wohlfühlte. 
„Ich sollte ihn mitnehmen“, sagte Leo wie zur Rechtfertigung und Vincent wusste nicht, wer ihm mehr leid tun sollte. Leo sah besser aus als gestern, als er ihn bei seinen Eltern abgeliefert, doch die Schatten waren noch zu präsent unter seinen Augen, als dass er nicht noch ein paar Tage brauchen würde um zu genesen. Oder Wochen. Oder Monate. 

Leos Aufmerksamkeit verirrte sich von ihm zu dem Hund und er begab sich vor dem Tier auf die Knie. Ganz vorsichtig streichelte er den Kopf und dieses Monstrum von einem Hund drängte sich an Leo, auch wenn dieser im Knien kleiner war. 

„Beißt er?“, fragte Vincent und Leo schüttelte den Kopf. 
„Er hat Angst.“
Das war offensichtlich, auch wenn er so aussah, als hätte er nicht viele Fressfeinde. Eigentlich keinen einzigen. 
„Soll ich ihm meine Hand entgegenstrecken?“, fragte Vincent und ihm fiel auf, dass es das erste normale Gespräch war, was er mit Leo führte und das sich nicht um das drehte, was er in den letzten Wochen und Monaten erlebt hatte. 
„Versuch’s.“

Vincent ging etwas hinter Leo in die Hocke und streckte dem in Leo hineinkriechenden Tier seine Hand hin. Misstrauisch wurde sie beäugt und erst nach ein paar Augenblicken schnupperte der Hund an der Luft unweit seiner Finger. 
„Vielleicht sollten wir einfach laufen“, schlug Vincent vor und Leo nickte. Vincent ließ ihm den Vortritt und erhob sich erst, als der Hund Leo als Puffer zwischen sich und Vincent hatte. Anscheinend war das in Ordnung und gemeinsam gingen sie in den dunkler werdenden Wald hinein. 

Vincent beobachtete den Rüden, der neben Leo hertrottete und stellte fest, dass es in Ordnung war, was sie gerade taten. Dann musterte er Leo, dessen Blick eisern nach vorne gerichtet war, die Schultern angespannt. 
„Wie hast du geschlafen?“, fragte Vincent und der Mann neben ihm zuckte mit den Schultern. 
„Ein paar Stunden. Aber sie waren okay.“
„Wie geht es dir?“ 
Das war eine Frage, die Leo weniger beantworten wollte, so eisern, wie er die Lippen aufeinanderpresste. „Meine Waffe ist nicht im Präsidium“, grollte er schließlich hervor und Vincent nickte. Nicht gut also. Unruhig, unsicher, wie es weitergehen würde. Auf das Wesentliche konzentriert und die Augen nicht vor dem verschließend, was ihnen gefährlich werden konnte. 

„Die Waffenrevision war heute dort“, gab Vincent daher die Informationen preis, über die er auch schon verfügte und Leo knirschte mit den Zähnen. Bei Adam hätte Vincent die angespannten Muskeln glatt gestrichen. Leo würde das mitnichten tolerieren. „Wir haben zu spät reagiert.“
Leo warf ihm einen kurzen Blick zu und Vincent erkannte die berechtigte Anklage darin. „Ich habe gesagt, dass meine Waffe zuhause in meinem Tresor ist.“ 
„Wem hast du das gesagt?“
„Den Kolleginnen.“
„Frau Baumann und Frau Heinrich?“
„Ja.“

Vincent legte die nächsten paar Schritte schweigend mit Leo zurück und lächelte dann versichernd. „Dann wird sie auch in deinen Tresor kommen. Wir möchten nicht, dass du unnötige Schwierigkeiten bekommst, Leo.“
Vincent erkannte seinen Fehler, noch bevor Leo ihn wütend musterte. „Ach nein?“, fragte der andere Mann und Vincent seufzte. 
„In Ordnung. Ich möchte das nicht. Ich möchte mein Versprechen dir gegenüber erfüllen.“

Es fing wieder an zu schneien und der Hund neben Leo schnappte nach einem ersten, irritierten Blick in den Himmel mit hängenden Lefzen nach den Flocken. Er schien seine Angst vor ihm selbst ganz vergessen zu haben und kannte nur noch den Himmel und den Schnee. Vincent neidete ihm seine Unbeschwertheit. Leo auch, so wie es aussah. 

„Er ist noch jung, oder?“
„Keine Ahnung“, zuckte Leo mit den Schultern. „Er ist aus dem Tierschutz“, schob er nach, als Vincent abwartete und genug Geduld aufbracht, um auf eine Antwort zu warten. 
„Wie ist denn sein Name?“
„Herbert.“
Bevor Vincent sich beherrschen konnte, lachte er vergnügt. „Herbert?“, echote er und sah auf den riesigen Hund hinab, der nicht müde wurde, die weißen Flocken einzufangen. „Ein passender Name.“

Seine Fixierung auf den Hund fand keinen Gefallen, das erkannte Vincent an Leo Hölzers angespannter, unsicherer Aufmerksamkeit. Und war es nicht auch klar, dass der Hund in Leos Augen nur eine weitere Möglichkeit sein würde, ihm eine Leine anzulegen? 
Vincent seufzte. „Er ist sicher, Leo. Wie auch deine Familie. Adam und ich haben es dir versprochen und es wird auch weiterhin so sein.“
„Du hast mir auch am Anfang einen Fahrplan genannt, den er von Tag eins an nicht eingehalten hat“, erwiderte Leo und seine Stimme klang gepresst. Er hatte Recht. Noch während Leo, verzweifelt und durch Adam gedemütigt, vor ihm kniete, hatte Vincent ihm seinen Plan mitgeteilt und hatte schon da den Grundstein für unnötige Verzweiflung gelegt, für eine fehlende Verbindlichkeit, die niemals Teil ihres Plans gewesen war. 

„Wieso sollte ich euch glauben? Dir und ihm?“

Das war eine gute Frage und eine, über die Vincent wirklich lange nachdenken musste. 

„Du hast keinen Grund, uns zu glauben. An deiner Stelle wäre ich auch misstrauisch und würde mitnichten glauben, was mir diejenigen sagen, die mich erpressen und ihr Wort nicht gehalten haben.“
Überrascht hob Leo die Augenbrauen. „Und das soll mich jetzt beruhigen?“, fragte er ernst und Vincent schüttelte den Kopf. 
„Keine Lügen, Leo. Ich möchte vollkommen ehrlich zu dir sein.“

Leo zog es vor, darauf nicht zu antworten, sondern ging weitere, schweigende Schritte den Waldweg entlang, seine Hand versichernd auf Herberts Rücken, der sich für einen kurzen Moment eng an ihn schmiegte. Das Tier tat Leo gut, so vermutete es Vincent. Er gab ihm einen Begleiter, jemand, der nichts Böses im Schild führte. 
Hunde waren ehrlich in ihrem Verhalten und das brauchte Leo. Ehrlichkeit. Verlässliches Verhalten. Das grundsätzliche Vertrauen in seine Mitmenschen. Eigenkompetenzen.

„Warum hat er Rücksicht auf meine Hobbys genommen, als er mich zu sich geholt hat?“, fragte Leo schließlich und Vincent biss sich auf die Lippen. Die Frage hatte er sich auch schon gestellt und die Antwort darauf war schlimm für ihr System. „War es, um mir die Ausweglosigkeit meiner Situation zu zeigen und die Gewalt, die er über mich hat? So wie bei meinem Netflixaccount?“

Das Einloggen in den Account war tatsächlich eine Machtdemonstration gewesen. Ein Zeichen, dass sie über alles die Kontrolle hatten. Der Rest war es nicht. 
„Er wollte dich kennenlernen. Durch das, was du magst. Durch deine Hobbys.“
Seine Antwort stellte Leo nicht zufrieden, das sah Vincent und entsprechend sacht seufzte er. 
„Du interessierst ihn schon seit dem ersten Tag, an dem er dich vor sich gesehen hat. Er findet dich attraktiv, aber er will auch andere Seiten an dir kennenlernen.“
„Und was ich will, interessiert ihn nicht.“

Vincent würde seine Worte nun nicht Lügen strafen, indem er Leo nun eine Antwort verweigerte oder sie beschönigte. „Er hat es nicht gelernt, Rücksicht nehmen. Deswegen hat er mit dir zwar Dinge gemacht, die deinen Interessen entsprechen, aber nicht dabei bedacht, dass es das Letzte ist, was du machen möchtest. Es ihm direkt sagen, hat mehr Erfolg.“
Leo lachte zynisch auf und schüttelte den Kopf. „Oh ja. Das lief super für mich. Als ich ihm gesagt habe, dass ich keinen Wein mit ihm trinken möchte, hat er mich knien lassen“, erwiderte er bitter. Vincent konnte es ihm nicht verdenken und er erinnerte sich noch gut an sein Gespräch mit Adam im Anschluss. 
„Es war eine andere Zeit“, sagte er entsprechend schwach und Leo nutzte diese Steilvorlage. 
„Aber es wäre immer und immer so weitergegangen, wenn nicht…“ Leo beendete den Satz nicht, ließ seine Worte verhallen.

„Wenn du nicht versucht hättest, uns alle drei umzubringen“, griff Vincent eben jene sanft, aber schonungslos auf. Es war wichtig, dass sie offen sprachen, damit sich keine Geschwüre festsetzen konnten. Dass Leo zusammenzuckte und der neben ihm laufende Hund feinfühlig genug war, das zu spüren, stand auf einem anderen Blatt. Unsicher musterte Herbert sie beide und Vincent legte seine Hand auf Leos Unterarm. 
„Es ist wichtig, dass wir nichts von dem, was passiert ist, beschönigen, Leo. Weder das, was Adam getan hat noch das, was ich getan habe noch das, was du getan hast. Wir müssen offen darüber sprechen, ohne Stigma. Nur so können deine Wunden heilen.“ 

Und seine eigenen, die er von dem Abend davongetragen hatte. Aber das machte Vincent mit sich oder mit Adam aus. 

„Und deine? Oder bist es gewohnt, mit einer geladenen und entsicherten Waffe bedroht zu werden?“, machte Leo in Sekundenbruchteilen das zunichte, was Vincent sich so eben zurechtgelegt hatte. Dass er den scharfen Verstand dieses Mannes niemals unterdrücken hätte können, wurde Vincent in diesem Augenblick schmerzlich bewusst. Er hätte ihn nur zum äußerlichen Schweigen verdonnern können, unterschätzend, wie viel unter der Oberfläche brodelte und in welche Richtungen Leo dachte. 
„Natürlich hat mich das mitgenommen.“
„Du hattest Angst.“
„Selbstverständlich.“
„Du bist immer noch vorsichtig.“
„Weil ich mir auch Sorgen um dich mache.“

Leo ließ den Gesprächsfaden zwischen ihnen in der eiskalten, feuchten Nebelluft schweben und widmete sich Herberts Anblick, der anscheinend etwas Spannendes im Unterholz gefunden hatte und dessen schief gelegter Kopf und abstehende Ohren eine willkommene Erleichterung in ihrem schweren Gespräch waren. 

„Das ist paradox.“
„Leo, Adam und ich ziehen keine persönliche Befriedigung daraus, Menschen zu erpressen“, erwiderte Vincent ernst und Leo blieb nun endgültig stehen. Er runzelte die Stirn und sah streng in die grünen, überraschten Augen. 
„Ach nein?“, fragte der andere Mann mit einem Hauch an Spott nach und Vincent gab nach zwei Sekunden des Überlegens nach. 
„Normalerweise.“
„Aber das hier ist nicht normalerweise“, stellte Leo die These mehr als Frage in den Raum und geschlagen senkte Vincent den Kopf. 
„Richtig. Adam hat mehr Interesse an dir als an den anderen. Das bedeutet aber nicht, dass er in deinem Fall eine besondere Lust dazu verspürt, dich zu erpressen.“
„Nein, aber er verspürt eine besondere Lust, andere Dinge mit mir zu machen.“
Vincent atmete laut aus. Ja, das war wohl wahr und treffend zusammengefasst für das, was Adam eigentlich von Leo wollte. 
Er schwieg und das Futter für Leos Geist beschäftigte den anderen Mann. Vincent konnte zusehen, wie es hinter seiner arbeitete. Welche Möglichkeiten Leo durchspielte. 

„Wenn ihr das nicht wollt, warum tut ihr es dann?“, fragte er schließlich.

Natürlich, da war er wieder, der Ermittler, der Gründe brauchte, Motive, Einordnungen. Sie waren ein Fall und Leo wollte ihn lösen, mit aller Macht. 
„Weil die Alternative schlimmer wäre und bedeuten würde, dass Menschen sterben. Und das wollen wir nicht.“
„Und diesen Altruismus soll ich dir glauben? Vor allem in Bezug auf Schürk?“
Vincent zuckte mit den Schultern. „Wenn du so willst, habe ich ihn auf die Idee gebracht, dass Probleme so lösbar sein könnten.“
„Du hättest zur Polizei gehen können.“
Nun war es an Vincent amüsiert zu schnauben. „Und umgebracht zu werden? Danke. Aber danke nein.“

Wieder verfiel Leo in Schweigen und nahm den Stock, den Herbert ihm als Geschenk brachte, mit einem sanften Ohrenkraulen entgegen. 
„Dankeschön“, murmelte er mit mehr Freundlichkeit, als Vincent jemals aus seinem Mund hatte kommen hören und warf ihn ein Stück weiter. Der Hund an der Schleppleine rannte hinterher, die langen Beine und großen Ohren durch die Luft wirbelnd. 

„Das heißt also, wenn diese Person, die dafür verantwortlich ist, verhaftet wird, dann endet es? Euer ganzes System? Dann lasst ihr mich endlich in Ruhe?“
Der lauernde Unterton in Leos Fragen alarmierte Vincent über alle Maßen. Niemals durfte der Ermittler auch nur einen Schritt in diese Richtung unternehmen. Niemals. Nicht, nachdem er durch die Verhaftung von Boris Barns bereits gefährlich nah auf den Schirm von Roland Schürk geraten war. Dann war nicht nur Leo dem Untergang geweiht, sondern Adam und er mit. 
Nahtlos verfiel Vincent wieder in seine Rolle des Handlungsgebers, des Puppenspielers, wie Adam ihn manchmal bezeichnete. Energisch stellte er sich Leo in den Weg und unterschritt bewusst in aller ruhigen Dominanz den Sicherheitsabstand zwischen ihnen beiden. 

„Du wirst nichts dergleichen tun, Leo, hast du mich verstanden? Wenn bekannt wird, dass du auch nur versuchst, in diese Richtung zu ermitteln, dann wird das unkontrollierbare Konsequenzen für uns alle haben. Für dich, für uns und möglicherweise auch für deine Familie. Leo, es gibt Dinge, die kannst du nicht beeinflussen. Es gibt Dinge, die musst du akzeptieren“, sagte er ernst und bohrte seine Augen in die des Ermittlers. 

Wütend knirschte Leo mit den Zähnen und trat einen Schritt zurück, aus seiner Reichweite heraus. „Ich bin ein verdammter Polizist, das kann ich nicht akzeptieren! Wenn ich bei allem, was gefährlich werden würde, einen Rückzieher gemacht hätte, dann hätte ich keinen einzigen Fall aufgeklärt. Und in Berlin…“ Leo hielt inne, sich anscheinend besinnend, was er gesagt hatte. Er schnaubte. „Aber was rede ich da? Als wenn einer wie du verstehen würde, was es bedeutet, Polizist zu sein!“ Spott und Hohn waren das Schutzschild gegen Hilflosigkeit und entluden sich auf Vincent. Er presste die Lippen eisern aufeinander, im vergeblichen Versuch, die Worte zu unterdrücken, die Leos These widersprechen würden.

„Einer wie ich, Leo? Einer wie ich war wie du Polizist. Ich weiß sehr wohl, was es heißt, auf deiner Seite des Gesetzes zu stehen“, erwiderte er und erkannte, dass es gar nicht so schwer war, nahtlos Adams gutem Beispiel zu folgen und Informationen über sich preiszugegeben hatte, die Leo eigentlich nicht erfahren sollte, die er aber durch sein Verhalten ohne Probleme hervorrief. 

Zumindest brachte das alles in Leo zu einem Stillstand und stumm wurde Vincent angestarrt. Er hätte auch gut und gerne das Ende der Welt verkünden können, so wie sich Leos Lippen bewegten und keine Antwort darauf fanden, was Vincent ihm gerade an Informationen gegeben hatte. 
„Du warst…einer von uns?“, fragte der andere Mann schließlich rau, als hätte er sich verhört und Vincent nickte knapp. 
„Einer von uns“, echote Leo, als würde er die Tatsache für sich Gedanken noch einmal sortieren müssen. Er starrte in den verschneiten Wald und auf Herbert, der anscheinend halbgefrorene Pfützen gefunden hatte und sie nun mit seinen riesigen Pfoten und freudigem Bellen zum Bersten brachte. 

„Hat er dich auch erpresst und gezwungen für ihn zu arbeiten?“, fragte der Ermittler neben ihm schließlich ruhiger und Vincent verneinte. Seine Hände waren mit einem Mal zu kalt um sie weiterhin der Winterluft auszusetzen und entschlossen steckte Vincent sie in die Taschen seines Mantels.
„Wir haben uns anderweitig kennengelernt. Er hat mich nie erpresst und ich bin freiwillig zu ihm gekommen.“
„Und für das Syndikat hast du deinen Diensteid verraten?“ Leo, der Ehrliche, konnte die Verachtung nicht aus seinen Worten heraushalten und Vincent fiel es schwer, sie ihm zu verübeln. 
„Nein, das habe ich nicht. Ich habe bereits vorher den Dienst quittiert.“
„Um dann zur Gegenseite zu wechseln und zu beschließen, dass das Erpressen, Bedrohen und Bestechen von Kolleginnen und Kollegen dein neuer Lebensinhalt wird.“ 

Leos Worte schmerzten. Natürlich taten sie das, denn sie hielten Vincent einen Spiegel vor, in den er schon lange nicht mehr geblickt hatte. Dass dieser Spiegel ihm jemand anderen zeigte, der blass und mit eingefallenen Wangen dort stand und nicht mehr weiter wusste, das würde Leo nicht erfahren und diese unvollständige Annahme führte dann natürlich zu solchen Worten. Vielleicht würde es auch die vollständige tun, denn Leo war wütend und entsetzt, das erkannte Vincent. Der Ermittlergeist neben ihm begriff gerade die scheinbare Ungeheuerlichkeit des Ganzen. 

„Was auch immer mein Grund war, es ist wichtig, dass du begreifst, keine Schritte gegen das Syndikat einzuleiten. Dein Leben steht auf dem Spiel und wenn du so willst, ist es überlebensnotwendig, dass du dich fügst.“

Vincent wusste, dass seine Worte zu früh waren. Er hätte Leo lieber gerne mehr Zeit gegeben um zu innerer Stärke und Ruhe zurück zu finden und das zu verarbeiten, was Adam ihm in den letzten Monaten, insbesondere aber auch in den letzten Wochen angetan hatte. Er musste aber abwägen zwischen der sofortigen Dämpfung von Leos Versuch, das Syndikat zu Fall zu bringen und der Wirkung seiner jetzigen Worte.  
Leo würde niemals Erfolg damit haben, Roland Schürks Strukturen zu durchbrechen. Das hatte niemand und so konnten sie nur abwarten, bis der Mann, der Adam über Jahre hinweg gequält hatte, starb. Erst dann würden sie die Strukturen ändern. 

Vincent mochte Adams Plan immer noch, Deutschland für immer zu verlassen. Das Vermögen auf Offshore-Konten zu transferieren, alle Verknüpfungen hier zu lösen und zu gehen. Sie würden in einem anderen Land mit neuen Identitäten anfangen und allen die Freiheit zurückgeben, die sie erpresst hatten. So auch Leo. 

„Ich will mich aber nicht fügen. Ich will das nicht.

Vincent kehrte aus seinen Gedanken zurück in das kalte, verschneite Hier und Jetzt. Er kehrte zurück zu dem Mut und der Unvernunft eines sturen Mannes, dessen Feuer so viel Idealismus barg, dass es Vincent beinahe den Glauben an die Polizei zurückgab. 

„Für den Moment, Leo, ist das aber eine unumstößliche Tatsache, die du nicht ändern kannst. Du wirst das tun, was wir dir sagen. Ich werde dich aber darin unterstützen, dass du es akzeptieren kannst.“
Leo schnaubte verächtlich. „Natürlich, Herr Kollege. Was bist du, mein Psychologe?“
Das Lächeln, was auf Vincents Lippen lag, war zwangsweise ruhig. Er ließ Leo nicht sehen, wie sehr ihn die spöttische Anrede verletzt hatte. „Nein, aber außer Adam die einzige Person, mit der du offen und ohne Zurückhaltung über das sprechen kannst, das sonst niemand in deinem Umfeld erfahren wird.“

Dass Leo in diesem Moment das Gegenteil tat und eisern schwieg, all seine Wut und seinen Frust über Vincents Worte in sich einschließend, war Vincent klar. Aber sie würden noch sehr oft miteinander sprechen und Leos Bereitschaft, seinen Zorn und seine Fragen mit Vincent zu teilen, waren jetzt schon da. 


~~**~~  


„Schauste, Georg, der hier ist im Gesamten sehr dicht und auch in der Höhe gut gewachsen.“

Kritisch musterten sein Papa und er den Baum und versuchten herauszufinden, ob er gut in das weihnachtliche Haus passen würde. Es war Tradition, schon seit Caros Geburt, dass die Kinder mitkamen zum Baum aussuchen. Leo konnte sich auch an nichts Anderes erinnern und wusste, dass er schon als kleines Baby mit dabei gewesen war, auf dem alten Hof von Olaf, eines befreundeten Bauern. Es gab kitschige Weihnachtsmusik aus überforderten Lautsprechern, den guten, billigen Glühwein, der schon seit Stunden erwärmt wurde und Spekulatius. Nichts davon hatte sich seit Jahren geändert und irgendwie bedauerte Leo die Zeit, die er in Berlin verbracht hatte. Er hatte damit ein paar Jahre dieser geliebten Tradition verpasst und war nun umso glücklicher, dass er wieder mit seinem Vater zu Olaf fahren konnte. 

„Was meinst du, Leo?“, fragte sein Papa und Leo drehte den Baum kritisch. Er würde gefühlt ihr halbes Wohnzimmer ausfüllen, aber hübsch war er schon. Und groß auch. Er nahm einen Schluck Glühwein und nickte. 
„Ich denke, der ist es“, gab er sein Urteil ab und Olaf nickte zufrieden, ebenso wie sein Vater. Leo machte ein Foto für Caro, die heute Dienst hatte, aber darauf bestand, dass sie die Rohform geschickt bekam, bevor sie den Baum mit unnötig Zeug zuhängten. 

Caros Worte, nicht Leos. Er liebte die Kugeln und Ketten, die kleinen Weihnachtsfiguren aus Holz und Stroh. Er liebte es auch, den Baum zu dekorieren und stundenlang im Halbdunkeln davor zu sitzen und die Details zu beobachten. Auch wenn seine Mutter die sich immer verheddernden Lichterketten gegen funkbetriebene LED-Kerzen ausgetauscht hatte, was Leo fast wie Betrug vorkam. 

Aber er wollte sich Neuem gegenüber nicht sperren. 

„Was meinst du, Herbert?“, fragte sein Vater, doch ihr tierischer Begleiter missachtete sie alle zugunsten des riesigen Rinderknochens, den er von Olaf erhalten hatte und nun selig und glücklich war und anscheinend mit dem Knochen alle Angst vor dem alten, ruppigen Bauern verloren hatte. 

Leo sah auf ihn hinunter und musste unwillkürlich lächeln. Herbert wich ihm seit ihrem Spaziergang nicht mehr von der Seite. Nur wenn sein Vater im Haus war, dann konnte der Rüde sich nicht entscheiden zwischen ihnen beiden. Zum Schlafen aber bevorzugte er Leos enges neunzig Zentimeter Bett, was dazu führte, dass Leo seit zwei Nächten mit einem Riesen von einem Hund im Arm schlief, der sabberte, schnarchte und im Schlaf bellte. Er hatte sich seinem Schicksal ergeben und sich damit arrangiert, nicht zuletzt auch, weil Herbert mehr Schlaf für Leo mit sich brachte. 

Dass es vielleicht auch an den ausgedehnten Spaziergängen lag, die Leo alleine, mit Herbert, mit Herbert und Schürks Handlanger, machte, das zog er in seine Betrachtungen, fällte darüber aber noch kein Urteil. 
Herbert schenkte ihm Ruhe, Vincent gab ihm durch das, was er ihm über sich und Schürk mitteilte, mehr und mehr Futter für den Ermittler in sich. Wenn Leo alleine unterwegs war, hatte er die Möglichkeit, darüber nachzudenken, seine Schlüsse zu ziehen und sich einen Plan zurecht zu legen, wie er sich selbst aus den Fängen der Organisierten Kriminalität befreien konnte. Wenn der einzige Weg war, das Syndikat zu Fall zu bringen und damit einem Teufelskreislauf aus Bestechung und Erpressung ein Ende zu bereiten, dann wollte er zumindest nicht blind auf das vertrauen, was Vincent ihm angeraten hatte. 

Angeraten. Angewiesen. Befohlen. Wie man es auch nennen mochte. 

Aber Leo akzeptierte nicht, dass er aus einem altruistischen Grund erpresst wurde. Sein Leben, das in Gefahr war. Sein Leben war bei jeder Ermittlung oder bei jedem Zugriff in Gefahr. Dafür war er Polizist geworden. Es ging um Recht und Gerechtigkeit und solange noch ein Hoffnungsschimmer darauf bestand, war Leo auch bereit zu kämpfen. 

Die Erkenntnis war noch jung, genaugenommen war sie noch nicht einmal zwei Tage alt. Vincent selbst hatte sie hervorgerufen und seitdem ließ Leo sie in sich reifen und fütterte sie mit allen Informationen und Gedankenspielen, die er aufbringen konnte. 

Er hatte Hoffnung und Hoffnung gab ihm die Stärke.

„Hilfst du mir tragen, Sohn?“, riss sein Papa ihn aus seinen Gedanken und Leo lächelte in seinen dicken Schal hinein.
„Natürlich, Vater“, erwiderte er und ließ den Mann mit den buschigen, hoch erhobenen Augenbrauen wissen, dass er ihn gerade gefoppt hatte. 
„Sie werden so schnell groß und unverschämt“, murmelte dieser und Leo konnte dem nur beipflichten. Sein großes Mundwerk hatte er erst in Berlin entdeckt und erlernt. Er dankte Nina heute noch dafür. 

Ebenso wie er heute den Arm seines Papas um seine Schultern genoss, der ihn kurz versichernd an sich drückte.

 

~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 14: Frohe Weihnachten

Notes:

Wuhu Überraschung! :)

Hier schonmal der neue Teil zur Anatomie. Leute, im September Weihnachten zu beschreiben ist eine ganz eigene Herausforderung und uff. Ich zehre noch von meinem eigenen Weihnachtsfimmel, von daher hoffe ich, dass es gereicht hat.

Für diesen Teil gibt es eine Triggerwarnung: eine Szene aus Rolands Sicht, massive Homophobie und Frauenfeindlichkeit, sowie angedeuteter physischer Missbrauch.

Noch etwas Anderes: in dieser Woche hat sich ein weiterer Discord-Tatort-Polizeiruf 110-Discord Server aufgetan. Wenn jemand Interesse daran hat, hier der Einladungslink.

Nun aber viel Spaß beim Lesen und denkt dran, heute sinds nur noch 100 Tage bis Weihnachten! :)))) Na, habt ihr schon alle Geschenke? ;)

Chapter Text

 

„Du siehst besser aus“, lächelte Pia und meinte es tatsächlich auch so, wie sie es sagte. Leo hatte immer noch Augenringe, aber sie waren nicht mehr so tief wie vor sechs Tagen. Er war nicht mehr so blass wie an seinem letzten Arbeitstag und der namenlose Schrecken in seinen grünen Augen war annähernd verschwunden, ließ nur seine immer präsente, nachdenkliche Ruhe zurück.
„Danke“, sagte er und selbst seine Stimme klang fester als noch vor ein paar Tagen, weniger niedergeschlagen. 

„Ich freu mich, wenn du in den Dienst zurückkehrst“, schob sie nach, nur um sicher zu gehen, dass er sich auch noch willkommen fühlte nach ihrem Alleingang und den Ermittlungen, aus denen sie ihn kurzzeitig ausgeschlossen hatten und die auch jetzt ohne ihn weiterliefen. 

Rainer hatte eine Kontenklärung unter dem Radar durchführen lassen und es gab keine Anzeichen dafür, dass ihr Teamleiter regelmäßige Beträge empfing oder signifikant über seine Verhältnisse lebte. Seine Ausgaben waren normal und entsprachen seinem Lebensstil. Das alles sprach gegen Bestechung. Dass es etwas mit Schürk zu tun hatte, dessen war Pia sich mittlerweile sicher und Esther folgte dieser These. Also wurde Leo von ihm bedroht? Aber mit was? Seiner Familie? Etwas Anderem? Was es auch war, es war zu früh, danach zu fragen. Sie hatten noch nicht genug Anhaltspunkte um ihn damit zu konfrontieren. 

Aber das hieß nicht, dass sie Leo nicht mochte und dass sie ihm nicht helfen wollte. Im Gegenteil. Esther und sie waren seinem Team zugeteilt. Sie waren Freunde geworden in den letzten Monaten. Pia fühlte sich unwohl damit, Freunde im Stich zu lassen. 
Deswegen war sie auch hier. 

Morgen war Weihnachten und deswegen war es allerhöchste Zeit, dass sie ihm ihr Geschenk vorbeibrachte. 
„Möchtest du hereinkommen?“, fragte er anders als beim letzten Mal und Pia nickte dankbar. 
„Wenn das okay für dich ist?“
„Ist es.“

Er führte sie in das Wohnzimmer und Pia brauchte einen Moment, um der beinahe schon kitschigen Dekoration den nötigen Tribut zu zollen. Weihnachtsmotive in verschiedenen Formen und Farben strahlten ihr entgegen, fügten sich zu einem harmonischen Gesamtbild an Heimeligkeit und Gemütlichkeit. 
Der Karmin war an und davor lag die Riesendogge wie dahingegossen, die aufmerksamen Cognacaugen auf sie gerichtet. Leo kam langsam zu ihm und ging neben ihm in die Hocke, kraulte Herbert hinter den Ohren. Das brachte ihm ein zufriedenes Brummen ein und Pia lächelte. 

„Setz dich doch“, deutete Leo auf den Sessel unweit von ihnen beiden am Kamin und Pia ließ sich vorsichtig auf die Polster sinken. Leo musterte sie und erhob sich aus seiner Position. 
„Möchtest du etwas trinken? Ich hab gerade Tee fertig.“
„Sehr gerne! Ich bin durchgefroren.“

Leo ging in die Küche und Herbert trottete mit einem furchtsamen Blick auf sie hinterher. Als er mit einer Tasse dampfenden Tees wiederkam und ihn Pia reichte, blieb er jedoch in angemessener Entfernung stehen und wartete anscheinend darauf, dass Leo Platz auf der Couch nahm. Die beiden waren ein eingespieltes Team, kam es Pia in den Sinn, denn kaum dass Leo sich hingesetzt hatte, kletterte Herbert mit seinen langen Beinen und großen Pfoten hinterher und bettete seinen Kopf auf seinen Oberschenkel. Er sah fast aus wie ein Wachhund und Pia rief sich ins Gedächtnis, dass Doggen früher genau dafür gezüchtet worden waren. Anscheinend gehörte Leo nahtlos zu seiner Herde und Pia schmunzelte über ihre innere Vorstellung, wie Herbert Leo hütete. Eine tröstliche Vorstellung war das.   

„Er mag dich sehr gerne“, kommentierte Pia nahm einen Schluck Tee. Er war hervorragend.
„Ich mag ihn auch.“
„Wirst du ihn auch mit auf die Arbeit bringen?“, fragte sie hoffnungsvoll und Leo musterte sie überrascht, seine Hand, die über Herberts Rücken strich, innehaltend. 
„Warum sollte ich das tun?“
„Weil er sich gut bei uns machen würde. Esther fand ihn auch toll. Als ich Rainer davon erzählt habe, war er ebenfalls neugierig auf Herbert.“
Leo blinzelte und legte fragend den Kopf schief. „Rainer?“
„Der von der Steuerfahndung?“
„Ja…ja, das weiß ich. Wir kennen uns doch. Aber warum habt ihr mit ihm über Herbert gesprochen?“

Pia winkte lächelnd ab. Sie hatten mit Rainer über weit mehr als Herbert gesprochen. Tatsächlich war der Hund nur eine Randnotiz von Esther gewesen, eine flüchtige Anmerkung, dass es eine hübsche, blaue Dogge gab. „Er kam vorbei, weil er etwas von dir wissen wollte. Wir haben ihm gesagt, dass du krank seist und irgendwie ist das Gespräch dann auf Herbert gekommen. Er ist ja auch eine schöne Dogge. Er bestellt auf jeden Fall schöne Grüße und gute Besserung.“
Leo glaubte ihr ihre kleine Lüge und seine vorherige Anspannung löste sich Stück für Stück. 
„Grüße zurück“, sagte er zögernd. Rainer war sein alter Schulfreund und sie arbeiteten öfter zusammen, doch die Verbindung zwischen Pia, Esther und Rainer war eigentlich nicht so eng. 

„Siehst du, du wirst vermisst und wir freuen uns alle, wenn du zurückkehrst“, nahm Pia die scharfen Ecken aus ihren vorherigen Worten. „Ich habe dir etwas mitgebracht, sozusagen als kleines Weihnachtsgeschenk“, offenbarte sie als Ablenkung den Grund ihres Hierseins und holte das Geschenk aus ihrer Schultertasche hervor. Kleine, dicke Weihnachtsmänner mit roten Backen strahlten ihr entgegen und nun auch Leo, der sie mit großen Augen ansah. 

„Das…aber ich hab gar nichts für dich“, sagte er und schluckte schwer. Pia schüttelte den Kopf. 
„Leo, das ist okay. Du hast uns doch letztes Jahr die tollen Weihnachtsteller geschenkt, außerdem ist das nur eine Kleinigkeit, okay?“
Ganz überzeugt schien er von ihren Worten nicht zu sein, nahm aber die grinsenden Weihnachtsmänner behutsam an. Vergnügt setzte Pia sich wieder auf ihren Sessel und nickte aufmunternd.
„Du kannst es jetzt schon aufmachen, wenn du willst.“
Er nickte schweigend und pulte akribisch das Geschenkpapier von dem Karton, faltete es schließlich, als würde er es wiederverwerten wollen. Respektvoll, wie es seine ganze Art war. 

Gespannt verharrte sie, als er die graue Tasse auspackte, in der in großen, glitzernden Lettern Unser Teamleiter stand, darunter ein Bild von ihnen Dreien nach dem Mud Run in Losheim, den sie abgekämpft, glücklich und matschig bis in die Unterwäsche hinter sich gebracht hatten. Es war eines der schönsten Bilder von ihnen und das nicht nur, weil Esther Leo gerade einen riesigen Klumpen Matsch ins Gesicht drückte, befand Pia und hatte Leo das eine oder andere Mal dabei erwischt, wie er durch die Bilder in seinem Smartphone gescrollt hatte und an eben jenem hängen geblieben war. 

Nun starrte er auf die Tasse in seinen Händen, sich anscheinend nicht gewahr, dass Herbert die glatte Oberfläche probeweise mit seiner riesigen Zunge abschleckte. Pia fiel es schwer zu sagen, ob sie Leo gefiel, denn seine Mimik war eingefroren und zu ihrer Überraschung traten Tränen in seine Augen.
„Hey, ist alles in Ordnung?“, fragte sie und erhob sich, kam zögernd zu ihm. Das schien Leo aus seiner Starre zu lösen und mit feucht glänzenden Augen sah er hoch. Kurz nur, dann senkte er den Kopf. Musste sich die Tränen von den Wangen wischen, die nun mehr und mehr nachkamen. 
„Oh Leo, was ist denn?“, fragte Pia und nutzte die freie Seite der Couch um ihren Teamleiter in die Arme zu nehmen. „Was ist denn los? Es ist doch nur eine doofe Tasse. Ist sie so hässlich? Dann tut es mir leid.“ Augenzwinkernde Worte, denn Pia ahnte, dass das nicht der Grund war. Dazu musste Leo nun nicht auch stumm den Kopf schütteln. 
„Nein, sie ist hübsch, es ist nur…“

Er presste die Lippen aufeinander, Eisern, sich selbst geißelnd. Die Tränen liefen jedoch weiter und Pia strich ihm sanft über den Rücken. 
„Leo, was ist los, hm?“, hakte sie nach und die Verbindlichkeit in ihrer Stimme drang zu ihm durch. Für einen Moment huschte pure Verzweiflung über sein Gesicht, die absolut gar nichts mit Rührung oder der Tasse zu tun hatte. 
„Pia, ich…“, begann er erstickt und sie spürte, dass Worte hinauswollten, die er schon lange in sich eingeschlossen und vor ihr verborgen hatte. Er setzte mehrfach an um sie zu äußern und besann sich dann anscheinend eines Anderen. Er bekam sich in den Griff und lächelte durch die Trauer, verschloss seine Mimik einer möglichen Interpretation und nickte in Richtung Tasse.
„Sie ist schön, das freut mich“, destillierte Leo alles, was er eigentlich hatte sagen wollen, in diesem einen neutralen, nichtssagenden Satz zusammen. 

Pia glaubte ihm, dass er sich freute. Aber sie glaubte keine Sekunde lang, dass er nur deswegen geweint hatte. Niemals glaubte sie das.

„Leo“, startete sie einen letzten Versuch, der an seinem nun professionellen Lächeln scheiterte. 
„Wirklich Pia, ich freue mich sehr“, sagte Leo. „Ihr seid das beste Team, das ich mir vorstellen kann.“ Sacht strich er über die Tasse und den dortigen Schriftzug. „Wirklich.“

Auch das war sein völliger Ernst, nur leider nicht die volle Wahrheit. Noch nicht einmal ein Bruchteil dessen. 


~~**~~


„Frohe Weihnachten, Mama.“
„Frohe Weihnachten, mein Spatz.“

Adam zog seine Mutter in eine vorsichtige Umarmung. Sie selbst war weniger vorsichtig, sondern presste ihn fest an sich, bettete ihre Wange an seinen Brustkorb. Adam hatte noch gut ihre verwunderte Frage im Ohr, wie bei seinem Vater und ihr so ein langer Lulatsch herauskommen konnte. Nichtsdestotrotz war er unwiderruflich seiner Mutter Sohn und des Arschlochs Nachwuchs, das hatte der Wichser schon längst testen lassen. Adam wäre es lieber gewesen, wenn der Test negativ gewesen wäre, auch wenn die Konsequenzen für seine Mutter und ihn fürchterlich gewesen wären. 

„Ich habe was für dich“, murmelte sie. „Aber versteck es gut.“
Auch das war ihrer beider Tradition. Bevor Roland Schürk ihnen das Fest mit seiner Vorstellung des pervertierten Weihnachtsfriedens verleidete, trafen sie sich immer am Morgen von Heiligabend und tauschten kleine Geschenke untereinander aus. Damit die Dreckssau es nicht mitbekam, versteckten sie sie, was für seine Mutter ungleich schwerer war als für Adam. Aber Adam war erfindungsreich und hatte über die Jahre hinzugelernt. 

„Ich habe auch was für dich“, stimmte Adam in ihren Ritus ein und zog eine kleine Schachtel hervor. Ihre traurigen Augen leuchteten auf. 
„Ach Adam, das wäre doch nicht notwendig gewesen.“
Und ob es das war. Er reichte ihr sein Geschenk und sie öffnete ehrfürchtig den Deckel, brachte damit die kleine, diamantenbesetzte Brosche zum Vorschein. Seine Mutter liebte Broschen und so schenkte Adam ihr jedes Jahr eine, damit sie sie immer dann tragen konnte, wenn die Dreckssau außer Haus war. 

„Oh mein Junge, mein großer Junge“, flüsterte sie und gab ihm einen hauchzarten Kuss auf die Wange, als er sich zu ihr hinunterbeugte. „Vielen Dank dir!“
Sie löste sich schneller von ihm als Adam wirklich lieb war und griff hinter sich. Stolz reichte sie Adam sein Geschenk und er erkannte schon an der Form, dass es ein Buch war. Er grinste. 
„Was das wohl sein mag?“
„Mach’s auf und du weißt es“, zwinkerte sie und er brachte eben jenes Buch zum Vorschein, über das er mit ihr vor drei Wochen gesprochen hatte. Es war von seinem Lieblingsautor und hatte, wie Adam nun sah, eine persönliche Widmung für ihn. Adam blinzelte, seine Augen weit vor Überraschung. 
„Aber…das war doch sicherlich teuer, Mama. Das fällt ihm doch auf“, flüsterte er besorgt, doch seine Mutter schüttelte den Kopf. 
„Boris hat mir geholfen, es zu bekommen. Er hat das Geld abgezweigt und es wird nicht auffallen.“
„Ach Mama…“
„Frohe Weihnachten, Adam“, sagte sie streng, wollte nichts mehr davon hören. 

Adam seufzte. „Frohe Weihnachten. Auf ein ruhiges, kommendes Jahr und friedliche Festtage.“ Ganz konnte er den Hohn nicht aus seiner Stimme halten, auch wenn er sich hier und jetzt, an diesem tristen Wintermorgen, der Illusion hingab, dass es die Dreckssau irgendwann nicht mehr geben würde. 


~~**~~


Leos Heiligabend begann mit einer viel zu schlabberigen, nassen Zunge in seinem Gesicht, die ihn nahtlos aus seinen unruhigen Träumen holte. Er ging weiter mit einem viel zu feuchten Kuss seiner älteren, gemeinen Schwester, die anscheinend schon vor dem späten Frühstück in ihr Elternhaus eingefallen war, ihn an sich drückte und ihn so überschwänglich auf die Wange küsste, dass es Leo schauderte. Den bespeichelten Finger in seinem Ohr konnte er gerade noch abwehren und samt Kaffeetasse ins Wohnzimmer flüchten, wo er grollend in vermeintlicher Sicherheit hinter der Couch stand, darauf lauernd, dass ihm dieses Biest nicht zu nahe kam. 

Im Hintergrund lief ihre Weihnachtsplaylist aus allem, was die letzten Jahrhunderte an Weihnachtsmusik zu bieten hatten und tauchte den Raum zusammen mit dem Geruch des Baumes und der aus der Küche dringenden Düfte nach Braten im Ofen und Kuchen in eine heimelige Atmosphäre, die Leo mehr schätzte, als er zuzugeben bereit war. 
Insbesondere, da es sich der Wettergott es anscheinend zum Vorsatz gemacht hatte, sie alle einzuschneien und noch eine Schicht weißes Puder auf die schon bestehende Schneedecke zu legen. Leo liebte die runden Kuppeln über den Sträuchern und Pflanzen, inmitten derer ihre beleuchteten Weihnachtsfiguren standen. Er liebte den stillen Frieden, den dieser Tag mit sich brachte, untermalt von dem lauten Chaos seiner Familie. 

Er liebte ihn auch heute und dieses warme Gefühl verdrängte selbst die Erinnerungen an die vergangene Zeit. Leo verdrängte sie selbst aktiv, denn er wollte sich das vermutlich letzte, unbeschwerte Weihnachten im Kreis seiner Familie nicht verderben lassen. So schnell wie dieser Gedanke gekommen war, so schnell unterdrückte Leo ihn wieder und machte sich nach dem letzten Schluck Kaffee daran, seine Geschenke von oben zu holen, die er nun alle zusammen hatte. Er legte sie unter Herberts wachsamer Nase unter den Baum. Viel Spannendes fand die Hundenase glücklicherweise nicht, sehr wohl aber in der Küche, die anscheinend auch für ihn nur so vor leckeren Gerüchen strotzte. 

Leo war sich nicht sicher, ob er das Stück Kuchen, was er nun in seiner Schnauze trug und mit sich unter den Esstisch nahm, auch wirklich hatten haben dürfen oder ob er seine Größe wie so oft in den letzten Tagen dazu genutzt hatte, auf Anrichten oder Tische zu schauen.
Die Augenbraue hebend musterte Leo Herbert streng und dieser schlug probeweise einmal mit der Rute, während er das Endstück verschlang, als wäre es nicht mehr als ein Krümel. 

„Dieb. Elender“, murmelte Leo und schüttelte den Kopf. Er ging in die Küche und stürzte sich zusammen mit seiner Familie in die letzten Vorbereitungen für die kommenden Tage. 


~~**~~


„Wie schön es doch wäre, wenn Boris heute hier wäre“, seufzte Roland Schürk und griff sich sein Bier. Er trank die Flasche zur Hälfte leer und warf einen Blick auf seine hässliche Ehefrau und seinen missratenen Sohn. Mit Boris wäre es wenigstens noch erträglich gewesen, hätte er wenigstens einen Gesprächspartner gehabt, aber das Dummchen vom Dienst und der verwöhnte Bengel waren weder lustig noch spannend genug, um Boris auch nur in Ansätzen zu ersetzen. 
„Aber ach ja, da hat ja jemand nicht aufgepasst.“ 

Er rollte mit den Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, einen Arm bequem über die Lehne des Designerstuhls geworfen. Er saß am Kopf der Tafel, wie es sich für den Patriarchen gehörte.
„Was gibt’s heute zu essen?“, fragte er, als keiner der Beiden es für nötig hielt, ihm zu antworten und Heide lächelte ihr altersängstliches Lächeln, das ihr tiefen Falten nochmal besser zur Geltung brachte. 
„Wie du es wolltest, Würstchen mit Kartoffelsalat und zum Nachtisch Eis.“
„Kocht der Junge wieder?“
„Ja. Er macht das sehr gut, findest du nicht?“

Dem konnte Roland ausnahmsweise zustimmen. Der Junge war wirklich Gold wert und das, was Roland sich unter einem guten Sohn vorstellte. Folgsam, freundlich, strebsam, an ehrlicher Arbeit interessiert. Nicht so ein abgehobener Akademikerspinner mit zwei Abschlüssen wie das nutzlose Stück von einem Sohn, den seine ebenso nutzlose Mutter herausgepresst hatte. 

„Natürlich macht er das gut, sonst würde ich ihn kaum weiterhin dafür bezahlen“, grollte Roland und wie auf ein Stichwort kam Martha, ihr alte Haushälterin hinein, den Jungen hinter sich. 
„Frohe Weihnachten zusammen“, wünschte sie mit einem warmen Lächeln und Roland erwiderte das brummend. Auch Bastians schüchternes Lächeln, mit dem er nun auftischte und sie bediente. 
„Lassen Sie es sich schmecken“, sagte er und verschwand ohne viel Aufwesen wieder an seinen Arbeitsort. So musste das sein. Kein unnötiges Gequatsche, nur Folgsamkeit.  
Roland lehnte sich zurück und genoss den Anblick ihres Esstisches. Er genoss die Disziplin, die hier herrschte, die Zucht und Ordnung. Es wurde erst gegessen, nachdem er angefangen hatte, denn er war der Herr des Hauses. 

Selige Ruhe, das war sein ideales Weihnachtsfest. Kein Rumgeheule der Alten, keine Widerworte seines Sohnes. Einfach Ruhe und Disziplin. Weihnachtliche Besinnlichkeit, von der sich Roland wünschte, dass er seinen missratenen Sohn wenigstens einmal im Jahr nicht züchtigen und auf Spur bringen musste. Die letzten Jahre über hatte der, der mal sein Stammhalter werden sollte, sich benommen. Dieses Jahr schien ihm das schwer zu fallen, insbesondere in der Zeit vor Weihnachten hatte Roland immer wieder zu seinem Gürtel greifen und dem Idioten Benehmen einprügeln müssen.  

„Hast du mittlerweile eigentlich gelernt, wie man eine Frau fickt?“, fragte er Adam zwischen zwei Bissen Würstchen und dieser hielt in seinem pikierten Essen inne. Kurz sah Adam auf und senkte seinen Blick dann erneut auf den Teller, die Kieferknochenmuskulatur angespannt.
„Nein“, presste er hervor. 
„Warum nicht?“
Viel zu zögerlich kam die Antwort. „Weil ich einen Frauenkörper nicht ansprechend finde.“
„Du musst sie nicht ansprechend finden, du musst sie nur ficken. Loch ist Loch, nimm dir eine Jungfrau, die ist so eng wie eins deiner geliebten Arschlöcher. Für einen Erben sollte selbst dein Sperma reichen.“ Die simple Wahrheit schmeckte seinem Sohn nicht, aber wenigstens ersparte er Roland die Diskussion um das Thema.
„Wie schmeckt dir das Essen?“, fragte seine eigene Frau, die nicht in der Lage gewesen war, ihm mehr als diesen Bastard zu gebären. 
„Besser als alles, was du jemals zustande gebracht hast.“

Roland schwieg schlussendliche zugunsten seines Essens und trank drei Flaschen Bier dabei. Wenn er daran dachte, dass er sein Imperium, was er die letzten Jahrzehnte mit Blut und Schweiß aufgebaut hatte, an den Versager übergeben musste, der links von ihm saß und es noch nicht einmal schaffte, den verdammten Kartoffelsalat zu essen, dann graute es ihm vor der Zukunft. Nach seinem Tod würde das, was er mit eiserner Faust und Disziplin aufgebaut hatte zu Asche und Staub zerfallen. Es konnte ihm egal sein, denn es ging ihm hier und jetzt im Profit, um Macht über andere. Wenn er tot war, würde lediglich sein Vermächtnis leben und dafür tat Roland alles. Dass die Versager um ihn herum so durch ihn geprägt waren, dass sie niemals vergaßen im Staub zu kriechen. 

„Mein Sohn, sei doch so gut und erzähle uns doch noch einmal die Geschichte über dich und das Jugendamt. Ich höre sie so gerne.“

Jedes Jahr zu Weihnachten ließ sich Roland die Geschichte erzählen, die seinem Sohn ein für alle Male klargemacht hatte, wer hier das Sagen hatte. Jedes Jahr wieder erinnerte Roland ihn daran, was er zu tun hatte. Wie er sich zu verhalten hatte. Wem er dankbar gegenüber zu sein hatte. 
Wie jedes Jahr kam Angst in Adam auf und egal, wie alt er war, so blieb sie immer gleich. Sie lauerte in den Worten, sie ließ seine Stimme weniger arrogant, denn eher leise und hell klingen. 

Die Angst davor, dass es noch einmal passierte. Die Angst, die sich in die kindlichen, dummen Hirnwindungen gebrannt hatte.


~~**~~


Adam saß mit dröhnendem Schädel in seinem Wagen und starrte blind auf die kitschige Vorgartenweihnachtsdekoration der Saarbrücker Vorstadt. Seine Finger, die er um das Lenkrad gekrampft hatte, zitterten. 
Weihnachten, schöne Scheiße. Jedes Jahr wieder. Ein Fest der Nächstenliebe, dass er nicht lachte. Das war es doch noch nie gewesen. Nicht in seiner Familie. Nach dem Essen war er schier aus dem Haus der Dreckssau geflohen, nur weg. Nach der Geschichte, die er jedes Jahr wieder erzählen musste und die niemals ihren Schrecken verlor. Nach den Worten des Arschlochs, die an solchen Tagen, wenn die Mauer zwischen Adam und dieser Welt dünner war, umso härter trafen. 

Er war geflohen und blind durch die Stadt gefahren, erst wieder zu sich kommend, als er hier angehalten hatte. In dem zum Kotzen schönen Vorstadtviertel mit seinen kleinen Reihenhäuschen, den Gärten mit Weihnachtsdekoration und dem alles Verdorbene überdeckenden Schnee. 

Das hatte Adam auch mal gemacht. Sich im Winter hingelegt, draußen, und gehofft, dass der Schnee ihn bedeckte und einschlafen ließ. Seine Mutter hatte ihn rechtzeitig gefunden und ihn vor den Augen der Dreckssau verborgen, während sie ihm Stück für Stück seinen Lebenswillen zurückgegeben hatte. 

Apropos Lebenswillen. Sein hauseigener Polizist hatte anscheinend auch wieder so etwas wie einen Lebenswillen, zumindest hatte Vincent ihm das erzählt und vielleicht war er auch genau deswegen hier. Vor Hölzers Haus. Ohne mit Vincent darüber zu sprechen. 

Aber das war in Ordnung, schließlich würde er ja nicht reingehen. Er würde hier im Wagen sitzen bleiben, im Schatten einer kaputten Straßenlaterne. Von hier aus konnte er in das Haus der Hölzers sehen und erkannte, dass sie alle miteinander feierten, lachten, durch den Raum tobten. Selbst sein hauseigener Polizist war nicht so ernst und verzweifelt wie noch vor ein paar Tagen und schaffte es sogar, seine Lippen zu einem Lächeln auseinander zu ziehen. Öfter. Eigentlich ziemlich oft. Schuld daran war seine Schwester, die mit weit in den Nacken geworfenem Kopf lachte und natürlich das Glas Wein, das er regelmäßig an seine Lippen hob. Aber auch seine Eltern waren nicht das, was Adam jemals bei sich kennengelernt hatte. Sie küssten und umarmten sich, ein Sinnbild der zum Kotzen liebevollen Ehe. Sie schlugen ihre Kinder nicht, sondern scherzten mit ihnen und erzählten sich Geschichten. Niemand saß am Kopf des Tisches. Niemand schwieg.

Adam bettete den Kopf auf sein Lenkrad und ließ seine Gedanken in Richtung Vincent schweifen. Dieser würde Zeit für ihn haben, wenn er anrief, so hatten sie es vereinbart. Adam wusste aber auch, dass Vincent mit dem anderen Adam videochattete. Den aus Frankfurt an der Oder. So, wie sie es an Weihnachten immer taten, weil Vincent sich nicht traute, rüber zu fahren. Nicht an so einem Feiertag und mit den verbundenen Risiken. Adam hatte es nicht gewagt, dagegen an zu argumentieren und wusste, dass sein Egoismus Vincent in die Videotelefonie trieb, nicht jedoch in die Arme dieses anderen Adams. 

Er hatte Vincent versprochen, dass er sich benehmen würde und das tat er auch. Er würde einfach hierbleiben, bis die Lichter in dem Haus ausgingen und beobachten. Das war wie Fernsehen, harmloses, berieselndes Fernsehen, dazu gedacht, ihm zu zeigen, wie das Idealbild aussah. 

Nicht so wie seine Familie. 

Wenn er sie so ansah, wie sie momentan zu dritt über den Tisch gebeugt saßen und anscheinend ein Spiel spielten, dann fühlte er sich an damals erinnert. Vor fünfzehn Jahren, da hatte er einen ähnlichen Einblick. Nicht ganz so warm, nicht ganz so herzlich, aber ähnlich liebevoll. Schon damals hatte Adam es nicht begriffen und war vorsichtig, aber interessiert gewesen. Heute hatte er überhaupt kein Interesse mehr an so etwas Unerreichbarem. Warum er dann hier war, die Frage konnte er sich selbst nicht wirklich beantworten.

Das Klopfen an seiner Scheibe trieb ihn dabei fast in den Herzinfarkt und Adam stieß mit dem Kopf an die Decke seines Wagens, bevor er mit dem Rest des Körpers halb auf dem Beifahrersitz saß.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte er nach draußen und erkannte die Schwester. Hölzers Schwester, die ihn mit sturmgeweiht gerunzelter Stirn ansah. Selbst im Dunkeln der Straße erkannte Adam ihre ungeduldige Handbewegung und er fuhr mit wild klopfendem Herzen das elektrische Fenster herunter. 
„Was machst du denn hier? Spannen oder was?“, fragte sie unumwunden mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen. Zumindest glaubte Adam über sein in den Ohren rauschendes Blut zu verstehen. 
„Und selbst? Solltest du nicht drinnen bei deiner Familie sein?“, giftete er zurück und sie schnaubte. 
„Ich habe den Müll rausgebracht. Was ist deine Ausrede?“
„Ich habe nur zufällig hier gehalten.“
„Klar.“

Adam rollte mit den Augen und strich sich die Haare zurück. „Was auch immer. Ich bin weg.“
Zumindest wäre er das, wenn die Kinderärztin seinen Wagen freigeben würde. Vielmehr das offene Fenster, durch das eiskalte Luft hereinströmte. Adam zitterte, als nun auch äußerliche Kälte hinzukam und ihm dem Wenigen beraubte, was ihm an diesem Tag ein gutes Gefühl bescherte. 
„Warum kommst du nicht mit rein?“, nickte Caro in Richtung des warm beleuchteten Hauses und Adam schüttelte bestimmt den Kopf. Er sah nicht hin. Bewusst nicht. 
„Nein.“
„Aber Leo ist dort.“
„Das ist schön für ihn.“
„Hattet ihr Streit?“

Die Ausfragerei überrumpelte Adam mehr als dass er es zuzugeben bereit war. Er wollte eigentlich nur in seinem eigenen Elend suhlen und sich Dinge ansehen, die besser waren als sein eigenes Leben. Um sich darüber zu beschweren, dass sie ätzend waren. Er wollte mit niemandem sprechen und sich rechtfertigen. Oder sich Lügen ausdenken müssen, zurechtgelegte Geschichten. 
„Ich…nein“, destillierte Adam seine gesamte Unfähigkeit in zwei Worte und verfluchte sich innerlich dafür.

„Dann wird er sich freuen, dich zu sehen.“

Im Leben würde Hölzer das nicht. Ganz im Gegenteil. Adam würde ihm nahtlos die Zeit mit seiner Familie ruinieren und Vincents Predigt konnte er jetzt schon hören. Weder Hölzer noch Vincent würden ihm glauben, dass er das nicht gewollt hatte. 

„Ich fahre jetzt“, sagte er bestimmter und legte Kälte in seine Stimme. Es war eine Warnung an sie, nicht weiter zu gehen und für einen Augenblick lang war sie unsicher. Doch dann kam ihre anscheinend angeborene und vererbte Sturheit hervor und sie lehnte sich kurzerhand in den Wagen und zog den Autoschlüssel heraus. Adam starrte. Das…hatte noch niemand getan 
Das…

Hölzers Schwester hob ihn mit grimmiger Miene hoch und trat einen Schritt zurück. 
„Niemand wird bei den Hölzers im Kalten und Dunklen allein gelassen, Freund meines Bruders. Zu keinem Tag und an Weihnachten sowieso gar nicht. Außerdem haben wir noch genug zu essen. Abmarsch mit dir ins Haus.“
Adam grollte. Wie schlimm konnte dieser Abend eigentlich noch werden? „Gib mir meinen Scheißschlüssel zurück. Ich will nach Hause.“ Jeder andere hätte das bitter bereut, auch jetzt schon. Er hätte nicht gewarnt. Es wäre nicht notwendig gewesen zu warnen. Aber sie…
„Ja, kannst du. Nachdem du hallo gesagt und dich aufgewärmt hast.“

„Ich hab gelogen, okay? Dein Bruder und ich hatten Streit. Schlimmen, heftigen Streit. Er will mich nicht sehen“, grollte Adam nun an der Grenze zu bösartig, doch diese Unvernünftige ließ sich nicht davon abbringen. 
„Und wann schlichtet man einen Streit am Besten? Zum Weihnachtsfrieden“, wurde er eines Besseren belehrt und die unverschämte Frau trat noch einen Schritt zurück. „Los, komm jetzt.“

Adam war vieles, aber kein nachsichtiger Mann. Er war vieles, aber nicht nett, höflich, zurücksteckend. Sie wollte, dass er das Haus betrat und ihrem Bruder Weihnachten ruinierte? Konnte sie bekommen, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließ. Sollte sie sehen, wie Hölzer sich in seiner Gegenwart versteifte, wie er still wurde, wie er das Lachen und Schmunzeln einstellte. Sollte sie sehen, wie er seine Fingerkuppen in seine Oberschenkel bohrte. 

„Dann mach wenigstens meine Karre zu“, sagte er und stieg aus, warf mit Wut die Tür hinter sich zu. „Ich würde es bevorzugen, keinen Schnee auf den Sitzen zu haben.“ Er ging an ihr vorbei zum Haus, bereits auf dem Kriegspfad. Nach der Dreckssau hatte er wenig Bedarf an Menschen, die ihm quer kamen an diesem Tag. Null. Zero. Unter null. Ganz im Gegenteil, es ließ seinen Zorn auf all die Dreckssäue dieser Welt hochkochen und unüberlegte Dinge tun. 

Zielstrebig stapfte er die letzten Meter knirschend durch den Schnee und kam auf den Treppenstufen abrupt zum Stehen, als ihm die Frau in den Weg trat, die er nahtlos als Hölzers Mutter identifizierte. Adam erstarrte und sein Kriegszug endete, kaum, dass er begonnen hatte, an ihren überraschten Augen. 
„Oh. Hallo“, grüßte sie und warf einen fragenden Blick auf ihre Tochter, die mit Sicherheit gerade hinter ihm stand. 
„Das ist Leos Freund“, stellte sie ihn vor und Adam hob zum Widerspruch an. Seine Worte zerschellten jedoch an der Grenze seiner Lippen, als er sah, wie zuerst Überraschung, dann Begeisterung über das runde Gesicht huschten. Begeisterung. Wegen ihm. Wegen einer Lüge.
„Das hat er gar nicht erzählt.“
Caro kam neben ihn und Adams Kopf ruckte zu ihr. „Adam. Von dem habe ich dir erzählt. Der vom Spieleabend.“
Da war viel zu viel Erkennen auf dem Gesicht der älteren Frau, dafür, dass er damals einfach aus Interesse bei Hölzer vorbeigesehen hatte.
„Ja, stimmt. Der Spieleabend.“ Sie lächelte, als wäre es etwas Besonderes und Adam spürte, wie ihn dieses Lächeln entwaffnete. Stück für Stück. „Schön, Sie kennen zu lernen. Kommen Sie doch rein.“ 

So einfach funktionierte das nicht. Hatte es nicht. Konnte es gar nicht. Er war nicht der Freund. Die Schwester rempelte ihn an der Schulter an.
„Na komm, rein mit dir. Ich sage Leo Bescheid.“

Adam schluckte gegen mit einem Mal enge Kehle an. Das konnte nur eine Katastrophe werden.


~~**~~


Leo war satt und vollgefressen. Er war angeduselt von der halben Flasche Rotwein, die er bereits intus hatte und die so gut zum Braten gegangen war. Seine Familie brachte ihn so oft zum Lachen, dass ihm bereits seine Wangen wehtaten und ihn von ihrem momentanen Spiel ablenkten. Bei dem er strategisch denken musste. Wunderbar war das, ganz ganz wunderbar. 

Herbert hatte sich zwischen ihm und seinem Vater gelegt und hob von Zeit zu Zeit den Kopf, um ihn auf Leos Oberschenkel zu legen, seine Hose voll zu sabbern und sich kraulen zu lassen. Das wiederum half beim Nachdenken, ob sein momentaner Zug in ihrem Spiel wirklich der Klügste war. Dass er so lange brauchte, dass Caro nach draußen ging um den Müll in die Tonne zu bringen…das war nicht seine Schuld, sondern die des Alkohols, beschloss Leo. 

Er fuhr mit seinen Fingern über die schwarzen Holzklötzchen und durchdachte die Möglichkeit der drei Kreise im Vergleich zu den beiden Sternen, die er auch anlegen konnte. 
Nur nebenbei bemerkte er, wie Herbert den Kopf hob und sich dann aufrappelte und in seiner fast schon tollpatschigen, alles abreißenden Art in die Küche sprintete. Vermutlich war Caro in der Küche und hatte den Kühlschrank aufgemacht. 

„Guck mal, Leo, Besuch für dich“, dröhnte Caro – ebenso angeduselt von ihrer Sektflasche – nicht aus der Küche, sondern durch das Wohnzimmer und Leo grollte. Ohne hinzusehen, winkte er ab.
„Ja, ich bin gleich fertig, kein Grund, mich abzulenken.“
„Ne, jetzt ernsthaft. Guck mal.“

Leo rollte mit den Augen und drehte sich unisono mit seinem Vater um. 

Caro hat Recht, war sein erster Gedanke, als er Schürk neben ihr stehen sah, das Gesicht blank wie ein unbeschriebenes Blatt. Besuch für ihn und im ersten Moment war die Regelmäßigkeit der letzten Monate so in ihn gebrannt, dass die Außergewöhnlichkeit dessen nicht in seine Gedanken eintröpfelte. Das kam erst nach ein paar Sekunden und der Schock über das Auftauchen des blonden Mannes hier, im Haus seiner Familie, ließ alles um ihn herum einfrieren. Der gedämpfte Schock, denn der Alkohol in seinem Blut ließ nicht zu, dass er etwas Anderes als Leichtigkeit spürte. 

„Oh.“

 

 

~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 15: A Christmas Carol

Notes:

Ein wunderbares sonniges und warmes Bergfest euch allen!

Hier nun der neue Teil und somit die Erlösung von dem Cliffhanger aus dem letzten. ;) Weiter geht es mit dem Weihnachtsfeeling. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Der nächste Teil könnte nächste Woche etwas später kommen. Genau kann ich es noch nicht sagen, aber ihr wisst nun Bescheid. :)

Chapter Text

 

„Papa, darf ich vorstellen, das ist Adam. Der, von dem ich dir erzählt habe. Ein Freund von Leo oder Leos Freund, je nachdem“, grinste Caro mit geröteten Wangen und Leos Augen schossen zu seinem Vater, der den Neuankömmling nachdenklich maß, anscheinend ganz und gar nicht erfreut über den fremden Mann, der plötzlich in seinem Wohnzimmer stand. Leo konnte es nachvollziehen. Sehr sogar. 
„Leos Freund“, echote er und Leo schüttelte wild den Kopf, ganz zu Lasten seines Gleichgewichtssinns, der ihm deutlich sagte, es besser sein zu lassen.
„Ne…nein“, sagte er entschlossen und erhob sich schwankend. Verdammte halbe Flasche Wein. Er sah an Schürk hinunter, der zwar seine Anzughose trug, auf seine Freizügigkeit jedoch verzichtet hatte. Anstelle dessen gab er sich die Ehre eines schwarzen Rollkragenpullovers und dunkelgrünen Lackschnürern. Hübsch waren sie. Für eine Hochzeit. 

„Schuhe aus“, war das Erste, was Leos Lippen einfiel, als er den Dreck auf dem Teppich seiner Eltern sah. Dass es absolut unpassend war und der Situation nicht gerecht wurde, wurde ihm mit ein paar Sekunden Zeitverzug bewusst, aber auch da hatte er Schwierigkeiten, seine Gedanken in Bahnen zu lenken, die ihn die Gefahr für seine Familie mindern ließen. Schürk. Hier. Das sollte nicht so egal sein, wie es gerade war, wusste Leo. Es sollte ihn alarmieren und doch tat es das nicht. Schürk hatte seine Familie ja immer wieder ins Gespräch gebracht. Er wusste doch alles über sie, wo sie arbeiteten, wie man ihre Leben am Besten zerstören konnte…

Leo blinzelte, versuchte die schwerfälligen Gedanken abzuschütteln. „Ich zeig dir wo.“ Unsicher kam er auf den anderen Mann zu, der noch keinen Ton gesagt hatte, ihn dafür umso intensiver anstarrte. Leo drehte sich um und lächelte seiner Schwester und seiner Mutter zu. Das hatte er ja schon einmal üben können, dieses Alles-ist-in-Ordnung-Lächeln. 

So bitter die Wahrheit war, so wenig fand sie Fuß in ihm, sondern taumelte mit allem anderen durch seine trägen Blutbahnen.

„Geht ihr beiden, sprecht erst einmal in Ruhe unter zwei Augen“, zwinkerte Caro und schob Leo auch noch hinaus, macht mit einem entschiedenen Winken die Tür zum Flur hinter sich zu. 
Plötzlich alleine mit Schürk in ihrem im Vergleich zum Wohnzimmer kühlen Flur, spürte Leo wieder einen Bruchteil der Angst, die der Alkohol so wunderbar unterdrückte. Um das Schwanken zu unterbinden, lehnte er sich an die Wand, seine Augen unstet auf Schürk gerichtet, der immer noch Sinnbild aller Neutralität war und ihn seinerseits schweigend musterte. 

„Was machst du hier?“, stellte Leo die Frage aller Fragen und Schürk zuckte mit den Schultern. 
„Sehen, ob du lebst.“
Leo blinzelte. Das sollte er doch von seinem Handlanger wissen, der ihm mit Sicherheit brav Bericht erstattete, was Leo machte und sagte. Aufmerksam sah Leo auf seine Hände und Finger, bewegte sie probeweise.
„Scheint so.“
„Ja, scheint so.“
„Wirst du ihnen wehtun?“, deutete er hinter sich auf seine lärmende Familie, die mit Sicherheit jetzt schon einen Blick auf seine Steine geworfen hatte um zu betrügen. Die Miesen. Und das nur, weil Schürk plötzlich aufgetaucht war und sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht hatte. Oder Leo hatte zu lange gebraucht um zu überlegen, was nun das Beste wäre. Vermutlich etwas von beidem. Aber hatte Vincent nicht gesagt, dass er keine Schuld trug? Schon. Aber das war für eine andere Schuld gewesen. Vielleicht war es übertragbar.
  
„Nein. Das werde ich nicht.“
„Aber mir.“
„Nein.“

Leo ließ die Worte durch sich hindurchwaschen. Sie sollten ihm mehr ausmachen, ebenso wie die Anwesenheit des Mannes hier in seinem Refugium, das sagte er sich immer und immer wieder, aber es stellte sich nichts ein. Keine Wut, keine großflächige Angst, auch keine Verzweiflung. Die würden später kommen, so ahnte Leo es. 
„Du hast gesagt, dass wir uns erst nach Weihnachten wiedersehen“, sagte Leo anstelle dessen und versuchte sich daran zu erinnern, wann er den anderen Mann das letzte Mal gesehen hatte. Vor sieben oder acht Tagen? Am See war es gewesen. Nass war er gewesen, weil Leo ihn in den halb zugefrorenen See geworfen hatte. 

Das hatte gut getan. Sehr gut. Eigentlich hatte Leo Lust, es noch einmal zu tun. Nüchtern war er schließlich wütend auf Schürk.

„Ich wollte nicht reinkommen“, sagte dieser neutral und Leos benebelter Verstand erkannte die Wahrheit. Was verwunderlich war. Wieso sollte er dann doch hier sein?
„Deine Schwester hat mich im Auto überrascht und hat jetzt meinen Autoschlüssel.“
Leo hob die Augenbrauen. Was für eine beschissene Begründung war das denn? Aber machte sie das unwahrscheinlich? Eigentlich nicht, denn Caro wurde im betrunkenen Zustand schnell zur Kleptomanin. Und sie kannte keine Grenzen. Wobei sich Leo schon fragte, was an diesem Haus so spannend war, dass der blonde Mann davorstehen und glotzen musste. An Weihnachten.

„Dann geh zu Fuß, ist schön in der Kälte“, spiegelte er ehrlich zurück und hielt sich keine Sekunde später den Mund zu, als er sich daran erinnerte, wie ihr Machtgefüge aussah. Seine bissigen Kommentare waren nicht erwünscht, das wusste er doch. Durfte er doch nicht vergessen. Doch Schürk schnaubte nur, mit kalt amüsiertem Blick auf seine Hand und auf ihn. 
„War‘s schön mit Vincent?“
Leo entfernte seine Finger von seinen Lippen. „Das musst du ihn fragen, ich laufe gerne.“ Verfluchter Alkohol. Wollte er Schürk immer noch mehr Informationen über sich geben, bei allem, was der andere Mann schon über ihn wusste?
„Ich weiß.“
„Gibt es auch etwas, das du nicht weißt, oh allwissender Pate?“

Wieder presste Leo seine Lippen aufeinander. Sein Widerstand hatte Schürk doch erst auf den Plan gerufen, sein Interesse geweckt. Andererseits hatte seine schlussendliche Resignation Schürk umso mehr auf den Plan gerufen. Verwirrend, die Entscheidung, wie er sich verhalten sollte. Vielleicht wäre Schürk nicht mit Spitznamen zu versehen, ein guter Anfang. Mochte man meinen. 
„Deine Schuhe“, kam Leo daher zum Wesentlichen zurück und deutete schwankend auf Schürks Beine. Dieser folgte seinem Blick, als würde er sich der Tatsache, dass er Beine hatte, erst jetzt bewusst werden.
„Ausziehen?“
Leo nickte und das spöttische Lächeln auf Schürks Lippen begleitete das achtlose Abstreifen der teuren Schuhe. Er trug ja sogar Socken, dieses Mal. Wieder so ein unwichtiges Detail, das ihn nicht weiterbrachte, beschloss Leo. 

Herbert, der ihnen anscheinend aus der Küche zugesehen hatte, winselte probeweise um Leos Aufmerksamkeit zu erringen. Er machte das öfter und Leo war nach den Tagen, die er hier war, bereits so darauf gepolt, dass er durch diese Art der Kontaktaufnahme nicht überrascht wurde. Schürks Kopf richtete sich jedoch ruckartig auf das Geräusch und Leo sah verwundert auf, als er etwas ganz anderes als die übliche Überlegenheit auf dem scharf geschnittenen Gesicht sah. 
„Was ist das?“, zischte der blonde Mann und Leo folgte seinem Blick. 
„Ein Hund“, erwiderte er ehrlich und der Blick, der ihn traf, waren alles andere als amüsiert. 
„Das sehe ich selbst, Hölzer.“ 

Warum fragte er dann?

Leo hangelte sich langsam an der Wand und dem Sideboard entlang entlang zu Herbert und ließ sich vor ihm ungelenk auf die Knie sinken. Das war okay, also das Knien, denn es beruhigte den Hund meist mehr, als wenn Leo über ihm stehen würde. Obwohl Herbert größer als er war, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte und versuchte, etwas von ihrem Kühlschrank zu holen, was dorthin platziert wurde, damit er es sich eben nicht holte. 
 
„Alles gut“, murmelte er und strich mit seiner Hand über den massiven Schädel des Tieres. Liebevoll kraulte er Herbert hinter den Ohren, dort, wo er es am Meisten mochte. 
„Du hast keinen Hund“, grollte Schürk hinter ihm anklagend und Herbert zog den Schwanz ein. Er drängte sich an Leo, als könne dieser ihm vor diesem bösen, großen Mann retten. Leo wünschte, dass dem so wäre. Und beinahe hätte er es auch geschafft. Dann wäre Schürk niemals hierhergekommen. Er aber auch nicht. Leo schüttelte den Kopf, schüttelte damit den aufkommenden Gedankenstrang von sich. Er wollte nicht darüber nachdenken – heute nicht. 

„Er ist aus dem Tierschutz. Meine Eltern haben ihn seit ein paar Wochen“, sagte Leo zärtlicher, als er es eigentlich wollte. Es galt nicht Schürk, sondern Herbert, der mit großen Augen zwischen ihm und dem Mann hinter sich hin- und hersah und ihm immer wieder versichernd über das Gesicht leckte.  
„Er hat Angst“, sagte Leo und grub seine Nase in das weiche Fell an Herberts Hals. Wie ich auch, geisterte es umhüllt von Rotwein zwischen ihnen. Leo spürte Schürks brennenden Blick in seinem Nacken.
„Das ist ja wunderbar für so ein großes Vieh.“
Leo ließ die Worte in sich reifen. Er versuchte den Ton zu ergründen, der unter ihnen lag, scheiterte jedoch an der Watte, in der er steckte. 
„Streck ihm deine Hand entgegen.“
„Damit er sie abbeißt, oder was?“, grollte Schürk und Leo drückte einen weiteren Kuss auf den massiven Hundeschädel, der mittlerweile auf seiner Schulter ruhte. Seit er Vincent regelmäßig traf, war Herbert besser geworden, neuen Menschen gegenüber zu treten, aber nur, wenn eine Bezugsperson da war. Da er Leo als Schutzschild hatte, gestattete er sich anscheinend auch Neugier. 
„Wird er nicht.“
„Und das weißt du woher, du Hundeflüsterer?“

Leo fragte sich, warum Schürk so wütend war. Herbert war nicht bösartig und schließlich war Schürk hier eingedrungen. Um was? Von draußen aus ins Haus zu spannen, bis seine Schwester ihn hineingeholt hatte? Er drehte sich um und versuchte auf dem Gesicht des anderen Mannes eine Antwort auf seine Frage zu finden. Er fand sie nicht dort, sondern in den zu Fäusten geballten Händen und erkannte, dass Herbert nicht der Einzige war, der Angst hatte. 

Aber Herbert war harmlos im Gegensatz zu Schürk selbst. Sah der Mann das nicht? 

„Streck sie aus“, wiederholte Leo und Schürks Mimik zeigte ihm sehr deutlich, was er davon hielt, ausgerechnet von ihm eine Anweisung zu erhalten. Leo war dankbar um die Gleichgültigkeit, die mit dem Wein einherging und so verharrte er ohne Hast bei Herbert. Er wartete und schlussendlich gab Schürk mit einem Augenrollen nach und streckte seine Hand in ihrer beider Richtung. Leo sah das leichte Zittern in den Fingern und wandte den Blick ab, als es ihm zu menschlich wurde, Herbert einen Kuss auf den Schopf drückend. 
Der reckte sich mit einem letzten versichernden Blick zu Leo nach vorne, in Richtung Schürk. Seine Nasenflügel weiteten sich und er schien dem Geruch des anderen Mannes zumindest insoweit etwas abgewinnen können, als dass er sich noch ein Stück näher schob. Probeweise schlug seine Rute und nach einem weiteren, kurzen Zögern leckte er über Schürks lange Finger, erschreckte sich dann jedoch vor seiner eigenen Courage und floh ungelenk und diverse Tupperschüsseln mit sich nehmend durch den zweiten Durchgang ins Wohnzimmer. Leo selbst verlor über den plötzlichen Abgang das Gleichgewicht und landete unelegant auf seinem Hintern. Wenigstens der Boden war dank Fußbodenheizung warm. 

„Das lief ja wunderbar“, spottete Schürk zynisch im gleichen Moment, in dem die Tür aufging und Caro ihren Kopf in den Flur steckte. 
„Kommt ihr beiden oder wollt ihr Weihnachten alleine im Flur verbringen?“, fragte sie grinsend und Schürks Mimik wandelte sich beinahe augenblicklich. Der Hochmut, der bisher Leo gegolten hatte, wandelte sich in ein geschäftsmäßiges und falsches Lächeln. 
„Wir kommen gleich.“
Caro hob vielsagend ihre Augenbrauen. „Alles klar ihr Turteltauben. Lass ihn aber nicht zulange da unten sitzen, sonst schläft er ein. Wäre nicht das erste Mal.“
Leo grollte. „Stimmt gar nicht“, wehrte er sich mehr schlecht als Recht gegen ihren Vorwurf und sie grinste. 
„Hmh, klar. Bis gleich!“ Mir nichts, dir nichts verschwand sie wieder ins Wohnzimmer, ließ sie erneut alleine.

Leo grollte und wollte sich hochrappeln, kam aber nicht wirklich weit. Seine vorherige Fahrlässigkeit, anzunehmen, er könne im Haus seiner Eltern sicher Alkohol trinken, machte ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Er versuchte es wirklich, sich zu erheben, doch seine Beine und Arme wollten nicht so wie er. 

Schnaufend blieb er schließlich sitzen und überlegte, ob es legitim war, ins Wohnzimmer zu kriechen. Seine Familie würde vermutlich Fotos machen und es ihm nächstes Jahr noch aufs Brot schmieren. Also wenn er dann noch da war. Aber die Alternative war auch nicht so schön. 

„Das ist schon erbärmlich“, urteilte Schürk und streckte ihm die Hand entgegen. Leo grunzte und starrte die langen Finger an. Irgendetwas war komisch, befand er, wusste aber nicht wirklich was. Vielleicht, dass Schürk ihm aufhalf? Stimmt, das hatte er noch nie getan, im Gegenteil. Spannend war das. Darüber sinnierend schlug Leo neugierig ein, was passieren würde. 
„Fast so erbärmlich wie mich mit meiner Liebe zu Matthias zu erpressen“, entgegnete er leise und wurde prompt wieder losgelassen. Unsanft fiel er zurück auf seinen Hosenboden und starrte anklagend an Schürks langen Beinen und langem Oberkörper hoch. 
„Arschloch“, entkam es ihm ehrlich und zum zweiten Mal presste er sich die Hand auf die Lippen. Nicht gut, gar nicht gut. 

„So langsam ahne ich, warum du dich einem guten Glas Wein verweigert hast“, erwiderte Schürk ungnädig und packte nun seine beiden Hände. Unwirsch zog er ihn hoch und Leo strauchelte im ersten Moment. Er fing sich noch bevor er sich an Schürk abstützen konnte und nutzte den Türrahmen als Möglichkeit, nicht wieder umzufallen. Die Welt drehte sich träge und als sie erneut in ihre angestammten Bahnen fand, trat er einen Schritt nach vorne und bedeutete Schürk, ins Wohnzimmer zu gehen. 

Je schneller er diese Katastrophe hinter sich brachte, umso besser. Dass er jetzt keinen Wein mehr trinken würde, war klar und Leo fragte sich, wie seine Familie wohl gucken würde, wenn Schürk ihn knien ließ. Naja…wenigstens hatte er Fußbodenheizung und Herbert würde auch da sein. Er liebte es, wenn Leute auch auf dem Boden knieten oder saßen. 

Wenigstens einer. Nein, zwei. Schürk ja auch.


~~**~~  


Es war ein Fehler gewesen, hierhin zu fahren. Ein Fehler, stehen zu bleiben. Ein Fehler, sich von Hölzers Schwester den Autoschlüssel klauen zu lassen. Adam war der Meinung gewesen, dass der Abend nach der Dreckssau nicht noch beschissener hatte werden können. Doch dann wurde er in ein Haus gezogen, das zu warm war, zu heimelig roch. Er sah Hölzer, der nur deswegen entspannt war, weil er ordentlich die Lampe am Brennen hatte. Der deswegen auch gleich noch offen genug war um ihn dazu zu nötigen, diesen Scheißköter anzufassen. Und ihn zu beleidigen. Und ihm seine Erpressung direkt ins Gesicht zu schmieren. 

Adam hasste Hunde. Er hasste diese bissigen Tiere schon seit sein Vater seinen damaligen Hund auf ihn gehetzt hatte. Damit er sich wehrte. Damit er zu einem richtigen Mann wurde. Adam trug die Narben des Angriffs heute noch auf seinen Unterarmen und Hölzer hatte nichts Besseres zu tun als darauf zu bestehen, dass dieses Vieh an ihm roch. Und seinen Sabber auf Adams Fingern verteilte. Und nun musste er auch noch inmitten dieses ekelhaften Vorstadtglücks Platz nehmen und hatte als Krone des Ganzen die Hand von Hölzers Mutter auf der Schulter, die sich zu ihm hinunterbeugte und ihn warm anlächelte. 

„Was kann ich Ihnen zu trinken bringen, Adam? Wir haben Wein, Glühwein, Softdrinks, Wasser…“
Er sah ihr in die grünen Augen, die sie ihrem Sohn vererbt hatte und die in ihm nichts Böses sahen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Jüngsten, der schwankend neben ihm saß und wie eine Lavalampe anscheinend seine wabernde Welt ausgleichen musste. 

„Wasser passt“, erwiderte Adam knapp und schon hatte er ein buntes Glas mit Weihnachtsmännern vor sich stehen, das so kitschig war, dass es ihm in den Augen wehtat. Hölzers Mutter schenkte ihm ein und ungebeten kam Adam wieder Leos raue, leise Bitte in den Sinn, seine Familie zu verschonen. Zugunsten der Vergewaltigung seines eigenen Körpers. Adam hatte sich vor etwas mehr als einer Woche gefragt, wie das sein konnte, und bekam nun die Antwort. 

Das hier war schlimmer als in den Filmen, die er gesehen hatte. Das hier war ein spürbarer Familienverbund an Glücksseligkeit. Es war real, nicht auf der Leinwand. Es durfte eigentlich nicht existieren, aber war dennoch zum Greifen nah. Es war so sehr das, was er nie hatte und was er deswegen verachtete, dass er beinahe schon körperliche Schmerzen hatte. 

„Danke“, sagte er etwas ruhiger als vorher und wurde angestrahlt, als hätte er einen Sechser im Lotto verkündet. 
„Möchten Sie noch etwas essen? Wir haben noch genug übrig um eine ganze Mannschaft zu versorgen. Es gibt Sauerbraten, Klöße und Rotkohl.“
„Mama“, mischte sich Hölzer ein, bevor Adam etwas sagen konnte. „Lass ihn. Er will nichts essen.“ 
„Ich hätte gerne etwas“, widersprach Adam dem, alleine um den Mann, der neben ihm saß und ihn nicht aus seinen Augen ließ, zu antagonisieren. Dass er damit nur mäßigem Erfolg hatte, schrieb Adam dem Alkohol zu, denn Hölzer wandte lediglich seinen Blick ab und starrte minimal schwankend zurück auf das Spielfeld mit den schwarz-bunten Steinen. 

Sein Vater hingegen musterte Adam ein weiteres Mal schweigend. „Sie sind also der Freund meines Sohnes“, sagte er schließlich und Hölzer sagte in dem Moment „Nein!“ in dem seine Schwester ein stolzes „Ja!“ konstituierte. 
„Er ist spontan in Leos Wohnung vorbeigekommen“, sagte sie mit einem seltsamen Unterton, der Adams Neugier weckte. So wie es klang, war das etwas, das nicht oft passierte. Warum es aber so außergewöhnlich schien, entzog sich Adams Kenntnis und es machte ihn neugierig. 
„Ist das etwas Besonderes?“, fragte er und Familie Hölzer sah unisono vollkommen auffällig zu ihrem Jüngsten, der wieder in sich und die Steine des Spiels vertieft zu sein schien. Selbst seine Mutter, die ihm in der Küche gerade Essen auf einen Teller lud und diesen in die Mikrowelle schob, steckte den Kopf durch die Tür. 

Hölzer, der sich anscheinend verspätet der Aufmerksamkeit bewusst wurde, sah irritiert hoch. „Was?“, fragte er und sah sich um. 
„Spontane Männerbesuche in deiner Wohnung“, zwinkerte seine Schwester und Hölzer hatte nicht den geringsten Schimmer einer Ahnung. Aber wer war Adam, dass er dem nicht gerne auf die Sprünge half.
„Du erinnerst dich, als Caro zum Spielen da war und ich vorbeigekommen bin. Als wir dieses Spiel mit dem Oktopus gespielt haben.“ Und ob er liebevoll klingen konnte, wenn er das wollte. Sanft. Nicht wie das Arschloch, das er eigentlich war. 

Sein Ton machte Hölzers Augen groß und rund. So ganz anders als sonst.

„Du warst einfach da“, sagte er mit einem minimalen Stirnrunzeln und es stimmte. Es entsprach voll und ganz der Wahrheit. 
 
„Einfach da“, murmelte Hölzers Mutter, während sie Adam ein enorm beladenen Teller des Essens hinstellte, das er sich selbst eigebrockt hatte. Durch seine große Klappe.

Kitschiges Weihnachtsessen, das dazu auch noch gut schmeckte. Selbst aufgewärmt. Tausendmal besser als ekelhafter Kartoffelsalat und ekelhafte Würstchen, ganz abseits davon, dass diese von Bastian zubereitet worden waren. Adam starrte auf den Teller und fragte sich, wie unterschiedlich zwei Familien sein konnten. 

Babsi Hölzer setzte sich ihm gegenüber und griff zu ihrem Glas Wein. Weiß, nicht rot, wie der ihres Sohnes. 
„Kommen Sie hier aus Saarbrücken?“, fragte sie und trank einen kleinen Schluck. Aufmerksam musterte sie ihn und Adam nickte zwischen zwei Bissen Sauerbraten, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, wenn er ehrlich war. 
„Hier geboren und aufgewachsen.“
„Wie schön. Also richtig verbunden mit unserer liebenswerten Stadt?“
Adam ließ die Gabel sinken und kaute das Stück Knödel zuende. „Liebenswert würde ich zwar nicht unterschreiben, aber ja“, stimmte er zu und Hölzers Aufmerksamkeit war ohne Unterlass auf ihn gerichtet. Unablässig sah er ihn an, Mut unterstützt durch Wein. Den er nicht mehr anrührte, ganz seines Mottos treu.
Seine Mutter brummte und hob ihr Glas. „Schön, dass Sie hier sind.“

Nein, das war es nicht und vermutlich waren ihre Worte deswegen so schmerzhaft tief in ihm. Doch was war Adam, wenn nicht gewohnt, über unangenehme Umstände hinwegzusehen. 
„Ich habe Ihr Spiel unterbrochen“, schnitt er ein anderes Thema an und deutete auf die Steine. „Wie heißt es?“
„Qwirkle heißt es und unsere Brut liebt es, uns dabei abzuziehen.“

Adam warf einen Blick auf die Steine und erkannte nach und nach das Spielprinzip. 
„Wer ist dran?“
„Der hübsche Mann neben dir“, grinste Caro und Hölzer grollte. Adam ließ seinen Blick weiterschweifen und erkannte, dass anscheinend jeder der Spieler seine Steine vor anderen verdeckt hielt. Also ein Strategiespiel um besser zu sein als die Mitspielerinnen und Mitspieler. 
Er beugte sich zu Hölzer, nahe genug um dessen Geruch aufnehmen zu können, den er so sehr mochte, und deutete auf die Kreise, die dieser sorgfältig nebeneinander sortiert hatte. 
„Also wenn du den roten, gelben und grünen Kreis anlegst, dann könntest du Punkte machen?“, fragte er mit einem unschuldigen Lächeln und noch viel unschuldiger erhobenen Augenbrauen, die auf Hölzers zähneknirschende Ungnade trafen. 

„Danke. Vielmals“, presste der Mann neben ihm hervor und Adam begann sich zumindest in Ansätzen in seinem Element zu fühlen. 
„Gerne“, zwinkerte er und griff sich Hölzers Weinglas, trank mit festem Blick auf die grünen Augen einen guten Schluck trockenen Rotweins. Er mochte ihn, insbesondere, weil er wusste, dass Hölzer den Wein nun doppelt nicht anrühren würde. 
Mord stand in den Augen seines hauseigenen Polizisten und Adam nahm es als Rache für den eiskalten See. Und für das Arschloch. Zumal ihm der Ausdruck um Längen lieber war als die tiefgreifende Verzweiflung von ihrem letzten Treffen in seiner Wohnung.

„Na los, leg sie. Wieviel Punkte geben sie überhaupt?“
„Fünf“, knirschte Hölzer und Caro lachte vergnügt. 
„Und wenn jemand den sechsten Kreis legt, gibt das ein Qwirkle und damit zwölf Punkte“, erläuterte sie und Adam sah hoch.
„Den du mit Sicherheit bei deinen Steinen hast, deiner Vorfreude nach zu urteilen“, erwiderte er und sah an ihrem vielsagenden Grinsen, dass er Recht hatte mit der Annahme. 

Während Adam sich wieder über die Reste des Essens hermachte, ein Auge immer auf den Hund am Weihnachtsbaum gerichtet, vollendete nicht Caro, sondern Hölzers Vater, der vor ihr dran war, die Reihe und die Familie stöhnte unisono auf. 
„Ey, Papa!“, grollte Caro unerfreut und Hölzers Vater lächelte zufrieden. Zumindest bis sein Blick auf Adam fiel und dieser vor eben jener Strenge innerlich zurückwich. Vincent hatte zwar gemeint, dass diese Familie nicht durch häusliche Gewalt auffiel, aber man wusste ja nie.

Was, wenn der Patriarch doch gewalttätig war und seine Kinder schlug oder geschlagen hatte? Irgendwoher musste Hölzer seine selbstzerstörerischen Tendenzen beim Sex ja haben, wenn nicht durch ein Trauma.


~~**~~


„Wenn Sie mich einen kurzen Moment begleiten wollen?“

Es war schon geschickt, wie die Schwester und die Mutter dafür gesorgt hatten, dass Hölzer mit ihnen und Herbert schlussendlich nach draußen ging, während der Vater, der ihn den Abend, den sie mit einigen Runden Qwirkle verbracht hatten, mit Misstrauen beäugt hatte, nun mit ihm alleine war. Ohne jede Frage fühlte sich Adam unsicher, wie immer, wenn er privat mit Vätern alleine war. Was selten genug vorkam, da Adam es vermied wo er nur konnte. Sein Dank dafür ging an die Dreckssau, die ihm solche Menschen für alle Ewigkeiten verleidet hatte. 

Die Frage war, warum der ältere Mann mit ihm sprechen wollte. War es der klassische Vater-Sohn-Konflikt eines Vorstadtvaters, der seinen schwulen Sohn nicht akzeptierte? Hölzer Senior war alt genug und wenn Adam die Dreckssau als Vergleich nahm, dann würde es auf jeden Fall der Grund sein. Solche Väter akzeptierten nicht, wenn der Sohn keine Frau nach Hause brachte. Und Hölzer Junior war in dem richtigen Alter um Kinder zu haben, eine treu sorgende Frau und ein hübsches Häuschen am Stadtrand. 

Wenn er sich nicht den Arsch wundficken lassen würde. 

„Natürlich“, lächelte Adam geschäftsmäßig aalglatt und begleitete Hölzer Senior in die Küche, nahm sein Glas und den leer gegessenen Teller mit sich. Hölzer öffnete die Spülmaschine und Adam suchte sich einen freien Platz in der bereits jetzt schon vollkommen überladenen Spülmaschine. 

„Was wollen Sie von meinem Sohn, Herr Schürk?“, fiel der Vater mit der Tür ins Haus und Adams Kopf schoss ruckartig hoch. 
Woher wusste er…? Adam hatte sich den ganzen Abend nicht mit Nachnamen vorgestellt. Hatte der Junior geplaudert, trotz besseren Wissens? 
Hölzer Senior lächelte knapp, als er seine Überraschung sah. „Ich bin Bausachbearbeiter bei der Stadt Saarbrücken. Natürlich kenne ich Sie und Ihren Vater. Ich kenne Ihren Ruf und Ihren Hang zu Geschäften, die gerade noch an der Grenze der Legalität sind. Meine Kolleginnen und Kollegen sagen nichts Gutes über Ihre Auftritte bei uns. Also. Was wollen Sie von meinem Polizistensohn, der in Ihrer Gegenwart erstaunlich ruhig ist und der Sie mit keinem Wort erwähnt hat?“

Adam fror in seiner Bewegung ein und starrte den Mann an, von dem sein Sohn anscheinend den scharfen Verstand geerbt hatte. Er blinzelte und ließ so Sekunden verstreichen, wertvolle Sekunden, die er für eine plausible Erklärung benötigen würde. Dafür, dass der andere Mann ihm diese auch abkaufte.
„Ich will seine Gesellschaft“, sagte Adam und richtete sich langsam auf. „Er hat Ihren scharfen Verstand und…“
Mit einer knappen Geste bedeutete der ältere Mann ihm zu schweigen und Adam hasste den von klein auf in ihn eingeprügelten Gehorsam, der ihn beinahe augenblicklich verstummen ließ. 
„Ich falle auf Komplimente und Schmeicheleien nicht herein, Herr Schürk. Sparen Sie sich beides, ich möchte die Wahrheit.“

Adam holte Luft – um sich eben ein zweites Mal in Schmeicheleien zu ergehen. Er schluckte die Worte jedoch hinunter und schüttelte den Kopf. 
„Wir haben uns während der Arbeit kennengelernt und er interessiert mich. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Ist das Interesse beidseitig?“
„Mit Sicherheit“, log Adam. Hölzers Interesse lag darin, ihn hinter Gittern zu bringen und ihn loszuwerden. Aber wenn er dem Mann vor sich sagte, dass er seinen Sohn erpresste und diesen beinahe in den Mord und Selbstmord getrieben hatte, dann würde Vincent den Fallout dessen mit Sicherheit nicht einfangen können. 

„Und dass er ein Polizist ist, ist kein Problem?“
„Ich wüsste nicht, warum. Die Geschäfte meines Vaters und meine eigenen sind nicht gesetzeswidrig. Ihr Sohn ist im Morddezernat. Hinzukommt, dass ich niemanden umgebracht habe, von daher ist es kein Problem.“
Hölzer Senior glaubte ihm kein Wort, veräußerte diese Zweifel jedoch nicht. Seine steil gerunzelte Stirn tat das für ihn. „Er weiß, wer Sie sind?“
„Natürlich weiß er das. Er kennt meinen vollen Namen und ich habe ihm mitgeteilt, als was ich arbeite.“ Es stimmte – auf eine pervertierte Art. 

Hölzer Senior schwieg und machte sich daran, auch noch das übrige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Sorgsam räumte er Stück für Stück weg und Adam verharrte bewegungslos. Seine Mitarbeit war nicht gefragt und auch nicht erwünscht, wie er an den angespannten Schultern seines Gesprächspartners sah. Es dauerte trotzdem etwas, bis er sich aufrichtete und sich gegen die Küchenplatte lehnte, die Hände locker in seinen Hosentaschen. 

Unerfreut musterte Hölzer Senior ihn, als er fertig war. 

„Wie Sie sich denken können, liegt mir das Wohlergehen meines Sohnes am Herzen. Meiner ganzen Familie, aber hier im Speziellen meines Sohnes. Er ist nicht nach Saarbrücken zurückgekehrt, um sich das Herz brechen zu lassen.“

Das war eine eindeutige Warnung und Adam war tatsächlich erleichtert. Er lächelte versichernd. 

„Ich bin nicht gekommen um ihm das Herz zu brechen“, erwiderte er mit dem Brustton der Überzeugung. Schließlich konnte Hölzer das Herz nur gebrochen werden, wenn er sich in ihn verliebte und Adam diese Liebe mit Füßen treten würde. Mit Sicherheit würde Hölzer das nicht tun und somit war die Gefahr gebannt. Zu hundert Prozent. Dass er seinen Sohn beinahe im Ganzen gebrochen hätte, das verschwieg Adam Hölzers Vater gegenüber. Denn das würde der Mann vor ihm mit Sicherheit nicht einfach so hinnehmen. Zumal es auch niemals auch nur eine Sekunde in Adams Absicht gelegen hatte. Er hatte Hölzers allgemeinen Widerstand brechen wollen, ja. Aber niemals sein ureigenes Selbst.  

Hölzer Senior nickte, hochkritisch. „Ich nehme Sie beim Wort.“

Adam erkannte eine Drohung, wenn er sie hörte. Etwas in ihm rebellierte dagegen und wollte sich mit Zähnen und Klauen gegen die Worte eines unwichtigen Bausachbearbeiters wehren, der ihm mitnichten gefährlich werden konnte. Es wollte verletzen und Überlegenheit demonstrieren. 
Mochte es dieses Haus voller einlullender Gerüche und weihnachtlichem Schnickschnack sein, einem pervers geschmückten Baum aus dem Katalog, Geschenken, die darunterlagen, einem Kamin, der vor sich hin knisterte. Mochte es die Atmosphäre einer glücklichen Familie sein, die sich nicht schlug, die Adam davon abhielt, nun tatsächlich auf den anderen Mann loszugehen. Mit Worten und seiner anerzogenen Widerlichkeit. 

Oder waren es doch Vincents Worte, seine dringende Warnung, nicht zu weit zu gehen und Adams nun aufkommendes schlechtes Gewissen?

Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild von Hölzer Junior auf, wie er sich aus Verzweiflung die Waffe in den Mund steckte und abdrücken wollte. Weil er ihn dort hingetrieben hatte. Das war ein Gedankengang, der Adam immer noch Magenschmerzen verursachte und der ihn immer noch schmerzte.

„Machen Sie das“, stimmte Adam zu und schluckte den bitteren Geschmack in seinem Mund hinunter. Hölzer nickte bedächtig.
„Leo und ich haben ein gutes Verhältnis“, begann er und Adam wunderte sich, wohin das Gespräch gehen würde. „Mittlerweile weiß ich, wie er tickt. Ich weiß, wann er lügt und wann er etwas ehrlich meint.“
Adam konnte dem zustimmen. Hölzer Junior war ein offenes Buch in seinen Lügen. Er war ehrlich und gradlinig, was es Adam einfacher machte, ihn einzuschätzen. Nicht einfach genug, aber einfacher. 

„Als er hier vor acht Tagen nach seinem Einsatz angekommen ist, mit Würgemalen und einem Bluterguss am Jochbein, da war er fix und fertig…“
Adam verharrte unbewegt. Dafür war er verantwortlich. Nur er, nur seine Wut, die er nicht unter Kontrolle gehabt hatte. Vincent hatte ihm dafür den Kopf gewaschen und Adam konnte dem nur beipflichten. Er hätte das niemals tun sollen. 

„…und er hat gelogen.“

Vollkommen ruhig bohrten sich Hölzers Augen in Adams und hielten ihn an Ort und Stelle. Der Mann hatte eine Vermutung und mit der lag er goldrichtig. Das würde Adam ihm aber nicht sagen, mit keinem Wort. Es galt die Version, die sein Sohn ihm aufgetischt hatte. Die Wahrheit blieb zwischen Vincent, Hölzer Junior und ihm. 

„Welcher Vater würde akzeptieren, dass seinem Sohn Gewalt angetan wird?“, fragte sein Gegenüber und Adam lachte innerlich auf. Die Dreckssau. Zum Beispiel. Da gab’s eigentlich gar nicht so wenige, die das genauso wie das Arschloch sahen. Dass Hölzer Senior das nicht so sah, machte ihn irgendwie sympathisch. Zum Kotzen liebenswert. 

„Keiner?“, antwortete Adam probeweise und Hölzer lachte kurz auf. 
„Zu viele. Ich gehöre jedoch nicht zu ihnen. Ich will, dass Sie sich das einprägen und es zu Ihrem Lebensinhalt machen, wenn Sie meinen Sohn anschauen oder berühren.“
Oh, das würde Adam. Er war nicht wie sein Vater. Diese Entscheidung hatte schon vor acht Tagen getroffen.

„Ich habe verstanden“, sagte Adam und Hölzer bewegte sich. Genaugenommen nahm er zu schnell seinen Arm hoch, anscheinend um an einen der Schränke neben sich zu kommen. Das sah Adam aber verspätet und im ersten Moment gar nicht. Im ersten Moment sah er nur einen älteren Mann, einen Vater, der die Hand zum Schlag erhob und vor der er sich schützen musste. 

Also tat Adam das, was er instinktiv tat, wenn er nicht in der Lage dazu war, auszuharren. Er wich zurück und zog die Schultern hoch, den Kopf ein, schützte sich vor einer Gewalt, die sonst kam. Er drehte sich zur Seite, um sein Gesicht zu schützen. 
Es passierte nichts, dafür war das Schweigen umso schwerer, das sich zwischen ihnen ausbreitete. Adam schluckte, als sein logisches Denken begriff, was gerade geschehen war und dass er nicht in Gefahr war. Er richtete sich langsam auf straffte seine Schultern. Verdammt nochmal, das hätte nicht passieren sollen. Nicht Hölzer gegenüber, der das natürlich an seinen Sohn weitergeben würde. Adam knirschte mit den Zähnen. 

Der Patriarch brummte und seine strenge Mimik wandelte sich innerhalb von Sekunden in etwas, das Adam da garantiert nicht sehen wollte. 
„So ist das also“, sagte Hölzer schließlich mit einer Nachsicht, die Adam nicht verdient hatte und die er mit Sicherheit nicht wollte. Er hatte aber auch nicht die Kraft, dem zu widersprechen, also wandte er den Blick ab und starrte ersatzweise auf den Schnee außerhalb dieses Hauses, der alles besser machte. 

Fast alles.
  

~~**~~


Mit jedem Schritt, den er mit seiner Mutter, seiner Schwester und Herbert durch die eiskalte Nacht tat, war Leo ein Stück nüchterner geworden. Der betäubende Alkohol hatte sich aus seinen Gedanken gewaschen und hinterließ nun die schlimme und bittere Erkenntnis, dass Schürk tatsächlich hier war. Bei seiner Familie, alleine mit seinem Vater. Schürk, der ihm erst gedroht hatte, seiner Familie zu schaden und es dann lapidar zurückgenommen hatte. 

Leo fiel es schwer, es ihm zu glauben.

Das, was heute Abend passiert war, konnte nicht gut sein. Sein Widerspruch war eine Katastrophe. Dass er Schürk beleidigt hatte, ebenso. Oder dass er ihn dazu genötigt hatte, Herbert anzufassen. Was, wenn Schürk das zum Anlass nahm, den Hund zu töten, vor dem er augenscheinlich solche Angst hatte? 
Schürk hatte doch selbst gesagt, dass er ihn erst nach Weihnachten wiedersehen würde und Leo hatte sich sicher genug gefühlt, Alkohol zu trinken und sich einfach fallen zu lassen. Was daraus wurde, hatte er jetzt auf einem Silbertablett vor sich. Und was war überhaupt Schürks Grund? Weil er vorher vor ihrem Haus im Auto gewartet hatte. Wie ein Stalker. Wie ein Bewacher. Vermutlich wieder ohne Vincent zu informieren. 

Wieder einmal machte Schürk das, was er wollte und nicht das, was als Handlungsrahmen vorgegeben war. Was er selbst als Rahmen vorgegeben hatte. 

Die Frage war, wie sehr konnte Leo sich dann auf seine Versprechungen seiner Familie bezüglich verlassen? Seit er versucht hatte, sie Drei umzubringen, hatte Schürk nichts Anderes gesagt als dass seine Familie sicher sei. Vincent hatte das ebenfalls gesagt. Aber war darauf Verlass? 

Nein. Wenn es Schürk in den Sinn kam, dann würde er sich an seinem Papa, seiner Mama oder seiner Schwester vergreifen um Leo zu verletzen oder ihn zum Gehorsam zu zwingen. Egal, was er vorher gesagt hatte. 

Sie betraten das Haus und Leo sah sich dem Grund seiner wild umherlaufenden Gedanken gegenüber, der sich gerade seine Schuhe anzog, neben ihm sein Vater mit weniger Strenge auf seinem Gesicht als zuvor. 

„Oh, gehen Sie schon?“, fragte seine Mutter mit Bedauern und Leo schluckte schwer. Was war zwischen seinem Papa und Schürk passiert? Worüber hatten sie gesprochen? Schürk nickte mit einem falschen Lächeln. 
„Ich bin müde und muss morgen früh aufstehen.“
„Du könntest hier schlafen“, schlug Caro zu Leos Entsetzen und Schürks Belustigung vor. Er würde mit Sicherheit nicht zulassen, dass Schürk auch noch im Haus seiner Eltern schlief. Oder in seinem Kinderzimmer. Mitnichten würde er das. Für einen Augenblick sah der blonde Mann so aus, als würde er dem Vorschlag seiner Schwester folgen wollen und Leo rann es eiskalt den Rücken hinunter. Bitte nicht. 

Schürk erlöste ihn aus seiner Angst und schüttelte den Kopf. „Ich fahre zurück. Vielen Dank für die Gastfreundschaft und die warmen Worte.“
Der letzte Teil des Satzes richtete sich explizit an seinen Vater und Leo schluckte. Er hätte die Beiden niemals alleine lassen dürfen. Er hätte dabeibleiben müssen und sich nicht im alkoholbenebelten Zustand vom weiblichen Teil seiner Familie weg von Schürk ziehen lassen sollen. 

Seine Mama und Caro winkten dem blonden Mann, nur sein Vater brachte noch nicht einmal ein Nicken zustande, was Leo mehr und mehr in seinem Verdacht und seiner Angst bestätigte, dass die Beiden über etwas gesprochen hatten, das ihnen allen zum Nachteil gereichen konnte.  

„Bringst du mich noch zum Wagen?“, fragte Schürk, nachdem Caro ihm schmollend seinen tatsächlich eingesackten Schlüssel wiedergegeben hatte und Leo nickte schweigend. Sobald Schürk und er aus der Hörweite seiner Familie herauswaren, würde der andere Mann mit Sicherheit seine neutrale Maske fallen lassen. Es ließ Leos Herz schneller schlagen und mit jedem Schritt begriff er mehr, wie groß die Verantwortung war, die nun auf ihm lastete, dass Schürk nicht ausrastete. Doch war er wirklich wütend? Leo konnte es schwer einschätzen. Der Abend als solcher war keine Katstrophe gewesen. Schürk hatte ihn zwar provoziert, aber mit keinem Wort zu erkennen gegeben, dass er seiner Familie Schaden zufügen wollte. Er hatte sich…normal verhalten. Hatte die Spiele mitgespielt und Konversation betrieben, als würde er ihn nicht erpressen. Bis auf ein paar Ausreißer. 

Leo hatte Angst, jetzt in diesem Moment, aber während des Abends hatte er das Gefühl nicht gehabt und wenn er sich an etwas festhielt, dann daran. Schürk hatte es nicht geschafft, ihm gänzlich seinen Heiligabend zu ruinieren.

Schweigend folgte Leo ihm zum Wagen. Schürk lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme. Bis auf den Rollkragenpullover trug er keine Jacke und kalt war es alle Male. 
„Wie geht es deinem Hals“, fragte er ernst und ohne Umschweife und Leos Hand legte sich unbewusst auf die kaum mehr sichtbaren Stellen. 
„Die Hämatome verschwinden.“ Schlucken tat ihm auch nicht mehr weh. 
„In deinem Gesicht sehe ich ihn auch nicht mehr.“ Den Bluterguss des Schlages, den Schürk geführt hatte. „Was hast du den Dreien erzählt?“
Der lauernde Unterton kam Leo wie eine Fangfrage vor und er runzelte die Stirn. „Das, was Vincent wollte. Ein Einsatz, der schiefgelaufen ist. Der Grund für meine Krankschreibung.“
Schürk nickte langsam und Stille trat zwischen sie. 

„Ich will dich nach Weihnachten sehen“, sagte Schürk und es schien Leo wie der Versuch, ein Gespräch ans Laufen zu bringen. 
„Das hast du vor einer Woche auch gesagt und bist trotzdem heute hier.“
„Das war etwas Anderes. Heute wollte ich dich nur sehen und nicht treffen.“
Ich will dich aber nicht sehen, erwiderte Leo stumm und presste die Lippen aufeinander. Er sah zur Seite, damit seine verräterische Mimik keine schlafenden Hunde weckte. 
„Wenn deine Schwester nicht drauf bestanden hätte, dass ich mit reinkomme, hättest du gar nicht gewusst, dass ich da bin.“

Leo schnaubte wider besseren Wissens. Soviel zum Thema nicht provozieren. Als wenn Schürk ihm das auf Dauer durchgehen lassen würde. „Und das macht es besser, dass du hier stehst und uns bei was zuschaust? Wie wir essen? Spiele spielen?“
„Was du nicht weißt…“, winkte Schürk ab, doch Leo unterbrach ihn unwirsch.
„…ist trotzdem da! Und ich weiß es doch. Du hast neben mir gesessen. Im Haus meiner Eltern. Du hast meinen Wein getrunken und dich von meiner Mutter bewirten lassen. Du hast alleine mit meinem Vater gesprochen.“ Leo schüttelte den Kopf und zog seine Schultern hoch. Ihm war nicht kalt, aber unwohl. „Und wenn du nur im Wagen geblieben wärst, was dann? Bin ich dein persönliches Fernsehen? Habe ich nie Ruhe vor dir? Wird es so weitergehen wie vor acht Tagen?“

Verzweiflung stahl sich in seine Stimme, in seine Worte, in die Ruhe des Tages…der vergangenen Tage. Sie schmeckte wie das, was ihn die letzten Wochen begleitet hatte und Leo wurde übel bei dem Gedanken an die Spirale, die ihn erwarten würde. So einfach war es also, wieder zurück zu fallen und sich bewusst zu werden, dass er viel war, aber nicht frei. Nicht von diesem Mann, der keine Grenzen kannte. 

„Wird es nicht“, erwiderte Schürk unterkühlt in eben jene Gedanken hinein und Leo sah hoch. 
„Das soll ich dir wie die Male davor auch glauben?“
Schürks Mimik sagte Leo, wie wenig erfreut er über diesen Widerspruch war. Wie wenig auch Leos Verzweiflung Gewicht für ihn hatte. Also würde sich nichts ändern. Natürlich nicht. Er schluckte schwer und räusperte sich. 
„Ich ziehe meine Frage zurück. Ich…“
„Folgender Fahrplan“, unterbrach Schürk ihn nahtlos und Leo verstummte. „Nach Weihnachten, wenn du wieder im Dienst bist, sehen wir uns alle zwei Wochen. Einen Tag am Wochenende, welchen, wirst du dir aussuchen. Ausnahmen sind Ereignisse, die dich oder mich daran hindern. Du wirst mir oder Vincent darüber hinaus jede Woche Bericht erstatten, was in deiner Dienststelle und in deinen Ermittlungsfällen vor sich geht. Das ist der Fahrplan. Beruhigt dich das?“

War das erneut eine Fangfrage? Sollte das Schürks Ernst sein? Für wie lange war das denn der Fahrplan, bis Schürk sich dazu entschloss, dass er ihn doch lieber wieder jeden Tag sehen wollen würde?
„Es würde mich beruhigen, wenn du nicht in meinem Leben wärst“, gab er zurück und Schürk lächelte sein dunkles Lächeln. 
„Pech gehabt. Diesen Wunsch erfülle ich dir nicht. Mein Gegenangebot kennst du jetzt.“
Ein ganztägiges Treffen alle zwei Wochen war ein Gegenangebot? Sollte das ein Kompromiss sein? Leo schüttelte sich innerlich. „Alle drei Wochen“, versuchte er sein Glück und Schürk lachte überrascht auf. 
„Oh da glaubt jemand, handeln zu können. Wer glaubst du, hält hier die Zügel in der Hand?“, fragte Schürk zynisch und Leo schluckte seine Worte hinunter. Die Erinnerung an die Natur ihrer Zusammentreffen reichte. Daran, dass er nicht derjenige war, der das Recht hatte, nein zu sagen. 

Er senkte die Augen auf den verschneiten Bürgersteig und wartete, dass noch etwas kam. Doch da war nichts. 
„Kann ich gehen?“, fragte er, als das Schweigen viel zu unangenehm wurde und Schürk brummte bestätigend. Leo wandte sich ab und kam genau einen Schritt weit, bevor ihn Finger auf seinem Unterarm zurückhielten. 
Schürk drehte ihn zu sich herum und Leo erkannte Ernst auf dem kantigen Gesicht, keinen Spott oder Hohn. 
„Bis Ende Mai alle drei Wochen. Danach alle zweieinhalb Wochen bis Ende Oktober. Danach alle zwei Wochen. Das ist mein Gegenangebot.“

Schürk hielt ihn immer noch fest, fiel Leo auf, ebenso, dass der andere Mann zitterte. Vor Kälte vermutlich. Das war das Erste, was ihm in den Sinn kam, bevor er die Worte seines Gegenübers begriff. Seine Augen huschten über dessen Gesichtszüge, versuchten auszumachen, ob er angelogen wurde. Ob Schürk es zumindest in Ansätzen ernst meinte. Leo fand nichts Gegenteiliges. Schürk plante es also dauerhaft. Er verplante schon das ganze nächste Jahr. Da dachte er weiter im Voraus als Leo. War optimistischer, dass er nicht aufflog. 

„Okay“, erwiderte Leo schlicht, weil er nicht wusste, was er sonst erwidern sollte und Schürk nickte knapp. 
„Gut.“ Schürk ließ ihn immer noch nicht los und Leo hob seine Augenbrauen. Im Gegensatz zu dem blonden Mann hatte er eine Jacke an, in der es durchaus warm war. 
„Ich will, dass du lebst“, sagte Schürk und es war eine seiner seltsamen, aus der Luft gegriffenen Formulierungen. Leo nickte. 
„Das will ich auch. Leben“, stimmte er zu, aber mit Sicherheit nicht auf die Art, die Schürk meinte. Er wollte sein Leben leben, nicht das eines Anderen.

Schürk ließ ihn los und nickte knapp zum Haus. „Geh zurück zu deinem Kitschweihnachten.“

Wenigstens hatte er eins und musste nicht im Dunkeln im Wagen sitzen, entgegnete Leo in Gedanken und erst in der Wärme des Hauses fiel ihm ein, wie wahr das war. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 16: Frohes Neues

Notes:

Einen wunderbaren Mittwoch euch allen!

Hier nun der neue Teil, es gibt keine Triggerwarnungen, dafür aber ein Mini-nsfw. Viel Spaß euch beim Lesen! ;)

Vielen Dank euch allen für eure Kommentare, Kudos, Klicks. :3

Chapter Text

 

„Adam?“

Besorgt musterte Vincent ihn, nur in einem Bademantel halb verborgen hinter seiner Wohnungstür. Kein Wunder, denn Adam hatte sich nicht angekündigt, war einfach vorbeigefahren. Er hatte nicht die Worte in sich gehabt, um Vincent am Telefon beschönigend zu erklären, was passiert war und welchen Mist er jetzt schon wieder gebaut hatte, so war er einfach gefahren. Weg von der kitschig-friedlichen Vorstadt mit ihren heimelig riechenden Häusern und Spiele spielenden Familien und hinein in die Innenstadt mit ihren Bausünden, in denen sich Weihnachten ausdünnte und zu etwas verkam, das mehr Adams Leben war. 

Der Einblick, den er heute erhalten in das hatte, was Hölzer und seine Familie teilten, war nicht normal, und umso besser war es, wenn er sich wieder auf sein Leben besann. Vincent als Teil seines Lebens war um Längen wichtiger und so stand Adam nun vor ihm. 

„Darf ich reinkommen?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte und Vincent nickte besorgt. Seine Wangen waren leicht gerötet und Adam mochte wetten, dass er etwas unterbrochen hatte, was mit seinem Namensvetter zu tun hatte.
Vincent lächelte und fasste ihn bei der Hand, zog ihn hinein in die warme Wohnung. 
„Komm setz dich schonmal auf die Couch.“

Adam streifte sich die Schuhe ab – zum zweiten Mal an diesem Abend – und ging durch Vincents breitgefächertes Sammelsurium an persönlichen Erinnerungen, die seine Wohnung be    wohnten. Anders als Adam hatte er überall Bilder von seiner Vergangenheit, seiner Familie, seinen Ausflügen durch die Welt. Von Alltäglichkeiten, die auch Adam einschlossen. Schnappschüsse von ihnen allen, ausgedruckt und aufgehängt. Vincent liebte Flohmärkte und entsprechend chaotisch sah seine Wohnung auch aus. Möbel aus allen Epochen, Einzelstücke, die er in Kleinarbeit wieder aufwertete. Die Wohnung hatte mehr Leben in sich als alles, was Adam besaß, stellte er immer wieder fest, aber darauf kam es ja auch nicht an. Adam war es wichtig, einen eigenen Ort zu haben, wie dieser aussah, hatte ein Innenarchitekt bestimmt. Sein einziges Kriterium war gewesen, dass es nicht aussah wie im Bunker. Der Rest? Egal. 

„Ist er noch dran?“, fragte er und Vincent brummte bejahend. 
„Ich beende unsere Skypesitzung aber gleich.“
Wer außer Vincent skypte heute eigentlich noch?, fragte Adam sich und hob die Augenbraue. „Ist er angezogen genug um Hallo zu sagen?“
„Lass mich ihn kurz vorwarnen.“

Adam ließ sich auf die Couch fallen, während Vincent ins Schlafzimmer ging. Nach ein paar Minuten kam er mit seinem Laptop zurück und schmunzelte, als er Adam den Bildschirm zudrehte und sein wenig erfreuter Namensvetter zum Vorschein kam. 
„Adam“, grüßte Adam und der Mann am anderen Ende der Leitung nickte knapp. Seine Wangen waren ebenfalls gerötet und anscheinend war er schon zum Stich gekommen, wenn er sich die darunter liegende Zufriedenheit ansah. 
„Adam.“
„Geht’s gut?“
„Klar. Hab frei. Und dir?“
„Immer.“
„Hm.“

Das war die übliche Länge ihres Gespräches und das, was sie füreinander aufbrachten. Adam akzeptierte und respektierte Vincents On- und Off-Friends-with-Benefits-Beziehung mit dem Polizisten, Vincent verlor im Gegenzug dazu kein Wort über das, was sein Saarbrücken-Adam – so nannte er ihn - wirklich machte. Es war ein gefährliches Spiel, aber Frankfurt an der Oder war weit weg und solange Vincent seinem Herzblatt verkaufte, dass er hier in Saarbrücken als Psychologe glücklich war, war alles in bester Ordnung. 

„Und, war gut?“, fragte Adam in den Bildschirm und sein Gegenüber nickte. 
„Joah, geht. Kann man so nehmen.“
Neben ihm prustete Vincent empört. „Adam!“, murrte er und natürlich antworteten sie beide mit einem mehr oder weniger unschuldigen „Ja?“. Namensvarianz war eben wichtig im Leben…selbst schuld, wenn Vincent sich Männer aussuchte, die gleich hießen. Also nicht, dass er ihn sich direkt ausgesucht hatte, aber er war eben da gewesen, als Vincent ihn gebraucht hatte. Was Adam bis heute nicht bereute. 

Der Adam aus Frankfurt tippte sich mit einem Zeigefinger an die Schläfe. „Bis bald, Schöner. Ich habe noch vier Tage frei.“
Vincent lächelte sein liebevolles Lächeln und beendete dann mit einem leisen Plopp die Verbindung. Er setzte sich neben Adam und strich ihm zärtlich über den Unterarm. 
„Was hat er dir getan?“, fragte er ohne Umschweife und sein schlechtes Gewissen ließ Adam wegsehen. 
„Nur die Geschichte mit dem Jugendamt. Wie üblich. Sonst…nichts.“ Es war nicht nichts, das wussten sie beide, aber Vincent ließ es Adam in diesem Moment durchgehen. Vermutlich weil sein hauseigener Psychologe spürte, dass da etwas Anderes im Raum stand. 

„Willst du dich ankuscheln?“
Vincent mit seinem Kuscheln. Mit seiner körperlichen Nähe, die ach so wichtig war. Adam grollte innerlich. Als wenn er das bräuchte. Er hatte es seine ganze Kindheit nicht bekommen und war trotzdem noch am Leben. Nun aber schien es, als wäre das fester Bestandteil seiner Freundschaft zu Vincent und Adam ergab sich der liebevollen Forderung. Er lehnte sich an Vincent, der ihn nahtlos in die Waagerechte zog, seinen Kopf auf seinen Oberschenkel bettend. 
„Ich bin nicht dein Kind“, beschwerte Adam sich pro forma und Vincent nickte. 
„Das ist richtig, Adam. Aber du siehst aus, als wäre dir kalt und außerdem ist es Weihnachten. Da darf man so etwas.“

Adam fand die Argumentation wenig schlüssig, aber das spielte gerade keine Rolle, denn er war eher damit beschäftigt, Vincents Bemühungen zu verfolgen, ihn in eine Decke einzuwickeln. 
Höhlenbau, hatte Vincent das mal genannt. Ein Kokon aus Wärme und Schutz. Nun ja, mal sehen, wie lange noch, wenn er dem anderen Mann gleich erzählte, was er heute Abend gemacht hatte. 

„Ich habe Mist gebaut“, sagte er und schloss die Augen. Irgendwie wollte Adam Vincents Enttäuschung nicht sehen, wenn er sich schon freiwillig dazu entschieden hatte, das warme Hölzersche Nest zu verlassen. 
„Wieso?“
„Nachdem die Dreckssau mit mir fertig war, bin ich durch die Gegend gefahren und bei Hölzers gelandet. Ich habe draußen im Auto gesessen und wollte eigentlich nur gucken, aber dann hat Hölzers Schwester an die Scheibe geklopft und mir den Schlüssel weggenommen.“ Es kam Adam wie eine Rechtfertigung vor und war es nicht auch eine? Er hätte so viele Dinge anders machen können, angefangen bei der Tatsache, dass er gar nicht erst dorthin fuhr. 

„Ich bin dann mit reingegangen.“

Stille folgte seinen Worten und Adam traute sich nun erst recht nicht, die Augen zu öffnen. Er konnte sich ausmalen, wie enttäuscht Vincent war, dass er wieder sein eigenes Ding gedreht hatte. Wie erzürnt auch, dass er Chaos in die mühsam aufrecht erhaltene Ordnung brachte. 
Vincent atmete ganz leise, ganz bedacht und Adam ahnte, was gleich kommen würde. 

Die Hand in seinen Haaren hatte er allerdings nicht erwartet und zuckte entsprechend überrascht zusammen. Doch sie war nicht brutal, sondern sanft und kraulte sich über seine Kopfhaut. 
„Okay so?“, fragte Vincent und Adam nickte. „Gut.“
Es dauerte eine Weile, bis Vincent erneut das Wort erhob. „Was hast du gemacht?“, fragte er schlicht und Adam schnaubte. 
„Nicht viel. Ich habe am Tisch gesessen, etwas gegessen, Hölzers Wein getrunken, mit ihnen Gesellschaftsspiele gespielt. Hölzer war betrunken und ehrlich.“ Soweit das Harmlose. „Der Patriarch kennt mich aber. Anscheinend hatten die Dreckssau und ich schonmal mit seinen Kollegen und seinem Chef zu tun. Er hat mich gewarnt, seinem Sohn nicht das Herz zu brechen.“ Adam schnaubte und öffnete nun doch seine Augen. Blicklos starrte er auf Vincents Lichterketten, die in ihren warmen Farben leuchteten und die einzige Lichtquelle in der sonst dunklen Altbauwohnung waren. Auch das einzig Weihnachtliche, wenn man sich mit der Interpretation Mühe gab.
„Und mit Hölzer selbst habe ich ausgemacht, dass wir uns alle drei Wochen, dann alle zweieinhalb, dann alle zwei Wochen treffen. Und dass er uns jede Woche Bericht erstattet, was seine Dienststelle anbetrifft.“

Wieder sagte Vincent nichts, sondern lauschte nur. Hörte zu und machte sich seine eigenen Gedanken, zog seine Schlüsse aus Adams Worten. 
„Wie hat sich Leo währenddessen verhalten?“, fragte er schlussendlich, zu wertneutral, als dass es nicht auffällig sein würde. 
„Er war betrunken. Und wütend. Und ehrlich.“
„Verständlich.“

Ja, verständlich war hier einiges. Oder eben auch nicht. 

„Es zieht mich immer wieder zu ihm“, gestand Adam ein. „Geschenkt, ich wollte nicht rein, aber ich wollte ihn sehen. Und als er dann da war und hat kein Blatt vor den Mund genommen, das hat mir gefallen. Ihn herauszufordern hat mir gefallen. Seine Antworten darauf auch. Irgendwie.“
Ein Seufzen ertönte in seinem Rücken. „Ich weiß, Adam. Ich weiß, dass er dein Interesse geweckt hat.“
„Wenn ihm erlaubt ist, Widerstand zu leisten, sollte das doch funktionieren, oder? Dann kann ich ihn herausfordern.“
Vincent brummte und strich von Adams Haaren zu seinen Schultern. In aller Ruhe kraulte er ihm sanft über den Rücken. 
„Er muss aber immer noch das tun, was wir von ihm wollen. Vergiss das nicht. Widerstand ja, aber nicht in Bezug auf seinen Dienst.“

Adam tauchte seine Welt wieder in ein gnädiges Dunkel. Wie sie den Spagat hinbekommen sollten, wusste er nicht. Und wollte er sich jetzt noch keine Gedanken drüber machen. 

„Bist du sehr wütend, dass ich das getan habe?“, fragte er schließlich und anstelle einer Antwort schloss Vincent ihn in beide Arme und drückte ihn so gut es ging an sich. 
„Ich bin überzeugt, dass du das nicht mit böser Absicht machst“, murmelte er in Adams Ohr. 
„Das beantwortet meine Frage nicht.“
„Ich bin eher verzweifelt als wütend.“
„Aber wir haben ihn doch noch unter Kontrolle.“ Beinahe schon flehend kam es aus Adams Mund. Wie eine Rechtfertigung. Wie eine Versicherung, dass sich die Dreckssau nicht an Hölzer vergreifen würde. Er war sich nicht sicher. 

„Ich hoffe, Adam. Ich hoffe es sehr.“ Vincent auch nicht, wie er nun hörte.


~~**~~


Herberts Hintern schoss in die Höhe und ließ sein gesamtes Hinterteil mit samt Rute wackeln, als er mit den Vorderpfoten auf dem Boden darauf wartete, dass Vincent den nächsten Schneeball warf, den er mit einem Maul fangen konnte. 
Play Bow – nannte die englische Sprache diese Bereitschaft zu spielen und seinem Gegenüber zu signalisieren, dass man spielte und Leo konnte sich das aufkommende Lächeln darüber nicht ganz verkneifen. Nein, eigentlich konnte er es sich ganz und gar nicht verkneifen, denn Herbert sah urkomisch aus und die offensichtliche Freude, die er an dem Spiel hatte, war ansteckend. 

Leo grub sich in seinen neuen warmen Schal, den er von Caro geschenkt bekommen hatte und war froh um die gefütterte Wollmütze. Der Wintermantel und seine Wanderschuhe taten ihr Übriges, um ihn warm zu halten und so war der spätnachmittägliche Spaziergang mit Herbert und Schürks Handlanger halbwegs erträglich. Seine Kopfschmerzen waren irgendwann am Mittag verschwunden, nachdem er anständig gefrühstückt und sich die Fragen seiner Familie gefallen lassen hatte. Seit wann sie sich kannten. Ob es ernst war. Wann der andere Mann das nächste Mal vorbeikommen würde. Leo hatte alle Fragen mit störrischem Schweigen beantwortet und irgendwann gegrollt, dass es seine Sache war. 

War es ja auch, schließlich sollte Schürk möglichst weit von seiner Familie weg sein. Nicht so wie gestern. 

Sein Vater war überraschend ruhig geblieben, hatte im Gegenzug dazu auch nichts über sein Gespräch mit dem blonden Mann verlauten lassen. Er hatte nur gesagt, dass es okay gewesen war. Nicht mehr. So verschwiegen wie Leo selbst und Leo würde lügen, wenn er sagte, dass es ihn nicht frustrierte. 

„Was für ein Schneeball! Was. Für. Ein. Großer. Schneeball!“, gurrte Vincent begeistert und Leo blinzelte. Der andere Mann wirkte um Längen menschlicher als in all seinen Gesprächen zuvor. Er wirkte nahbarer und eher wie…ein normaler Mensch, nicht wie der kriminelle Ex-Polizist, der er war. 
Leo war sich bewusst, dass Vincent selbstverständlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag ein Taktiker war, ein Analyst und Manipulierer. Aber dass er sich so frei ihm gegenüber zeigte, grenzte an unbewusstem Verhalten. Oder an gar nicht durchdachtem Verhalten. 

Er warf besagten, großen Schnellball und Herbert hechtete mit wehenden Ohren und fliegenden Beinen hinterher. Leo grinste nun offen in seinen Schal. Das und das begeisterte Grollen des Hundes waren einfach zu komisch. 

Erst, als Vincent sich zu ihm umdrehte und sich den Schnee von seiner blickdichten Strumpfhose klopfte, dämpfte Leo das Lächeln. Wie Vincent auch, der von seiner beinahe schon kindlichen Freude zu etwas Ruhigem wechselte. 
„Wie geht es dir?“, fragte er wie jeden Tag und Leo begriff langsam, dass Vincent wirklich wissen wollte, was er dachte. Die guten wie auch die schlechten oder verletzenden Worte, die Leo en masse über ihm ausschüttete. 
„Schürk war gestern Abend da“, sagte er heute recht zahm und erkannte, dass Vincent darüber bereits in Kenntnis gesetzt worden war. Natürlich durch Schürk selbst. Na wenigstens. War das ein Fortschritt zu Schürks vorherigem Verhalten? Mit Sicherheit, auch wenn Leo sich nicht sicher war, was es für ihn bedeuten würde.
„Wie war das für dich?“

Leo schnaubte. „Wie es für mich war, dass der Mann, der mir mit dem Wohlergehen meiner Familie droht und damit droht, sie zu zerstören, in ihrer Mitte sitzt, isst, trinkt, mit uns spielt und den Eindruck erweckt, ich wäre mit ihm verbandelt?“ 
Die Sanftheit in Vincent war beinahe unerträglich, mit der er Leo musterte. 
„Er wollte nicht hineinkommen…“
„Das weiß ich“, grollte Leo. „Macht es das besser?“
„Hat er sich denn benommen?“

Leo knirschte mit den Zähnen. Das Schlimme war…dass Schürk das tatsächlich getan hatte. Er war nicht ausfallend geworden und hatte keine komischen Andeutungen gemacht. Dass er ihn mit dem Spiel und seinem Wein provoziert hatte, ließ Leo außen vor, das war unsinniger Tand nebenher. 
Dass er am Auto seine Macht hatte demonstrieren müssen, war Leo vorher schon bewusst gewesen. Dennoch war er auch hier überrascht worden, dass Schürk auf seinen Wunsch eingegangen war und einen Kompromiss vorgeschlagen hatte. 

Gab es bei einer Erpressung überhaupt einen Kompromiss? Leo wusste es nicht mehr, nicht nach Monaten eines Ausnahmezustandes, der ihn sich fragen ließ, wie es ohne die beiden Männer in seinem Leben war. 

„Leo?“

Vincents Besorgnis teilte ihm mit, dass er wieder zu sehr in seinen Gedanken abgedriftet gewesen war. Leo blinzelte und schnaubte. 
„Nach deinen oder meinen Maßstäben?“
„Deinen bitte“, lächelte Vincent und Leo nahm sich ausgiebig Zeit, Herbert hinterherzuschauen, wie er von einer Schneewehe in die andere sprang.
„Er hat mich nicht in Anwesenheit meiner Familie knien lassen“, spottete Leo beißend und zynisch, ganz zu Vincents Missfallen, das sich erst nach und nach glättete. Er verharrte schweigend, bis Leo seinen eigenen Widerstand aufgab und mit den Schultern zuckte. 
„Er war da und anwesend“, kam er zu seinem Urteil und Vincents erhobene Augenbraue ließ ihn die Augen rollen. 

„Was willst du hören?“, fragte Leo wütend. „Ich will ihn nicht bei mir haben. Ich will nicht, dass er meiner Familie oder Herbert zu nahekommt. Ich will nicht, dass sie denken, er wäre mein Freund. Ich will nicht, dass ihr über mein Leben bestimmt. Aber was ich will, zählt nur bedingt.“

„Aber es zählt, Leo. Es zählt“, sagte Vincent ernst und Leo fragte sich, in welchem Ausmaß dem so war. Schweigend lief er neben dem anderen Mann her und rollte nun seinerseits Schneebälle um Herbert etwas zum Spielen zu geben, der mittlerweile aus der Glückseligkeit nicht mehr herauskam. Erst, als er sich schnaubend und grollend im Schnee wälzte, drehte Leo sich Vincent erneut zu und sah in dessen Gesicht etwas, was ihn innehalten ließ. 

Zärtlichkeit. Zufriedenheit.  

Das war nichts, was er in Bezug auf sich sehen wollte, stellte Leo fest. Nicht auf Vincents Gesicht. Und dennoch war er unfähig, etwas dazu zu sagen, eben weil der Ausdruck so ehrlich war, dass es ihm für einen kurzen Augenblick die Luft zum Atmen nahm. 
Leo musste sich umdrehen, hin zu Herbert, der ihn erwartungsvoll mit einem riesigen Ast in der Schnauze anstarrte. Das machte es gerade nicht besser, denn Leo fühlte sich gefangen in doppelten, positiven Emotionen, die er nicht in dem Maße erwartet hatte, wie sie nun über ihn ausgeschüttet wurden. 

Herbert präsentierte ihm stolz den Ast, den Leo aber nicht anfassen durfte. Kurz hielt er inne und warf einen Seitenblick zu Vincent, bevor er damit beschäftigt war, Herbert aus dem Weg zu gehen, der natürlich keine Ahnung hatte, wie lang der Ast war und mit wieviel Wucht er ihn durch die Gegend hievte. 

„Werde ich künftig weiterhin das Shirt tragen müssen?“, fragte er und richtete sich auf. Leo stellte fest, dass er für ein Ja nicht gewappnet war und schüttelte den Kopf. 
„Ich kann es nicht mehr sehen. Mir wird schlecht, wenn ich es anziehe, wenn ich es ansehe. Ich will nicht als Objekt zum Begaffen angesehen werden“, schob er deswegen hinterher und erst verspätet schien Vincent zu begreifen, was er meinte.
„Das, was Adam dir am Anfang aufgetragen hat“, stellte er für sich fest und Leo nickte knapp. 

„Nein, das wird nicht nötig sein.“ Vincent erläuterte das nicht weiter, was es Leo umso schwerer machte, es wirklich zu glauben.
„Warum dann überhaupt?“, fragte er, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. Um als Sexobjekt für Schürk zu dienen. Zwei offene Knöpfe, damit sein Körper gut zur Geltung kam. 
„Um dir zu verdeutlichen, wieviel Kontrolle wir über dein Leben haben“, machte Vincent noch etwas viel Schonungsloseres daraus und Leo presste die Lippen aufeinander. „Es ist eine einfache Geste, die dich körperlich nicht verletzt, dir aber bewusst macht, was wir von dir erwarten.“

So wie Leo ehrlich zu Vincent war, sparte Vincent auch nicht mit seinen ehrlichen Worten an ihn und so war seine Wahrheit auch wie ein Faustschlag in Leos Magen. 
„Nein, körperlich nicht“, stimmte er bitter zu und Vincent lächelte zaghaft. 
„Ich bestreite nicht, dass es dich nicht auf jeder anderen Ebene verletzt hat, Leo. Das ist aber etwas, was wir billigend in Kauf genommen haben.“

Billigend in Kauf, dass er das, was er wirklich mochte, nicht mehr sehen konnte, weil es Teil seiner Objektifizierung war. Seiner ihm genommenen Selbstbestimmung. 
Leo wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also schwieg er und setzte sich erneut in Bewegung, ging weg von Vincent, ließ die Bedeutung der Worte mit dem anderen Mann hinter sich. Zumindest versuchte er es, denn erfolgreich war er damit nicht. Das lag nicht nur an Vincents Fingern, die sich um seinen Unterarm schlossen und ihn aufhielten.  

„Leo, es ist wichtig, dass du weiterhin unseren Anweisungen folgst, was den Dienst anbetrifft“, wiederholte er das, was er ihm bereits vor zwei Tagen mitgeteilt hatte. „Da steht es außer Frage, dass wir deinen Gehorsam und deine erzwungene Mitarbeit auch weiterhin einfordern und auch durchsetzen werden. Aber alles, was darüber hinaus geht, werden wir nicht mehr tun. Keine Kleidungsvorschriften und keine Essenszwänge.“
Leo schnaubte. „Und womit wollt ihr dann durchsetzen, dass ich auch das tue, was ihr wollt?“, fragte er, bereits jetzt schon spürend, dass Vincents Worte zu früh waren, zu nah dran an der Beinahekatastrophe und der vorhergehenden Verzweiflung. Sie verursachten nichts als Unbehagen in ihm. 

Vincent seufzte und seine bisher entspannte, geradezu weiche Mimik verhärtete sich. „Ist die Tatsache, dass dein Leben und das deiner Familie auf dem Spiel steht, nicht Grund genug zu gehorchen? Dass es da noch Zwischennuancen gibt, die dir nicht bekannt sind?“, fragte er und Leo schüttelte den Kopf. Er wollte das nicht wahrhaben. Die Bedeutung, die die Drohung für ihn und sein Leben hatte, war fürchterlich. Wieder nahm er seine Schritte auf, ging weg ohne auf Vincent zu warten. Beinahe lief er ihm davon, doch seine Worte waren da und wollten hinaus.

Abrupt drehte er sich zu Vincent, Worte auf seiner Zunge, die verletzen sollten, seine Hände zu Fäusten geballt. „Es geht immer so weiter. Entweder, bis das Ganze auffliegt oder einer stirbt. Deswegen verplant Schürk auch das ganze nächste Jahr. Weil ich jeden Tag meinen Beruf mit Füßen treten darf. Euch zur Verfügung stehen muss. Ende? Nicht in Sicht.“
„Leo…“
„Nein. Das ist die Wahrheit. Da gibt es auch nichts zu beschönigen.“
„Damit hast du Recht, Leo“, stimmte Vincent ihm ruhig und verbindlich zu, in seinen Augen bereits die alte, von Leo verhasste Dominanz. 

„Ich will alleine weitergehen“, sagte er zum Waldrand und zu Herbert, der gerade zurückgetollt kam. Gerade jetzt ertrug er den Anblick des Handlangers nicht mehr. Nein, heute war kein guter Tag. Nicht dafür. 
Das Schweigen neben ihm deutete darauf hin, dass Vincent damit nicht einverstanden war und als Leo hochsah, erkannte er den Widerspruch auf dem von der Kälte geröteten Gesicht des anderen Mannes. Doch dieser verflüchtigte sich anhand dessen, was Vincent anscheinend auf seinem Gesicht sah und schlussendlich nickte er. 

„Wir sehen uns morgen, Leo.“

Als wenn das besser wäre.

Leo musste Herbert festhalten und sich gegen den Zug der Dogge stemmen, als dieser Vincent hinterherwollte. Der miese Verräter.


~~**~~


„Ich glaube, er wird oder wurde geschlagen.“

Georg schob den Einkaufswagen durch den silvestergepeinigten Supermarkt. Babsi begleitete ihn und gemeinsam hatten sie sich ein bisschen kinderfreie Zeit genommen. Georg liebte seine Brut, aber sie waren alle erwachsen und damit gingen manche Charakterzüge einher, die das Zusammenleben unter einem Dach erschwerten. 
In der Vergangenheit hatte er das seinen Kindern auch gespiegelt, aber momentan verkniff er sich jedwede Kommentare in die Richtung, froh darum, dass sein Jüngster so langsam wieder auf die Beine kam und die stumme Verzweiflung auf seinem Gesicht langsam seiner üblichen Nachdenklichkeit wich. 

Babsi runzelte die Stirn. Alarmiert huschten ihren Augen über sein Gesicht, die Packung Wunderkerzen in ihren Händen vergessen.
„Leo?“, fragte sie und Georg sah alten Schmerz über die geliebten Gesichtszüge huschen. Sie hatte weitaus intensiver als er darunter gelitten, als sie erfahren hatten, dass Leo in der Schule geschlagen wurde und ihnen erst viel zu spät etwas gesagt hatte. Zu spät, denn da war der Schaden an Leos junger Kinderseele schon geschehen. 

Georg schüttelte den Kopf. Vorerst. Seinen Verdacht bezüglich Leos Verletzungen würde er noch nicht mit ihr besprechen, dafür brauchte er erst noch feste Beweise. „Der Andere, der bei uns war. Adam.“
„Meinst du? Wie kommst du darauf? Mir schien er sehr in sich ruhend zu sein. Sehr stark. Beinahe schon arrogant.“
Brummend stimmte Georg ihr zu. Wobei diese Charakterzüge durchaus dafür geeignet waren, den eigenen Missbrauch zu überdecken. 
„Das mit Sicherheit. Aber wusstest du, dass das der Schürk-Junge ist?“

Überrascht weiteten sich Babsis Augen und gedankenverloren warf sie die Packung Wunderkerzen in den Einkaufskorb. „Der Schürk?“, hakte sie nach. „Der Immobilien-Schürk, der so oft bei deinen Kolleginnen und deinem Chef ist?“
Georg nickte. „Er und sein Vater.“
„Wie kommt er denn zu Leo? Und wie kommst du darauf, dass er geschlagen wird?“
„Als ihr spazieren wart, habe ich mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass ich weiß, wer er ist. Ich habe ihn davor gewarnt, unserem Sohn übel mitzuspielen.“

Babsi lächelte und strich ihm über den Rücken. „Hast du allen Ernstes das „Wehe meinem Kind passiert etwas“-Gespräch für unseren erwachsenen Polizistensohn geführt? Leo ist 35, Georg, nicht 17. Er kann sogar schießen.“
„Trotzdem“, grollte Georg, sich ertappt fühlend. „Ich lasse trotzdem nicht so, dass ein Krimineller sich an unseren Sohn heranmacht und ihm wehtut.“
„Das weiß ich doch“, lenkte Babsi seufzend ein und musterte ihn. „Und wer sollte den Schürk-Jungen schlagen? Du meinst doch nicht etwa, dass Leo…“

Georg schüttelte energisch den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Ich denke eher, dass es jemand aus seiner Familie war oder ist.“
„Warum?“
„In der Küche, da ist er vor mir zurückgewichen, als ich eine falsche Handbewegung gemacht habe. Er hat sich klein gemacht, als würde er einen Schlag erwarten und es war ihm unangenehm, dass ich ihn so gesehen habe. Und er hatte Angst – explizit vor mir, vor einem Mann im Alter seines Vaters.“
Mitleid huschte über Babsis Gesicht und sie seufzte. „Ach herrje.“
Georg presste die Lippen aufeinander. „Da gibt’s auch noch was Anderes.“
„Okay?“
„Vor etlichen Jahren habe ich mal den Empfang bei uns in der Dienststelle gemacht, da alle Kollegen krank waren. Und vor mir stand plötzlich ein kleiner, schmächtiger Junge, der hat ganz leise nach dem Jugendamt gefragt. Ich erinnere mich noch gut an die großen, ängstlichen Augen. Ich habe den Jungen damals zu meinem Kollegen gebracht. Als ich gefragt habe, was mit ihm sei, meinte der Kollege damals, es sei alles gut. Der Junge, der da vor mir stand, war Schürk Junior. Was glaubst du, hat es mich überrascht, ihn dann im Erwachsenenalter zu sehen und zu sehen, wie aus diesem schüchternen Jungen ein solcher, arroganter Mistkerl werden konnte.“  

„Meine Güte, der arme Junge. Ich hoffe, ihm konnte damals auch geholfen werden.“

Babsis weiches Herz hatte schon immer eine Schwäche für Kinder gehabt und für das Leid, das viele von ihnen ertragen mussten. So auch jetzt, so auch für einen Mann, der erwachsen und mit Sicherheit in die Fußstapfen seines Vaters getreten war. Sie sah den potenziellen Schmerz, der ihm zugefügt worden war und hatte Mitleid. Georg zögerte noch, sich nicht sicher, ob nicht Schürk für die Würgemale und den Bluterguss im Gesicht seines Sohnes verantwortlich war. Aber schlug jemand, der selbst geschlagen wurde, zu? Solche Fälle gab es und nicht zu wenig. War Leo deswegen so niedergeschlagen gewesen? War er deswegen so still gewesen auch am Tisch vor drei Tagen? Georg erzählte Babsi nichts davon. Noch nicht. Nicht, bis er nicht mit Leo darüber gesprochen hatte. Doch damit wollte er noch warten, bis es seinem Sohn gut genug für ein solches Gespräch ging. Bis dahin würde er erst einmal alles daran setzen, ihn wieder auf die Beine zu stellen. 

„Wir sollten Adam öfter zu uns einladen“, beschloss seine ihm angetraute Ehefrau und Georg seufzte innerlich. So schüchtern, wie Leo auf die Anwesenheit des blonden Mannes reagiert hatte, war das mit Sicherheit eine hervorragende Idee. Ironisch gesprochen.
Zumal Leo potenziellen Beziehungen eher zögerlich gegenüberstand nachdem, was mit Matthias passiert war. Dass er, selbst wenn Schürk ihn nicht verletzte, davor zurückschreckte, einen potenziellen Partner vorzustellen, war logisch. Es schmerzte Georg, aber er akzeptierte es. Seinem Sohn zuliebe. 


~~**~~


Die Tage, die Leo nach Weihnachten mit einem angenehmen Rhythmus aus Ausschlafen, Frühstücken, im Haushalt helfen, Lesen und Spazieren gehen verbracht hatte, halfen. Die Kontinuität des Ganzen gab ihm Kraft und eine Verlässlichkeit, die er mehr brauchte, als er es zunächst für richtig gehalten hatte. Es half, sowohl seiner inneren Unruhe als auch seinen Gedanken, die sich immer noch um die wichtigen Informationen drehten, die er nachprüfen musste. Nina war gerade mit ihrer Familie im Urlaub, wie sie ihm geschrieben hatte und da wollte Leo sie nicht mehr der Frage belästigen, ob sie einen Kontakt zum Innenministerium hatte, der ihm bei der Suche nach Vincents Vergangenheit weiterhelfen könnte.  

Seine Alpträume hielten sich in Grenzen, auch wenn Leo mindestens einmal die Nacht aus seinem Schlaf hochschreckte, mit Traumfetzen, die ihn nur langsam losließen. 
Seine Mutter hatte schon vor Jahren vorgeschlagen, dass er sich einen Therapeuten oder eine Therapeutin suchte, auch um die Gewalt in der Schule aufzuarbeiten, aber Leo hatte abgelehnt. Er hatte seine Coping-Strategien und worüber sollte er auch jetzt mit einem Therapeuten sprechen? Dass er damals von Mitschülern verprügelt und gemobbt worden war und das jetzt verarbeitete, indem er sich von blonden, großen Männern ficken ließ oder sie fickte? Dass er erpresst wurde und sein eigenes Leben nicht leben konnte?

Letzteres wäre mit Sicherheit ein gutes Thema, um Schürk und Vincent auf den Plan zu rufen. 

Nach seinem Streit mit Vincent hatte Leo sich der Frage gewidmet, wieviel Freiheit er in dem Zwang, dem er unterlag, für sich hatte. Wieviel Entscheidungsspielraum er hatte. Er würde diese Frage nicht stellen, weil er Angst vor einer Antwort hatte, hatte aber für sich Bereiche festgelegt, in denen er tatsächlich noch Herr seines eigenen Lebens war. Dass er beschönigte, was ihm angetan wurde, war Leo bewusst, aber er brauchte das Gefühl der Ignoranz, damit er nicht in eine Verzweiflungsspirale abrutschte. 

Ein Bereich, den er für sich beanspruchte, war seine Intimität. Dabei war es eher Zufall, dass Gunnar ihn angeschrieben und gefragt hatte, ob er Lust hatte, Silvester mit Mika und ihm zu verbringen. Die beiden Dänen gehörten zu den Männern, die Leo mehr als einmal traf, wenn gleich auch äußerst unregelmäßig alle paar Monate. Leo wusste, dass es an ihm lag, denn die Beiden hätte ihn gerne öfter in ihrem Bett. Eigentlich hatte Leo auch nichts dagegen, wenn da nicht seine natürliche Abneigung gegen engere Verbindungen war. Insbesondere bei den Beiden, denn sie waren wirklich nett und so sanft miteinander, dass es in Leo manchmal die Erinnerung an Matthias und ihre kurze Beziehung hochbrachte. 

Dennoch sagte er zu, denn sein Körper gehörte ihm und er hatte Lust, den Sex zu haben, bei dem er sich wohlfühlte. 

Die vielsagenden Blicke seiner Eltern, als er ihnen sagte, dass er sich mit Freunden traf, ignorierte Leo innerlich grollend. Seit Schürk hier gewesen war, hatten sie immer wieder versucht, Fragen zu stellen – offensichtlich und weniger offensichtlich. Diese zu umschiffen, war ebenfalls sein Tagesinhalt geworden und so wusste er, dass sie annahmen, dass er sich mit dem blonden Mann treffen würde. 

Dem war nicht so. Nicht freiwillig.

Lieber genoss er den Abend mit en beiden Männern, ließ zu, dass sie ihn zu sich in ihre Wohnung holten. Er ließ zu, dass sie ihn mit Essen fütterten, was für die beiden anscheinend zu ihrem Vorspiel gehörte. Es war schön, wenngleich Leo alle Alarmglocken in sich unterdrücken musste, die ihm sagten, dass zu viel Sanftheit, zu viel Romantik mit Sicherheit dazu führten, dass er sich der Illusion einer zärtlichen Verbindung hingab. 

Noch vor Mitternacht landeten sie in dem ausladenden Bett und Leo genoss die Aufmerksamkeit beider Männer, ebenso, wie er es genoss, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Er mochte es, dass Gunnar sich sanft, aber unaufhaltsam in ihn schob, während er versuchte, Mika mit seinem Mund zu befriedigen. Er mochte es, dass Gunnar sich an ihm bediente, es ihm aber nicht erlaubte, sich selbst anzufassen, weil er schlussendlich in Mika zum Orgasmus kommen sollte.  
Sie verließen das Bett für Stunden nicht, zur Jahreswende untermalt vom Silvesterfeuerwerk an der Saar. Ihre Körper wurden getaucht in kleine, bunte Lichtblitze, im Jubel und Lärm der Straßen, und Leo ergab sich seinem zweiten Orgasmus, in dem Wissen, dass Gunnar und Mika noch lange nicht mit ihm fertig waren. Er verlor sich in der simplen Direktheit nackter Körper, in der Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen, die soviel einfacher war als alles andere. 

Dass er erst nach sieben Uhr morgens nach Hause kam, derangiert und wirklich befriedigt, war da weniger schlimm als der Gesichtsausdruck seines Vaters, der aus unerfindlichen Gründen bereits wach war und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. 

„Frohes Neues. Ist wohl spät geworden, Sohn“, schmunzelte er viel zu amüsiert hinter seiner verfluchten Kaffeetasse und Leo grollte. 
„Ja, Papa und dir auch“, entgegnete er beinahe schon trotzig und verzog die Lippen zu einem Schmollen, das ihn sich fühlen ließ wie fünfzehn und auf frischer Tat ertappt. 
„Und, war gut?“
Leo spürte, wie unaufhörlich Röte in sein Gesicht stieg. 
„Gute Nacht, Papa“, grimmte er und kämpfte sich die Treppe hoch. Was gar nicht mal so einfach war.


~~**~~


Vincent starrte auf seine Hände und schluckte panisch den Kloß seiner eigenen Angst hinunter.

Er war vor einer halben Stunde mit Leo verabredet gewesen und der war nicht aufgetaucht. Als Vincent ihn angerufen hatte, war er nicht ans Telefon gegangen. Als Vincent es noch einmal versucht hatte, ebenso wenig. Die nächsten acht Male auch nicht und mit jeder Minute, die verging, wurde Vincents Angst um Leos Wohlergehen größer und größer. Leo kam nie zu spät. Er war immer da, wenn sie verabredet waren. Nun aber war von ihm keine Spur und in Vincents Verstand mehrten sich die Horrorszenarien, dass Leo seinem Leben zur Jahreswende ein Ende bereitet hatte. Nach ihrem gestrigen Gespräch durchaus eine valide Möglichkeit. 

Vincents Träume, die er verstärkt von Leo und seinem Versuch, ihnen allen ein Ende zu bereiten, hatte, halfen auch nicht. Es waren fürchterliche Träume, aus denen er schweißgebadet hochschreckte und nach denen er nicht mehr einschlafen konnte.  
Er träumte von der entsicherten Waffe, die sich auf ihn richtete und manchmal hörte er auch den Schuss, der ihn töten würde. 

Genau deswegen stand er nun auch auf Familie Hölzers Türschwelle und tat das, was er Leo versprochen hatte, nicht zu tun. 

Er klingelte. 

Wie früher, als er ein Kind gewesen war, klingelte er bei den Eltern seines Gegenübers und wartete mit nervösem Herzflattern darauf, dass die Tür aufging. Das tat sie und Vincent sah sich Georg Hölzer gegenüber, der ihn fragend und streng musterte. Er konnte sich schon vorstellen, warum Adam instinktiv vor ihm zurückgezuckt war. 

„Ja bitte?“, fragte der ältere Mann mit seiner tiefen, sonoren Stimme und Vincent zwang ein Lächeln auf seine Lippen. Normalerweise war es ihm egal, wenn Menschen so an ihm hinuntersahen wie es Leos Vater jetzt tat und den Rock registrierte…nun aber nicht. Weil er Angst hatte. 

„Guten Tag Herr Hölzer, mein Name ist Vincent. Ich war mit Leo verabredet und er ist nicht gekommen, außerdem geht er nicht an sein Telefon. Dabei ist er immer pünktlich, wenn wir uns sehen und nun frage ich mich, wo er wohl sein könnte und ob er noch bei Ihnen ist.“
Georg Hölzer hob die Augenbraue und seufzte schließlich geräuschvoll. 
„Mein Sohn scheint im Erwachsenenalter mehr Freunde zu haben, die spontan vorbeikommen als in seiner Jugend.“ Er schüttelte den Kopf und trat zur Seite, nickte knapp in den Flur hinein. 
„Kommen Sie rein, ich schaue mal, ob mein Sprössling-“

Ein lautes Bellen unterbrach Leos Vater und er wandte sich fragend um. Überrascht musterte er Herbert, der vom Wohnzimmer aus auf Vincent zugetrabt kam und wild mit dem Schwanz wedelte, sein ganzer Körper ein aufgeregter Ball an Freude und Zutraulichkeit. 
„Oh hallo, Großer“, grüßte Vincent ihn und legte seine Hände auf den großen Hundekopf. Er wollte keinen Verdacht darauf lenken, dass Herbert ihn schon kannte und hoffte, dass Herr Hölzer ihn für einen Hundefreund hielt, der nichts gegen überhüfthohe deutsche Doggen hatte. 

„Er kennt Sie“, zerstörte der ältere Mann seinen Versuch der Vertuschung von Minute eins an und Vincent hielt ertappt inne. Vorsichtig sah er hoch und begegnete viel zu aufmerksamen, braunen Augen. Knapp deutete Leos Vater auf Herbert, der es sich nicht nehmen ließ, sich vor Vincent auf den Boden zu werfen und alle Viere in die Höhe zu strecken. Damit er ihm den Bauch kraulte, was Vincent sonst gerne tat und was Herbert so liebte.

„Der Hund ist ein Feigling. Er hat unheimliche Angst vor Fremden. Das sieht mir hier nicht nach Angst aus.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Das war eine Tatsache, die Herr Hölzer für sich verwertete und Vincent nickte gezwungenermaßen. Er würde sich nicht glaubhaft herausreden können, also musste Wahrheit her. 
„Leo und ich gehen öfter spazieren und er hatte Herbert dabei. Am Anfang war der Hund ängstlich, aber mittlerweile…“ Vincent deutete auf die riesige Hundezunge, die ihm über die Hände schlabberte. 
„Ich sehe es.“ Worte wie eine Drohung, auch wenn Herr Hölzer schlussendlich ergeben mit den Schultern zuckte. 
„Möchten Sie sich einen Moment in die Küche setzen, dann schaue ich mal, wo er ist.“

Vincent nickte und erhob sich gleichzeitig mit Herbert, der davonstieb. Laut polternd lief er ins Wohnzimmer und suchte dort nach etwas, das Vincent mit einem zweiten Blick als eines der langgezogenen Quietschhühner identifizierte. 

Er streifte die Stiefel von seinen Füßen und ging unter freudigem Gequietsche in die Küche. Sobald er sich an den Tisch setzte, hatte er das bespeichelte Huhn auf den Oberschenkeln und einen begeisterten Herbert vor sich, der ihm mittels aufgeregtem Bellen zu verstehen gab, dass er es werfen sollte. So wie die Schneebälle. Vincent schluckte. Selbst wenn seine nervösen Nerven sich dankbar ablenken ließen, hatte er keinen Bedarf, die Hölzersche Inneneinrichtung zu zerstören. 

Entsprechend vorsichtig schlitterte das Huhn über den Boden und Vincent sah hoch, als Herr Hölzer wieder nach unten kam. Mit erhobenen Augenbrauen nickte er. 
„Mein Sohn liegt noch im Bett und hat den Schlaf der Seligen geschlafen. Ich habe ihn gerade aufgeweckt und ihm gesagt, dass er Besuch hat. Er wird gleich kommen. Möchten Sie solange etwas zu trinken, bis der feine Herr präsentabel ist?“

Vincent seufzte erleichtert auf und lächelte, weil es so gut tat, dass die Anspannung nachließ. Leo lebte. Leo hatte sich nicht das Leben genommen. Er hatte nur verschlafen, was der beste Grund für eine Verspätung war, den Vincent sich in diesem Moment vorstellen konnte. 

„Nein danke. Ich warte einfach hier, wenn es Ihnen recht ist“, erwiderte er und Leos Vater brummte. 
„Natürlich. Und Sie sind…ein Freund?“, fragte er und Vincent zuckte innerlich. Hatte er gedacht, dass er einer Fragerunde entkam, so hatte er sich getäuscht und er fühlte sich tatsächlich wieder wie ein Teenager, der erst einmal auf Herz und Nieren geprüft wurde, bevor er sich an den Essenstisch der Familie seines Freundes setzen durfte. 

„Ja, der bin ich“, erwiderte Vincent ruhig und hoffte, dass Adam nicht vergessen hatte, etwas zu erwähnen über Heiligabend. Für gewöhnlich würde Adam das nicht tun, aber mittlerweile…
„Sie klingen nicht so, als würden Sie aus Saarbrücken kommen?“
„Nein, ursprünglich nicht. Ich bin vor fünf Jahren zugezogen und lebe seitdem hier.“
„Ach?“
„Ja, ich habe Freunde hier und da bot es sich an. Ich bin Psychologe und die werden überall gesucht.“
Herr Hölzer brummte erneut und Herbert durchbrach durch ein herzzerreißendes Winseln die darauffolgende Stille. Das Huhn, mal wieder. Auffordernd kam der Hund neben Vincent und drückte ihm das Gummitier beinahe ins Gesicht. Vincent lachte und winkte ab, als Leos Vater ihn davon abhalten wollte. 
„Er weiß, dass er mich zum Spielen bewegen kann“, seufzte Vincent und griff unter begeistertem Grollen nach dem Huhn, ließ es erneut über den Boden ins Wohnzimmer schlittern. Entschuldigend sah er zu Herrn Hölzer hoch, als ihm bewusst wurde, dass das vielleicht nicht gerne gesehen war.

Bevor er etwas sagen konnte, erschien jedoch Leo in der Tür und Vincent konnte sich ein aus der Nervosität geborenes Lächeln nicht verkneifen, das mit Sicherheit auch viel mit Leos äußerer Erscheinung zu tun hatte. 
Er sah füchterlich chaotisch aus, mit zerzausten Haaren und Schlaffalten im eintagesbärtigem Gesicht. An der Wange waren noch Speichelreste und er sah aus, als hätte er viel zu viel gefeiert. Selbst in dem weiten Hoodie und seiner schnell übergezogenen Jogginghose. Müde hob sich seine Hand, um Herbert hinter den Ohren zu kraulen. 

„Guten Morgen“, sagte Leos Vater mit einem betonten Blick auf die Uhr, die gerade vier Uhr nachmittags anzeigte und nickte Vincent zu. „Ich lasse Sie dann mal mit diesem Zombie alleine. Leo, ich bin bei Gundi, sie hatte um Hilfe beim Holz schichten gebeten.“

Leo starrte ihm schweigend hinterher und wartete, bis sein Vater sich angezogen und das Haus verlassen hatte. Erst als die Tür hinter ihm zufiel, erhob sich auch Vincent von dem gepolsterten Küchenstuhl und kam langsam auf Leo zu. Ganz sacht fasste er ihn am Ärmel seines Pullovers, drückte zu und spürte dadurch die Wärme des lebenden Körpers. Des atmenden, nicht toten Körpers. Fragend sah Leo an ihm hoch, durch seine zusammengesunkene Gestalt dieses Mal kleiner als Vincent. 

„Ich dachte, dir wäre etwas passiert“, murmelte Vincent und Leo starrte ihn aus kleinen, geröteten Augen an. Vermutlich würde er im Stehen einschlafen, wenn Vincent jetzt gehe würde.
„Ich habe verschlafen“, sagte er rau mit einer Entschuldigung in der Stimme, die mit Sicherheit nicht freiwillig da hineingekommen war, und räusperte sich. 
„Bis jetzt?“
Leo nickte und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. „War früh heute.“
„Verstehe. Möchtest du dich setzen? Soll ich dir was bringen?“

Der Kümmerer in Vincent hatte übernommen, sobald er Leos Zustand gesehen hatte. Vielleicht war es auch sein schlechtes Gewissen, dass er sich im Hölzerschen Haus befand und Leo zuhause besuchte. 
„Ich ziehe mich an und dann können wir raus“, sagte Leo, aber es klang nicht überzeugt. Er sah eher so aus, als würde er sich auf die Couch setzen und unter einer Decke vergraben wollen. 
„Ich glaube, das verschieben wir auf nächstes Mal“, schüttelte Vincent den Kopf und deutete fragend auf die Couch. Leo folgte seinem Blick und ging mit einem Schulterzucken ins Wohnzimmer. 

Nein. Er ging nicht. Er humpelte. So als würde ihm der ganze Körper, aber insbesondere der Unterleib wehtun.    

„Geht es dir gut, Leo?“, hakte Vincent neutral nach angesichts Leos berechtigter, schlechter Laune von gestern. Er erhielt ein knappes Nicken und Leo ließ sich vorsichtig auf die Couch nieder. Umständlich zog er die Beine an und zog tatsächlich die dortige Decke über seine Beine, verfolgt von Herbert, der nun mit hinaufkletterte. 
„Hattest du ein gutes Silvester?“, fragte Vincent zögernd und nahm auf dem Sessel vor der Couch Platz.
„Habt ihr mich nicht verfolgt?“
Vincent seufzte. „Nein, Leo, das haben wir nicht. Adam und ich haben gestern selbst gefeiert. Wir haben nicht mitverfolgt, wo du hingefahren bist oder mit wem du dein Silvester verbracht hast. Aber wenn ich dich ansehe und sehe, dass du mit Schmerzen läufst, dann war es ein Mann, oder?“ Was Leo konnte, konnte er auch. Wenn sie schon dabei waren, sich ehrliche Dinge an den Kopf zu werfen, dann stimmte er sich darauf ein. 

Mit großen und überraschten Augen sah Leo ihn an und seine Wangen bekamen etwas Farbe. Er erwiderte nichts, doch seine Lippen öffneten sich. Vergeblich versuchte er, einen Ton herauszubekommen und wandte dann ruckartig seinen Kopf ab.
„Und wenn? Willst du es mir auch verbieten?“, presste er unerfreut zwischen seinen Zähnen hervor und Vincent seufzte.  
„Nein, Leo, das möchte ich nicht. Ich stehe auch weiterhin dazu. Das hätte Adam niemals tun dürfen. Mit wem du Intimitäten teilst, ist deine Sache. Ich frage mich nur…war es in Ordnung für dich? Erfüllend? Oder hat der Mann dir Schmerzen zugefügt?“ Natürlich beschwor Vincent damit Leos Wut hervor… angesichts dessen, was Adam Leo angetan hatte, nur zu verständlich. 
Leo schnaubte und das war geringer als alles, was in seinen Augen stand. „Ja, ja und ja. Zufrieden?“ 

Vincent erwiderte nichts, sondern entspannte sich willentlich und wissentlich. Leo Freiraum zu geben, wo er konnte, war ihm ein bewusstes und wichtiges Anliegen, dennoch machte er sich Sorgen. Adam hatte ihm erzählt, dass Leo nach dem Sex offensichtliche Schmerzen gehabt hatte. Nun war es wieder so. 
„Möchtest du, dass dir Männer Schmerzen zufügen?“, überschritt er mit sanften Worten nicht nur eine Linie und Leos Augen teilten ihm genau das mit. 
„Warum? Willst du auch?“, schnappte er wenig überraschend und Vincent seufzte. 
„Nein, Leo, ich möchte nicht. Ich habe jemanden und bin glücklich mit dem, was wir teilen.“
„Freut mich für dich“, entgegnete Leo und in seinen Worten lauerte etwas Zynisches, etwas Spöttisches, das Vincent zunächst nicht genau einordnen konnte. Dann wurde ihm bewusst, dass Leo seit seinem Auseinandergehen mit Matthias keine längere Beziehung mehr geführt hatte. 

„Du bist ein guter Mensch, Leo. Ich bin mir sicher, dass du über kurz oder lang jemanden finden wirst“, sagte er, auch wenn er sich nicht sicher war, wie Adam darauf reagieren würde, wenn es plötzlich jemanden in Leos Leben gab, der dauerhaft das erhalten würde, was er gerne wollte. Für gewöhnlich kam Adam damit nicht gut zurecht und Vincent sah bereits jetzt Probleme auf sich zukommen. 

„Ich werde morgen wieder zur Dienststelle fahren. Wann und wo muss ich mich mit euch treffen?“, fragte Leo und es war ein so deutlicher Themenumschwung, dass Vincent den Wink mit dem ganzen Zaun samt Haus dahinter verstand. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

 

 

Chapter 17: Das Baumhaus

Notes:

Einen wunderbaren Mittwochabend euch!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. Es geht weiterhin aufwärts mit unseren Helden. Daher wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und danke euch für all eure Kommentare, Kudos, Klicks,... :)) Der neue Teil wird nächste Woche etwas auf sich warten lassen. Vermutlich kommt er irgendwann zwischen Mittwoch und Sonntag.

Ach ja, und weil ich es seit ewigen Teilen vergesse zu erwähnen: Adam ist nicht Bastians Zuhälter.;)

Chapter Text

Leo sah an der gläsernen Fassade seiner Dienststelle hoch und ließ die Erinnerungen an das letzte Mal, an dem er hiergewesen war, durch sich hindurchwaschen. 
Vor Weihnachten hatte er ebenso hochgesehen, an der nur noch durch einzelne Büros erleuchteten Fassade. Im Tageslicht waren die Fenster verspiegelt, eine der Bausünden aus den Siebzigern und ein stetiger Quell an Ärger, glaubte er seinem Vater. 
Im Dunkeln sah man, wer noch arbeitete und so hatte Leo vor zwei Wochen stumm Abschied genommen, in dem Glauben, dass er nicht zurückkehrte. 

Und doch war er hier. Er war nicht mehr so tiefgreifend verzweifelt wie vor zwei Wochen noch, beruhigt und umsorgt von seiner Familie. Abgelenkt durch Herbert und durch Vincent. Ja, auch durch Schürks Handlanger, der ihm die Tage bei seiner Familie ein stetiges Ventil für die Worte in sich geboten hatte. Es zu verbalisieren, es vorzuwerfen, es zu diskutieren, half, obwohl Leo das nur zähneknirschend zugab. 

Was ihm jedoch immer noch schwer im Magen lag, war sein eigenes Team und den Verdacht, den sie hatten, auch dank ihm. Dass er vor Pia beinahe ausgeplaudert hätte, was ihm angetan wurde, war ein Faux-pas, den Leo nicht so schnell noch einmal begehen würde. Er musste versuchen, solange es ging den Schein aufrecht zu erhalten. Ob sein Team das zuließ, stand in den Sternen und es bereitete Leo ein ungutes Gefühl. Auch wenn er mit Tasse und seinen üblichen Bürolebensmitteln bewaffnet fest entschlossen war, wieder zu arbeiten. 

Er gab sich einen Ruck und betrat das Gebäude, stieg mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen die Treppen hoch in den dritten Stock. Er war etwas zu spät, weil der Verkehr vom Haus seiner Eltern in Richtung seiner Wohnung überraschend stockend gewesen war. Er hatte noch seine Waffe abholen müssen und von dort aus zur Dienststelle hatte es auch viel zu viele Rückstaus gegeben. So waren Pia und Esther bereits da, als er die Tür zu ihrem Büro öffnete.

Pia grinste und winkte. „Da ist er! Frohes Neues!“, strahlte sie und kam zu ihm, schloss ihn so eng in ihre Arme, dass er glaubte, sie würde ihm die Rippen brechen wollen. 
„Schön, dass du wieder da bist“, sagte Esther etwas zurückhaltender, doch auch sie schloss ihn in ihre Arme und drückte ihn kurz. 
„Schön, wieder hier zu sein“, erwiderte er und seufzte tief. Das war es wirklich. Vor dem Hintergrund all dessen, was passiert war. 
„Geht es dir wieder besser?“
Leo nickte und meinte es sogar ernst. Seine Hoffnungslosigkeit war zugunsten einer sturen Entschlossenheit einen guten Teil in den Hintergrund getreten. Er würde mitnichten tolerieren, dass das Syndikat mit seinen Machenschaften weiter davonkam. Die Frage war nur, wie er es anging, ohne selbst im Gefängnis zu landen. Oder ohne dass er oder seine Familie starb. Etwas vor dem Leo immer noch brachiale Angst hatte. 

„Wie geht es euch?“, fragte er und erntete ein beidseitiges Schulterzucken. 
„Die Ermittlungen zu Linz und Schiller laufen immer noch schleppend, aber dafür waren Weihnachten und Silvester schön. Wird Zeit, dass du wieder mit an Bord bist und uns mit deinen Ideen und Vorstellungen quälst.“ 
Was Esther von der Ideenquälerei hielt, war unübersehbar, auch wenn sie zum Abschluss ihrer Gesichtskirmes lächelte. Leo spiegelte das Lächeln. 

„Dann wollen wir? Ich habe auch Hörnchen mitgebracht“, sagte er und deutete auf seine Schultertasche, die sich unter dem Durchmesser der Bäckertüte ausbeulte. 
„Mit Sicherheit!“

Esther setzte neuen Kaffee auf und Leo richtet ihr Frühstück an. Gemeinsam setzten sie sich an ihren Besprechungstisch und Leo verfolgte aufmerksam, welche Informationen sie in seiner Abwesenheit über die Beiden zusammengetragen hatten. Auch über Boris Barns, der immer noch sicher in Untersuchungshaft saß und auf das Verfahren wartete, auch wenn es bereits vor Weihnachten erste Gerüchte gegeben hatte, dass Rahel Stern sich einschaltete. Strafverteidigerin und die unangenehmste Person, die Leo jemals in seinem Leben kennengelernt hatte. 

Nein, das stimmte so nicht mehr. Sie war auf Platz 3 gerutscht. Hinter Schürk und Vincent.

Barns hatte in seiner Vernehmung eisern geschwiegen und nichts gesagt, was ihn selbst belasten könnte. Sein Rechtsbeistand war ein außerordentlicher Paragraphenreiter gewesen, der es dem Staatsanwalt, Pia und Esther absolut nicht leicht gemacht hatte. Unangenehm und frustrierend, sich das Video der Vernehmung anzusehen und kaum, dass es gestoppt war, schüttelte Leo fassungslos mit dem Kopf. 

„Also wir haben nichts Konkreteres als das, was wir vor zwei Wochen hatten?“

Esther nickte zähneknirschend. „Hinzukommt, dass neben der Uhr auch noch DNA-Proben aus dem Labor verschwunden sind. Angeblich zufällig entsorgt. Wers glaubt“, knurrte sie und Leo zuckte innerlich zusammen. Die Proben hatte er nicht entwendet. Er hatte lediglich die Uhr mitnehmen müssen. 
„Gehst du von einer bewussten Tat aus?“, fragte er und sie nickte dunkel. 
„Mit Sicherheit. Hier läuft etwas komisch. Ausgerechnet bei diesem Fall verschwinden Beweise.“ Sie schnaubte abfällig. „Vielleicht sollten wir aufhören, den Mörder zu suchen und intern ermitteln.“

Leo wurde es heiß und kalt bei ihren Worten und er schluckte mühevoll. Er bemühte sich, seine Haltung zu wahren, doch das war gar nicht so einfach. 

„Dafür ist die Interne da, Esther. Wir kümmern uns um die Aufklärung der Morde, okay? Schließlich haben sowohl Linz als auch Schiller Gerechtigkeit verdient.“ Ganz davon ab, dass er versuchte, Esthers Elan von sich abzulenken, meinte Leo tatsächlich das, was er sagte. Er wollte den Mörder beider junger Männer fangen. So weit es ihm möglich war. 

„Na dann. Lass hören, deine klugen Ideen!“, erwiderte sie und bewarf ihn zum Dank mit dem restlichen Stück Hörnchen, das er problemlos fing und es sich in den Mund steckte. 


~~**~~


„Hallo mein Großer.“

Adam beugte sich in dem Wissen hinunter, dass er den knallroten Lippen nicht entkommen würde. Er wusste, dass sie ihn in ihre Umarmung ziehen würde und das war okay für ihn. 

„Hallo Maria“, entgegnete er und streckte ihr den Strauß mit ihren Lieblingsblumen entgegen. Ihre Augen erstrahlten und sie drückte ihm gleich noch einmal einen Kuss auf seine Wange. 
„Was für schöne Blumen, vielen lieben Dank!“ Maria rollte zurück und drehte sich um in die Küche zu kommen, anscheinend auf der Suche nach einer Vase. Er folgte ihr und sie rumorte in den Schränken, die auf sie angepasst waren. 
Adam hatte vor Jahren dafür gesorgt, dass sie eine neue Küche bekam, in der sie schalten und walten konnte wie sie wollte und nach dem anfänglichen Widerstand und der peinlichen Berührtheit hatte sie die niedrigeren Schränke auch dankbar angenommen. 

Nun beobachtete er die Inhaberin eben jener Küche dabei, wie sie die Blumen fachmännisch anschnitt und sie in die ziselierte Vase mit Wasser stellte. 
„Gefallen sie dir so?“
Adam hob die Augenbraue. „Dir müssen sie gefallen.“
„Das ist keine Antwort, Junge.“
Wie schnell man wieder jung wurde… „Ja, mir gefallen sie außerordentlich“, lobte er brav und Maria lachte. 
„Dann mach dich nützlich und nimm sie mit ins Wohnzimmer.“

Er tat wie ihm geheißen und stellte sie auf den Couchtisch. Er ließ sich auf die Polster fallen und seufzte, als sie ihn viel zu aufmerksam musterte. 
„Irgendetwas ist anders, hm?“, hakte sie nach und Adam spielte mit seinen Fingern. Er verschränkte und entknotete sie solange, bis er ihr eine Antwort nicht mehr vorenthalten konnte und ließ dann die Schultern sinken. Wortlos griff er in seine Jackettasche und zog die Schachtel hervor, die wie ein schweres Gewicht dort lastete. 

Adam hatte wirklich lange gebraucht um das hier tun zu können. Er hatte den Inhalt der Schachtel immer und immer wieder in die Hand genommen, über die Gravur gestrichen. Er hatte sich seine Erinnerungen vor Augen gerufen, die damit einhergingen. 
Nun reichte er Maria die Schachtel und neugierig nahm sie sie an. Sie öffnete sie und ihre Augen wurden groß und rund, als sie die Uhr herausnahm, die einst ihrem Sohn gehört hatte. Adams Geschenk an ihn zum Einjährigen. 

„Adam…wie?“, flüsterte sie ehrfürchtig und drehte die Uhr in ihren schmalgliedrigen Fingern. „Die Polizei hat sie doch. Wie bist du…? Oh Gott ist das schön. Elias Uhr…dein Geschenk. Oh wie schön.“
Adam lächelte als er sah, wie glücklich sie darüber war. Er zuckte mit den Schultern und schmunzelte geheimnisvoll. „Ich habe sie mir bringen lassen und möchte sie dir nun zurückgeben. Schließlich…“

Er stockte und verstummte. Schließlich war Maria Elias‘ Mutter. Schließlich hatte sie durch ihn ihren Sohn verloren, weil er dumm und nachlässig geworden war. Es war das Mindeste, was er tun konnte, damit es ihr mit dem Tod ihres Sohnes besser ging und die Polizei konnte damit sowieso nichts mehr anfangen. Hölzer würde niemals in diese Richtung ermitteln dürfen. 

„Ist sie rechtmäßig in deinen Besitz gelangt?“, fragte Maria sacht nach und bedeutungsschwanger hob Adam eine Augenbraue. Sie schnaubte amüsiert und strich über das Gehäuse des Ziffernblatts. 
Wie gut, dass Maria einen ähnlich flexiblen Moralkompass hatte wie er. Wie gut, dass sie die Polizei und deren stümperhaftes Ermittlungsverhalten von früher ebenso hasste wie Adam auch. Damals hatten sie die Chance gehabt, seinen Vater dingfest zu machen. Sie hätten ihm alles nehmen können. 

Doch sie hatten versagt. 

„Du Guter.“

Das war Definitionssache, aber Adam ließ sich von ihren Worten umhüllen. Sie taten gut. Dass Elias Mutter und er nach Jahren immer noch miteinander sprachen, tat gut. 

„Waren diese beiden Ermittlerinnen nochmal bei dir?“, fragte er und sie legte die Uhr auf ihren Oberschenkel. 
„Nein, aber sie haben noch einmal angerufen und mich darüber informiert, dass sie einen Verdächtigen in ihrem aktuellen Mordfall verhaftet haben. Sie erhoffen sich dadurch einen Fortschritt auch bei Elias.“

Adam presste seine Lippen zusammen. Einen neuen Verdächtigen. Onkel Boris. Der genaugenommen kein Verdächtiger war, sondern Täter. Dennoch. Onkel Boris fehlte ihm. Er fehlte ihm so sehr und wenn es eine Sache gab, für die er Hölzer immer noch hasste, dann dafür, dass dieser den Beschluss beantragt hatte. Seit Onkel Boris weg war, war die Dreckssau unberechenbarer geworden. 

„Was hast du ihnen gesagt?“
„Nur das Übliche. Dass ich ihnen nicht mehr Informationen geben kann, als sie jetzt schon erhalten haben.“

Wie hart und schwer das für Maria war, sah Adam in jeder Falte ihres gezeichneten Gesichts. Sie wusste, wer ihren Sohn umgebracht hatte, das hatte sie bereits aus einem völlig verzweifelten, jüngeren Ich Adams herausgekitzelt. Sie wusste auch warum und dennoch hatte sie ihm vergeben. Etwas, das sich Adam bis heute nicht erklären konnte. 


~~**~~


Wie vertraut der Griff zur Türklingel eigentlich war, fiel Leo in dem Moment auf, in dem sein Finger ohne nachzudenken Schürks Klingel fand und den Edelstahlknopf in Chromoptik drückte. Er war pünktlich, auf die Minute genau elf Uhr morgens an einem Samstag, was aber nur daran lag, dass er zwei Minuten seiner Zeit vor Schürks Wohnung damit verloren hatte, dass er keinen Schritt weitergehen konnte. Alles in ihm weigerte sich und die Fetzen der Verzweiflung, die ihn vor Weihnachten dazu getrieben hatten, fast einen Mord zu begehen. Aus niederen Beweggründen. Es wäre weder Notwehr noch Nothilfe gewesen, sondern schlicht und ergreifend Mord. 

Nun trug er seine Waffe nicht bei sich, war aber auf dem Weg in die Wohnung, wo es beinahe passiert wäre und das machte jede Treppenstufe zu einer Herausforderung. Als er oben ankam und Vincent ihm die Tür öffnete, raste sein Herz und ihm war latent schwindelig. Er sah von Vincents ruhigem Ausdruck hinein in die Wohnung, dann wieder zurück und bewegte sich kein Stück. Wie angewurzelt stand er hier und hatte Angst, die Wohnung zu betreten. 

Irrationale Angst vor dem, was nicht passiert war. Was er auch nie wieder tun würde. 

Vincent erkannte schneller, als Leo es lieb war, was geschah und machte einen Schritt nach vorne, blockierte somit seinen Blick in die Wohnung. 
„Sieh mich an“, befahl er sanft und Leo hob seinen Blick zu den blauen, kajalumrandeten Augen, die ihn ernst maßen. „Das, was geschehen ist, ist Vergangenheit. Es wird nicht wieder vorkommen. Du brauchst keine Angst zu haben.“
Keine Angst haben. Wenn er immer noch erpresst wurde. Das war leichter gesagt als getan als derjenige, der erpresste. Leo schluckte.
„Es ist nur eine Wohnung.“
Aber eine, mit der er soviel Schlechtes verband. Leo öffnete die Lippen und schloss sie dann doch wieder, als nichts herauskam. Er ballte die Hände zu Fäusten und erdete sich selbst durch den Schmerz, den er sich damit bereitete. Vincent umschloss seine Fäuste mit seinen Händen und strich wieder sanft über seine Fingerknöchel. So wie vor Weihnachten. Wieder und wieder umkreiste er die Knöchel, bis Leo schlussendlich seine Finger löste. 

„So ist gut, Leo“, lobte Vincent. „Entspann dich. Es ist nur eine Wohnung und dir wird hier nichts geschehen. Das haben wir besprochen und das werde ich auch halten. Adam wird es halten.“
Leo hasste sich für den Glauben, den er Vincent schenkte. Er hasste sich für das Nicken und noch viel mehr für die Unsicherheit, die er in diesem Moment projizierte und die ihm doch nur zum Nachteil gereichen konnte. 
„Bist du okay damit, in die Wohnung zu kommen?“
Er war sich nicht sicher, aber besser er ging hinein, bevor ihn jemand hier sah und Rückschlüsse zog. 

Schweigend folgte er Vincent in die Wohnung und schluckte schwer, als sich die Tür hinter ihm schloss. Schürk stand seitlich von der Garderobe und musterte ihn neutral. 
„Ausziehen“, deutete er auf seine Schuhe und Vincent schnaufte. Vielsagend hob er seine Augenbraue in Richtung seines blonden Auftraggebers und Leo atmete tief ein. Natürlich war das Schürks Retourkutsche für seine direkte Ansage an Weihnachten. 

Leo streifte sich die Schuhe ab entledigte sich seines nassen Mantels. Es hatte geregnet und das nicht zu wenig. Entsprechend froh war Leo um seinen dicken Pullover in dunkelgrün, den er heute Morgen aus dem Schrank gezogen hatte. 

„Hm. Der ist auch hübsch“, kommentierte Schürk sein Aussehen, während Leo in seine Nähe musste um seine Jacke aufzuhängen. Natürlich spielte sein Aussehen weiterhin eine Rolle und Leo fragte sich, ob der andere Mann das auch sagen würde, wenn er in Sack und Asche hier aufkreuzen würde. Leo war nicht versucht, es auszuprobieren und hakte das Thema für sich ab. Abwartend sah er an Schürk vorbei ins Wohnzimmer. Was wäre es dieses Mal? Filme sehen? Spiele spielen? Schließlich hatte seine Familie Schürk auf genug Ideen gebracht, was Leo gerne haben könnte. Leo selbst hatte das in seinem betrunkenen Kopf getan. 
Wo er jedoch gedacht hatte, dass der blonde Mann ihn ins Wohnzimmer befahl, deutete dieser nun nach links, in den Flur, in dem sich auch das Schlafzimmer befand. 

Zunächst war sich Leo dessen nicht bewusst, dann jedoch überkam ihn die Furcht, was sie ihm im Schlafzimmer antun würden, wie ein eiskalter Schwall an Erkennen. Hilfesuchend krallte sich sein Blick in Vincents Gesicht, versuchte dort Antworten zu erlangen, die er doch gleichzeitig auch fürchtete. Aber Schürk hatte doch gesagt, dass er nicht…

Vincent war irritiert von der Angst, die er anscheinend auf Leos Gesicht sah und begriff erst spät, in welche Richtung sein Gedanken gingen. 
„Oh nein, nicht doch Leo. Es geht nicht ins Schlafzimmer. Keine Sorge“, sagte er ruhig und hob seine Hände, anscheinend, um wieder nach seiner Hand zu fischen. Leo ballte sie vorsorglich zu Fäusten und wich einen Schritt zurück, damit näher zu Schürk, der wie eine unheilbringende Präsenz in seinem Rücken stand. Leo wagte es nicht, sich umzudrehen; es reichte ihm, dessen brennenden Blick in seinem Nacken zu spüren. Es reichte ihm, dass dieser nun um ihn herumkam und ihm einen Finger in seine Wange bohrte. Grollend wich Leo zur Seite, nun mehr zu Vincent hin, in der Hoffnung, dass dieser…

Leo hielt inne. Auf was hoffte er? Dass Vincent als Puffer zwischen ihm und Schürk fungierte? Mitnichten würde er das doch tun. 

„Ernsthaft jetzt?“, grollte Schürk und holte Leo aus seinen Gedanken. „Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht ficken werde. Und du hast nichts Besseres zu tun, als es mir schon wieder bei der sich nächstbesten Gelegenheit zu unterstellen?“
„Wäre ja nicht das erste Mal, dass du deine Versprechen brichst“, entfuhr es Leo mit nervöser Ehrlichkeit, bevor er sich davon abhalten konnte und Schürks Missfallen war deutlich zu sehen. 
„Willst du’s schriftlich mit Unterschrift und Dienstsiegel, Verwaltungsfuzzi?“
Missmutig verzog Leo das Gesicht und wünschte Schürk die Pest an den Hals. „Ja bitte, schön mit DNA, die kann ich in unser Labor geben.“

Neben ihm rieb sich Vincent die Nasenwurzel. 

„Der Raum daneben ist es“, sagte er dann in einem komisch anmutenden Versuch der Neutralität. „Neben dem Schlafzimmer. Da ist nichts drin, was eine sexuelle Bedeutung hat.“
Vielsagend musterte er Leo und deutete dann in die Richtung. Sei der Vernünftige, interpretierte Leo aus der bittenden Mimik und schnaubte. 

Er ging vor und öffnete wie ihm geheißen die Tür zu dem Zimmer, das er in den vergangenen Monaten noch nie betreten hatte. Das weder Folterkammer noch SM-Spielzimmer war, sondern voller Legobausätze. Hier waren nur Regale, über und über mit Bausätzen bestückt. Große, kleine, nicht nur Lego, wie Leo nun erkannte. Das hier war das Spielzimmer eines erwachsenen Menschen.

Überrumpelt blieb er im Durchgang stehen und starrte nicht zuletzt auf den quadratischen Tisch in der Mitte, auf dem auch schon der nächste Lego-Bausatz lag und zusammengesetzt werden wollte. 
„Was ist denn jetzt schon wieder“, schnaubte Schürk viel zu nahe hinter ihm und Leo trat in den Raum, bevor der andere Mann sich ihm weiter nähern konnte. Unwirsch deutete Schürk auf den Boden. 
„Setz dich.“

Leo hob seine Augenbrauen und starrte auf den Flecken Boden. Dieses Mal kein Knien?, lag ihm auf der Zunge, doch er würde den Teufel tun und den anderen Mann auf dumme Gedanken bringen. Was sollte das werden? Der Tisch im orientalischen Stil lud zwar dazu ein, sich auf den Boden zu setzen, aber…
Anscheinend dauerte sein Zögern zu lange, denn Schürk griff hinter sich zu einem der Kissen. Verächtlich warf er es auf den Boden, ein zweites gleich hinterher und machte eine ausladende Bewegung. 
„So genehmer, der Herr? Ich habe dir gesagt, wenn dir der Arsch brennt, dann ist das deine Sache und dein Problem, nicht meins.“

Unweigerlich trat heiße Röte auf Leos Wangen bei den nur zu wahren Worten, auch wenn der Schmerz von Mika und Gunnar bereits vor zwei Tagen abgeklungen war. Vernichtend starrte er Vincent an, der vermutlich mit seinen Informationen zu Schürk gegangen war. 
„Adam…“, mahnte Vincent und nahm sich ein drittes Kissen. Betont langsam setzte er sich und Leo folgte dem schweigend, das Schlusslicht bildete Schürk selbst. 
Was auch immer die beiden heute mit ihm machen würden, Leo hatte stand jetzt keine Ahnung. Er konnte es sich nicht erklären, was Schürk vorhatte, auch nicht, als dieser zu der Packung des Baumhaussatzes griff und sie auf dem Tisch ausschüttete. 

Die Bauanleitung schlitterte zu ihm und Leo hielt sie davon ab, vom Tisch zu rutschen, während er Vincent fragend musterte. 

„Wir bauen“, verkündete Schürk und Leo erkannte, was seine Aufgabe war. Er reichte Vincent die Anleitung, zumindest versuchte er es. Nahtlos schüttelte Vincent seine Locken und zuckte mit den Schultern. „Die brauchst du.“
Leo begriff, was sie machen würden und seine Augenbrauen schossen in die Höhe. Er würde mit Schürk ein Baumhaus aus Legosteinen bauen? 

Wie alt waren sie? Fünfzehn?

Der Blick in Schürks Gesicht zeigte ihm nur Ernst, keinen Spott oder Hohn. Beherzt nahm dieser den ersten Beutel auf und schüttete ihn achtlos über den Tisch. 
„Fang an zu sortieren, Aschenbrödel.“

Leo presste seine Lippen aufeinander. Es war gut, dass Schürk durch seine ruppigen Befehle seinen Wutpegel konstant oben hielt. So hatte Leo wenigstens keine Zeit, darüber nachzudenken, wo er sich befand, mit wem er sich hier befand und was er hier tat. Selbst die Angst, die er auf dem Weg nach oben in diese Wohnung verspürt hatte, war zu einem Hintergrundrauschen verkommen, zu einem unguten Gefühl in seiner Magengrube. 

Schürks stetige Beleidigungen und sein schnarrender Ton stärkten Leo, in dem sie seine Wut kräftigten und das war gut so. Für den Moment.  
Er griff sich die ersten Steine und sortierte sie ordentlich nach Formen, Größen und Farben. Es war ihm willkommen, weil es seinen Fokus von Schürk ablenkte und von dessen direkter Präsenz neben ihm. Er hatte als Teenager das letzte Mal Lego gebaut, aber ein paar Abläufe waren noch drin. Das Sortieren von Farbe und Form, das sorgfältige Stapeln, die Einhaltung der entsprechenden Abstände. Es war gewohnt für Leo und so fand er auch eine Aufgabe darin, zumindest, bis Schürk sich neben ihm regte. 

„Möchtest du ein Glas Wein?“, fragte er in seine beinahe schon meditative Distanz hinein und Leo hörte das teuflische Lächeln aus den Worten heraus. Leo hielt mit dem momentanen Stein in seiner Hand inne und starrte auf die Tischplatte. 
„Nein“, presste er schlicht hervor, in der Erwartung, dass Schürk ihn gleich mit Sicherheit in eine Ecke des Raumes schicken würde, damit er knien konnte. Eben weil er sich verweigerte. 
„Schade, deinen betrunkenen Hintern im Qwirkle verlieren zu sehen, war ein Vergnügen der besonderen Art.“

Ja, für Leo war es das auch gewesen – nicht, auch wenn sich jetzt, mehr als eine Woche später, immer noch keine Angst einstellen wollte, wenn er an den Abend dachte. An das Gespräch am Auto ja, aber den Abend bei seiner Familie…

Leo presste die Noppen des Legosteins in die Kuppe seines Zeigefingers, in der Hoffnung, dass ihm der Schmerz etwas Ablenkung verschaffte. Doch das war nicht die Lösung, das konnte und durfte nicht die Lösung sein. Dadurch, dass er geschwiegen hatte, hatten sich schlimme Emotionen in ihm aufgestaut. Er konnte das nicht, es kommentarlos hinnehmen, was Schürk ihm als Provokation quasi ins Gesicht drückte. 

Er sah hoch und starrte in Schürks eisblaue Augen. „Kann ich beim nächsten Mal mitbringen, das Spiel, und dir zeigen, wie wenig ich verliere, wenn ich nüchtern bin. Und Herbert bringe ich auch noch mit“, erwiderte er und gestattete sich eine äußerliche Ruhe, die er nicht wirklich fühlte. 
„Untersteh dich, diesen Flohzirkus mitzubringen“, grollte Schürk beinahe schon bösartig und Leo spielte mit dem Stein in seiner Hand. 
„Weil du Angst vor ihm hast“, wartete er mit seiner eigenen Wahrheit auf, wenn Schürk schon meinte, ihn auf seinen betrunkenen Zustand ansprechen zu müssen. 

Wie sehr er damit ins Schwarze getroffen hatte, sah er an Schürks Kieferknochen, die sich eisern aufeinanderpressten. Es gab Leo Macht, denn zum ersten Mal war es etwas, das den anderen Mann angreifbar erscheinen ließ. Menschlich. Er hatte eine Schwachstelle und alleine das Wissen darum machte die Waagschale nicht ganz so uneben. 

„Was zur Hölle machst du da eigentlich?“, lenkte Schürk abrupt ab und deutete auf seine sorgfältigen Türme. Leo löste sich erst langsam aus seiner Beobachtung und folgte Schürks Fingerzeig. Er runzelte die Stirn. 
„Ich sortiere. Wie du es mir aufgetragen hast.“
„Sortieren. Nach Farben, nicht nach…allem.“
Leo sah auf seine ordentlichen Türmchen an verschiedenen Längen, Größen, Breiten, Farben. So konnte man schneller auf die verschiedenen Steine zugreifen, wenn man sie zusammensetzte. Sie nach Farben zu sortieren, machte doch keinen Sinn. Das war viel zu chaotisch. 

Die Frage war, was das hier war. Ein Gehorsamstest, der nichts mit Essen zu tun hatte? Er sollte das tun, was Schürk sagte? Er sollte erraten, was Schürk wollte?

Es waren nur Legosteine, sagte Leo sich und dennoch kratzte das, was hier geschah, erneut an seiner mühsam erlangten Ruhe. Nur Legosteine. Es war nur ein Tag, auch den würde er durchstehen. Sollte Schürk doch seine Steine so haben wollen, wie er s-

Misstrauisch verfolgte Leo, wie Schürk einen der roten Steine zu seinen braunen legte. Das war noch nicht mal nach Farben… was sollte das? 
Mit zusammengepressten Lippen sah er hoch und sah das herausfordernde Grinsen auf dem scharfkantigen Gesicht, während Schürk einen grünen Randstein zu den blauen legte.  

Das war kein Sortieren nach Farben, das war Provokation. 

Mit hoch erhobenen Augenbrauen räumte Leo sie zurück in ihren vorherigen Stapel und starrte Schürk dunkel in die Augen. Dass das nichts half, war klar und Schürk brachte seine Ordnung wieder durcheinander. Leo brachte sie wieder in Ordnung und für ein paar Mal ging das stumm hin und her. 

„Monk“, sagte Schürk dann und Leo hatte als Kind genug Fernsehen gesehen um zu wissen, dass es eine Beleidigung sein sollte. Er ließ sich davon jedoch nicht beirren und sortierte die Steine weiter. Er sah hoch, als er fertig war und traf auf Vincents Augen, damit auf die wache Aufmerksamkeit, die dahinter lag. Fast kam er sich vor wie ein Kind, das beim Spielen noch beaufsichtigt werden musste und Parallelen zu den vorherigen Treffen waren auf jeden Fall da. Doch dieses Mal nahm Leo Vincents Präsenz nicht als Drohung wahr, auch wenn die beiden Männer mit Sicherheit vorher abgesprochen hatten, was sie heute tun würden. Ein seltsames Gefühl. 

„Dir ist aber schon klar wie man baut?“, holte Schürk seine Aufmerksamkeit zu sich und Leo schnaubte. 
„Nein. Ich habe keine Ahnung. Erleuchte mich“, schnarrte er ironisch und wusste in dem Moment, in dem die Worte seine Lippen verlassen hatten, wie groß der Fehler war, den er begangen hatte. 
„Mit Vergnügen“, sagte Schürk und streckte seine Finger aus. „Los, gib mir deine Hände.“
„Was?“ Alarmiert zuckte Leo und presste seine Finger auf seine Jeanshose, als könne er so verhindern, dass Schürk ihn anfasste. 
„Hände her.“ Der spielerische Unterton in Schürks Stimme sprach gegen einen sadistischen Trieb, aber dennoch… 

Der monatelang in ihn getriebene Gehorsam wirkte und Leo streckte seine Hände aus, als Vincent nichts sagte. Schürk ergriff sie und Leo war überrascht, wie kalt die Finger waren. Dabei trug Schürk heute tatsächlich etwas unter seinem Anzug. Keine Unterwäsche, wie immer, aber zumindest ein Shirt. Angespannt sah er zu, wie Schürk die Finger seiner linken Hand zu den grünen Grundplatten führte und zusammen mit ihm eine aufhob. Mit der rechten Hand nahm er eines der länglichen Verbindungsstücke auf und klickte es mithilfe von Leos Fingern auf die Platte. 

„So geht das. Stein für Stein für Stein. Sollen wir gemeinsam weitermachen?“, fragte Schürk viel zu amüsiert und viel zu nah an seinem Ohr und Leo grollte. 
„Nein.“ Unwirsch entzog er dem anderen Mann seine Hände und schob sie zwischen seine Oberschenkel und dem Boden. Er sollte aufpassen, was seinen Mund verließ, das erkannte er nicht zum ersten Mal und anscheinend lernte er auch nicht daraus. Schürks Faszination, seine Hände anzufassen, war schließlich nicht neu, auch wenn dieses Mal kein Messer mit ihm Spiel war. Noch nicht. Denn das, was diese Situation mit der damaligen einte, war Schürks Spieltrieb und der war unberechenbar. 

„Los, hilf mir, den Beutel zusammen zu bauen.“
Leo seufzte innerlich. „Natürlich.“ 

War das besser, als Filme zu schauen? Leo war sich nicht sicher, auch wenn er etwas zu tun hatte und es Fortschritt in dieser Tätigkeit gab. Das Klicken der Steine aufeinander hatte seine ganz eigene Art der Befriedigung, die Leo über die Jahre vergessen hatte. 

Dass das „Hilf mir, den Beutel zusammen zu bauen“ dazu führte, über jeden zweiten Bauschritt zu diskutieren, weil Schürk es anders sah, erkannte Leo zu spät und er konnte sich das eine oder andere Augenrollen nicht verkneifen, als Schürk anscheinend nicht in der Lage war, die Anleitung richtig zu lesen. 

„Bist du blind?“, entkam es Leo schließlich dementsprechend genervt und er starrte von Schürk frustriert auf die Bauanleitung und von dort aus wieder zurück. „Hier steht, dass du das hier“, er hob den roten Stein, „mit dem hier“, zur Betonung hielt er Schürk den blauen Randstein vor die Nase, „verbinden musst. Nicht an die grüne Platte, nicht an den gelben Bogen, hieran!“

„Glaube ich nicht.“

Dass Schürk ihn auf den Arm nahm und erneut provozierte, wurde Leo nach Vincents zu spät verstecktem Lächeln bewusst. Er öffnete die Lippen, schloss sie wieder, denn alles, was er gesagt hätte, wäre seiner Situation nicht angemessen gewesen. 

„Möchte jemand Kaffee?“, fragte Vincent in die daraus entstehende Stille anscheinend als Versöhnungsangebot und Leo war versucht, nein zu sagen. Er zögerte. Noch nie hatten sie ihn gefragt, ob er etwas trinken wollte. Schürk hatte es ihm entweder immer aufgezwungen oder versagt. 
„Immer“, sagte er Schürk. „Was ist mit dir, Besserwisser-Boy?“
Leo atmete tief durch und konzentrierte sich auf Vincent, dessen ruhige Mimik soviel einfacher zu ertragen war. Er nahm sehr wohl zur Kenntnis, dass auch Schürk ihn fragte und es nicht einfach bestimmte. Die Bedeutung, die dahintersteckte, war aber noch nicht das, was Leo auch wirklich anzunehmen bereit war. 

Knapp nickte er. 


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„Schön, dass Sie wieder da sind, Leo. Sehr schön. Sehr schön.“

Untermalt von Guns’n’Roses Knockin‘ on Heaven‘s Door betrat Leo die Gerichtsmedizin. Henny hatte gerade anscheinend Pause und Leo würdigte den Körper des alten, toten, aufgeschnittenen Mannes nur mit einem kurzen Blick. Blut und Gedärme hatten ihm noch nie etwas ausgemacht, da war sein Magen stark genug für. 
Mit dem Geruch von Hennys Reich konnte er allerdings weniger etwas anfangen und so brauchte er erst ein paar Atemzüge durch den Mund, um sich wieder hieran zu gewöhnen. 

„Geht’s Ihnen wieder gut?“
„Ja, danke Henny“, lächelte Leo und zuckte mit den Schultern. Während seiner Abwesenheit hatte sie bereits die Zeit dazu gefunden, seine genommenen Fingerabdrücke durch ihre Datenbank zu jagen. Er war nicht da gewesen und entsprechend seiner Bitte hatte sie niemandem etwas davon erzählt. Jetzt, da er wieder im Dienst war, hatte sie erneut angerufen und ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, was er als Gegenleistung mitzubringen hatte. 

Ein Stück Streuselkuchen mit Sahne.

Leo hatte sich eine doppelte Portion Sahne geben lassen, nur zur Sicherheit. 

Er überreichte ihr das Stück Kuchen mit dem Berg Sahne und sie überreichte ihm das Blatt mit dem Abgleich. 

„Die Meisten Ihrer aufgenommenen Fingerabdrücke waren gleich, insgesamt habe ich vier verschiedene Abdrücke gefunden. Ihren eigenen, zwei Unbekannte und einen Abdruck, den ich in der Datenbank gefunden habe.“
Leo hob überrascht die Augenbrauen. „Von wem?“
Henny kräuselte die Nase. „Das ist ja das Spannende. Der Mann, dem sie gehörten, lebt nicht mehr.“
„Wie meinen Sie das?“ 
Sie deutete kommentarlos auf das Dokument und griff sich die Kuchengabel, die zusammen mit einem bunten Kugelschreibersammelsurium in ihrem Stifthalter thronte. Sie stach sie in den Kuchen und steckte sich eine Gabel voll Kuchen und Sahne in den Mund. 

Leo entfaltete das Blatt und starrte auf den Namen, den er dort sah. Überrascht sah er hoch. 
„Elias Schiller?“, fragte er und sie nickte kauend. 
„Spannender Zufall, oder?“, nuschelte sie und kaute zuende, schluckte die Reste des Kuchens hinunter. Leo starrte auf den Namen, der ihm mehr Fragen als Antworten gab. Wieso hatte Schürk ein Buch, auf dem Schillers Fingerabdrücke waren, bei sich stehen? Wie passte das zu der Uhr, die Schürk von Leo hatte haben wollen? 

Leo ahnte wie und es war kein gutes Gefühl. Alles deutete darauf hin, dass Schürk Schillers Mörder war. Die Gründe dafür konnten vielfältig sein. Der hässlichste Grund wäre Zurückweisung oder Eifersucht und wenn Leo es sich ehrlich eingestand, würde er beides nicht kategorisch ausschließen. Nachdem, was Schürk ihn am Tag seines…Mordversuches angetan hatte, konnte es sich Leo durchaus vorstellen, dass er Schiller im Affekt getötet hatte.

„Sehr spannender Zufall“, gab er mit enger Kehle zurück und Henny brummte. 
„Ich hörte, die Uhr sei verschwunden.“ Es war keine Frage und Leo stimmte der Aussage mit einem knappen Nicken zu. Sein Zähneknirschen war nicht gelogen und er seufzte. 
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass hier wirklich viel falsch läuft. Finden Sie nicht auch, Leo?“

Er atmete tief durch. „Ja. Das finde ich auch“, gab er unumwunden zu, auch wenn es eine partielle Lüge war. Schließlich wusste er, dass hier vieles, wenn nicht sogar alles falsch lief. 


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Leo.

Vincents Stimme enthielt die eindeutige Warnung, sich seiner Aufforderung nicht weiter zu widersetzen. Was Leo lange genug getan hatte auf der einsamen Bank im Wald. In der feuchten Januarkälte, bei ihrem wöchentlichen Informationsaustausch. 

Er vergrub unwirsch und voller Widerstand sein Kinn in seinem Schal und starrte auf die kahlen, braunen Bäume. Der beschönigende Schnee war verschwunden und hatte nur alles verschmutzenden Matsch zurückgelassen. Es nieselte leicht und Leo verfluchte den Umstand, dass er sich gegen seinen Kapuzenmantel entschieden hatte. Vincent auch und entsprechend wirr standen dessen Locken von seinem Kopf ab. 

„Was, wenn ich dir den Namen sage? Werdet ihr dann den Mann töten oder ihn verletzen? Werdet ihr ihn bedrohen oder wegsperren?“, stellte er die Gegenfrage und Vincent erwiderte ernst und viel zu neutral Leos fragenden Blick. Hinter der Neutralität lag die alte Gnadenlosigkeit, der sich Leo nicht entziehen konnte und die ihm die Natur ihres Zusammentreffens nur umso deutlicher machte. 

„Nein, Leo, das werden wir nicht. Nichts davon“, sagte Vincent nicht zum ersten Mal in ihrem Gespräch. 
„Und das soll ich dir glauben, nachdem, was Schürk mir anzutun bereit war, als es um Barns ging? ‚Wenn du dich an meiner Familie vergreifst, vergreife ich mich an deiner.‘ hat er gesagt. Und dann wird er dem Zeugen im Mordprozess um Mirko Linz keine Gewalt antun? Willst du mir das sagen, ja?“
„Leo, es ist unerheblich, was ich wiederholen werde. Du wirst mir den Namen jetzt nennen.“

Vincents absolute Strenge rief Widerstand in Leo hervor, hilflosen, wütenden Widerstand. Es war ein letztes Aufbäumen, bevor er sich besann, was Schürk und sein Handlanger gegen ihn in der Hand hatten. Seine Vergangenheit und seine Familie gegen den Namen des Zeugen im Linz-Prozess. Es war ein Dilemma, das Leo wie nichts auf der Welt hasste, insbesondere, weil er Vincent kein Wort glaubte. Einen anderen Menschen ans Messer zu liefern…wie war das mit seinem Beruf vereinbar? 

Gar nicht und dennoch war Leo zu feige, sich dagegen zu wehren. Stark genug zu sein, allem Stand zu halten, was kommen mochte. Jetzt, wo es ihm gerade wieder etwas besser ging und er das Gefühl hatte, durchhalten zu müssen um die beiden hinter Gitter zu bringen. 

„Gerd Tangermann“, presste er hervor und starrte Vincent zornig und beinahe schon hasserfüllt in die blauen Augen, die ihm keinerlei Reibungsfläche boten. 
„Ist es mir erlaubt, jetzt zu gehen oder zwingst du mich noch mehr Leben zu zerstören?“, fragte Leo beißend zynisch und Vincent nickte mit deutlichem Missfallen knapp. Leo erhob sich und ging ohne jeglichen Kommentar zu seinem Wagen zurück. 

Erst am Steuer gestattete er sich ein wütendes „Verdammt!“ und schlug wütend auf sein Lenkrad. Er fühlte sich schmutzig. Eine Uhr verschwinden zu lassen, war einerlei. Aber den Zeugen zu benennen, der ihnen den Tipp zu Barns gegeben hatte? Das war eine neue Qualität und fürchterlich für Leo. Es übertraf das, was er am Anfang für Schürk hatte tun müssen bei weitem und er fühlte sich ekelhaft.

Der Drang, deswegen zu seinen Eltern zu fahren, war immens, doch er gab ihm nicht nach. Lieber verausgabte Leo sich in seinen Laufsachen auf seiner Joggingstrecke quer durch Saarbrücken. Solange, bis er nicht mehr denken konnte und ihm alles wehtat. Leo wusste, dass es ungesund war und ebenso, dass er sich direkt im Anschluss einen Partner suchte, der ihm noch weitere, tiefere Schmerzen zufügte. 

Er wusste es, aber er wusste auch nicht wohin mit seinem Schmerz über den Verrat, den er an der Integrität seines Dienstpostens begangen hatte.

 


Gerd Tangermann verschwand drei Tage später spurlos.


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Wird fortgesetzt.

Chapter 18: Die Unschuldsvermutung

Notes:

Einen schönen guten Abend euch,

hier nun der neue Teil zur Anatomie, mit etwas urlaubsbedingter Verspätung. :) Ich hoffe, er verschafft euch trotzdem einen guten Start in die nächste Woche und ihr könnt den warmen Oktober genießen!
Vielen lieben Dank an dieser Stelle für all eure Kudos, Klicks und Kommentare. :3

Viel Spaß beim Lesen!

Chapter Text


Bisher hatte Leo es vermieden, Schürk von sich aus aufzusuchen oder ihn zu kontaktieren. Er hatte Schürks Nachrichten auch nur deswegen noch auf seinem Smartphone um zu protokollieren, wann dieser ihn kontaktiert hatte. 
Ob die Nummer, von der sie gesendet wurden, wirklich existierte, wusste er bis gerade nicht und jetzt, als er mit unangenehmen Rauschen in seinen Ohren darauf wartete, dass der andere Mann abnahm, war er sich auch nicht mehr sicher. 

Es klingelte viel zu lange und Leo wollte schon auflegen, als Schürk tatsächlich vom anderen Ende der Leitung ein süffisantes „Der Herr Hauptkommissar, na so etwas. Wie schön.“ hervorbrachte. 
„Bist du zuhause?“, fragte Leo mit unterdrücktem Zorn in der Stimme und Schürk entkam am anderen Ende der Leitung ein überraschtes Geräusch. 
„Hast du solche Sehnsucht nach mir, Hölzer. Also wirk-“
„Bist du in deiner Wohnung?“, unterbrach Leo ihn unwirsch und Schürk schwieg einen Moment lang scheinbar irritiert. 
„Ja, bin ich. Gibt es etwas…“

Leo legte auf, bevor er sich noch weitere Tiraden dieses Monsters anhören durfte. 
Gestern Morgen hatte ihr zuständiger Staatsanwalt Weiersberger versucht, Gerd Tangermann zu erreichen. Aus dem Obdachlosenwohnheim, in dem er zuletzt gemeldet worden war, war er spurlos verschwunden, was absolut ungewöhnlich für ihn war. Der Staatsanwalt hatte daraufhin bei ihnen angerufen und eine erste Zielfahndung war erfolglos geblieben. Niemand hatte ihn gesehen, an seinen bekannten Aufenthaltspunkten war er nicht, in den umliegenden Krankenhäusern auch nicht. 

Sein Gespräch mit Schürks Handlanger brannte Wort für Wort in Leos Ohren. Vincent hatte ihm versprochen, dass nichts passierte. Er hatte es versprochen - was eine bittere Lüge gewesen war. 

Und seitdem sie Gewissheit hatten, dass der andere Mann unauffindbar war, ertrug Leo das Wissen um sein Zutun nicht mehr. Seine Beihilfe zur Entführung, Freiheitsberaubung oder sogar Mord. 

„Ich bin kurz im Mittag“, sagte er in Richtung Pia und sie winkte ihm mit einem Lächeln. Leo nickte knapp und wandte abrupt seinen Kopf ab. Sie sollte seine Wut nicht sehen, seinen Hass auf Schürk und sich selbst. Seine Entschlossenheit, den anderen Mann mit seinem Tun zu konfrontieren. Das war hier nicht besser als vor Weihnachten, das hier war schlimmer. Weitaus schlimmer und er sollte was? Einfach akzeptieren, was sie mit seinen Informationen taten? Schlucken, was sie anderen Menschen antaten? Niemals. Wenn sie ihn erpressten… dann würde er damit leben müssen. Aber nicht, wenn das bedeutete, dass ihre Zeugen umkamen.

Leo schloss sicherheitshalber seine Waffe in das dafür vorgesehene Schließfach ein und überbrückte die zehn Minuten bis zu Schürk zu Fuß. Seiner Wut tat das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Sie hatte Zeit zu reifen und zu gedeihen, bis er bei ihm war, in der mittlerweile wohlbekannten Stadtwohnung, nicht dem Landwohnsitz, auf dem er Schürk das erste Mal getroffen hatte – von sich aus, wie heute auch.

Er klingelte und Schürk ließ ihn hinein. 

Nein, nicht Schürk, sah Leo, als er die Treppe hinaufging. Sein Handlanger, der ihn mit kritisch gerunzelter Stirn maß. 
„Leo, was ist geschehen?“, fragte Vincent besorgt und Leo beantwortete das mit einem vernichtenden Blick. Er ging an ihm vorbei in die Wohnung, direkt in das Wohnzimmer, in dem Schürk sich befand und ihn mit einem spöttischen Grinsen musterte. Zur Abwechslung trug der andere Mann eine weiße Jogginghose und einen beinahe rosafarbenen Hoodie und fast brachte dieses Abweichen von seinem normalen Outfit Leo von seinem Weg ab. Aber nur fast. 

„Soviel Sehnsucht nach mir. Wir sehen uns doch erst in zwei-“, begann er, bevor Leo ihn mit eiserner Wut gegen die nächstgelegene Wand presste und das dumpfe Auftreffen des Rückens wie Musik in Leos Ohren war.
„Du Monster!“, grollte er und löste Schürk von der Wand, um ihn gleich noch einmal dagegen zu donnern. Er zog eine besondere Befriedigung daraus zu sehen, wie Schürk zusammenzuckte, wie sich Gesicht verzog, anscheinend vor Schmerzen. „Wo ist er?“
Bevor Schürk den Mund aufmachen konnte, war Vincent schon hinter ihm und legte ihm eine Hand auf seinen Oberarm. 
Er klang ruhig, aber immer noch besorgt, so als wüsste er nicht, was geschehen war. „Leo, lass Adam los. Was auch immer dich erzürnt hat…“

Leo versucht ihn unwirsch abzuschütteln. Es gelang ihm nicht, so widmete er sich wieder Schürk, der ihn mit fest zusammengepresstem Kiefer anstarrte. 
„Wo ist er?“, grollte Leo und Schürk zog seine Lippen nach hinten, bleckte die Zähne.  
„Lass mich los, Hölzer, sonst…“
Die Drohung lag klar und schwer in Schürks Worten, doch hier ging es nicht nur um Leos Leben. Hier ging es um das Leben eines Unschuldigen, das er geopfert hatte. Für die eigene Unversehrtheit. Weil er feige gewesen war, doch das würde er jetzt nicht mehr sein.  

„Ich lasse mich von dir nicht zu deinem Mordwerkzeug machen, Schürk“, fuhr Leo ihm über den Mund. „Dein Handlanger fragt mich nach dem Namen des Zeugen im Barns-Fall und drei Tage später verschwindet er spurlos? Ihr habt ihn umgebracht, oder? Ihr habt ihn umgebracht und mich dazu missbraucht, euch zu ihm zu führen. Wo ist er? Wo habt ihr seine Leiche hingeschafft?“ Leo war immer lauter geworden, seine Hände immer verkrampfter, tagelange Verzweiflung über seinen Verrat, über die möglichen Konsequenzen, die heute gegipfelt waren in der schrecklichen Gewissheit, dass er wahrscheinlich Beihilfe zu einem Mord geleistet hatte. 

„Dass ihr mich erpresst und dass ich für euch Beweise vernichten muss, steht auf einem Blatt. Aber dass ihr mich für einen Mord einspannt, ist inakzeptabel. Ich bin Polizist, verdammt. Polizist! Dafür habe ich euch nicht am Leb…“ Leo verstummte abrupt und presste die Lippen aufeinander. Nein, sie nicht umzubringen war keine willentliche Entscheidung gewesen. Er hätte es so oder so nicht gekonnt abzudrücken. 

Wütend starrte er Schürk ins Gesicht, auf dem sich eine ganze Klaviatur an Emotionen abspielte. Wut, Zorn, Hochmut, gefolgt von Irritation und schlussendlich – natürlich - Sadismus. 
Er öffnete den Mund, anscheinend um etwas zu sagen und Leo warnte ihn nonverbal vor einer Provokation. Nicht mit dem Griff, den er gerade um Schürks weichem Hoodiekragen hatte. 

Doch es war der Handlanger, der das Wort ergriff, nicht Schürk selber. 

„Leo, lass Adam los. Sofort“, sagte er viel zu ruhig, viel zu dominant und Leo hasste sich dafür, wie sehr er vor diesem Ton zurückschreckte. Wie dieser Ton ihm immer noch Angst machte. 
„Lass ihn los“, wiederholte Vincent ruhiger und widerwillig löste Leo sich von Schürk. Er dachte jedoch nicht daran, einen Schritt zurück zu treten. Das übernahm Schürk für ihn, als er ihn nach hinten stieß und Leo gut zwei Meter nach hinten stolperte. 

„Du kannst dich gleich zu ihm legen, wenn du so weiter machst“, drohte Schürk ihm und richtete seinen Kragen. Er hatte die Ärmel hochgeschoben und Leo erkannte, dass Schürks Unterarme mit Hämatomen bedeckt waren. Irritiert runzelte er die Stirn und löste sich erst dann aus dem Anblick, als Schürk die Ärmel abrupt hinunterzog, während er ihn wütend anstarrte. 
„Wie immer ist deine Ermittlungsarbeit großartig. Allerbeste Qualität, Herr Kriminalhauptkommissar.“
Leo grollte. „Verarsch mich bloß nicht, Schürk, Tangermann ist verschwunden und wenn du mir weißmachen willst, dass ihr ihn nicht umgebracht habt oder irgendwo gefangen haltet, dann kannst du dir die Luft für deine Lügen sparen! Wo ist mein Zeuge?“

Vincents Hand auf seinem Oberarm war ebenso unwillkommen wie seine blauen Augen, die zu beschwichtigen versuchten. Abrupt machte Leo sich von Vincent los und ballte seine Hände zu Fäusten. 
„Du hast mich gezwungen, dir seinen Namen zu verraten. In dem Wissen, dass ihm etwas zustoßen würde. Du hast es mir anders versprochen! Gut gemacht, Herr Kollege“, spottete Leo und Schürk grollte ihm entnervt ins Ohr. 
„Tangermann ist nicht tot und wir halten ihn auch nicht gefangen! Er ist weg! Er hat plötzlich reich geerbt und ist mit dem Geld abgehauen.“

Reichlich überfahren wandte sich Leo Schürk zu und starrte ihm in die höhnischen, blauen Augen. „Verarschen kann ich mich alleine!“, zischte er dann und Schürk zuckte vorsichtiger als es die Situation erfordern würde mit den Schultern. 
„Oh, da du sowieso hiervon nichts weitertragen wirst, mein fähiger, hauseigener Bulle…wir haben ihm genug Geld gegeben, dass er in einer anderen Stadt ein neues Leben anfangen kann. Mit neuer Identität, also spar dir die Suche nach ihm. Der Mann war geldgierig genug, um nicht für euch auszusagen, glaubt man sowas?“
„Wieso sollte ich?“
„Weil es die Wahrheit ist!“, donnerte Schürk und verzog kurz vor Schmerzen das Gesicht. Schneller als er es vor Leo verbergen konnte, machte Vincent eine besorgte Handbewegung in seine Richtung. Sie war nur kurz, aber Leo hatte genau im richtige Moment seine Aufmerksamkeit auf die Beiden gerichtet. Das Schlimme war, er kannte diese Art des Zusammenzuckens. 

Er war früher selbst so zusammengezuckt, als Jugendlicher. Immer dann, wenn seine Eltern ihn angefasst hatten, kurz nachdem Detlef mit ihm fertig gewesen war. 

„Weil es deine ach so wichtige Wahrheit ist“, riss Schürk ihn aus seinen Gedanken und Leo grollte automatisch – Schürk hätte ihm zu diesem Zeitpunkt auch ein Kochrezept vorlesen können und er hätte den anderen Mann dafür verachtet, weil er so wütend war. „Der Mann war willens, Geld anzunehmen und einen Neustart zu beginnen. Was interessiert ihn letzten Endes die Polizei, wenn er sich eine gemütliche Wohnung leisten kann und über Jahre genug Geld für den restlichen Kram hat?“
„Beweise es mir!“, forderte Leo und überrascht weiteten sich Schürks Augen. 
„Beweisen? Willst du einen Kontoauszug von meinem Bestechungskonto sehen?“
„Wenn du so fragst, ja.“

Schürk schwieg, einmal in seinem Leben verstummt. Er starrte ihm unerfreut in die Augen und sah dann zu Vincent. 
„Dein Problem, du bist hier der Taktiker“, winkte Schürk schließlich ab und trat um Leo herum. Fassungslos sah Leo ihm nach, wie er in Richtung Küche humpelte und setzte schon einen Fuß nach vorne um ihm zu folgen. Er hielt sich jedoch rechtzeitig davon an und fokussierte sich auf Vincent, der ernst und ruhig neben ihm stand, seine Hand dazu erhoben, ihn aufzuhalten. 

„Ich bin nicht sein Handlanger, Leo“, sagte er und das Schlimmste an den Worten war die Enttäuschung, die darunter schlummerte. Diese Menschlichkeit im Angesicht des eigentlichen Themas.
„Was dann?“, fragte Leo, weil er nicht wusste, wie er sonst auf die Worte reagieren sollte, sich aber sehr wohl bewusst, dass es eine Ablenkung war, und ein kurzes Lächeln huschte über Vincents Lippen. 
„Ich unterstütze Adam“, wiederholte er seine Worte von vor Weihnachten und wieder schien es, als wären sie mit einer Bedeutung hinterlegt, die sich Leo nicht erschloss. Was sich ihm aber erschloss, war die Sanftheit, mit der Vincent es sagte und das war Leo so unangenehm, dass er zur Seite sehen musste.

„Also ist Barns der Mörder“, konkludierte er schließlich, zum eigentlichen Thema zurückkehrend. „Ihr wollt nicht, dass er deswegen verurteilt wird und wir waren auf dem richtigen Weg. Dir ist klar, dass du einen Mörder deckst, oder? Dir ist klar, dass das Strafvereitlung ist.“
Natürlich war Vincent das klar, das sah Leo an seinen Augen und an den unglücklich verzogenen Lippen. 
„Ja, das ist es. Aber es gibt Gründe.“
Leo schüttelte den Kopf. „Nein, die gibt es nicht. Es gibt keinen einzigen Grund, einen Mörder zu decken.“ 

Er erhielt auf seine wütenden Worte keine Antwort, eben auch, weil Schürk mit einer Tasse aus der Küche zurückkam. Er musterte Leo dunkel und schnaubte verächtlich. 
„Es gibt einen ganzen Strauß an Gründen, aber das geht in dein Bullenhirn nicht rein. Kann man auch nicht erwarten bei deinem Berufszweig.“
Der missbilligende Seitenblick in Richtung Schürk war automatisiert und Leo fragte sich, wie oft Schürk und Vincent diese Diskussion bereits gehabt hatten. 
„Das Strafgesetzbuch ist da sehr eindeutig“, schnappte Leo entsprechend und Schürk lachte höhnisch. 
„Ist es? Schön, dann verhafte mich doch.“
Adam!

Es war schon erstaunlich, wie sehr Schürk ihn wütend machen konnte, befand Leo und seine Hand zuckte tatsächlich zu seiner Handschellenhalterung. Sein Instinkt schrie ihn an, es nicht zu tun, während seine Dienstbeflissenheit das Gegenteil von ihm forderte. Schürk endlich das Handwerk legen für das, was er tat. Für sein Verhalten. Wenn Schürk es so wollte, dann konnte und sollte er es bekommen. 

Der blonde Mann sah die Bewegung und ein höhnisches Lächeln zog seine schmalen Lippen nach oben.

„Oh ja, Fesselspielchen. Immer her damit. Aber vergiss die Konsequenzen dessen nicht und glaube mir, wenn deine Kollegen deinen armseligen Arsch verhaften und dich in die Lerchesflur stecken, dann sorge ich dafür, dass du in Onkel Boris und meiner Zelle landest und dann werde ich dich 24 Stunden, sieben Tage die Woche heimsuchen.“

Leos Puls raste. Er wusste, dass Schürk nicht spaßte. Er sah es an dessem ernsten Gesicht, an den Augen, in denen nichts Anderes als die Wahrheit stand. Und würde Leo seine Hand dafür ins Feuer legen, dass es Schürk nicht gelingen würde, sie zusammen in eine Zelle zu bringen? 

Er war so in seine Horrorvorstellung von Schürk und Barns als Zellengenossen vertieft, dass er Vincents Hand nicht kommen sah und entsprechend überrascht zusammenzuckte, als diese sich plötzlich sanft über seine Hand auf den Handschellen legte. Der Mann zur Hand schob sich zwischen ihn und Schürk und musterte Leo eindringlich. 
„Lass es gut sein, Leo…“, befahl er sanft und schob ein „…bitte.“ hinterher. 
 
Aber Leo wollte nicht. Er wollte es nicht gut sein lassen. Er wollte das Gesetz nicht weiter außen vor lassen müssen, sobald es auch nur in Ansätzen etwas mit dem Syndikat zu tun hatte. Der alte Widerstand kam wieder und keines der Dokumente, das er weiterhin in der Steckdose versteckte, half ihm in diesem Augenblick gegen den hemmungslosen Drang, dem Ganzen ein Ende zu setzen – destruktiv, aber gerecht. Ja, heute war einer dieser Tage, an denen er es nicht akzeptieren konnte, nicht im Angesicht seines Verfahrens, was jetzt mit einem Freispruch enden würde, wenn es so weiterging. 

Was auch immer es an Vincents Gesicht war – vermutlich die fehlende Ähnlichkeit zu Schürk – es brachte Leo nach quälend langer Zeit von dem Drang ab, Schürk in Handschellen hier rauszuführen. Es half auch, dass Schürk hinter ihm nichts sagte, nicht den Mund aufmachte, sich nicht bewegte. 
Langsam löste Vincent seine Hände von der Halterung und führte sie nach vorne. 
„Wieso Onkel Boris?“, stellte Leo in den Raum zwischen ihnen und wandte den Kopf zur Seite. Wenn er Schürk schon nicht angehen durfte, würde er wenigstens versuchen, Informationen aus ihm hinaus zu bekommen. „Ihr habt kein verwandtschaftliches Verhältnis zueinander. Wieso nennst du ihn so?“
Schürk schnaubte abfällig. „Wieso bist du dir so sicher?“, fragte er und Leo fuhr herum. Dunkel musterte er Schürk. 

„Weil ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Glaubst du, ich wüsste nichts über dich, Schürk? Über dein Jura- und BWL-Studium, deinen Privatunterricht bis zum Abitur, über deinen Vater, deine Mutter, dass du keine Geschwister und auch sonst keine Verwandten hast? So weiß ich auch, dass Boris Barns nicht verwandt mit dir ist, sehr wohl aber seit langem geschäftliche Verbindungen zu einer der Firmen deines Vaters pflegt“, warf er ihm vor und für einen Moment hatte er den anderen Mann. Schürk bekam vor Überraschung keinen Ton heraus. Es hielt nicht lange, aber der Augenblick war da und hatte sich unwiderruflich in Leos Gedanken gebrannt. 

Seine Worte fanden keinen Gefallen bei Schürk, das sah Leo und er machte sich dazu bereit, dass dieser ihn mit Zynismus und Spott überschütten würde. Doch wieder war es Vincent, der eingriff und um ihn herumkam. Dieses Mal stellte er sich auf Schürks Seite und fasste diesen vorsichtig an seinen Händen. Mit einer stummen Botschaft dahinter drückte er die Finger leicht und schüttelte den Kopf. 

„Du verstehst viel, Leo, aber nicht alles. Und dein Zeuge hat sich, um wieder zum ursprünglichen Thema zurück zu kehren, für das Geld entschieden. Ihm wurde weder gedroht noch wurde er genötigt, wegzuziehen. Er wollte einfach ein besseres Leben und das haben wir ihm geboten. Es ist Fakt, ob du uns das glaubst oder nicht, liegt bei dir.“

Die ruhige Verbindlichkeit in Vincents Worten drang mehr zu Leo durch als er es wahrhaben wollte. Er ahnte, nein, wusste, dass er hier nicht angelogen wurde und das war das Schlimme daran. Er sollte Menschen wie Vincent keinen Glauben schenken. Das führte nur ins Verderben. 

„Und eure Bedingung war, dass er kein Wort mehr über seine Beobachtungen verliert und sich nie wieder in Saarbrücken blicken lässt“, stellte er noch einmal für sich fest. 
Vincent nickte. „Korrekt soweit.“
„Ich will wissen, wo er ist“, versuchte Leo an mehr Informationen zu kommen, doch wie befürchtet, stieß er hier auf eine deutliche Grenze. 
„Wird nicht passieren, Hölzer, und wenn es dem hohen Herrn Hauptkommissar recht ist, würde ich jetzt gerne meinen Tag wieder wie ein anständiger Krimineller mit der Planung verbringen, wie ich meinem hauseigenen, erpressten Bullen das nächste Mal den Tag schwer mache“, grollte Schürk und Leo starrte ihm überfahren in das Gesicht. Reichlich überfahren, mochte er meinen, denn Schürk betonte das mit so einer Selbstverständlichkeit, als wäre Leo hier der Schuldige und nicht Schürk. 

„Ich bin nicht dein…“, begann er indigniert und ballte die Hände zu Fäusten, damit er sie nicht vor seiner Brust verschränkte. 
„Ja doch, bist du und wenn du nicht zum Baumhaus weiterbauen und entscheiden, welche Blätterfarbe wir nehmen, gekommen bist, dann raus hier“, wurde er so rüde entlassen, dass er irritiert zu Vincent sah. Dieser war weitaus höflicher, doch auch in seinen Augen stand, dass es besser wäre zu gehen. 

Leo schnaubte und drehte sich um, verließ die Wohnung, hochgradig unzufrieden und zweifelnd. Erst auf dem Weg zurück zur Dienststelle wurde ihm bewusst, dass weder Schürk noch Vincent von einer Strafe gesprochen hatten. Vermutlich würde das das nächste Mal kommen, wie beim Essen vor Monaten auch. Dass sie sein Verhalten noch kommentieren würden, das war so sicher wie die Tatsache, dass die Sonne aufging.

Es verursachte Leo Magenschmerzen, darüber nachzudenken, also stürzte er sich mit seinen Gedanken und seiner Aufmerksamkeit auf Tangermann und dessem Verschwinden. Glaubte er Schürk seine spöttischen Worte? Niemals. Glaubte er Vincents Ernst? Das war das Problem – ja, er tat das. Vielleicht fatal und wenn sie Tangermann wirklich umbrachten, dann würde er alleine dafür schon mit ins Gefängnis gehen. Leo blieb unweit der Dienststelle auf dem Bürgersteig stehen und holte sein schwarzes Notizbuch heraus. Er schrieb das Verschwinden von Tangermann und Notizen zum heute geführten Gespräch auf einen Zettel und riss ihn heraus. Diesen würde er sobald es ging zu den anderen in sein Versteck legen. 


~~**~~


„Adam, wie geht es dir?“, fragte Vincent zu sanft und zu zärtlich für seinen schmerzenden Körper und im ersten Moment entlud sich Adams ungefilterte Wut auf seine rechte Hand. 
„Was gibt’s denn so dumm zu fragen? Beschissen natürlich“, knurrte er und Vincents Ruhe, die seinen Worten folgte, zeigte Adam schneller, als er wollte, dass er wieder in seinem destruktiven Stadium war. 

Kein Wunder, hatte die Dreckssau ihn doch gestern in der Mangel gehabt, weil Rahel Onkel Boris noch nicht aus dem Gefängnis hatte herausholen können – in dem seine rechte Hand dank Adam gelandet war. Er hatte die Nacht vor Schmerzen kaum geschlafen und dann stand heute diese wütende Furie namens Hölzer vor seiner Tür und donnerte ihn zweimal mit seinem wunden, teilweise blutenden Rücken gegen die Wand seiner eigenen Wohnung. 

Adam hatte zwischendurch in seine Küche gehen müssen, um Hölzer mit dem Respekt zu begegnen, den er mit Vincent ausgemacht hatte. Wenn er nicht gegangen wäre, dann hätte Hölzer gekniet. So wie er gestern, drei Einheiten lang. Damit er mal sah, was er mit seinem dummen, unüberlegten Handeln anrichtete. Aber nein, Adam hatte sich beherrscht und sich einen Kaffee gemacht, zwei Schlucke getrunken, tief durchgeatmet und war ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Nur um beinahe von dem Arschloch verhaftet zu werden, das sich seine Handschellen sonst wohin schieben konnte. 

„Möchtest du dich auf das Bett legen, damit ich mir deine Wunden noch einmal ansehen kann?“, fragte Vincent und Adam fuhr entsprechend wütend hoch.
„Um dann was? Dir zu erlauben, mich anzufingern und mir noch mehr Schmerzen zuzufügen?“, zischte er und mit jeder wütenden Tirade wurde sein Gegenüber ruhiger und ruhiger. 
„Nein, Adam, ich möchte deinen Schmerz lindern, wenn ich darf.“

Darfst du nicht, gellte alles in Adam und er wandte sich abrupt ab. Weg von Vincent, hin zu seinem Stadtausblick in bester Lage. An manchen Tagen waren die Schmerzen nicht zu ertragen. An manchen Tagen wollte Adam die Dreckssau alleine aus dem Grund totschlagen, damit es aufhörte. Damit sein Körper nicht mehr schmerzte. Damit er einmal nicht geschlagen und gezüchtigt wurde. 
An solchen Tagen wollte Adam nur noch schreien, seiner Wut freien Lauf lassen und alles zerstören, was um ihn herum war. Solange, bis nichts mehr übrig war um ihm wehzutun. 

Er wollte, dass Vincent ihn alleine ließ und doch fürchtete er sich vor der Einsamkeit, die dann kam. Wenn Vincent nicht hier wäre, wen hätte er denn dann schon? Denn jetzt, seit den Jahren, in denen Vincent hier war, wusste er, wie es war, jemanden zu haben. Wenn er weg wäre…Das würde Adam nicht mehr lange mitmachen. Das alles hier.

„Ich kann das nicht mehr“, presste Adam hervor, die Hände zu schmerzhaften Fäusten geballt. „Ich will da nicht mehr hin. Ich will nicht mehr knien. Ich. Will. Nicht. Mehr. Knien.“
„Ich weiß.“ Vincents Murmeln floss wie Sand zwischen seine Worte und füllte sie, konnte sie aber mitnichten ausradieren. Vincent war genauso machtlos wie Adam auch und egal, was sie tun würde, die Dreckssau würde immer am längeren Hebel sitzen. Und was es brachte, wegzulaufen, hatte Adam am eigenen Leib erfahren. Was es brachte, Widerstand zu leisten, auch. Was es brachte zu…

Er drehte sich um und entkam seinen Gedanken, indem er sich auf Vincent fokussierte und die Hoffnung, die dieser für ihn darstellte. 
„Bett“, presste er hervor und der andere Mann nickte schlicht. Er holte den Verbandskasten und die Schmerztabletten. Von letzterem teilte er Adam zwei zu und dieser schluckte sie mit dem bereitstehenden Glas Wasser. 

„Es wird gleich besser“, sagte Vincent, während er Adam vorsichtig aus dem Hoodie half und ihn auf die Matratze dirigierte. Das war eine Lüge, wollte er antworten, doch er hatte keine Kraft mehr dazu. 

Vincents Hände taten ihm weh und Adam presste sein Gesicht in das Kissen, als er nur noch stumm schreien wollte. Was gäbe er denn für Wochen ohne Schmerzen. Monate, in denen sein Körper heilen konnte.

„Und weißt du, was amüsant ist?“, presste er schließlich hervor. „Dass dieser dumme Bulle denkt, wir wären Mörder und dabei bekommen wir es noch nicht einmal hin, die Dreckssau zu töten. Aber in Hölzers Augen morden wir uns durch halb Saarbrücken. Was für eine scheiß bittere Ironie. Was er wohl sagen würde, wenn er die scheiß Wahrheit kennen würde?“

Vincent hinter ihm schwieg zunächst, dann seufzte er. 

„Leo Hölzer urteilt auf der Grundlage dessen, was seine Erfahrungen ihm sagen. Er ist unsicher wegen dir und aus dieser Unsicherheit heraus trifft er falsche Schlüsse.“
„Eigentlich sollte ich ihm für das, was er heute getan hat, die Eier abreißen.“
„Das ist ein bisschen drastisch.“
Adam schnaufte. Ja, wäre es. Und die Vorstellung machte noch nicht einmal Spaß. 
„Hast du eine gemeine Strafe für ihn auf Lager?“
Vincents erneutes Seufzen verhieß nichts Gutes. „Nein, habe ich nicht, Adam, und alleine die kurze Angst, die schon jetzt in seinen Augen vor eben jener stand, sollte uns reichen. Du wirst mehr erreichen, wenn du ihn nicht strafst. Wenn du ihn immer noch kennenlernen willst, heißt das.“

Adam brummte missgelaunt. „Das Meiste kenne ich doch jetzt schon. Seine Angst. Seine Verzweiflung. Seinen Zorn. Seine Sanftheit diesem Vieh gegenüber. Seine Ruhe, wenn er besoffen ist. Seine Phlegmatie…“ 
„Möchtest du denn noch mehr von ihm wissen?“, fragte Vincent, der Teufel, der Adams Gedanken immer viel zu viel Nahrung gab und seine schonungslose Ehrlichkeit herausforderte. 

Die Frage als solche war allerdings spannend. Eigentlich hatte Adam Hölzers Gefühlspalette einmal rauf und runtererlebt. Mehr schlechte Emotionen als gute, geschenkt, aber auch die guten hatte er sehen können. Unter seiner Prämisse, Hölzer kennenlernen zu wollen, hätte er damit nun einen Punkt erreicht, an dem er es gut hätte sein lassen können. 

„Ich bin noch nicht fertig mit ihm“, sagte Adam anstelle dessen und Vincent brummte. 
„Ich befürchte es“, bekam er die ironische, vielleicht auch verdiente Antwort. 


~~**~~


„Bleibst du noch?“
„Hm?“
„Ob du noch bleibst, habe ich gefragt.“
„Hmh.“

Leo löste seine trockenen Augen von seinem Bildschirm und wandte sich an Pia, die bereits mit Tasche und dickem Wintermantel in der Tür stand. Einen Augenblick lang war er irritiert von ihrem Aufzug, dann wurde er sich der Dunkelheit draußen bewusst. Stimmt, es war schon Feierabend. 

Tangermanns Verschwinden hatte nicht nur den Staatsanwalt auf den Plan gerufen, sondern nun auch das BKA, das Informationen von ihnen haben wollte. Ihre Berichtstermine waren entsprechend kurz und so hatte Leo keine Zeit verloren und war nach seinem Wutausbruch, denn nichts Anderes war seine gestrige Eskalation, direkt zurück in die Dienststelle um alles nieder zu schreiben, was geschehen war. In seiner geschönten Version, die er für Schürk anfertigen musste. 

„Schönen Feierabend wünsche ich dir“, sagte er und sie lächelte sanft.
„Mach du aber keine Nachtschicht, okay?“
„Ich? Niemals.“
Nein. Er würde nur noch warten wollen, bis die Dienststelle sich soweit gelehrt hatte, dass er seine neuesten Informationen verstecken konnte. 
„Kommst du morgen eigentlich mit zum Filme schauen? Du hast noch nichts dazu gesagt.“

Pia, Esther und Rainer trafen sich zum Bingewatchen einer neuen Serie, die Leo auch schon auf seiner Liste hatte. Auf seiner Handgeschriebenen, denn seitdem er wusste, dass Schürk Zugriff auf alle seine Konten hatte, führte er sie analog um dem anderen Mann nicht noch mehr Futter zu geben. Das war sein Widerstand, den er leisten konnte und dazu noch einer, der ihm Macht gab. 

Vor Weihnachten wäre eben das ein Ding der Unmöglichkeit für ihn gewesen, mit jemandem zusammen einen Film sehen. Er war so angewidert von dem gewesen, was Schürk ihm immer und wieder aufgezwungen hatte, dass da kein Gedanke dran möglich gewesen war.
Nun jedoch? 
Leo wusste es nicht, denn es wäre ja das erste Mal, dass er außerhalb seiner Familie mit jemandem etwas schaute. Mit seinen Eltern hatte es gut geklappt, aber seinem Team? Rainer? Er schürzte die Lippen und nickte. Er würde es versuchen, denn er wollte sich auch das von Schürk zurückerobern. 

„Ich komme gerne. Soll ich etwas mitbringen?“
Pia strahlte und sie verzog nachdenklich die Stirn. „Deinen grünen Salat. Der ist immer so lecker.“
Leo nickte seufzend. Seitdem er ihn einmal zum Grillen mitgebracht hatte, durfte er nichts Anderes mehr machen. Nur noch diesen Salat, egal, was er vorschlug. Der Salat war’s. Eigentlich hätte er auch gar nicht fragen müssen. „Alles klar, bringe ich mit.“

„Du bist der Beste!“, lobte Pia ihn und Leo schnaubte. Kurz schweiften seine Gedanken zu ihrer letzten Begegnung vor Weihnachten ab und dem Drang, ihr alles zu erzählen. Doch sie mit hinein zu ziehen, war keine gute Idee, denn wenn er sie zur Mitwisserin machte, dann lief er Gefahr, dass sie ihn verriet und er ohne Plan im Gefängnis landete. Und wenn sie ihn deckte, machte sie sich ebenfalls strafbar. 

„Ab nach Hause mit dir!“, scheuchte er sie anstelle dessen aus dem Büro und widmete sich in der Stille seiner Dienststelle seinem Vermerk. Erst nachdem er damit fertig war, fügte er den eigentlichen Vermerk mit seinen Notizen der Sammlung in der toten Steckdose hinzu. 


~~**~~


Den Mut und die Wut, die Leo Hölzer vor zwei Tagen noch deutlich gezeigt hatte, waren verflogen und einer Vorsicht und Zurückhaltung gewichen, die Vincent an ihre ersten Monate erinnerte. Leo verweigerte ihm den Blick in sein Gesicht, die Augen auf den Boden gerichtet, seine Haltung angespannt. Er hatte Sorge, wenn nicht sogar Angst, erkannte Vincent. Aber nicht um sich, sondern um Herbert, der von all dem natürlich nichts wusste und sich vor Vincent auf den Rücken geworfen hatte, eine schlammige Pfote in seinem Gesicht, sein aufmerksamkeitsheischendes Winseln eine Aufforderung ihm den Bauch zu kraulen. 

Während er ihm dort über das glatte Fell strich, war Vincent froh, dass er Herbert erst spät kennengelernt hatte. Wäre der Hund von Anfang an dagewesen, wäre er mitnichten so frei gewesen, so mit Herbert zu interagieren wie er es jetzt tat. Er hätte den Hund mit Missachtung strafen müssen und das hätte ihm für Herbert leid getan, der nicht verstand, warum der Mensch ihn so schlimm behandelte.

„Ich werde Herbert nichts tun“, sagte Vincent und sah hoch, ließ den Ernst und die Verlässlichkeit in seiner Stimme durchklingen. Leo glaubte ihm mehr, als dass er Adam glaubte, zumindest auf einer unterbewussten Ebene. Bis auf seine Aussage, dass sie Tangermann nicht umbringen würden. Vincent musste sich eingestehen, dass er nicht damit gerechnet hatte und vollkommen überfahren davon gewesen war, dass Leo in einer derart gnadenlosen Art auf Adam losging. 

„Aber mir“, formulierte Leo seine Angst nicht ganz als Frage und Vincent verstand, warum. Hier ging es darum, im Angesicht einer drohenden Demütigung, die Würde zu bewahren. Alleine, dass Leo seine Stimme so ruhig klingen ließ, war eine Warnung für Vincent. Er fing die seine Nase tätschelnde Pfote des Riesenhundes ein und schmatzte einen liebevollen Kuss auf das feuchte Fell, bevor er sich unter Protestwinseln erhob.

Er vergaß mit Sicherheit nicht, was vor Weihnachten passiert und wie es dazu gekommen war. Ein in sich gekehrter Leo, dessen Wut in ihm hochkochte, war ein Leo, der bei einem fehlenden Ventil schlimme Dinge tat. Ihm dieses Ventil zu geben, war wichtig. Es ihm zu nehmen, fahrlässig dumm. 
Ihn jetzt dafür zu bestrafen, dass er seinem Unmut, vermeintlich Beihilfe zu einem Mord geleistet zu haben, freien Lauf gelassen hatte, war für jeden Fortschritt zur Stabilität kontraproduktiv, auch wenn Vincent seine eigene Wut über Adams sich anschließende Verzweiflung durchaus zurückstellen und verarbeiten musste. 

„Nein. Auch dir nicht, Leo.“

Das Verlangen, ihm zu glauben, sah Vincent deutlich auf Leos Gesicht stehen. Die Unsicherheit es zu können, ebenso. Herbert presste seine kalte Schnauze in Vincents Handinnenfläche und abgelenkt streichelte er den Hund.

„Du hast Adam Schmerzen zugefügt“, sagte er nach kurzer Überlegung und überrascht weiteten sich die grünen Augen seines Gegenübers. Das darauffolgende Schnauben war vorhersehbar, befand Vincent. Leos Augen sagten ihm, was seine Lippen nicht zu veräußern wagten und Vincent runzelte die Stirn. 

„Körperliche Schmerzen“, präzisierte er daher und der spöttische Ausdruck auf Leos Gesicht blieb. Missbilligend schüttelte Vincent den Kopf. 
„Ich weiß, dass wir dich verletzt haben und immer noch verletzen, mit dem, was wir tun, Leo, aber heißt das, dass du jetzt gleiches mit gleichem vergelten musst? Entspricht das deiner Vorstellung, ein guter Polizist und ein guter Mensch zu sein?“
Es waren harsche, vorwurfsvolle und unfaire Worte, die er in Richtung Leo warf, doch nach Adams Zusammenbruch hatte Vincent wenig Diplomatie über – auch nicht für Leo. Er hatte Verständnis, ja, aber nicht für alles. Und er wollte, dass Leo begriff, was die Auswirkungen seines Tuns waren.

„Adams Rücken ist verletzt“, sagte er schlicht und überließ es Leo, die richtigen Schlüsse zu ziehen, die Information zu verwerten und sich schlussendlich von seinem Hohn zu lösen. 
„Er hat mich gewürgt und geschlagen“, sagte Leo leise und Vincent neigte seinen Kopf.
„Das hat er und wie du weißt, habe ich das nicht gutgeheißen. Ich habe mit ihm darüber gesprochen und ihn kritisiert, so wie ich jetzt mit dir spreche und dich kritisiere.“

Leo schwieg und musterte ihn für eine lange Zeit schweigend. Erst, als Herbert ihm einen Stein brachte und dadurch seine Aufmerksamkeit forderte, löste er ihr stummes Blickduell und widmete sich dem Hund, schenkte diesem ein sanftes Lächeln. 
„Was hat die Verletzung ausgelöst?“, rettete sich Leo in seine Ermittlerpersönlichkeit und Vincent schüttelte den Kopf. 
„Das solltest du Adam fragen. Es ist nicht an mir, dir darauf eine Antwort zu geben.“
Leo kommentierte das nicht, sondern richtete sich auf. Er sah auf Herbert herunter, der mit wedelndem Schwanz und erwartungsvoll aufgestellten Ohren darauf gierte, dass er den Stein warf, um ihn sich zurückholen zu können. Leo tat ihm den Gefallen und es kam Vincent vor, als würde er Zeit schinden wollen. 

Zumindest dauerte es etwas, bis Leo sich wieder zu ihm umdrehte und Vincent alleine an seinem Gesichtsausdruck erkannte, dass der Ermittler auf Gedanken gekommen war, die sowohl Adam als auch ihn wieder ein Stück transparenter machten.

„Die Verletzungen haben etwas mit den Hämatomen auf seinen Armen zu tun, nehme ich an“, stellte Leo eine Vermutung in den Raum, die nicht wirklich eine war. Es zu verneinen, würde Leos scharfem Verstand nicht gerecht werden. Es zu bejahen, gab dem wissbegierigem Geist noch mehr Futter und Vincent hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass der gerechtigkeitsliebende Kriminalbeamte der Ursache auf den Grund gehen würde. 

Der Ursache für so viele ihrer Probleme. Was darauf folgen würde, wäre eine Katastrophe. 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 19: Herrenbesuch

Notes:

Guten Tag euch allen,

hier nun der neue Teil. :) Wie immer wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und vielen lieben Dank für all eure Kudos, Klicks, Kommentare... :3

Für diejenigen von euch, die auch "Und ein Sturm zieht auf" lesen: keine Sorge, im Lauf der nächsten Woche wird es weitergehen!

Chapter Text

 

„Ich raste hier aus. Ich schwöre dir Leo, ich raste aus. Dieser Mann ist so ein elender, verfluchter…ich raste aus!“ 

Leo hob seine Augenbrauen, während er Ninas Tirade zuhörte, die sich nun schon seit dem „Hallo“ darum drehte, wie sehr sie gerne ihren neuen Kollegen aus dem Fenster werfen wollte und wie schlimm er war, was für ein Arschloch, was für Ermittlungsmethoden und Kenntnisse in der Menschenführung hatte er ja sowieso gar nicht. 

Wenn er Vergleiche zwischen dem gar nicht mal mehr so Neuen und bekannten Personen in seinem Umfeld ziehen müsste, würde Leo auf Schürk tippen. Schürk und dieser Beamte – Karow, hieß er, mit entsprechend verächtlicher Nina-Note ausgesprochen -  könnten eineiige Zwillinge sein. Arschlöcher durch und durch, nur eben auf anderen Seiten des Gesetzes.

„Du könntest ihn versetzen lassen“, schlug er vor und Nina schnaubte. 
„Und dann? Wenn ich mir so angucke, was hier noch so rumläuft, dann gerate ich doch vom Regen in die Traufe. Los, komm wieder zurück.“
Leo seufzte – nicht nur innerlich dieses Mal. Wie gerne würde er. Wenn er könnte, würde er alles stehen und liegen lassen und nach Berlin zurückkehren, doch das hieße, eine andere Person derartiger Gewalt auszusetzen und das konnte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. 
„Nee“, sagte er deswegen in Imitation ihrer knappen, aber wirksamen Verneinung und Nina schnaufte. 
„Arschloch.“
„Nina!“
„Ist doch so…“

Sie schwiegen für ein paar Sekunden, dann musste Leo lachen. „Du kriegst den schon klein“, lenkte er ein und hörte beinahe, wie sie am anderen Ende er Leitung mit den Augen rollte. 
„Und du? Warum rufst du an? Wenn du mir sagen willst, wie toll Saarbrücken ist, dann leg ich auf.“

Nein, das wollte Leo nicht und einen Augenblick lang trafen ihn die Worte zu hart, als dass er nonchalant darauf reagieren könnte. Er schloss die Augen um all das, was bei Ninas Worten in ihm hochkochte, wieder hinunterschlucken zu können. Sie wäre nicht so gewesen wie er. Sie hätte Schürk mit Sicherheit getrotzt und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihm das Handwerk zu legen. 

Aber er war nicht sie und so musste er damit leben, was ihm angetan wurde. 

„Ich brauche deine Hilfe, Nina“, sagte er und sie gab einen fragenden Laut von sich. „Hast du Kontakt zum Innenministerium?“
„Möglich. Wofür?“
„Ich suche jemanden.“
„Wen?“
„Einen Polizisten, der seinen Dienst quittiert hat.“
„Weswegen?“
„Weil ich in einem meiner Fälle recherchiere, Nina, und jetzt sei nicht so neugierig“, grollte Leo und die Frau am anderen Ende der Leitung lachte. 
„Na versuchen kann man’s, oder?“

Nina hatte schon in der Vergangenheit viel zu viel über ihn auf diese Weise herausbekommen. Aber hier würde er sie heraushalten so gut es ging. Deswegen hatte er sich auch mittels Bargeld eine neue SIM-Karte gekauft und telefonierte mit Nina außerhalb der Dienststelle und abseits von Abhörmöglichkeiten an der Saar. 

„Also, kannst du mir helfen?“
„Lass mal sehen, was ich für dich tun kann. Wie heißt er oder sie?“
„Vincent.“
„Vincent ohne Nachnamen, oder was?“
„Ja, mehr habe ich leider nicht.“
„Boah, Leo.“
Er grollte. „Tut mir leid!“
„Weißt du, in welcher Dienststelle er gearbeitet hat?“
„Nein.“
„Bundesland?“
„Nein.“
„Wann er den Dienst quittiert hat?“
„Nein. Also spätestens vor ein paar Monaten, bis Mitte letzten Jahres.“ Da hatte er Schürk das erste Mal getroffen und Vincent war bei ihm gewesen. 
„Wie alt er ist?“
„Ungefähr so wie ich. 35 oder jünger.“ Vincent schien beinahe alterslos. Vielleich war er auch jünger. Leo konnte das schwer schätzen.  
„Du verarschst mich gerade, oder?“
„Nein!“

Nina stöhnte auf und Leo hörte, wie sie sich in ihrem Stuhl zurückwarf und die Beine hochlegte. „Das ist ja viel. Also der 35-jährige Vincent, der irgendwann einmal Polizist war und den Dienst quittiert hat oder rausgeschmissen wurde. Wunderbar. Ich höre jetzt schon das Lachen der Personaler.“
„Du bist die Beste, Nina“, sagte Leo und Nina brummte. 
„Dafür schuldest du mir ein Wochenende weggehen“, sagte sie und Leo erinnerte sich nur zu lebhaft an das letzte Mal, als sie zusammen weggegangen waren. An die Nacht und an Victor, der erst mit ihr und dann mit ihm geschlafen hatte, unabhängig voneinander, was sie aber erst am nächsten Morgen bei ihrer Frühstückspause festgestellt hatten. 

Leo räusperte sich. „Gerne. Wann immer du möchtest.“ Und er nicht gebunden war durch Schürk. 


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~Wir treffen uns 12 Uhr mittags bei dir. Du kochst Curry zum Mittag. Für Vincent vegan.~

Je öfter Leo diese Nachricht las, desto größer wurden seine Kopfschmerzen und desto wütender wurde er. Wie gerne würde er Schürk Dinge zurückschreiben, die nichts mit Nettigkeiten zu tun hatten. Er würde ihm gerne zu verstehen geben, wo er sich sein Curry hinschieben konnte und dass er kein Bastian war, bei dem er anscheinend Essen bestellte und es dann mundgerecht serviert bekam. Er würde ihm gerne sagen, dass er weder ihn noch Vincent bei sich in der Wohnung haben wollte, weil seine Wohnung sein Reich war, in dem andere Männer nichts zu suchen hatten. 

Leo wollte ihm so vieles sagen, doch nichts davon erreichte seine Finger. Ere würde auch den Teufel tun und Schürk noch ein einziges Mal anrufen. Oder ihm schreiben. So hatte er eingekauft – komplett vegan, Schürk konnte sich sein Fleisch sonst wohin stecken.

Wann immer er an Schürk dachte, dachte er neuerdings aber auch an die Verletzungen, die vor drei Wochen so präsent gewesen waren. So offensichtlich, dass Vincent die Existenz derer offen eingestanden hatte. Leo hatte den Anblick der Hämatome vor Augen, die Schmerzen, die Schürk gehabt hatte. Das Zusammenzucken. 
Bereute er es, Schürk Schmerzen zugefügt zu haben mit seinem Tun? Nein. Manchmal schon. Wenn die Wut auf den anderen Mann nicht da war. 

Der Ermittler in Leo hatte eine Theorie und für diese suchte er Beweise. Sie waren spärlich, aber sie waren da, über die letzten Monate immer wieder. Schürk, der humpelte, der in einem unbedachten Moment das Gesicht verzogen hatte. Schürk, der Narben hatte, Hämatome, Schmerzen...der von Arschlöchern sprach, die anscheinend zum Syndikat gehörten und mordeten. Die Leos Leben bedrohten. 

Die Frage, wer Schürk derart unter Druck setzen konnte, war dabei von diametraler Bedeutung. Entweder, der Sprössling befand sich nicht so hoch in der Hierarchie, wie Leo es bisher angenommen hatte oder es war jemand, der in der Hierarchie über ihm stand. Wenn er tatsächlich der Kronprinz war, dann gab es nur eine Person, die über ihm stand. Boris Barns war es nicht, denn der befand sich im Gefängnis und hatte Schürk kaum Schmerzen zufügen können. Also sein Vater. Aber warum sollte Schürk weiterhin für das Syndikat tätig sein, wenn sein Vater ihn verletzte? 

Das machte keinen Sinn. Ebenso wenig wie Leos kurz aufkommende Theorie, dass Vincent der Täter war. Diese war nicht haltbar gewesen, schon nach der ersten Minute des darüber Nachdenkens nicht. Leos Bauchgefühl hatte alleine schon mit der Vorstellung ein Problem.

Was hatte Vincent nun bereits zweimal gesagt? Er war da, um Schürk zu unterstützen. Leo hatte lange angenommen, dass es sich auf die kriminellen Machenschaften bezog. Was aber, wenn es noch eine andere Bedeutung gab? Vincent hatte Schürk jüngst unterstützt, nachdem Leo ihn gegen die Wand gedrückt hatte. Er hatte ihn unterstützt, indem er mit Leo noch einmal darüber gesprochen hatte. 

Die Türklingel riss Leo aus seinen Gedanken und überrascht sah er auf seine Uhr. Schürk und Vincent waren anderthalb Stunden zu früh. Was sollte das?

Er betätigte den Türöffner und verfolgte mit gerunzelter Stirn das unnötige Gepoltere die Treppe hinauf. Doch es kamen nicht Schürks blonder und Vincents gelockter Kopf zum Vorschein, sondern Caros braune, lange Haare und…Herbert, der mit seinen langen Beinen die Treppe hinaufstakste. 

Leo blinzelte. „Hallo?“, fragte er mehr als dass er grüßte.
„Hallo kleiner Bruder“, grinste sie und Leo beugte sich zu Herbert hinunter, der nun auf ihn zugestürmt kam. Leo hatte beide Hände voll Hund, der ihn überschwänglich fiepend begrüßte. Wie immer, wenn er ihn länger als einen Tag nicht sah. Für so einen großen Hund schon ein sehr hohes Geräusch, befand Leo und schmatzte ihm einen großen Kuss auf den Kopf, der riesigen Zunge entkommend, die anscheinend jeden Zentimeter Haut seines Gesichts erkunden wollte. Fragend sah er hoch. 
„Was machst du hier?“
„Herbert abgeben.“
„Was?!“
„Mama und Papa hatten ihn mir vorbeigebracht, weil sie dieses Wochenende auf Kegeltour sind. Aber ich muss überraschend ins Krankenhaus. Spontane Doppelschicht, weil meine Kollegin ausgefallen ist. Daher musst du auf ihn aufpassen.“
Reichlich überfahren starrte Leo seine Schwester an. „Aber ich bekomme Besuch“, sagte er und in dem Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, erkannte er, wie falsch sie bei seiner Schwester ankamen. 
„Soso“, grinste sie vielsagend und er grollte.
„Nein, nicht so, wie du denkst!“

Sie dachte genau das, was sie nicht denken sollte und Leo kannte sie gut genug um zu wissen, was sich da in ihren Gedanken abspielte. Vor allen Dingen, wer sich gerade dort aufhielt.
„Kommt Adam?“, fragte sie keine Sekunde später und Leo presste die Lippen aufeinander. 
„Nein“, log er und Caro grinste. 
„Also ja. Das ist super, dann könnt ihr euch beide um Herbert kümmern und romantisch spazieren gehen. Bei dem Wetter sicherlich kein Problem, es hat aufgehört zu regnen. Bringst du ihn dann morgen Abend wieder zu Mama und Papa, ja?“
Leo konnte ihr nur betäubt zusehen, wie sie ihm die Leine und die Tüte mit Hundefutter und seinem quietschend Huhn überreichte und ihm seinen feuchten Kuss auf die Wange schmatzte. 
„Danke dir, du hast was gut bei mir! Und nun, viel Spaß beim Spaß!“

Aber…
Leo starrte auf Herbert herunter, der mit vorsichtiger Begeisterung von ihm zu seiner Wohnung sah.
„Caro, das geht nicht, wirklich“, begann er.
„Bist du heute oder morgen außer Haus?“, fragte sie inquisitorisch und er schüttelte den Kopf. 
„Nein, ich bin nur hier.“
„Dann sind das beste Voraussetzungen für Herbi. Viel Spaß euch Dreien!“

So hieß er nicht, aber das wollte Caro nicht wissen. Ebenso wenig wie sie seinen Einwand hören wollte, als sie sich umdrehte und die Treppe hinunterpolterte. Leo begriff erst vollumfänglich, als die Haustür zuschlug und Herbert sich an seinen Oberschenkel drückte, die Augen groß und vertrauensvoll. 

„Manchmal hasse ich sie, aber ich freue mich, dass du hier bist“, murmelte Leo und seufzte tief. Er schob Herbert in seine Wohnung und ließ den Hund von der Leine, damit er alles bei ihm erkunden konnte. Was er nicht tat. Eisern blieb er an Leos Seite und folgte ihm auf Schritt und Tritt. Verlustängste, so hatte es ihm sein Papa erklärt. Er war oft alleine gelassen und eingesperrt worden, in einem kleinen, verdreckten Zimmer ohne menschlichen Kontakt. Und wenn er Kontakt gehabt hatte, dann war dieser mit Gewalt durchsetzt gewesen. Kein Wunder, dass er sich in fremden Räumen unwohl fühlte und sich lieber an bekannte Personen hielt. 

Gut, dann erkundete Leo geduldig mit Herbert alles und endete mit ihm in der Küche. Er hatte schließlich noch etwas vorzubereiten. 

Seufzend sah er auf Herbert herunter, der mit neugierigen Augen und noch viel neugieriger Nase neben ihm auf die Anrichte schaute, aber nichts fand, was akut fressenswert wäre. 
„Tofu magst du mit Sicherheit nicht“, sagte Leo und schob zur Sicherheit das gewaschene Gemüse und den Tofu noch ein Stück weiter nach hinten. Die großen Hundeaugen maßen ihn und Herbert setzte sich mit einem frustrierten Schnaufen neben ihm auf den Boden. 

Er schnitt das Gemüse und den Tofu klein, briet es an, gab Herbert ein Stück Tofu zum Probieren, was mit hochgezogenen Lefzen und einem empörten Niesen verschmäht wurde. Im Anschluss briet er die Paste an und löschte sie mit Kokosmilch. Der Reis im Reiskocher war noch das Leichteste und so hatte Leo alles, samt gedeckten Tisch fertig, als es fünf vor zwölf erneut bei ihm klingelte und Leo sich dieses Mal sicher war, wer hochkommen würde.

Herbert bellte überrascht und Leo strich ihm versichernd über den massiven Schädel. „Du kennst beide schon. Einen von denen magst du nicht“, fasste er die letzten Wochen für den Hund zusammen und ging mit ihm zusammen zur Tür, Herbert hinter ihm versteckt, als könne Leo ihn vor den großen, bösen Neuankömmlingen bewahren. 

Er öffnete die Tür und sah stumm den beiden Männern entgegen, die nun die Treppe hinaufkamen. Herbert winselte hinter ihm und der massige Hundekörper war schier zerrissen zwischen seiner Freude, Vincent zu sehen und seiner Angst vor Schürk, also lief er erst einmal zurück in die Wohnung zu seinem quietschenden Huhn, während Leo die beiden Männer maß, die so zum ersten Mal gemeinsam in seiner Wohnung sein würden. Eine besondere Strafe und Leo konnte sich schon ausmalen, wofür. Für seine Wut bezüglich Tangermann. Natürlich suchte Schürk sich das heraus, was Leo am Wenigsten schmeckte. Es hätte schlimmer kommen können, sagte eine leise Stimme in seinem Inneren, die Leo beinahe augenblicklich abwürgte. 

Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf die beiden Männer, traf auf Schürks abschätzigen, vernichtenden Blick. 
„Was macht das Vieh hier?“, fragte dieser wütend und Leo erkannte nun nüchtern, was betrunken so leger durch seine Blutbahnen geschwommen war. Schürk hatte tatsächlich Angst vor Herbert, immer noch, obwohl er an Weihnachten einen ganzen Abend in seiner direkten Nähe verbracht hatte.  
„Er ist das Wochenende bei mir“, entgegnete Leo entsprechend ruhig und trat zur Seite um sie hinein zu lassen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass die beiden von seinen Nachbarn gesehen wurden und jemand die richtigen Schlüsse zog. Er war zwar der einzige Polizist in seinem Haus, aber Saarbrücken war ein Dorf und die Menschen tratschten gerne. Wer wusste denn schon, wer Schürk noch erkannte?

Leo schloss die Tür und musterte Vincent, der seine Freude über Herbert und Herberts Huhn nicht verbergen konnte, der sich aber anscheinend aufgrund von Schürk zurückhielt. War es Hierarchie oder Rücksichtnahme? Sicher war Leo sich da nicht und war es letzten Endes nicht auch egal? 
Er wartete, bis die Beiden ihre Schuhe und Jacken ausgezogen hatten und deutete dann zum Esstisch, den er bereits für die sich selbst einladenden Gäste gedeckt hatte. 

Vincent folgte seinem Fingerzeig, Schürk jedoch blieb wie angewurzelt im Flur stehen. Er starrte Herbert nieder, der mit seinem Gummihuhn in der Schnauze vor Freude grollend vor Vincent stand und mit dem Schwanz wedelte.  

„Sperr das Vieh weg“, grollte Schürk schließlich so bösartig, dass Leo unweigerlich zusammenzuckte. „Ins Schlafzimmer oder dein heiliges Gästezimmer, aber ich will dieses Monstrum hier heute nicht sehen. Nicht in meiner Nähe.“
Leo blinzelte. Der andere Mann war keine fünf Minuten hier und schon… Herbert wäre doch heute gar nicht hier gewesen, wenn Caro ihn nicht vorbeigebracht hatte. Und selbst wenn, er tat doch nichts. Was Schürk doch wusste. Wieso also verhielt er sich so? „Er ist nicht bösartig. Er will dir-“
„Sperr ihn weg“, fuhr Schürk ihm so dunkel und gewaltbereit über den Mund, dass Leo unweigerlich Angst um Herbert bekam. Jeder Widerspruch blieb ihm auch angesichts ihres letzte Zusammentreffens in seinem Hals stecken und er musterte Schürk vorsichtig. Was er in dessen Gesicht fand, war nichts außer Zorn und Missbilligung, dass Leo ihm nicht sofort gehorchte.

„Adam…“, hörte Leo hinter sich, doch auch Vincent scheiterte an Schürks eiserner Wut. 
„Ich will mich kein drittes Mal wiederholen“, drohte er und Leo schluckte. So wie er Schürk einschätzte, würde er sich mit Sicherheit an Herbert vergreifen, wenn Leo nicht gehorchte. Er selbst könnte sich vermutlich weigern, aber Herbert? Herbert würde nicht verstehen, warum ihm Gewalt angetan würde und er würde Angst haben. Weil Leo es nicht verhindert hatte. 

Schweigend lockte Leo Herbert samt Huhn zu sich. 
„Na komm. Du darfst auch auf mein Bett“, murmelte er dem aufgeregten Hund entgegen und ging mit ihm in sein Schlafzimmer, was gar nicht mal so einfach war bei einem achtzig Kilo Monstrum, das unbedingt in Vincents Nähe bleiben wollte. Leo war froh, als er ihn soweit hatte, dass er sich auf den Boden seines Schlafzimmers setzte, das Huhn wie ein totes, absurd witziges Tier in seiner Schnauze. Nichtsahnend, was gerade geschah. Es brach Leo das Herz und jeder Funken Mitleid, den er für Schürk jemals empfunden hatte, löste sich in Nichts auf zugunsten seiner Wut auf den anderen Mann. 
  
„Ich hole dich später wieder heraus, ja? Alles wird gut werden.“ Leo hasste es, Herbert das Gefühl zu geben, er sei bei ihm nicht willkommen, er hasste es, den Hund einsperren zu müssen, weil Schürk ihn dominieren wollte. Eine Eskalation mit Schürk wollte und konnte Leo allerdings nicht zu Herberts Nachteil riskieren. 

Sein Herz schmerzte, als er den Hund zurückließ und die Schlafzimmertür abschloss. Das musste er tun, denn Herbert wusste, wie man Klinken herunterdrückte und tat dies auch regelmäßig.

„Brav“, lobte Schürk herabwürdigend und spöttisch, als Leo ins Wohnzimmer zurückkam. Er ließ das Wort über sich hinwegwaschen, die Hände zu Fäusten geballt und die Lippen fest zusammengepresst. Wenn er sie geöffnet hätte, würde er Schürk anschreien und Dinge sagen, die ihm insbesondere nach ihrem letzten Treffen nicht zustanden. So schwieg er und schluckte alles herunter, was ihm bei den Worten auf der Zunge lag. Lieber deutete er mit zusammengebissenen Zähnen zu seinem Tisch. 
„Das Essen ist fertig.“ Dafür waren sie ja hier und je schneller er es hinter sich brachte, desto schneller waren sie fertig.
„Komm Adam, setzen wir uns“, versuchte Vincent die Situation zu entspannen und es war das Einzige, was Leo ihm positiv anrechnete. „Es riecht schon einmal gut“, schob er in seine Richtung nach, doch Leo ignorierte ihn. Er suchte weder mit ihm noch mit Schürk Blickkontakt. 

Anstelle dessen drehte er sich um und ging zum Herd, holte das Curry zum Esstisch. Selbiges tat er mit einer Schüssel Reis und das erste, leise Jaulen drang durch seine Schlafzimmertür. Es zog unangenehm schmerzhaft in Leos Brust und er musste für einen Moment die Augen schließen. Herbert war noch nicht lange genug bei seiner Familie, als dass er sich sicher genug fühlte. Sie trainierten mit ihm, sowohl zuhause als auch in der Hundeschule. Er hatte dennoch Angst und diese Angst war so tief in ihm, dass sie nicht viel mehr machen konnten, als sie ihm zu nehmen: Stück für Stück. Es kam Leo wie ein Verrat vor, Herbert jetzt derart wehzutun. 

Er hörte, wie sich die Klinke herunterdrückte und das Jaulen lauter wurde. 

„Setz dich“, sagte Schürk, bevor Leo auf andere Gedanken kommen konnte und er rief sich ins Gedächtnis, dass er zu gehorchen hatte und was Schürk in der Lage war zu tun. Das hier war Schürks Geste der Dominanz und besser wäre es, dass er jetzt keinen Widerstand leistete. Vielleicht würde Herbert nicht den ganzen Tag in seinem Schlafzimmer verbringen und denken müssen, dass Leo weg war. Dass er ihn wie die Familie, bei der er vorher gewesen war, wegsperrte.

Er setzte sich und gab ihnen allen nach Schürks Aufforderung auf. Er hatte keinen großen Hunger, aber wenn es half, dass er einen Bissen aß, dann würde er ein paar Löffel seines eigenen Currys herunterwürgen.

Schürk nahm die ersten Bissen und Leo spürte Vincents intensiven Blick auf sich. Das unangenehme Schweigen zwischen ihnen hielt Leo aus, durch das das elendige Fiepen und Jaulen des Hundes nur umso deutlicher zu hören war. Herbert litt, jetzt schon und es brach Leo das Herz, dass das, was er hier tat, bewusste Tierquälerei war.
Widerstand kam in ihm hoch, der mit der Angst vor den Konsequenzen kämpfte. Er hörte Herberts Angst und fühlte sich wie ein Verräter an seiner Familie, die ihm vertrauten, dass es dem Hund bei ihm gut ging. 
Minutenlang schwiegen sie und Leo stellte mit jedem erbärmlichen Laut aus seinem Schlafzimmer fest, dass er nicht tatenlos zuhören konnte. Nicht um den Preis einer Beschwichtigung, die ihm wieder einmal seine Position zeigte. Er fühlte sich in diesem Moment so hilflos wie vor Weihnachten auch, doch dieses Mal fehlte ihm nicht der Mut, sich daraus zu lösen. 

Wütend sah er hoch, als Herbert erneut heulte und legte seinen kaum benutzten Löffel auf den Teller. 
Er starrte Schürk in die warnenden, blauen Augen. Langsam erhob er sich und presste seine Lippen aufeinander. Es würde mit Sicherheit ein Nachspiel haben und das würde er abfangen müssen, aber der Hund, der nicht verstand, was geschah, würde nicht weiter darunter zu leiden haben. Wenn Schürk sich an Herbert vergriff, würde er ihn abhalten und dann die Konsequenzen tragen. Aber so. 

„Ich wünsche guten Appetit weiterhin. Ich sorge dafür, dass der Hund keine Angst mehr hat“, sagte er mit mühevoller Ruhe und hielt die Aufmerksamkeit der eisblauen Augen.
„Du setzt dich wieder hin“, sagte Schürk ohne Intonation vollkommen neutral und alles an diesen Worten war eine Drohung. Leos Augen verirrten sich kurz zu Vincent, der neben Schürk saß, doch auch dieser hielt sich zurück. Seine Hand, das erkannte Leo jetzt, schwebte aber auf Höhe von Schürks Unterarm.

„Nein, das werde ich nicht. Der Hund hat Angst vorm Alleine sein. Er versteht nicht, wo ich bin, warum er dort eingesperrt ist. Laut Aussage des Tierschutzes ist ihm genau das passiert. Tagelanges eingesperrt sein ohne menschlichen Kontakt. Ich werde dafür sorgen, dass seine Angst bei mir nicht noch einmal auflebt und er glaubt, ich würde ihn genauso behandeln.“
„Du ziehst dieses Vieh mir also vor“, fragte Schürk lauernd und Leo nickte knapp. 
„Jederzeit, wenn du mich dazu zwingst, zwischen ihm und dir zu wählen. Und wenn du mich dafür den ganzen Tag knien lässt, der Hund wird in meiner Wohnung keine Angst haben.“

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging zu seinem Schlafzimmer. Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel ins Schloss und betrat den Raum. Herbert jaulte erfreut und grüßte ihn beinahe mit ekstatischer Freude, während Leo die Tür hinter sich zuzog. Der wuchtige Körper warf ihn beinahe um, als Herbert versuchte, an ihm hochzuspringen und nur Leos Polizeiausbildung verhinderte, dass er zu Boden ging.

„Ist ja gut…ist ja gut, ich bin ja bei dir“, murmelte er und fing die anfängliche, überschwängliche Freude seiner Rückkehr ab. Als Herbert ruhiger wurde, lockte er ihn auf sein Bett und legte sich mit ihm auf die Matratze. Vielmehr wurde er unter dem 80 Kilo Körper begraben, der sich so Nähe suchend über ihn schob, als könne sich Leo jetzt und gleich in Luft auflösen. Herberts Zunge war einfach überall und Leo wehrte sie schnaubend und prustend ab. Wenigstens hatte Herbert sein Huhn fallen lassen und zog ihm das nicht auch noch durchs Gesicht. 

„Hör auf, du bist kein Wolf, du musst mir deine Zunge nicht in den Rachen stecken“, grollte er spielerisch und umfing Herberts Körper mit seinen Armen, um das aufgeregte Tier zur Ruhe zu bringen. 
Es dauerte etwas, aber dann ließ er sich hechelnd streicheln und Leo vergrub sein Gesicht in sein Nackenfell. 
„Hauptsache, es geht dir gut“, murmelte er und verbrachte die Stille damit, sich auszumalen, was Schürk für den zweiten Widerspruch innerhalb eines Monats in petto hielt. 


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„Tu’s nicht“, sagte Vincent an seiner Seite und hielt seinen Unterarm in einem festen Griff. Adam war halb aufgestanden und das, was er tun wollte, wurde aufgehalten von Vincents Ernst. Seine Wut, die allzu präsent und destruktiv war. Seine Bereitschaft, Hölzer dafür zu strafen, was er gedacht hatte tun zu können. Es war das zweite Mal, dass der andere Mann vollkommen vergaß, wer hier das Sagen hatte und das war etwas, das Adam nicht tolerieren konnte. Widerstand ja, aber das hier? Niemals. Außerdem hatte er gewusst, dass sie heute kamen, da hatte das Vieh gar nicht hier zu sein. 

Hölzer wusste, dass er Angst hatte. Und trotzdem, nein, gerade deswegen war der Köter hier. Und dann hatte er auch noch den Schneid, sich ihm zu widersetzen. 

„Herbert leidet, deswegen ist er gegangen“, versuchte Vincent zu beschwichtigen und Adam lachte kurz und hart auf.
„Das Tier ist mir scheißegal“, knurrte er. „Der Köter ist genauso bissig wie alle anderen auch.“
„Ist er nicht. Der Hund deines Vaters war anders.“
„Schwachsinn!“
„Ihn jaulen zu hören, ist nicht einfach, Adam. Auch für mich nicht. Für Leo schon gar nicht, denn Herbert gehört zu seiner Familie. Er liebt ihn sehr und deswegen ist er zu ihm. Gib ihm Raum und Möglichkeiten, euch beide unter einen Hut zu bringen und zwinge ihn nicht dazu, zwischen euch beiden wählen zu müssen.“
„Ich will nicht mit dem Hund in einem Zimmer sein!“
„Er hat genauso viel Angst vor dir wie du vor ihm, Adam. Er wird dich nicht anfallen.“
Adam stierte wütend auf seine rechte Hand hinunter. Unfassbar, dass Vincent nun auch noch Partei für dieses tumbe Duo im Schlafzimmer ergriff. „Ich bin nicht hier, damit es mir den ganzen Nachmittag schlecht geht“, sagte er grollend und hasste es, wie sehr seine schlechten Erinnerungen in seiner Stimme durchklangen.
„Wird es dir denn damit schlecht gehen, wenn der Hund in deiner Nähe liegt?“
„Ja!“

Vincent schwieg und strich ihm beschwichtigend über den Unterarm. „An Weihnachten warst du auch mit ihm in einem Raum. Wie war es da für dich?“
Seine verfluchte rechte Hand mit seiner verfluchten Argumentation. An Weihnachten war es etwas Anderes gewesen. Da war der Raum größer und das Vieh nicht direkt vor ihm. Adam sah in Vincents erwartungsvolles Gesicht und grollte. 
„Adam, deine Angst gilt dem Hund, der dich damals angefallen hat. Aber der Hund hier ist nicht wie der damals. Gib ihm die Chance, es dir zu beweisen. Gleichzeitig kannst du damit verhindern, dass Leo etwas tun muss, was ihm wehtut und ihn noch mehr belastet. Nach dem Konflikt wegen Gerd Tangermann mit Sicherheit eine gute Möglichkeit, die Situation zu entspannen.“

Adam knirschte mit den Zähnen und warf einen Blick in Richtung geschlossene Schlafzimmertür. Alleine der Gedanke an dieses Vieh ließ seinen Puls höher schlagen. Aber Vincent hatte Recht, natürlich, wie immer. Weihnachten war es auch irgendwie gegangen und er hatte sich durch den Köter nicht akut bedroht gefühlt. 

„Soll ich Leo holen oder möchtest du das machen?“, fragte Vincent mit einem versöhnlichen Lächeln und Adam rollte mit den Augen. 
„Ich mache das“, murrte er und Vincent nickte. Er haschte nach Adams Hand und drückte die Finger versichernd. 
„Du schaffst das.“
Als wenn er da großartige Motivationsreden brauchte, belog Adam sich selbst und ging in Richtung Schlafzimmer. Er atmete tief durch und drückte die Klinke herunter, sich dafür wappnend, was er vorfinden würde. 

Dass der auf seinem Bett liegende und den Hund kuschelnde Mann nicht wirklich das war, was Adam sich gedacht hatte, wurde ihm spätestens dann bewusst, als ihm die Worte versiegten, die er gerade noch spöttisch auf der Zunge gehabt hatte. 

Hölzer hatte einen guten Sinn für Inneneinrichtungen, die von Leben zeugten und so war auch sein Schlafzimmer nichts Anderes als gemütlich, wenn Adam es so klassifizieren mochte. Der Mann auf dem Bett machte es noch gemütlicher und Adams erster Gedanke war, dass der Hund dort verschwinden sollte und er sich zu Hölzer ins Bett legte. Das war utopisch, nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass Hölzer hier anscheinend keine Männer empfing. Und dass Hölzer ihn hasste – auch nicht unwesentlich. Adam musterte das Tier, dessen massiger Kopf zu ihm geruckt war, sobald er die Tür geöffnet hatte. 

Ansonsten schien wenig an dem Tier auf Aggression gepolt zu sein. Er lag halb auf Hölzer, seine langen Beine in die Höhe gestreckt, die Zunge hing so dumm und unelegant aus seinem Mund, dass Adam sich das Schnauben verkneifen musste. Eine der Pfoten zuckte wie Hölzers Hand auch, der ihm nicht den Gefallen tat, zuerst etwas zu sagen. 

Adam knirschte nochmal mit den Zähnen und nickte dann knapp in Richtung Wohnzimmer. 

„Zurück mit dir, ich will was essen“, rettete er sich in Ruppigkeit und natürlich kam da erneut Widerstand auf dem Gesicht des anderen Mannes auf.
„Das da kommt auch mit“, deutete er jeden Widerspruch erstickend auf den ihn anstarrenden Hund, der sich nun abwandte und sich schier in Hölzer vergrub, seine Schnauze in dessen Halsbeuge pressend und winselnd. 
Wie immer hatte Vincent Recht. Der Hund hier hatte wenig mit der Bestie seines Vaters gemein. Das tat Adams Angst wenig Abbruch, wohl aber seiner Bereitschaft, sowohl Hölzer als auch den Hund im gleichen Raum haben zu wollen. 

„Er heißt Herbert“, sagte Hölzer ruhig und Adam rollte mit den Augen. 
„Der tierliebe Herr Hölzer… Herbert kommt auch mit“, präzisierte er zynisch und der oben liegende Riesenlappen, den der Hund als Ohr hatte, stellte sich neugierig auf. Ungewollt befand sich Adam erneut in der Aufmerksamkeit der blauen Augen und starrte mit klopfendem Herzen zurück. Die Rute auf dem Bett schlug einmal probeweise und Hölzer drückte dem Vieh einen Kuss auf den massigen Körper. Sacht entwirrte er sich und setzte sich im Bett auf, ganz zum Unbill des Riesenviehs, das sich nun ungelenk auf den Bauch drehte und mit seinen Beinen problemlos den Boden erreichte. Er schien panisch darauf bedacht zu sein, nicht alleine in dem Zimmer zu bleiben und war dennoch nicht mutig genug, um sich an Adam vorbei zu drängen. 

Dummes Tier. Wirklich. 

„Er beißt wirklich nicht“, wiederholte Hölzer wie eine gesprungene Schallplatte und Adam schnaubte. Wohlweislich hielt er jedoch den Mund und trat aus dem Schlafzimmer heraus, damit die unzertrennlichen Zwei vor ihm zum Esstisch gehen konnten. Damit das Vieh mit seinem bespeichelten Gummihuhn in Richtung Vincent rennen und ihn beinahe umwerfen konnte mit seiner Freude. 

Vincent schenkte ihm ein kurzes, dankbares und stolzes Lächeln, dann umarmte er das Tier so glücklich, als wäre dieser sein Adam aus Frankfurt. Ekelhaft, befand Adam. 
„Hallo Großer“, gurrte er dabei so tumb, wie Adam ihn selten gehört hatte und er blieb unweit der unwürdigen Szene stehen, die Arme verschränkt, die Zähne geknirscht. Soviel Freude, wie dieser Hund bei Vincents Anblick hatte, konnte es gar nicht geben. Niemals.

Zumal der Hundesabber, den das Vieh nun mittels Gummihuhn auf Vincents Hose verteilte, mit Sicherheit nicht den Weg auf die Polster seines Wagens finden würde.  

„Ist es so genehm?“, fragte er zynisch in Richtung des Ermittlers, der ihn mit seiner üblichen Mischung aus Vorsicht, Unsicherheit und Ablehnung musterte. Dass er tatsächlich ein knappes Nicken erntete, verwunderte Adam daher umso mehr. 
„Ich halte ihn von dir fern“, setzte Hölzer noch einen drauf und Adam brummte. Er vermied den Blick in die aufmerksamen, grünen Augen und damit auf den Mann, der so etwas wie ein Friedensangebot gemacht hatte. 

Ihm. Dem Aggressor gegenüber. Auch das schmeckte Adam nicht wirklich. 


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Leo konnte nicht umhin, den blonden Mann wieder und wieder zu mustern. Der Mann, der ihm mit seinem ambivalenten Verhalten Rätsel aufgab. Der brutale, ruchlose Sadismus, der am Anfang durchgeklungen war – der Zwang, ihm zu gehorchen zu müssen – wurde erneut kurze Zeit später durch ihn selbst negiert. Dass dem ein Gespräch mit Vincent vorangegangen war, war Leo klar und er hätte den anderen Mann gerne danach gefragt. Wenn Vincent ihm nicht kategorisch ausweichen würde, indem er Herberts ganze Aufmerksamkeit forderte. 

Schürk hatte zumindest vorübergehend seine Grenzen respektiert und sein unmenschliches Verhalten zu einem menschlichen gemacht. Das machte die Situation nicht besser, aber zumindest nahm es Leo einen der vielen Steine von seinem Herzen. 

Er griff sich seinen Teller mit dem mittlerweile kalten Curry hoch und trug ihn zur Mikrowelle, um dem Ganzen nochmal etwas Temperatur zu geben. Dass er dabei verfolgt wurde, erkannte Leo erst, als er sich von der Mikrowelle umdrehte und Schürk ebenfalls mit Vincents und seinem Teller dort stand und sie ihm entgegenhielt. 

Wortlos nahm Leo sie entgegen.

„Warum hast du Angst vor Hunden?“, fragte er ruhig, weil er die Stille füllen wollte und weil er neugierig war. Schürks Neutralität wandelte sich innerhalb von Sekunden in Überheblichkeit und als Leo wartete, stellte er fest, dass er mit ausreichend Zeit auch sehen konnte, wie diese wieder verschwand. 
„Warum sind Spontanbesuche von Männern in deiner Wohnung etwas, das deine Familie überrascht?“, bekam er die verfluchte Gegenfrage und war beinahe froh um das Ping seiner Mikrowelle. Er drehte sich um und griff sich seinen Teller, stellte Schürks oder Vincents, welcher von beiden auch immer es war, hinein. 
„Eine intime Frage gegen die andere“, erklang es hinter ihm und Leo starrte hinaus in den nun wieder regnerischen Februar. So bitter es war, Schürk hatte Recht. Intim waren beide Fragen alle Male. 

Leo ließ sich einen weiteren Teller Curry Zeit mit der Antwort und zuckte dann mit den Schultern. 
„Ich ziehe meine zurück“, wich er aus und machte den Fehler, Schürk einen der beiden Teller zu reichen. Der andere Mann war ihm zu nahe und er war viel zu aufmerksam dafür, dass Leo einen Rückzieher gemacht hatte.
„Warum?“, fragte er so nah, dass Leo sein Aftershave riechen konnte, und in einer solchen dunklen Tonlage, dass es ihn schauderte. 
„Ich habe kein Interesse daran, dir deine zu beantworten.“

Schürk ließ ihn und ging schließlich mit beiden Tellern zurück zum Esstisch, den Blick vernichtend auf Herbert gerichtet. Er setzte sich und Vincent kam ebenfalls an den Tisch. 
„Zu mir“, sagte Leo streng, als Herbert Anstalten machte, sich Schürk noch einmal anzuschauen und der Hund trottete neben ihm. Mit einem hoffnungsvollen Blick in seine Augen setzte er sich neben Leo und legte ihm den Kopf auf den Oberschenkel. 
„Das ist nichts Anderes als das, was du bereits verschmäht hast“, erläuterte Leo und kraulte den Hund hinter den Ohren. 

„Das Curry ist sehr lecker, Leo“, sagte Vincent und Schürk brummte mit vollem Mund. 
„Joah, kann man essen, ist aber ein bisschen lasch“, nuschelte er und erhob sich noch während er kaute. Überrumpelt sah Leo ihm nach, verfolgte seinen Weg in die Küche, anscheinend zu seinem Gewürzregal. 
„Wo ist denn dein Chilipulver? Da fehlt Schärfe.“
Langsam wandte Leo sich von dem Mann in seiner Küche Vincent zu, der sacht mit den Schultern zuckte, seine blauen Augen aufmerksam auf Schürk gerichtet. 
„Im Regal“, erwiderte er langsam. Hätte Schürk das nicht vorher schon sagen können? Das war doch nicht der erste Bissen, den er aß.
„Links, rechts?“
„Mitte“, grollte Leo mit dunklem Blick auf Vincent, der bedeutungsschwanger die Augenbrauen hob und sein eigenes Curry ohne zu Murren aß. Besser war das.
 
Schürk kam mit seiner Beute wieder zurück und bestäubte sein Curry solange mit dem scharfen Pulver, bis Leo nur noch einen feinen, roten Film sah. In Windeseile aß er sich durch die aufgewärmte Portion. 
Schneller, als Leo sich dazu entscheiden konnte, ob Schürk Recht hatte, was die Laschheit betraf. 

Bevor Vincent oder er fertig waren, griff Schürk erneut zu der Kelle und hielt dann inne. Fragend hob er die Augenbrauen. 
„Oder wolltet ihr noch etwas?“, fragte er und Leo überlegte, ob es für ihn Folgen haben würde, Schürks Kopf in den Currytopf zu tunken. Mit Sicherheit. Aber Schürk hatte sich schon zweimal nachsichtig gezeigt, da wäre ein drittes Mal sicherlich auch noch frei. Nicht, dass Leo es ausprobieren wollen würde. 
„Vielleicht solltest du Leo noch etwas übriglassen?“, fragte Vincent sanft, als Leo nichts sagte, sondern wie tumb in den beinahe leeren Topf starrte. So wenig hatte er doch gar nicht gemacht.
„Hmh“, erwiderte Adam und lud sich den Rest des Currys auf den Teller, würzte erneut nach und schob sich ungerührt einen Löffel in den Mund. Leos Hand zuckte und ausschließlich Vincents leises „Adam!“, hielt ihn davon ab, auf wirklich dumme Gedanken zu kommen. Das und Herbert, der neugierig über den Tisch lugte und den blonden Mann beobachtete, der ihm immer noch nicht geheuer war.  

„Jetzt ist es endlich besser. Bastian bekommt das leckerer hin“, sagte Schürk nuschelnd, den Mund voller Essen, und Leo schnaubte ungläubig.
„Ab zehn Gramm wird’s undeutlich“, sagte er reichlich pikiert und Schürk grinste. 
„Ab zehn Zentimetern auch“, erwiderte er und Leo fragte sich, wie er den nicht hatte kommen sehen, wo er doch so offensichtlich war. Vincent gab ein Geräusch der Missbilligung von sich, während der blonde Mann ungerührt weiter aß und nun auch die letzten Reste vernichtete. Dann lehnte er sich zurück und legte die Hände auf seinen Bauch.
„So, das war annehmbar.“

Leo war froh um das Frühstück, das er heute Morgen in sich hineingezwängt hatte. Vincent lud sich mit einem viel zu nachsichtigen und höflichen Lächeln Reis ohne Curry auf den Teller. Schürk starrte ebenfalls darauf und hob mit einem unschuldigen Gesicht die Augenbrauen.

„Oh, schon leer…“, sagte er und Leo glaubte ihm die Bestürzung in seinen Worten keine Sekunde lang. „Na dann kannst du ja die veganen Kekse essen, die unser hauseigener Polizist sicher nur für dich gekauft hat.“ Leo schwieg, unter anderem auch, weil Schürk mit seinen Worten ins Schwarze getroffen hatte. Unwissentlich hatte er die Karamellkekse gekauft und dann zuhause mit einem Blick auf die Packung festgestellt, dass sie tatsächlich vegan waren.  
  
Vincent lächelte und irgendetwas an diesem Lächeln war so anders als sonst, dass Leo es absolut nicht einordnen konnte. „Adam nimmt immer einen Nachschlag, wenn es ihm schmeckt“, fiel Vincent seinem Auftraggeber mit nonchalanter Leichtigkeit und Missbilligung in den Rücken und Leo hielt überrascht inne. Belustigt sah er, wie Schürk Vincent vernichtend niederstarrte. 

Das war besser als die Information an sich. Diese war vollkommen unwichtig. Er hoffte, sein Essen würde Schürk wie ein Stein im Magen liegen.


~~**~~


Nach dem Essen spielten sie auf Schürks Wunsch hin Qwirkle und Leo hatte alle Hände voll zu tun, den blonden Mann davon abzuhalten, ihm in die Steine zu gucken. Wie es schien, setzte sich auch hier der Hang zur Kriminalität fort und Schürk empfand rein gar nichts Böses dabei, zu versuchen, sich einen unlauteren Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. 

Der Mistkerl. 

Immer dann, wenn Leo Herbert davon abhalten musste, Schürk ein Stück näher zu kommen um an ihm zu riechen, waren seine Steine nicht mehr in Sicherheit und schlussendlich klappte Leo sie mit einem genervten Grollen mit dem Symbol nach unten um. 

Vincent gewann still und heimlich das Spiel, das er so zum ersten Mal spielte und aß nebenher die Kekse, die Leo kommentarlos nach dem Essen auf den Tisch gestellt hatte. 

Es war Nachmittag, als Leo auf die Uhr sah und auf Herbert sah, der zur Tür getrottet war und von dort aus mit wedelnder Rute zu ihm starrte. 
„Er muss raus“, sagte Leo, kaum, dass sie ihre achte Runde Qwirkle beendet hatten und Schürk schnaubte. 
„Und? Mach die Tür auf und lass ihn nach unten.“
Leo presste die Lippen aufeinander. Würde es ein neuer Kampf zwischen ihm und Schürk werden, der sich wieder um das Wohlergehen des Hundes drehte? Würde Schürk ihm wieder verbieten, dafür zu sorgen, dass es Herbert gut ging?
„Ich muss mit ihm rausgehen. Wir sind hier in der Stadt, er kann nicht einfach vor die Tür gehen.“
„Du hast einen Innenhof.“
„Die Nachbarn werden sich bedanken.“
„Mir scheißegal.“
„Ich muss mit ihm raus“, wiederholte Leo und nun knirschte Schürk mit den Zähnen. 
„Dann komme ich mit.“

Alles nur das nicht. Es war schon schlimm genug, dass beide Männer hier in seiner Wohnung waren. Wenn er nun auch noch mit Schürk spazieren ging, wäre die Gefahr mehr als groß, dass er von Kolleginnen und Kollegen gesehen werden würde. Schürk war bei ihnen bekannt wie ein bunter Hund und das würde mitnichten gut gehen. 

„Ich könnte das übernehmen“, schlug Vincent zögernd vor und sah stirnrunzelnd von seinem Auftraggeber zu Leo. „Mit Herbert eine Runde Gassi gehen, meine ich. Wenn ich euch alleine lassen kann, heißt das?“ Die Frage war eine Warnung, die sich vor allen Dingen an Schürk richtete und der sie mit einem dunklen Lächeln und hochgezogenen Augenbrauen beantwortete. 
„Mit Sicherheit kannst du uns beide alleine lassen“, gurrte er fast und Leo schluckte schwer. Mit großen Augen starrte er Vincent an und begriff, dass das die einzige Möglichkeit war, wenn er die beiden Männer nicht alleine in seiner Wohnung lassen wollte. 

Er würde nichts unlieber tun als das, denn alleine der Gedanke verursachte ihm Bauchschmerzen.

„Ich bin nicht länger als ein halbe Stunde weg.“ Es schien Leo wie eine Versicherung zu sein und er nickte schweigend. Was wäre denn schon eine halbe Stunde? Nichts. 
„Ich passe auch auf Herbert auf“, sagte Vincent mit einem Lächeln. Er wartete auf Leos Zustimmung und nach ein paar Sekunden der Stille nickte Leo. 
„Okay“, sagte er rau und versuchte auf dem runden Gesicht eine Spur von Falschheit zu erkennen. Doch da war nichts außer einem verbindlichen Lächeln. Vincent erhob sich und griff sich die Leine, ganz zu Herberts ekstatischer Freude darüber, dass dieser mit ihm rausgehen würde. 

Er sah noch nicht einmal fragend zu Leo zurück, der miese Verräter, und die Tür schloss sich hinter den Beiden.

„Tja, so schnell ist man abgeschrieben“, schnarrte Schürk und die plötzlich eintretende Zweisamkeit überrollte Leo wie eine Lawine. Das letzte Mal, als er alleine mit Schürk hier gewesen war, hatte dieser ihn gewürgt und geschlagen. Leo war verzweifelt gewesen und eben diese Verzweiflung hatte sich eindrücklicher in seine Erinnerungen gebrannt, als Leo es bisher gedacht hatte. Mit voller Wucht überrumpelte ihn dieses Gefühl nun und vorsichtig blieb er auf seinem Stuhl sitzen, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Schürk hatte damals Brötchen mitgebracht und er konnte sich noch genauestens daran erinnern, wie es war, hier zu sitzen, am gedeckten Tisch, eingetunkt in das hoffnungslose Gefühl, nie wieder etwas anderes zu sehen als Schürk. 

Der gegenwärtige Schürk erhob sich und Leo zuckte bei der Bewegung erschrocken zusammen. Er zog die Schultern hoch und starrte Schürk unsicher in die Augen. Doch anscheinend hatte der andere Mann nicht vor, ihm Gewalt anzutun, zumindest interpretierte Leo das Innehalten in jedweder Bewegung so. Missbilligung stand auf dem kantigen Gesicht und Leo hoffte, dass sie sich nicht auf etwas bezog, das er getan hatte. 

„Ich wollte mir einen Kaffee holen“, erläuterte Schürk und es kam Leo fast wie eine Rechtfertigung vor. Er nickte und sah verlegen zur Seite, Schürk jedoch nicht aus dem Augenwinkel lassend. 

„Ich meinte das ernst“, sagte er schließlich und Leo runzelte die Stirn. Er spielte mit den schwarzen Quadraten auf dem Tisch, sich unsicher, was er von Schürks Worten halten sollte. 
„Was?“
„Die Entschuldigung.“
Worte wie Scherben, als wenn es der blonde Mann nicht gewohnt sei, sich zu entschuldigen. Vermutlich war dem auch so und sein Stolz verbot es ihm, das zu tun. 
„Okay“, erwiderte Leo und wagte es, Schürk in die Augen zu sehen. Der ruhige Ernst, den er dort erkannte, war neu und ungewohnt. Es zeigte ihm eine andere Seite an dem Mann, der ihn erpresste. 

Schürk ging mit ausreichend Abstand und langsam genug an ihm vorbei, dass Leo sich mit dem Gedanken anfreunden konnte, zu sitzen und ihn im Rücken zu haben. Er hörte es in seiner Küche rummoren. Schürk machte ein abwertendes Geräusch und kam mit der Tüte an Kaffeebohnen zurück, die Leo heute gekauft hatte. 

„Das ist Plörre und schmeckt nicht. Leg dir was Anderes zu“, beschwerte er sich und Leos gerade noch vorsichtiges Gefühl der Verwirrung wurde mir nichts dir nichts von der üblichen Wut über die Unverschämtheit des Verbrechers abgelöst. 
„Im Schrank neben der Kaffeemaschine sind noch andere Bohnen. Vielleicht passen dir die besser“, sagte er zähneknirschend und Schürk warf ihm unerfreut die Tüte zu. Während Leo sie auffing, machte er sich auf den Weg zurück in die Küche und öffnete den Schrank. 
„Verarschen kann ich mich alleine, ich trinke doch keinen scheiß entkoffeinierten Kaffee!“, kam der vorhersehbare, abschätzige Protest und Leo gestattete sich ein Lächeln voller Genugtuung. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 20: Vincent Ross

Notes:

Ein wunderschönes Halloween euch allen :),

hier nun der neue Teil, dieses Mal mit einem etwas größeren Crossover zwischen dem Tatort Saarbrücken, Tatort Berlin und Polizeiruf 110 Świecko. Wem das nicht so zusagt, der kann getrost zur letzten Szene des Teils springen und wieder einsteigen!

Ansonsten: vielen lieben Dank euch allen für die Kommentare, fürs Mitfiebern, Mitleiden, Kudotieren, Lesen... ich wünsche euch auch viel Spaß mit dem neuen Teil!

Chapter Text

 

„Wir empfangen keine Besucher. Raus hier.“

Leo hob die Augenbrauen und musterte den unfreundlichen Mann mit den stechenden Augen, der ihn in live und Farbe noch viel latenter an Schürk erinnerte als durch Ninas Erzählungen stumm. Mit einem entschuldigenden Nicken wandte er sich kurz von seinem Gespräch mit Anna ab, die knapp mit den Augen rollte. Er war noch nicht einmal zehn Minuten hier und hatte kaum Gelegenheit gehabt, Anna zu fragen, wie es ihr ging, als dieser Unsympath schon aus seinem alten Büro auftauchte und ihn anblaffte. 

„Er ist nicht…“, begann Anna und der Mann brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen, die Leo sofort gegen ihn aufbrachte. Definitiv so herrschsüchtig wie der blonde Syndikatsspross aus Saarbrücken und zudem noch ein schlimmer Chef. Das war also sein Nachfolger. Ein herrischer Idiot. 

Leo lächelte schmal und trat auf – wie hieß er nochmal? – zu, unterschritt bewusst die unsichtbare Grenze des persönlichen Sicherheitsabstandes. Verbindlich streckte er ihm die Hand entgegen. 
„Landespolizeipräsidium Saarland, Morddezernat. Leo Hölzer mein Name“, stellte er sich in seiner unfreundlichsten Polizistenstimme vor, seine Wut auf Schürk durchscheinen lassend. Wenn er schon gegen das Arschloch aus seiner Heimatstadt nicht ankam, würde er mitnichten alle anderen Arschlöcher der Welt tolerieren. 

Einen Moment lang sah er in Karows – so hieß er – Gesicht etwas Aufblitzen, was der Ermittler in ihm für Unsicherheit hielt, dann kehrte die Mimik des anderen Mannes in Sekundenbruchteilen zu seiner abweisenden Ablehnung zurück. Verächtlich wurde seine ausgestreckte Hand gemustert, dann zuckten die Augen wieder zurück zu seinem Gesicht. Leo erkannte, dass er sich in einem Hahnenkampf befand, den er eigentlich gar nicht führen wollte. Karow konnte seine Rudelfantasien und wer hier der Alpharüde war, getrost für sich behalten. 

„Was wollen Sie hier?“, blaffte Karow unfreundlich und Leo dachte nicht daran, seine Hand zu senken. 
„Schauen, wie es den Kolleginnen und Kollegen so geht.“
„Bestens.“
„Das entscheiden Sie?“
„Mehr als Sie auf jeden Fall.“

„Haben wir’s jetzt mit dem Alphatierchengehabe?“, schaltete sich Nina von hinten ein und griff sich im gleichen Moment Leos Hand, zog ihn daran zu sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. 
„Da ist er endlich, der gute, alte Leo!“, grinste sie und schloss ihn in die Arme. Er erwiderte die Umarmung mit einem glücklichen Aufseufzen und ließ sich von ihrem Parfum einfangen, das genauso wie seine Trägerin ein Zusammenspiel aus Gegensätzen war, die Leo schwerlich beziffern konnte. 
„Nina“, murmelte Leo überrascht von der Welle an unbändiger Freude, die er bei ihrem Anblick verspürte und sie nickte. 
„Karow, das isser, Ihr Vorgänger und die Rückfallposition, wenn Sie’s hier vergeigen.“ Berlinerisch direkte Worte, die Anna im Hintergrund belustigt schnauben ließen. Leo wandte sich ihr zu und ihr Engelsgesicht trug einen vielsagenden Ausdruck, der ihm das bestätigte, was er anhand seines kurzen Kontaktes mit Karow schon befürchtet hatte. 
Dass er keinesfalls die Rückfallposition war, zumindest solange er das Problem Schürk nicht loswurde, sagte er nicht und gönnte Nina ihr kleine, aber inhaltslose Drohung, die Karow noch mehr gegen ihn aufbrachte.

„Bist du gut durchgekommen?“, fragte sie, Karows dunkle Wut ignorierend, und Leo nickte. 
„Bin heute Morgen losgefahren und mit wenig Stau durchgekommen. Das passte.“
„Willste einen Kaffee?“
Leo nickte und Anna war an seiner Seite, bevor er selbst zur Maschine gehen konnte. „Ich mach dir einen, okay?“, lächelte sie strahlend und Karow ermordete ihn beinahe mit seinen Blicken. 
„Aber bei mir stellen Sie sich immer an, oder was?“, grollte er und Anna warf eine ihrer langen, blonden Strähnen zurück, zuckte mit den Schultern.
„Für ihn mach ich’s gerne“, erwiderte sie mit ihrer ihr ganz eigenen Kopfbewegung und machte Leo seinen Kaffee so fertig, wie er ihn gerne hatte. 
„Danke, Anna. Vielen Dank“, lächelte Leo und sie winkte ab. 
„Klar, immer gerne!“ Beschwingt ging sie zu ihrem Schreibtisch und ließ Leo mit Nina und seinem Nachfolger alleine. 

„Leo besucht mich das Wochenende. Wir machen Berlin unsicher“, erklärte Nina, die Klaviatur Karow anscheinend wie eine Meisterin spielend. Sie wusste, was ihm missfiel und das war eine der Tasten, die Misstöne in ihm erzeugten. 
„Viel Spaß auch“, grollte er und ging an ihnen vorbei aus dem Büro heraus, warf die Tür krachend hinter sich zu. Leo hob seine Augenbrauen und Nina seufzte. 
„Komm mit.“
Sie führte ihn in ihr altes Büro und Leo setzte sich auf seinen alten Stuhl. Karow hatte ähnlich wenig Privates auf seinem Schreibtisch stehen wie Leo damals. Leo hatte wenigstens die Geschenke der Kolleginnen und Kollegen zu seinem Geburtstag auf dem Schreibtisch drapiert, aber bei der Stimmung, die Karow hier entgegenschlug, war Leo sich noch nicht einmal sicher, ob ihm überhaupt zum Geburtstag gratuliert wurde. 

Er rollte mit dem Stuhl zu Ninas Seite und trank einen Schluck des ewig schlechten Kaffees. Sie hatten damals schon nicht gewusst, wie man ordentlichen Kaffee kochte und seiner war penetrant verschmäht worden. Weil er zu stark war. Banausen. 

Nina lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, legte die Beine auf den Tisch und verschränkte die Arme vor ihrem Bauch. „Schön, dass es geklappt hat.“
Leo brummte. „Danke, dass ich bei dir schlafen kann.“
„Klar. Ich koch uns heute Abend was Leckeres, die beiden Jungs sind bei ihrem Vater.“ Auch eine Neuerung, die sich ergeben hatte, nachdem Leo weggezogen war. Nina war nun tatsächlich Single, nicht mehr nur jemand, die mit ihrem Ehemann unter einem Dach lebte, weil es sich anbot und sie Kinder hatten.

„Wie geht’s dir damit?“, fragte Leo und sie schnaubte mit traurigem Blick auf ihre Sneaker, in dem viel zu viel Konflikte und Streits stand, als dass Leo sie einzeln zu beziffern mochte.  
„Pubertät eben.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage, Nina.“
„Geht. Ist scheiße. Kann ich nicht ändern, weil momentan viel zu tun ist. In Berlin wird immer gemordet. Ich bemühe mich, aber es ist schwierig.“
Das alte Dilemma also. Leo nickte schweigend und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Er sah kurz hinaus in das triste und graue Februarberlin, dem Nina mit ihrer farbenfrohen Kleidung trotzte.
„Soll ich mit den Beiden sprechen?“, bot er an. Er hatte damals einen guten Draht zu den Jungs gehabt, manchmal auch besser als Nina selbst. Sie schüttelte den Kopf. 
„Lass mal, du siehst aus, als hättest du genug eigene Sorgen.“
Leo runzelte die Stirn. „Wieso das?“
„Du hast abgenommen, Leo, und zwar nicht wenig. Deine Augenringe sind größer als meine und die Erleichterung darüber, hier zu sein, steht dir deutlich ins Gesicht geschrieben. Gleich darunter liegt was, was gar nicht mal so positiv ist.“ 

Nina und ihre treffenden Analysen. Dabei hatte Leo den Kontakt doch über die letzten Monate mehr oder minder einschlafen lassen, weil er all seine Kraft dafür gebraucht hatte, unter Schürks Druck nicht zu zerbrechen. Ohne Erfolg, wie es sein Handeln vor Weihnachten bewiesen hatte. 
Dass er jetzt neue Kraft schöpfte, sich jeden Tag mehr seines eigenen Lebens zurückkämpfte, war ein Testament an seine Sturheit, befand Leo. 
 
„War eine stressige Zeit“, erwiderte er indifferent und sie glaubte ihm keine Sekunde lang. 
„Arbeit oder privat?“
„Beides.“
„Hmh.“
„Es geht wieder bergauf.“
„Wie tief unten warst du denn?“
Leo starrte in seinen Kaffee und musste ein paar Mal durchatmen, damit der plötzlich aufkommende Druck in seiner Brust nicht zu verräterischen Tränen wurde. 
„Weit unten“, gestand er und sie langte über den Tisch. Kurz vor seiner Hand stoppte ihre allerdings. Körperlicher Trost war noch nie ihr Ding gewesen, auch wenn sie hochgradig empathisch war. 
„Das war nicht der Sinn der Sache, als du von hier weggegangen bist, Hölzer“, tadelte sie und Leo nickte. 
„Schon klar.“
„Wen muss ich für dich verprügeln?“ Es war nicht wirklich eine Frage und so hatte Leo auch nicht wirklich eine Antwort darauf. 
„Niemanden, ich habe das selbst geregelt.“

Gelogen war das nicht. Er hatte seine Waffe genommen und sich vorgenommen, zwei Menschen und sich selbst zu erschießen. Es hatte zu einer Veränderung geführt, die ihm große Teile seiner Verzweiflung genommen hatte. 

Nina sah die Tiefe seiner Antwort, entschloss sich allerdings dazu, nichts weiter zu sagen. Sie schnaubte. 
„Gut, dann stopfe ich dich heute Abend mit Essen voll, zwinge dir Wein auf und gebe dir die Informationen, für die du hier bist und morgen Abend gehen wir aus. Keine Widerrede, du brauchst mal wieder gute Berliner Drogenluft und einen anständigen Kerl.“

Nina und ihr frische Offenheit… Leo schmunzelte. Wenn er es sich offen und ehrlich eingestand, freute er sich darauf, sich gehen zu lassen. Er hatte sich bei Vincent abgemeldet und sein Telefon in Saarbrücken gelassen. Seine paranoide Seite hatte ihm eingeflüstert, dass es besser war, nicht mit seinem eigenen Wagen zu fahren und so hatte er sich unter einem Vorwand Rainers Auto geliehen. Die Nummer seines Pre-paid-Telefons hatte er Nina als vorübergehende Nummer verkauft und fühlte sich so etwas freier und unbeobachteter. 

„Ich freue mich“, entgegnete Leo und meinte es auch so. 


~~**~~
 

Leo starrte auf die Dokumente, die Nina ihm in einer noch nicht beschrifteten Aktenmappe des Innenministeriums gereicht hatte. Ausgedruckt, bereits gelesen, Auszüge aus ihrem Personalsystem. 

Sie saßen auf Ninas verschwenderisch großer und viel zu bequemer Couch in ihrer elendsteuren Altbauwohnung in Kreuzberg. Die Lichterketten an der Wand und die riesigen Hängelampen tauchten ihre Wohnung in ein warmes Licht, während ihre Teller sträflich vergessen auf dem Tisch standen.
Nina hatte ihn ohne Gnade auf besagte Couch gescheucht, nicht jedoch, ohne ihm einen ausführlichen Vortag darüber zu halten, wie schwer es gewesen war, an die Informationen zu kommen und wie viele Gefallen sie dafür dem politischen Berlin hatte versprechen müssen. 

Leo hatte auf der einen Seite der u-förmigen Polster Platz genommen und Nina hatte ihre Beine auf Leos Oberschenkel abgelegt. Die Akte lag auf Ninas Beinen, während Leo in der linken Hand ein Glas guten Rotweins hielt. Es war nicht das Erste gewesen und entsprechend leicht im Kopf fühlte Leo sich. Entsprechend oft musste er aber auch Sätze noch einmal neu lesen. 

Vincent Ross, Kriminalkommissaranwärter, der nach seinem Studium nach Świecko gekommen war. Ein Jahr hatte er es dort ausgehalten, dann war er gegangen, hatte den Dienst mittels eines höflich formulierten Einzeilers quittiert. Der Auszug aus seiner Akte legte nahe, dass dem Probleme vorangegangen waren, die sich um Diskriminierung und Mobbing gedreht hatten. Wiederholte Beschwerden, die anscheinend im Dienstweg versandet waren. 

„Ist er das?“, fragte Nina, den Kopf nach hinten über die Lehne gelegt und selbst nicht mehr ganz nüchtern. Sie summte leise und schief den Jazz mit, der im Hintergrund lief. 
„Ja“, sagte Leo leise. Ja, das Gesicht würde er jederzeit wiedererkennen. Die eigentlich sanften Augen, die eigentlich schönen Gesichtszüge. Die Locken. Der Mann auf dem Bild war jünger, aber die Ähnlichkeit war unbestritten. 

Vincent Ross also. 

Es mochte der Alkohol sein, aber er schien das Ausmaß dessen noch nicht vollumfänglich begreifen zu können, was sich ihm hier durch die Informationen eröffnet hatte. Er hatte einen Nachnamen, ein Geburtsdatum und einen Geburtsort. Ross war drei Jahre jünger als er selbst, geboren und aufgewachsen in Frankfurt (Oder). Er war nicht mehr nur ein Phantom ohne Nachnamen, ein Geist, über den Leo nichts wusste, sondern ein Mensch, der ein Vergangenheit und damit Anknüpfungspunkte hatte, mit denen Leo arbeiten konnte. 

Punkte, in denen er ermitteln konnte und die ihm Macht gaben. 

Er hatte eigentlich geplant, morgen wieder nach Hause zu fahren, aber er würde nun einen Tag länger Urlaub nehmen und noch bleiben. Die Fahrt nach von Berlin aus nach Świecko dauerte keine zwei Stunden. Wenn er am Montag auf die Dienststelle fuhr, hatte er genug Zeit, sich dort nach Ross zu erkundigen und wieder nach Saarbrücken zurück zu fahren. 

„Leo?“, fragte Nina in seine Gedanken hinein und er wandte ihr den Kopf zu. 
„Nina?“
„Denkst du, dass Menschen wie wir irgendwann einmal glücklich werden?“

Die Frage hatte es in sich und entsprechend lange musste Leo über sie nachdenken. Entsprechend viel Wein musste er trinken, um sie beantworten zu können. 
Menschen wie wir… so unähnlich waren Nina und er sich gar nicht. Unfähig, sich zu binden, auf der Suche nach Neuem, wissbegierig, kritisch, mit den schlimmsten Seiten ihrer Mitmenschen konfrontiert. Er wusste nicht viel über Ninas Vergangenheit, dafür umso mehr über ihre Gegenwart und so hatte er ihr aber in einer schwachen Stunde von seinen Erlebnissen in der Schulzeit und den sich daraus ergebenden Konsequenzen erzählt. Sie hatte ihn nicht mit Mitleid überschüttet und Leo war dankbar darum gewesen. Anstelle dessen hatte sie ihn durch Berlins Clubszene geschleift und darum war Leo wirklich dankbar gewesen. 

Er war damals glücklich gewesen, auf seine Art und Weise, im Rahmen seiner Möglichkeiten. 

„Meinst du dauerhaft?“, hakte er nach und ließ Ross‘ Akte zu Boden fallen. Nina nickte in Richtung Decke. Sie stellte ihre Füße auf und massierte seine Oberschenkel. Fast kam es ihm vor wie eine Katze beim Milchtritt.
„So lange wie es geht.“
Leo brummte. „Zeitweise…ja.“
„Aber nicht für lang.“
Das konnte Leo bejahen. Sicherlich war er zufrieden gewesen. Glücklich? Im letzten Jahr mit Sicherheit nicht. Die nächsten Jahre? Mit Sicherheit nicht. 
„Dich hier zu haben, macht mich glücklich, Hölzer“, sagte sie in dem betrunkenen Versuch, ihm ein Kompliment zu machen und er lachte. 
„Ich hab dich vermisst“, erwiderte er und es kam dem ziemlich nahe, was es bedeutete, glücklich zu sein.

Abrupt schraubte Nina sich hoch und starrte ihn an. Beinahe schon anklagend zeigte sie mit dem Finger auf ihn. „Willst du tanzen?“
„Wie, hier?“ Groß genug wäre das Wohnzimmer auf jeden Fall. Lediglich die Nachbarn würden hineinschauen können. Nicht, dass es Leo in seinem betrunkenen Zustand etwas ausmachte.  
„Genau da“, deutete Nina auf ihren Teppich und Leo versank in die Betrachtung des Besagten.
„Okay“, fand er nicht wirklich einen Grund, es nicht zu tun und Nina schob sich von ihm hinunter. Sie strauchelte zur Anlage und Leo erhob sich, während sie Musik auflegte.

„Komm“, forderte sie und Leo ergriff ihre Hand. Sie tanzten, wie sie in der Vergangenheit oft getanzt hatten, frei von Konventionen und von dem Gedanken an andere. 


~~**~~


Leo musste ein Gähnen unterdrücken, als er hinter dem Steuer von Rainers Wagen saß und in Richtung Świecko fuhr. Wenn er es sich ehrlich eingestand, steckte ihm das Wochenende mit Nina ganz schön in den Knochen. Am Samstag hatten sie zwar ihren Rausch ausgeschlafen, waren dann aber von Museum zu Museum getingelt, bis es Zeit war, sich für den Abend fertig zu machen. Das Essen vor ihrem Clubbesuch war scharf und lecker gewesen und Leo bedauerte wieder einmal, dass Saarbrücken so ein Nest war, das neue Küche anbetraf. So…vorhersehbar uninspiriert.  

Der Clubbesuch selbst… Nina hatte einen guten Geschmack, was das anging. Musik und Location waren mehr als geeignet dazu gewesen, dass Leo an diesem Abend vieles vergaß, was ihn belastete. Er hatte getrunken, getanzt, einen blonden Mann in einem versteckten Alkoven gefickt, während er ihn am Nacken unten hielt. Sie waren weitergezogen und das ganze Spiel war von vorne losgegangen, bis es hell wurde und sie kaum mehr laufen konnten.

Entsprechend zerstört war Leo am Sonntag gewesen und sie hatten sich mit einem Spaziergang durch ein träges Berlin begnügt, das nicht viel von seinem schlechten Wetter hielt.

Jetzt, einen Tag später, ging es ihm immer noch nicht gut und Leo stellte fest, dass der vielbesagte Zahn der Zeit auch an ihm nagte. Da kam ihm die Fahrt zu den Kollegen nur recht und entsprechend erleichtert entfaltete er seine müden Knochen anderthalb Stunden später vor dem mitten in die Landschaft von einstöckigen Wohnhäusern und zerfallenden Garagen gesetzten Gebäudekomplex, in dem die deutsch-polnische Einheit untergebracht war, in der Ross zuletzt seinen Dienst getan hatte. Er hatte sich den Kolleginnen und Kollegen nicht angekündigt und hielt nun auf gut Glück an der Dienststelle.   

Ross…

Leo war immer wieder erstaunt, wie gut es sich anfühlte, Vincent bei seinem Nachnamen zu denken. Zu wissen, wer dieser war und mit etwas Glück gleich mehr Informationen über den Mann zu erlangen, der für Schürk arbeitete und ihn erpresste. 

Er zeigte an der Pforte seinen Dienstausweis und wurde von einem strahlenden Kollegen, dem er anscheinend den Tag mit seinem unerwarteten Auftauchen interessanter gestaltete, höchstpersönlich unter den neugierigen Blicken der Anwesenden in die erste Etage zum Morddezernat gebracht. 
„Besuch aus Deutschland!“, sagte Herr Szulc, ein bebrillter, polnischer Beamter mittleren Alters und mit einem Akzent, der Leo sofort sympathisch war. Er mochte den weichen Unterton, ebenso wie er von den polnischen Gesprächsfetzen im Hintergrund fasziniert war, die aus anderen Büros drangen. 

Karol Pawlak stand auf dem Türschild. Anscheinend war der Mann mit den stechend graublauen Augen und grauen Haaren der Dienststellenleiter der Ermittlungseinheit. Kritisch sah er von seinen Akten hoch und noch viel kritischer musterte er Leo selbst. 
„Danke, Tomasz“, nickte er knapp und der Beamte verschwand mit einem Winken. „Und Sie sind?“, fragte er mit schwerem Akzent.
„Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer, Landespolizeipräsidium Saarland, Morddezernat“, stellte sich Leo mit den gleichen Worten wie bei Karow vor, allerdings war die Reaktion nicht halb so abweisend. Pawlak nickte verbindlich und erhob sich. Er kam zu ihm und reichte ihm die Hand, die Leo mit ruhiger Geste einschlug. 

„Was führt Sie hierher, Herr Hölzer?“, fragte Pawlak und deutete auf einen der beiden freien grünen Stühle, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hatten. 
„Danke.“ Leo ließ sich nieder und fixierte sich auf den Mann vor ihm. Besser er als auf die blau gestrichenen Wände im Halbdämmern der heruntergelassenen Aluminiumjalousien und Gardinen, die fürchterlich miteinander harmonierten. Es roch nach Rauch und Leo sah einen Aschenbecher, der beinahe überquoll vor Zigaretten.
„Es geht um einen ehemaligen Ermittler, der eventuell Zeuge in einem meiner Verfahren sein könnte“, sagte er das, was er sich auf der Fahrt hierhin zurechtgelegt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ross noch Verbindungen hierhin hatte, war äußerst gering, wenn Leo wetten musste. Schlussendlich hatte er sich entlassen lassen, weil er hier gemobbt wurde. So konnte er auch frei sprechen, ohne dass er befürchten musste, dass diese Information an Ross und Schürk weitergetragen wurde.
„Ein weiter Weg für einen Informationsaustausch“, merkte Pawlak stirnrunzelnd an und Leo nickte. 
„Wäre es gewesen, wenn ich nicht ohnehin schon in der Nähe gewesen wäre. Da war mir der persönliche Austausch lieber.“
„Nachvollziehbar. Um wen geht es?“

Leo zog sein Handy hervor mit dem er ein Foto von dem Bild in Ross‘ Akten gemacht hatte. „Um diesen Mann hier. Vincent Ross, ehemaliger Kriminalkommissar. Nach einem Jahr in Ihrer Dienststelle hat er den Dienst quittiert und seine Ernennungsurkunde zurückgegeben. Können Sie mir etwas über diesen Mann sagen?“
Pawlak betrachtete das Bild auf seinem Handy lange Zeit mit gerunzelter Stirn. „Wollen Sie auf die charakterliche Eignung des Mannes hinaus?“
„Eher auf sein Wesen als solches und auf sein Verhalten in Ihrer Dienststelle.“

Pawlak nickte. „Sie wissen um die Umstände seiner Kündigung?“
„Ja.“
„Ich war während der Zeit nicht hier, daher kann ich Ihnen darüber wenig Auskunft geben, was tatsächlich passiert ist. Ich habe aber einen Ansprechpartner für Sie.“ Der ältere Mann sah aus der Tür hinter Leo und erhob sich. Zielstrebig trat er in den Durchgang. 
„Adam, kommst du mal kurz?“
Er kehrte zurück und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. 
„Adam Raczek war damals Herr Ross‘ Partner. Er wird Ihnen mehr dazu sagen können als ich.“
Leo nickte dankbar und erhob sich, als der in Rede stehende Mann das Büro betrat, übernächtigt und mit einem vier-Tage-Bart. Abweisend musterte er Leo und ignorierte die ihm entgegengestreckte Hand, ließ sich dann auf den noch freien Stuhl fallen. 
„Was gibt es?“
„Herr Hölzer ist aus Saarbrücken. Er hat ein paar Fragen zu deinem ehemaligen Kollegen Vincent Ross.“

Die Art, wie sich der Mann neben ihm verschloss, sobald er den Namen hörte, deutete darauf hin, dass er möglicherweise zu denjenigen gehörte, die Ross weggemobbt hatten. Oder dass er jetzt noch, Jahre danach, mit Konsequenzen für sein Verhalten rechnete.
Leo nickte Raczek knapp zu. „Ich arbeite in Saarbrücken an einem Mordfall und Herr Ross ist ein potenzieller Zeuge, dessen Aussagen allerdings Fragen bei uns aufwerfen. Ich habe erfahren, dass Herr Ross vor Jahren Angehöriger Ihrer Dienststelle war und war in der Nähe. Ich wollte daher vorbeischauen und, wenn es Ihnen Recht ist, Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem ehemaligen Partner stellen.“
„Und zu seiner Glaubwürdigkeit.“
„Genau das“, bestätigte Leo und graduell erweichte sich die Mimik von Raczek. Er sah nach vorne, zu seinem Chef, der unmerklich nickte. 

„Ross kam frisch nach seinem Studium zu uns. Typischer Berufsanfänger, übermotiviert, Gerechtigkeitssinn bis zum Himmel, verständnisvoll für Opfer und Täter. Unterm Strich nicht das, was man unter einem harten Polizisten versteht. Warum er nach seinem Abschluss gleich beim Mord eingesetzt wurde, ist mir bis heute auch ein Rätsel, aber mittlerweile nicht weiter von Belang. Er ist ja nicht mehr bei uns. Ross hat versucht, sich einzuleben, mit den Kollegen und dem damaligen Chef klar zu kommen, was…missglückt ist.“
„Inwiefern?“ 
„Die Leute waren nicht bereit für seine Art, sich zu geben und sich zu kleiden. Er ist sauer aufgestoßen, daraufhin wurde gemobbt, die damalige Vertretung der Dienststellenleitung hat’s toleriert und alle Beschwerden untern Tisch fallen lassen. Das Ganze hat sich so sehr hochgeschaukelt, dass Ross schließlich gekündigt hat.“

Es war eine sehr grobe Zusammenfassung des Geschehenen, aber anhand der Wut in Raczeks Stimme hörte Leo die Zwischennuancen, die der Ermittler in ihm gierig aufsog. Das, was geschehen war, passte dem Mann nicht, es machte ihn wütend. Der subtile Druck, der auf den Stimmbändern lag, offenbarte, dass Raczek noch nicht einmal einen Bruchteil der Wut hinausließ, die er bei dem Gedanken daran empfand. 

„Sie kamen gut mit Herrn Ross zurecht?“, fragte Leo und Raczek nickte knapp. 
„Wir waren wie gesagt Partner.“
„Sie konnten ihm nicht helfen?“
Raczek knirschte mit den Zähnen, nun offensichtlich wütend. „Nicht bei allem.“
„Sein Weggang hat Sie getroffen?“
„Ja.“
„Verständlich. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“
„Nein. Schon lange nicht mehr. Seitdem er weg ist, ist der Kontakt auch abgebrochen.“
Leo runzelte die Stirn. „Das ist ungewöhnlich für Partner.“
„Fragen Sie ihn, nicht mich. Ich hab’s versucht.“

Leo gab Raczek und sich einen Augenblick, die Worte und die Vergangenheit sacken zu lassen. „Wie war er? Charakterlich meine ich.“
„Loyal. Gerechtigkeitsliebend, zuvorkommend. Ein bisschen verrückt und Veganer.“
„Ist das ein Charakterzug?“, fragte Leo mit einem Schmunzeln und Raczek rollte mit den Augen. Leo blieb an dieser Geste hängen, denn sie hatte nichts Abweisendes, sondern etwas Liebevolles in sich, was den Worten des anderen Mannes vollkommen zuwiderlief. Er fing sich schnell, aber es war dagewesen. 
„Bei ihm war es eine Berufung und hat mich damals dazu gezwungen, Gemüse für unsere Grillabende zu kaufen.“

So einer war Raczek also. Einer, der nur Fleisch grillte, am Besten noch mit Bier abgelöscht. Ein richtiger Mann. Vermutlich einer, der jemanden wie Vincent Ross als Sozialprojekt ansah. Wut kletterte in Leo hoch und mit Schrecken erkannte, dass er Wut im Sinne von Ross war. Von Vincent. So schnell es ging schluckte er sie wieder. Schließlich war das hier vermutlich der Grund, warum Ross sich Schürk angeschlossen hatte und Kolleginnen und Kollegen erpresste. Aus Rache für das, was ihm geschehen war? Vermutlich. Doch irgendwie passte das nicht ganz mit Ross‘ Verhalten überein. Schließlich gab er sich Mühe, Leo…anders zu behandeln als vor Weihnachten. Das wäre nicht der Fall, wenn er wirklich so voller Hass war.

Leo löste sich mit Gewalt aus seinen Erinnerungen. „Hatte er damals Kontakte zum kriminellen Milieu?“
Seine Frage überraschte beide Männer und Raczek verneinte schnaubend. „Ross? Niemals. Dafür schlief der zu gerne mit dem Strafgesetzbuch unter seinem Kopfkissen. Im übertragenen Sinn, meine ich.“
„Also halten Sie es grundsätzlich für undenkbar?“
„Ja.“
„Auch nach den Jahren, in denen Sie nun keinen Kontakt zu mehr zu ihm hatten?“
„Auch dann nicht. Dafür ist Ross nicht der Typ.“

Leo verfiel wieder in sein Schweigen. „Wissen Sie, ob Herr Ross Familie hat? Frau, Kinder?“
„Nein, weiß ich nicht und Frau und Kinder hat er nicht. Wird auch schwierig.“
„Warum?“
„Weil er schwul ist, was damals auch Teil des Problems war. Und Kinder wollte er erst später.“
Eine Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und aufgrund von Ross‘ Verhalten und Aussehen? Das sollte kein Dienststellenleiter tolerieren. Irritiert und missbilligend sah Leo zu Pawlak, der mit ernstem Blick den Kopf schüttelte.      
„Die Verantwortlichen wurden damals zur Rechenschaft gezogen und versetzt. Leider zu spät, wie ich gestehen muss, aber es wurden Konsequenzen gezogen und ich werde mitnichten so etwas noch einmal in meiner Dienststelle tolerieren“, erwiderte er bestimmt und Leo fand keinen Ansatz, es ihm nicht zu glauben. Ein Blick in Raczeks Gesicht sagte ihm selbiges und er nickte. Das war beruhigend zu wissen. 

„Ich danke Ihnen vielmals für die Informationen“, sagte Leo und Pawlak nickte. 
„Ist er wirklich ein Zeuge oder ein Verdächtiger?“
„Tatsächlich in Zeuge. Wir sind uns ob seiner Glaubwürdigkeit nicht sicher.“
Der Dienststellenleiter brummte, ebenso wie Raczek auch. 

Keiner der Beiden fragte aber auch nur mit einer Silbe, wie es Ross ging. Natürlich. Vermutlich waren sie froh, dass er weg war.


~~**~~


Vincent löschte das Streichholz, mit dem er gerade seine Kerzen entzündet hatte und ließ seinen Blick anerkennend durch sein Wohnzimmer streifen. Für seine heutige Skypesitzung mit Adam hatte er den Raum in ein gemütliches Licht getaucht, leise Musik im Hintergrund angemacht und sich eine Kanne heißen Tee gemacht. Alles, was er für einen ungemütlichen Montagabend im Februar brauchte. 

Punkt acht Uhr rief er den anderen Mann an und dieser nahm nach dem dritten Klingeln ab. Ihre Bildverbindung baute sich beinahe sekundenschnell auf und Vincent lächelte glücklich, als er Adam sah. Adam erwiderte das, allerdings war sein Gesicht angespannt, gezeichnet von etwas, das vermutlich auf der Arbeit passiert war. Fragend legte Vincent den Kopf schief und zog die Beine zu sich auf die Couch. 

„Hallo du schöner Mann“, grüßte er Adam, wie er ihn jedes Mal grüßte und Adam brummte. Auch wie immer. Dieses Mal sah er jedoch zur Seite und ein ungutes Gefühl kroch in Vincents Magen. 
„Adam, was ist? Du siehst sorgenvoll aus.“
„Es war heute jemand hier bei uns, der hat nach dir gefragt“, fiel er mit der Tür ins Haus und Vincent zog seine Augenbrauen in die Höhe. 
„Nach mir?“
Adam brummte. „Irgendein Ermittler aus Saarbrücken war hier. Ging um einen Mordfall, in dem er ermittle und in dem du Zeuge seist.“

Vincent blinzelte. Sein Magen krampfte sich zusammen und sein Herz schlug ihm mit einem Mal bis zum Hals. Ein Ermittler aus Saarbrücken? Das konnte nur einer sein, aber wie um alles in der Welt war Leo Hölzer auf den Gedanken gekommen, in seiner alten Dienststelle nach ihm zu fragen? Wie war er überhaupt an die Informationen gekommen? Vincent hatte ihm doch nur gesagt, dass er Polizist gewesen war. Er war noch nicht einmal in Saarbrücken ausgebildet worden… und seine ehemalige Dienststelle in Berlin hatte nichts mit Vincents Ausbildung zu tun gehabt? Wie um alles in der Welt…?

„Steckst du in Schwierigkeiten, Vincent?“
„Nein! Nein, ich stecke nicht in Schwierigkeiten…wieso denkst du so etwas?“
„Weil dieser Schnösel Fragen zu deiner Glaubwürdigkeit gestellt hat. Zeuge in einem Mordfall. Nicht Beschuldigter, aber Zeuge.“
„Hieß er Hölzer?“
„Ja, aber das ist wohl kaum wichtig. Warum hast du mir das verschwiegen, Vincent? Dass du Zeuge in einem Mordfall bist?“

Vincent schluckte und verfluchte Leo innerlich so leidenschaftlich in diesem Moment, dass er zunächst nicht in der Lage war, etwas zu sagen. Zeuge in einem Mordfall? Es war klar, was Leo Hölzer damit meinte. Welches Opfer er meinte. Aber mitnichten war Vincent Zeuge. Er war Mitwisser. Dass Leo diesen Verdacht mit keinem Wort geäußert hatte, war mit Sicherheit nur der Tatsache zuzuschreiben, dass er nicht auffallen und keinen Staub aufwirbeln wollte. Dass er nicht mit der Wahrheit aufgewartet und damit Vincents Leben zerstört hatte, war nur Zufall gewesen.

„Ich wollte dich nicht beunruhigen“, sagte er daher das Naheliegende und Adam schnaubte. Er war offensichtlich wütend über Vincents vermeintliches Schweigen, das der Wahrheit viel zu nahe kam. 
„Mich nicht beunruhigen? Der Schnösel wusste von deiner Entlassung aus dem Dienst. Er hat nach den Mobbingvorwürfen von damals gefragt. Anscheinend ist da einiges im Argen und du sagst keinen Ton. Auch nicht, wie es dir mit dem Mord geht.“
„Es ist ein Mord und wie du weißt, nicht der Einzige, mit dem ich Kontakt hatte“, grollte Vincent kalkuliert nun seinerseits wütend. Er musste davon ablenken, was Leo Hölzer gesagt hatte und auf welche Fährte er Adam vielleicht schicken konnte. 
„Ich bin eben Zeuge, habe aber das Verbrechen als solches nicht gesehen. Und Hölzer ist einer von den ganz genauen.“
„Ach. Wenn der extra hierhin kommt um nach deinem Leumund zu fragen…“

Das war eine Katastrophe. Eine reine Katastrophe. Wenn er seinem Adam hier davon erzählte, würde dieser Leo aufsuchen und in seiner Wut mit Sicherheit Dinge tun und sagen, die er später bereuen würde. Aber hatte er denn überhaupt eine andere Wahl, als Adam davon zu erzählen? Leo Hölzers Ermittlungen machten ihn transparent. Er war nicht mehr nur Vincent. Er hatte einen vollständigen Namen und eine Vergangenheit. 

Er war nun Vincent Ross, ehemaliger Kriminalkommissar der deutsch-polnischen Dienststelle in Świecko, ehemaliger Kollege von Adam Raczek. 

„Was hast du ihm gesagt?“, fragte Vincent mit zugeschnürter Kehle. 
„Nichts. Dass ich dich das letzte Mal nach deiner Entlassung gesehen habe und wir keinen Kontakt mehr zueinander haben. Dass du durch und durch ein guter Polizist warst, bevor die Kolleginnen und Kollegen dich gemobbt haben. Gerechtigkeitsliebend und Veganer.“
Vincent schnaufte zittrig. „Prioritäten, wie?“
„Es hat ihn erfolgreich abgelenkt, also beschwer dich nicht. Ich habe gesagt, dass an deinem Ruf nichts auszusetzen sei.“

Vincent glaubte Adam jedes Wort. Allerdings lief es ihm bei Leo Hölzers Fragen eiskalt den Rücken hinunter. Als der andere Mann sich letzte Woche nach Berlin abgemeldet hatte, war Vincent von einem Wochenende mit Freunden ausgegangen. Er war nicht davon ausgegangen, dass er hinter Vincents Rücken mit seiner alten Dienststelle sprach und nach seinem Charakter fragte. Jetzt war er gläsern für Leo und er scharfe Verstand des Ermittlers würde zu einer noch größeren Bedrohung werden. 

„Ich habe wirklich nichts getan“, sagte Vincent mit schalem Geschmack im Mund beinahe schon flehend. Er hoffte sehr, dass Adam die Lüge dahinter nicht erkannte. 


~~**~~


Müde rieb Leo sich über das Gesicht und warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Kaffeemaschine. Die schwarze Brühe, die mittlerweile darin herumschwamm, war von heute Nachmittag und eigentlich sollte er ihr keine zwei Millimeter über den Weg trauen. 
Um neuen aufzusetzen, war er allerdings zu faul, also begnügte er sich mit dem Teer und bereute es direkt nach dem ersten Schluck. 

Sie hatten einen neuen Mordfall, heute Morgen frisch reingekommen. Der Kriminaldauerdienst war heute Nacht zu einer toten Frau gerufen worden, die in ihrem Geschäft ermordet worden war. Er und sein Team waren zur Aufklärung eingeteilt worden und Leo hatte heute nichts Anderes gemacht außer Informationen beizuziehen, mit Pia und Esther potenzielle Zeugen zu befragen und nach Videokameraaufnahmen zu forschen, die verdächtigerweise verschwunden waren. 

Der Tag war lang gewesen und hatte verhindert, dass er bis jetzt zur Ruhe kam und über die über Ross erlangten Informationen nachdachte, geschweige denn, dass er die Unterlagen in sein Versteck brachte. 
Mit der Stille des Abends kam die Ruhe und damit auch seine Gedanken und Vermutungen, die im Kreis liefen und keinen richtigen Ankerpunkt hatten. 

Leo war immer noch nicht mit sich und seinem Bild über Ross in Einklang gekommen. Er ahnte, wie alles zusammenhing, aber um sicher zu sein, musste er noch weitere Informationen einholen. Familie, Geburtsort, Schulbildung, Hochschulbildung…all das war wichtig. Und wie war er nach seiner Entlassung aus dem Dienst zu Schürk gekommen? Oder war Schürk tatsächlich der Grund dafür? Kannten sie sich von früher und hatte Schürk ihm eine Arbeitsstelle angeboten, als dieser ihm von dem Mobbing berichtet hatte? Möglich, aber wie wahrscheinlich? Leo wusste es nicht und setzte den Personendatenabgleich für morgen auf die Liste. Heute wäre eine Abfrage im Timelog des Programms zu auffällig und würde unnötige Fragen aufwerfen. 

Leo zog seine Tasche zu sich heran und holte Ninas Unterlagen hervor. Er erhob sich und ging mit ihnen zu seinem Versteck in der Wand, das sich langsam aber sicher seiner Kapazitätsgrenze näherte. Wenn er so weitermachte wie bisher, müsste er sich etwas Anderes suchen. Die Frage war wo.  

Wenn Schürk oder Ross die Unterlagen bei ihm zuhause fanden, würde Leo mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr ungeschoren davonkommen. Diese Art von Ermittlungen würden sie nicht tolerieren. Hier in der Dienststelle konnte er sie noch in einem der Keller verstecken, aber dort hatte er keinen direkten Zugriff… es wäre zu unsicher, falls doch jemand einen Zufallsfund machte. Seine Familie wollte er nicht noch mehr hineinziehen als jetzt schon und damit waren Leos Möglichkeiten mehr als eingeschränkt.
Er brauchte ein sicheres Versteck für später, wenn er genug Mut aufbringen würde, die Informationen öffentlich zu machen. Oder wenn er nicht mehr dazu in der Lage war, sie zu veröffentlichen… vielleicht würden Pia oder Esther dann die Ermittlungen weiter fortführen können und Schürk dingfest machen. Schürk und Ross. 

Leo schüttelte die dunklen Gedanken aus seinem Kopf und schob mit einem Seufzen die Steckdose wieder auf das Loch.  

Er erhob sich und drehte sich um, in der halben Bewegung erstarrend, als er sich bewusst wurde, dass sich eine zweite Person mit ihm im Raum befand. Im Durchgang zur Tür, die Arme locker verschränkt. 

„Du bist das also“, sagte Pia ungewohnt ernst, ohne ihre sonstige, sanfte Tonlage. Selbst ihre Augen hatten wenig von ihrem eigentlichen Wesen inne. 
Du bist das also war ein Satz, der darauf hindeutete, dass sie wusste, was sich hinter der Abdeckung befand. Du bist das also war ein Satz, der so viele Dinge bedeuten konnte, die allesamt eines einte: Ärger für ihn, in jedweder Form. 

Leos Herz raste und er war unfähig, etwas zu sagen. Er starrte Pia an, deren Augen viel zu wissend auf ihm lagen. So wie Schürk damals, nur dass diese Situation schon jetzt eine Katastrophe war, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sein ganzes Leben zerstören würde.

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 21: Die Wahrheit im Auge des Betrachters

Notes:

Guten Abend ihr Lieben,

hier nun etwas vorgezogen der neue Teil zur Anatomie. Vielen lieben Dank euch allen für die Kommentare, Kudos und Klicks für den vorherigen Teil! Ich war mir erst aufgrund des Crossovers nicht ganz sicher, aber freue mich, dass es so gut angenommen wurde!

Hier geht's nun weiter nach dem Cliffhanger und ich wünsche ich viel Spaß dabei!

Chapter Text

 

„Was meinst du, Pia?“, fragte Leo, während sein gesamtes Denken sich darauf programmierte, ungeschoren aus der Situation herauszukommen. Sein Instinkt schrie nach Überleben und Leo versuchte fieberhaft, einen Weg zu finden. Er wusste um seine Schwäche, was Lügen anbetraf, aber er hoffte, dass seine Angst ihm genug Glaubwürdigkeit verlieh, dass er das hier durchstand. Ohne, dass Pia auf die schlimme Wahrheit kam.

Dass die Chancen dazu vernichtend gering standen, wusste Leo. Er ahnte es nicht, er wusste es.

Er sah es in Pias Augen. 

„Du hast Unterlagen in der Wand versteckt, Leo. Ich habe es gerade gesehen. Es waren fünf Blätter Papier.“
Leo starrte sie stumm an. Sag nichts, gellte es in ihm. Belaste dich nicht selbst. Noch ist nicht alles verloren! 

Aber war es das wirklich nicht?

„Hol bitte alles aus dem Versteck“, wies Pia an und Leo erkannte ihre Befragungspersona. Er wusste, welch eiserner Wille dahintersteckte. Die Frage war, ob es etwas brachte, sich zu weigern oder ob er mit Kooperation weiterkam. 
Leo presste seine Lippen aufeinander und tat schlussendlich, was sie ihm gesagt hatte. Mit zitternden Fingern zog er alles, was er die letzten Monate über gesammelt hatte, aus dem Hohlraum. Jedes Blatt Papier, das seine Manipulation und seine Sabotage belegte, fand seinen Weg auf den Boden des Raumes. 

„Danke“, nickte Pia, als er fertig war und zog ihr Handy hervor. Sie entsperrte es und wählte einen Kontakt, rief diesen an und presste sich das Telefon ans Ohr. 
„Ja hallo, ich bin’s. Komm bitte zurück zur Dienststelle und bring den Rest des Teams mit“, sagte sie und hörte einen Augenblick lang auf das, was die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte. „Nein, es duldet keinen Aufschub. Alles klar. Danke und bis gleich.“

Pia legte auf und das Telefonat ließ es Leo heiß und kalt den Rücken hinunterlaufen. Das Team? Welches Team? Gehörte sie doch zu Schürk, entgegen allem, was er vermutet hatte? Oder kam ein Team um ihn zu verhaften? 
Was es auch war, Leo erkannte, dass seine Chancen vernichtend gering waren, unerkannt zu bleiben. Mehr als das. 
„Pia, wen hast du angerufen? Wer kommt gleich?“, fragte er entsprechend panisch. „Was passiert hier?“

Als sie nicht antwortete, erhob Leo sich. Pias Hand fuhr automatisch zu ihrer Waffe und er fror in seiner Bewegung ein und sah blinzelnd zu ihr. 
„Ich will dich nicht angreifen…warum…?“, fragte er verwirrt und mit jeder Minute verzweifelter, die sie ihm gegenüber ein Verhalten zeigte, das er nicht erkannte. „Pia, bitte sprich mit mir.“ 
Fest sah sie ihm in die Augen. „Wir werden unser Büro gleich verlassen und du wirst die Dokumente dort mitnehmen. Du gehst bitte vor, in den Befragungsraum in der fünften Etage.“
Leo schluckte. „Der Abhörsichere?“
Pia nickte knapp und Leo starrte auf die Zettel zu seinen Füßen. „Möchtest du mir erklären, was das soll?“, fragte er und Pia verneinte. 
„Nicht hier, oben.“

Mut und Angst kollidierten in Leo und er beschloss, dass vorsichtige, zurückhaltende Kooperation momentan noch das Beste sein würde. So hob er langsam die Zettel auf und deutete fragend auf die Tür, wartete auf Pias Zustimmung, bevor er loslief. So nervös wie sie war und so sehr wie sie vermutete, dass er versuchen würde zu fliehen…da wollte er keine unnötige Reaktion provozieren. 

„Geh vor“, sagte sie und Leo verließ den Raum, seine Hände kaltschweißig. Die Treppen in das nächsthöhere Stockwerk kamen ihm vor wie eine Ewigkeit und der Befragungsraum in dem menschenleeren Flur wie eine Todesfalle. Insbesondere jetzt, da Pia das Licht anmachte und die Tür hinter ihnen schloss. Eine Tür, die, so wusste Leo, nur von außen zu öffnen war. Es sei denn, es würde einen Notfall geben und er hatte das Gefühl, dass seine Panik ihn über kurz oder lang zu einem Notfall werden ließ. 

„Pia, bitte, sprich mit mir“, flehte Leo und die Ermittlerin aus seinem Team sah ihm mit Enttäuschung in die Augen. 
„Wieso hast du die Unterlagen dort versteckt, Leo?“, stellt sie die wichtigste aller Fragen und Leo hatte nicht wirklich eine Antwort darauf. Die Wahrheit würde ihn belasten, mehr als das und er würde ihr nicht gefahrlos alles sagen können.
Es brauchte weniger als eine Minute Schweigen, bis Pia schnaubte und auf den Stuhl deutete. 

„Dachte ich mir. Setz dich bitte hin, Leo, die Anderen kommen auch gleich.“
„Du wirst mir nicht verraten, wer die Anderen sind, oder?“
Pia schüttelte den Kopf. „Genauso wenig, wie du mir verrätst, warum du das“, sie deutete auf die so langsam verknitterten Blätter in seiner Hand, „in einem Loch in der Wand versteckst.“ 

Eine Pattsituation und so setzte Leo sich, starrte blind und unangenehm rasendem Herzschlag auf die Tischplatte. Schweigen breitete sich wie eine schwere Last über sie beide aus und entsprechend panisch zuckte Leo zusammen, als die Tür aufging und Esther, Rainer und Weiersberger entblößte, die ihn mit ernsten Gesichtern ansahen und nichts von ihrer sonstigen Freundlichkeit innehatten. Gerade so, als ob sie ihn nicht kannten… oder er sie nicht.

Überrascht starrte er ihnen in die Gesichter, die Kombination aus Menschen etwas, das er so nicht erwartet hätte. Was machte der Staatsanwalt hier? Oder Rainer? Wieso nannte Pia sie Team? 

Es gab zu wenig Stühle in dem Raum, was aber nichts ausmachte, da Leo sowieso der Einzige war, der saß. Es sollte Druck auf ihn aufbauen, das verstand Leo. Er machte es in Verhören genauso und so blieb ihm nichts Anderes übrig, als den Blicken der Menschen auszuweichen, mit denen er heute Morgen noch gelacht und denen er heute Morgen noch Kaffee mitgebracht hatte. Oder den Menschen, den er für seinen Schulfreund gehalten hatte. Mit Weiersberger hatte er schon oft gearbeitet und die Korrektheit des anderen Mannes geschätzt. 

„Esther und ich waren in deiner Abwesenheit auf der Suche nach einer weiteren Steckdose. Bei unserem Versuch, den Laptop einzustöpseln, ist uns die Steckdose entgegengekommen und wir haben das Dokumentenlager entdeckt, das uns einen breiten Aufschluss über die Sabotage unserer Ermittlungsfälle gegeben hat. Du weißt anscheinend von dem Versteck, Leo, und hast heute Blätter hinzugefügt. Zeige sie bitte.“ Pia streckte ihm auffordernd die Hand entgegen und Leo reichte ihr kommentarlos und ohne zu zögern die Personaldatenblätter von Ross. 

Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie sie sie aufmerksam las und dann an Esther weitergab. 

„Wer ist Vincent Ross?“, fragte schließlich Rainer und Leo musterte ihn kurz. Sag nichts, was dich belastet, gellte es in ihm, auch wenn ihm eine ehrliche Antwort auf der Zunge lag. 
„Leo, diese Dokumente legen einen offenen und weitreichenden Missbrauch von Ermittlungskompetenzen nahe. Der Einzige, der von dem Versteck weißt, bist du. Sag uns, was das soll.“
Leo schwieg. Hier hatte er die Bestätigung seiner Befürchtung von vor Weihnachten. Sie hatten ihn in Verdacht und ermittelten sogar gegen ihn – deswegen auch die Durchsuchung ohne ihn. Nun hatten sie schwarz auf weiß Belege dafür, dass er zumindest von der Sabotage wusste und nichts, was Leo sagen würde, könnte ihn derart entlasten, dass er hierfür nicht ins Gefängnis gehen würde. 

Jetzt, wo es ihm gerade wieder besser ging, wurde ihm der Boden komplett unter den Füßen weggezogen und das, was Schürk ihm als Drohung an den Kopf geworfen hatte, würde nun ohnehin passieren. Leo starrte auf seine Finger, auf die zitternden, klammen Dinger. Er fragte sich, ob sie ihn gleich heute verhaften würden und ob er noch die Gelegenheit hätte, seine Eltern anzurufen um ihnen zu sagen, dass sie sich um seine Wohnung kümmerten und sie auflösten, wenn er nicht zurückkommen würde. 

„Hast du dich bestechen lassen?“, fragte Pia und Leo schnaubte stumm. Hätte er es getan, hätte er sich viel Leid erspart. Mit dem richtigen Anwalt wäre es vermutlich auf eine Einstellung nach 153a und einer Entlassung aus dem Dienstverhältnis hinausgelaufen. Aber Bestechung war für Schürk von Anfang an keine Option gewesen und so hatte er ihn lieber erpresst und Leo seine völlige Selbstbestimmung genommen. 
„Nein“, sagte er zum Tisch gewandt, weil es ihm wichtig war, das zu verneinen, was er niemals gewollt hatte. Nein zur Bestechung, nein zur Erpressung, nein dazu, dass er auch nur etwas hiervon gewollt hatte. 

„Was dann?“, grollte Esther und kam auf seine andere Seite. Leo spürte den Druck, den sie aufbaute, körperlich und mental und zuckte. Die Antwort auf die Frage würde sein Schicksal besiegeln und ihm den Weg seines Strafmaßes vorgeben. 
Mit zusammengepressten Zähnen sah Leo hoch. „Was macht ihr alle hier?“, fragte er anstelle einer direkten Antwort. „Ermittelt ihr? In welcher Funktion?“ Zeit schindend sah er zu Esther und Pia. Die Beiden tauschten einen Blick untereinander und Pia nickte ihr und Rainer zu. Weiersberger stand mit versteinerter Miene hinter ihnen und knirschte mit den Zähnen. 

„Arbeitest du für Schürk, Leo?“, fragte Rainer und ohne sein bewusstes Zutun lachte Leo bitter auf. Wie weit die Wahrheit doch von exakt dieser Frage entfernt war. 
„Nein.“ Nicht freiwillig. 
„Seit du bei ihm warst, hast du dich deutlich verändert. Seit du bei ihm warst, passieren mit unserem Fall Dinge, die nicht passieren dürften. Du hast dich nie klar dazu geäußert, was bei ihm passiert ist. Und kurz nach Barns Verhaftung hast du dich krankgemeldet und warst wie der Tod auf zwei Beinen bei deinen Eltern – einschließlich Veilchen im Gesicht“, listete Esther gnadenlos die Indizien auf, die gegen Leo sprachen. 
Abweisend wich Leo ihrem Blick aus und zog seine Hände zu sich auf den Schoß, zog sich damit in sich selbst zurück. 

„Was tut er dir an, Leo?“, fragte Pia von seiner linken Seite her mit sanfter Sicherheit und verräterische Tränen schossen ihm in die Augen. Abrupt sah Leo zur Decke um zu verhindern, dass sie gesehen wurden oder fielen. Was Schürk ihm antat? Offiziell? Nichts. Inoffiziell? Kam gerade alles wieder hoch, was er die letzten Monate in sich hineingefressen, geschluckt und vor der Welt verborgen hatte. 

Die Verzweiflung, welche jetzt zur Gewissheit wurde. 

Pias Hand auf seiner ließ ihn entsprechend erschrocken zusammenfahren und er machte den Fehler, ihr in die Augen zu sehen. Da war sie wieder, die vermeintlich alte Pia, die zu seinem Team gehörte. Eine Maske, nichts weiter und dennoch hatte Erfolg bei ihm damit. 

„Er tut dir weh, richtig“, fragte sie und alles in Leo schrie, dass es nur Taktik war, dass sie kein echtes Mitleid mit ihm hatte. Der Gedanke daran half ihm, stark zu bleiben. Nicht zu nicken. Nicht das zu sagen, was ihm auf der Zunge lag. 
Pia ging neben ihm in die Hocke und Leo hielt den Atem an. 
„Es tut mir leid, dass ich dich gerade so rüde behandelt habe, Leo. Aber es gibt hier etwas, das auf grobe Unregelmäßigkeiten hindeutet und du bist ein Teil davon. Leo, bitte sprich mit mir, was ist los? Was tut Schürk dir an, dass du nicht mehr auf unserer Seite bist?“

„Ich bin auf eurer Seite!“, fuhr Leo hoch und verriet sich dadurch, dass er dem Rest nicht widersprach. „Ich will doch nur meine Arbeit machen…ich will doch nur…ein guter Polizist sein.“ 
Seine Stimme versagte ihm und seine Sicht auf die Welt verschwamm. Pia verschwamm, die ihn mit großen Augen und anstarrte.
Hätte Pia etwas gesagt, hätte Leo noch die Chance gehabt, seine Mauern wieder hoch zu ziehen, die er über die letzten Monate errichtet hatte. Hätte sie ihn weiter mit den Dokumenten konfrontiert, hätte er schweigen können. Doch ihre Umarmung war nichts, was Leo einfach so aushalten konnte. Ihre Arme, die sich um ihn legten, brachen ihn auf, sie zerstörten wie nichts seine verzweifelt hochgezogenen Wälle. 
Ihre Wärme, ihre Nähe, ihr augenscheinliches Verständnis waren fürchterlich für Leo und so war er beinahe froh, als sie sich von ihm löste. 

„Leo, ich möchte ehrlich zu dir sein. Wir sind nicht die, für die wir uns ausgeben. Wir sind eine Sonderkommission, die sich mit den Unregelmäßigkeiten bei den Ermittlungen in Saarbrücken befasst. Weder Esther und ich sind eigentlich beim Mord großgeworden und Rainer macht nicht nur Finanzen. Herr Weiersberger ist von der Generalstaatsanwaltschaft abgeordnet worden.“

Ihre Worte verhallten wie ein Donnerschlag und Leo hatte selbst Augenblicke danach noch Probleme, ihren Sinn zu verstehen. Eine Sonderkommission? Sie hatten nie wirklich zu seinem Team gehört? Sie hatten schon immer ermittelt?

Nichts von dem, was er hier hatte, war wahr gewesen?

„Ich möchte gehen“, sagte Leo, als das Wissen darum in ihm unerträglich wurde. Er hatte hier niemals ein Team gehabt, die Personen, die er meinte schützen zu müssen, hatten niemals existiert. Er hätte Ninas Angebot annehmen sollen, als noch Zeit dazu war. Jetzt war es das nicht mehr und das, was kam, konnte er sowieso nicht aufhalten. 

„Bitte bleib bei uns“, hielt ihn Pia zurück und streckte erneut ihre Hand nach ihm aus. Leo entzog sich ihr und machte sich bewusst, dass er von den übrigen drei Personen im Raum immer noch stumm beobachtet und analysiert wurde. „Du hast diese Informationen doch gesammelt um mit ihnen etwas anzufangen. Du bist nicht einverstanden mit dem, was passiert, das sehe ich doch.“

„Und selbst wenn? Dann war mein ganzes Leben hier in Saarbrücken eine Lüge. Ihr beide gehört nicht zu meinem Team. Ihr seid noch nicht einmal wirklich beim Mord. Das würde dann auch die schlechte Stimmung zu Beginn erklären. Ich habe euch soviel…“ Leo würgte sich ab und verschränkte seine Arme. Er schüttelte den Kopf und schnaubte. 
„Und du“, wandte er sich an Rainer. „Damals in der Schule waren wir befreundet. Zumindest hatte ich das gedacht. Und du sagst nichts?“
„Leo, niemand außer den Eingeweihten weiß von uns.“
„Und warum weiht ihr mich jetzt ein? Warum nicht schon vorher?“ Wie weh es doch tat, sein eigenes Urteil zu fällen. Sich selbst zu verraten, nur weil er den Mund nicht halten konnte wie jeder andere Kriminelle auch.
 
„Weil wir nicht wissen, wer in dieser Dienststelle zum Syndikat gehört und wer nicht“, sagte Weiersberger und setzte sich an den anderen Rand des Tisches. „Bei Ihnen sind wir uns mittlerweile aber sicher, dass Sie nicht zu denjenigen gehören, die freiwillig für Schürk arbeiten.“

Die nüchternen Worte lösten in Leo kein gutes Gefühl aus, ganz und gar nicht. Sie erzeugten eine Enge in seiner Brust, die sich verdächtig nach einer kommenden Panikattacke anfühlte. Er arbeitete nicht für Schürk, er wurde gezwungen, Dinge zu tun. Ihm war alles zuwider gewesen, was Schürk ihm aufgezwungen hatte. Alles. Seine Luft wurde knapp und er kämpfte um jeden Atemzug. 

„Ich möchte auf die Dachterrasse“, flüsterte Leo mit zittrigen Fingern und es war Pia, die seine linke Hand ergriff und daran zog. 
„Komm, ich führ dich hoch“, sagte sie beinahe ohne Verzögerung und Leo wusste, dass sie ihn nicht alleine gehen lassen würde. Vermutlich aus Angst davor, dass er floh. Die Frage war, wohin. Er konnte doch nirgendwo hin, mit der Bindung, die er durch seine Familie hatte.

Leo ließ sich hoch- und von den anderen wegziehen und ging in Pias festem Griff nach oben, sein Atem immer kürzer und schwerer. Erst, als die kalte Abendluft ihn schier erschlug, drang soviel Erleichterung durch ihn, dass er zumindest soweit denken konnte, ruhig zu atmen. Es war weniger…als würden sie ihn gleich verhaften und in die Lerchesflur bringen. 

Dass das Augenwischerei und nur eine tumbe Hoffnung war, wusste Leo, aber er brauchte beides in diesem Moment. Er war noch nicht bereit dazu, verhaftet zu werden. Er war noch nicht bereit dazu, sich für die nächsten Jahre nicht mehr frei bewegen zu können. 
Leo ging zur Reling und stützte sich auf dem eiskalten Geländer ab, während er versuchte, in  der ebenso kalten Abendluft zu Atem zu kommen. 

Wenn sie zu Schürk gehören würden, wäre es besser für ihn ausgegangen, vermutete Leo. Dem anderen Mann schien daran gelegen zu sein, ihn aus dem Gefängnis zu halten und die Strafe, die er dafür zu erwarten gehabt hätte, wäre zwar drakonisch und sadistisch gewesen, aber keinesfalls Gefängnis. 

Ein zweites Paar Schuhe knirschte auf dem Kies und Leo sah zur Seite. Er erkannte Esther, die mit ernstem Gesicht unweit von Pia stand. 
Hatte es denn noch Sinn, ihnen irgendetwas zu verschweigen und sich unkooperativ zu zeigen? Vielleicht. Doch ein Teil von Leo wollte ihnen alles sagen, jedes Detail vor ihnen ausbreiten. Dieser Teil war zu ehrlich und es graute Leo jetzt schon vor den Konsequenzen. Der Teil, der von Schürk über Monate hinweg eingeschüchtert worden war, hielt dagegen, dass er immer noch die Möglichkeit hatte, sich zu retten. Sie konnten ihm nur die Dokumente nachweisen. Sonst nichts. Noch nicht. 

Aber Leo wollte nicht mehr lügen. Er wollte sich nicht mehr verstecken. 

„Das, was wir wissen, ist, dass Schürk entweder besticht oder erpresst“, sagte Esther neutral, aber nicht feindselig. „Wir vermuten, dass sich das System durch ganz Saarbrücken zieht: Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit, Verwaltung.“
Soweit stimmte das mit dem überein, was Schürk ihm gesagt hatte. 
Pia räusperte sich. „Du hast mir immer wieder etwas von Verabredungen erzählt. War er es?“
Leo starrte auf die dunkle Saar hinunter und erinnerte sich. Die schlimme Anfangszeit. 
„Dir ging es nicht gut, du warst schreckhaft und bleich wie der Tod“, sagte Esther mit einer Sorge in ihrer Stimme, die selten da war. War es ehrlich gemeint? Leo wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr und das machte es so schwierig für ihn, eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. 

„Was ist kurz vor Weihnachten passiert?“

Die Frage aller Fragen. Die Antwort darauf wäre versuchter Mord – rechtlich eigentlich eine Unmöglichkeit. Aber der Versuch war dagewesen, die Tötungsabsicht ebenso. Über die niederen Beweggründe stritt Leo noch mit sich selbst. 
Seine Welt verschwamm erneut vor seinen Augen. Er hatte Weihnachten verdrängt, aber vergessen und verarbeitet hatte er es noch lange nicht. Die Schuld lastete immer noch auf ihm, wie auch Angst und der Druck, das Richtige tun zu müssen, sich keinen Fehltritt zu erlauben und irgendwie… zu überleben. 

Seine Tränen fielen und er wischte sich unwirsch weg. Wann in seinem Leben hatte es denn schon geholfen, wenn er offen Trauer zeigte? Detlef hatten seine Tränen nur angespornt und seine Eltern hatten sie lange Zeit nicht gesehen. Ross hatte mit Verständnis reagiert. Schürk… 
Leo atmete tief ein und straffte seine Schultern. 
Der Polizist in ihm wollte, dass es ein Ende hatte, dass er nicht weiterhin gegen das Gesetz verstoßen musste. Der Ermittler in ihm sah, dass diese Sonderkommission auf der Suche nach Hinweisen war und vielleicht konnte er ihnen etwas geben, mit dem sie etwas anfangen konnten, während er im Gefängnis verrottete. 

Leo drehte sich um und sah seinen vermeintlichen Teammitgliedern in die Augen. „Als ich das erste Mal bei Schürk war, hat er klar gemacht, dass, wenn ich ihm keine Informationen gebe und wenn ich nicht das tue, was er will, er mir und meiner Familie wehtun wird. Er hat mich mit etwas erpresst, was in der Vergangenheit geschehen ist.“ Wenn schon, denn schon.
„Mein erster Freund hatte einen gewalttätigen Vater…ich bin dazugekommen, als er ihn so brutal geschlagen hat, als wolle er ihn umbringen, da habe ich eingegriffen und dem Mann einen Spaten über den Kopf geschlagen. Er liegt bis heute im Koma. Das hat Schürk erfahren und mich damit erpresst, das öffentlich zu machen und mich damit ins Gefängnis zu bringen.“

Leo lächelte durch den inneren Schmerz in seiner Seele und es war ein bitteres Ding. Dass er es jetzt selbst sagte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. 

„In der darauffolgenden Zeit hat Schürk verlangt, dass ich mich regelmäßig mit ihm treffe und ihm Informationen über unsere Fälle und die Dienststelle gebe. Er hat verlangt, dass ich ihm die Uhr von Elias Schiller bringe und unsere Ergebnisse manipuliere. Das ging Monate so, bis er vor Weihnachten die Kadenz unserer Treffen hochgesetzt hat. Ich musste ihn jeden Tag sehen und dann habt ihr Boris Barns verhaften lassen.“ 

Was Leo nur umso klarer wurde, war der Grund, warum er nicht eingeweiht worden war. Weil er damals schon auffällig genug gewesen war.   

„Als die Nachricht bei seinem Handlanger – Vincent Ross – ankam, war Schürk bei mir. Er hat das nicht gut aufgenommen und mich angegriffen.“
„Dein Veilchen?“, fragte Pia leise nach und Leo nickte mit zugeschnürter Kehle. 
„Auch.“ 
„Er hat mir gedroht, dass er sich an meiner Schwester oder an meinen Eltern vergreifen wird, wenn ich Barns nicht aus der U-Haft hole. Daraufhin habe ich keinen Ausweg mehr gesehen.“ Leos Worte versiegten im Horror seiner versuchten Tat und er starrte auf den Boden. 
„Ich bin abends mit meiner Waffe zu ihm und Ross und…“ Er stockte. Bislang hatte er um zu überleben und weiterzuleben nur dann über diesen Moment und in die Verzweiflung, die dahinter lag, nachgedacht, wenn Ross mit ihm darüber gesprochen hatte. Jetzt lag er wie auf dem Präsentierteller vor Leo und er schmeckte jede einzelne Nuance seiner Gefühle auf seiner Zunge, so wuchtig wie an dem Tag voller Verzweiflung. 

„…und wollte die beiden und mich umbringen“, schloss er, sprach das aus, was eine unaussprechliche Wahrheit gewesen war. Das erschrockene Geräusch kam von Pia und als Leo hochsah, erkannte er ehrliche Bestürzung in ihrem Gesicht. Hilflos sah sie zu Esther, die ihre Lippen aufeinandergepresst hatte, ihr Gesicht offen wütend. 
„Leo…“
„Ich hatte Angst, dass sie meiner Familie wehtun, also wollte ich es beenden.“, wisperte er und verschränkte seine Finger ineinander. Wie er in Handschellen aussah, wusste er spätestens nachdem Ross ihn an die Heizung gekettet hatte. „Aber ich konnte nicht. Und so ging es weiter. Bis jetzt.“
Anders als vorher, aber das gehörte zu den Details, die Leo ausließ. 

Seinen Worten folgte belastende Stille, die Leo die Finalität seiner in den letzten Monaten getroffenen Entscheidungen bewusst machte. 

„Ich werde euch alle Informationen geben, die ich über Schürk, Ross und das Syndikat gesammelt habe. Ich möchte…euch aber bitten, dass ihr mir im Gegenzug dafür die Gelegenheit gebt, mich von meiner Familie zu verabschieden und die Dinge in meiner Wohnung zu regeln, bevor ihr mich verhaftet“, bat er so ruhig, wie er sich nicht fühlte und traf auf das eiserne Schweigen der beiden Frauen. 

Also nicht. Leo senkte den Blick und nickte. Sicherlich hatte er das Gefängnis für alles, was er getan hatte, verdient. 

„Komm bitte mit nach unten“, sagte Esther zu neutral und Leo drehte sich ein letztes Mal zu dem bekannten Ausblick über die Saar. Er würde dieses Gebäude nicht mehr betreten, geschweige denn hier oben sein. Wenn er seine Haftstrafe überlebte, würde die Polizei einen verurteilten Straftäter nicht mehr zurücknehmen. 

Als er sich von dem gewohnten und gemochten Blick abwandte, bemerkte er Pias und Esthers Alarmbereitschaft und hob überrascht die Augenbrauen. Hatten sie gedacht, dass er sich hinunterstürzen würde? Sicherlich angesichts seines gerade erfolgten Geständnisses eine realistische Möglichkeit in ihren Augen. Leo atmete tief ein. 

„Ich will mich nicht mehr umbringen. Wirklich nicht“, sagte er beinahe schon versöhnlich und verschwieg, dass das Schürks Gefolgsleute im Knast erledigen würden. 
„Gut.“ Esthers kalte, knappe Art wie sie sein Geständnis zur Kenntnis nahm, ließ Leo erschauern und er trat an ihr vorbei zur Tür. 
„Zurück in den Befragungsraum?“
„Ja bitte.“ Pia war freundlicher und Leo war dankbar, dass sie ihn mit Respekt behandelte. Er ging vor und betrat den schalldichten Raum, in dem Rainer und Weiersberger gerade über die Akten diskutierten. Sie hatten anscheinend für sich und alle anderen auch Stühle geholt und so war Leo dieses Mal nicht der Einzige, der saß. 

„Leo hat uns oben die Wahrheit erzählt“, läutete Pia ihre Sachverhaltsdarstellung ein und gab beinahe Wort für Wort wieder, was er ihr und Esther auf dem Dach mitgeteilt hatte. 
„…und die Erpressung und die erzwungenen Treffen dauern weiterhin an“, schloss sie ihre Erzählung und Leo sah sie verwundert an. So detailgetreu Pia auch gewesen war, so präzise hatte sie seinen Mordversuch an Schürk, Ross und sich ausgelassen. Esther hatte sie ebenfalls nicht unterbrochen und schwieg nun mit ernstem Blick. 

„Erpressung also.“ Weiersberger strich sich über seinen dichten, schwarzen Bart und schürzte die Lippen. „Wie es mir scheint, ist das, womit Sie erpresst werden, Nothilfe“, erläuterte er schließlich in seiner sonoren Stimme. „Sie haben damals Ihren Partner vor schwerer Körperverletzung oder Totschlag bewahrt. Kann er das bezeugen?“ 
Leo schüttelte den Kopf. „Er ist tot. Er ist ein paar Monate später bei einem Autounfall in seinem Wagen verbrannt.“ Seine Stimme versagte, die Erinnerung daran immer noch eine schwere Last. 
„Das heißt, es gibt nur den komatösen Vater, der bezeugen könnte, was Sie vor Jahrzehnten getan haben?“
Leo nickte zögernd. Worauf wollte Weiersberger hinaus? Nothilfe war es doch nur, wenn man ihm keinen versuchten Totschlag nachweisen konnte.  

„Was macht Schürk mit Ihnen während Ihrer Treffen?“
Leo ruckelte sich unwohl auf dem Stuhl zurecht, nicht zuletzt auch ob des abrupten Themenumschwungs. „Er…er hat Gefallen an mir gefunden. Er will mich kennenlernen. Ich soll für ihn kochen, er spielt Gesellschaftsspiele mit mir, er sieht Filme mit mir.“
Es war Rainer, der schnaubte. „Was sind das, Leo? Dates?“
Überrascht schoss Leos Kopf nach oben. Überrascht und gepeinigt. „Ich will das nicht. Ich will mich nicht mit ihm treffen! Er will das…er…will mich kennenlernen“, rechtfertigte er sich und Rainer hatte den Anstand, wenigstens so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu zeigen. 
„Ich will das wirklich nicht“, schob Leo noch einmal nach und sah in die Runde und Pia nickte ihm bestätigend zu.

„Wie passt das mit seiner Erpressung zusammen?“, fragte Weiersberger und Leo zuckte hilflos mit den Schultern. 
„Solange ich das tue, was er will, ist er zufrieden und…bedroht mich nicht.“ Dass es nicht ganz so war, erkannte Leo just in diesem Moment. Er hatte sich Schürk jüngst zweimal verweigert und dieser hatte davon abgesehen, ihm deswegen wehzutun. Er hatte sich sogar Herbert angepasst. Er war in seinen Maßstäben entgegenkommend gewesen. 
„Und er will meine Gesellschaft.“

Weiersberger tauschte Blicke mit Pia, Esther und Rainer und die Conclusio, die die Vier trafen, gefiel Leo ganz und gar nicht. 

„Wir wollen dich nicht im Gefängnis sehen, Leo“, sagte Pia schließlich und er schnaubte verzweifelt. 
„Ich mich auch nicht. Aber das, was ich getan habe, ist versuchter Totschlag. Das verjährt nicht. Ich habe Beihilfe zur Vertuschung und Sabotage in Ermittlungsfällen geleistet. Ich habe mich erpressen lassen. Ich habe dadurch meinen Diensteid verraten.“
„Ihre Treue zu unseren Gesetzen ehrt Sie“, sagte Weiersberger ehrlich und Leo presste seine Lippen aufeinander. „Aber manchmal bekämpft man Feuer eben nur mit Feuer.“

Ein ungutes Gefühl kroch in Leo hoch, als ihm sein Instinkt Dinge zuflüsterte, die Leo kaum zu glauben vermochte. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Dass ich Ihren versuchten Totschlag als Nothilfe werten würde, sollte es zu einer Verhandlung kommen. Und dass ich nicht sehe, dass Sie sich haben erpressen lassen, sondern, dass Sie mit Gewalt dazu gezwungen wurden. Sie haben selbst in einer außergewöhnlichen Gefahrensituation Beweise zusammengetragen und sich damit einer Gefahr ausgesetzt, die von niemandem zu erwarten gewesen wäre.“

Kritisch musterte Leo den älteren Mann. Hoffnung kroch in seine Verzweiflung und ob das nicht schlimmer war als die sichere Erkenntnis, ins Gefängnis gehen, dessen war Leo sich nicht sicher. 
„Hat Schürk Sie mental, körperlich und emotional unter Druck gesetzt?“
Leo nickte mit zugeschnürter Kehle. Wenn er etwas ohne zu zögern bejahen konnte, dann das. 
„Hat er Sie zu Dingen gezwungen, die Sie nicht wollten?“
Er bejahte erneut. Warum musste er diese Frage immer wieder beantworten?
„Wollen Sie ihm das Handwerk legen?“
Verständnislos runzelte Leo die Stirn und zog die Schultern hoch. Was war das für eine Frage? „Ja natürlich will ich das. Dieser Mann ist ein Verbrecher. Er tut Dinge, die gegen das Gesetz sind. Ich…“ Er verstummte, den Rest des Satzes hinunterschluckend. Eigentlich hatte er sagen wollen, dass er Schürk hasste, doch das…war nicht so. Schürk machte ihn wütend, er verfluchte ihn, Schürk war für ihn der schlimmste Mensch auf dem Planeten. Aber Leo hasste ihn nicht.

„Alles klar. Dann biete ich Ihnen einen Deal an.“

Was…?

Leo glaubte nicht richtig zu hören. Er glaubte, sich verhört zu haben. Einen Deal? Was wurde das hier? Ohne Richter? Was sollte das bedeuten? 
„Sie arbeiten mit uns zusammen und helfen uns, Schürk und Ross das Handwerk zu legen. Sie sind gut darin, sich Informationen zu verschaffen.“ Vielsagend hob Weiersberger die Personaldatenauszüge über Ross. „Helfen Sie uns, das Syndikat auszuheben. Treffen Sie sich weiterhin mit Schürk, spielen Sie den erpressten Polizisten. Tun Sie das, was er von Ihnen verlangt und wenn das Verfahren eröffnet wird, wird Ihre Arbeit hier positiv angerechnet. Ich werde persönlich mit der zuständigen Kammer sprechen und darum bitten, dass Ihre Strafe milde ausfällt. Wenn sich überhaupt für eine Strafe entschieden wird, angesichts der vorliegenden Tatsachen.“

Eine milde Strafe? Keine Strafe? Mit hilflos geöffneten Lippen starrte Leo erst Weiersberger, dann Rainer und schlussendlich Pia und Esther an. Das war anders als alles, was er sich in den letzten Monaten ausgemalt hatte. Das war nicht das, mit dem er sich in der letzten Stunde abgefunden hatte.
„Sie lassen mich nicht verhaften?“, fragte er mit kratziger Stimme. 
„Nein.“
„Ich bleibe Polizist?“
„Vorerst. Vielleicht sogar dauerhaft. Das wird sich zeigen.“
„Und dafür soll ich mich weiterhin mit Schürk treffen?“
„Und uns alles an Informationen liefern, was Sie erhalten. Ich will, dass Sie nichts auslassen. Ich will, dass Sie jede unwichtige Information an Pia, Esther oder Rainer weitergeben. Sie werden weiterhin Teamleiter beim Mord bleiben und Ihre Aufgabe erfüllen. Aber Sie werden Ihrem Team keine einzige Sabotage mehr verschweigen. Kein einziges Treffen mit Schürk und keine Information, die Sie über ihn sammeln.“

Leo nickte betäubt. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er hatte nicht damit gerechnet, aufzufliegen. Als Pia ihn heute Abend konfrontiert hatte, hatte er nicht damit gerechnet, nicht in Handschellen die Dienststelle zu verlassen. Das hier war nichts, womit er gerechnet hatte und er konnte noch nicht ganz begreifen, was es für ihn bedeutete, so klammerte er sich an die Worte, die Weiersberger gesagt hatte. 

„Das werde ich“, stimmte Leo schließlich zu und erkannte, dass das hier kein Traum war. Keine Wunschvorstellung. Das waren die neuen Parameter seines Lebens, das nun zum zweiten Mal vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. 


~~**~~


Als Pia sich dazu entschieden hatte, die Missstände in Saarbrücken aufzuklären und das Angebot Weiersbergers anzunehmen, war sie auf alles vorbereitet gewesen. Eine Mauer des Schweigens, Ablenkungsmanöver, mangelnde Kooperation. Zum Teil hatte sie genau das bekommen, was sie erwartet hatte, und war froh um Esther gewesen, die in der schwierigen Anfangszeit an ihrer Seite gestanden hatte. Als Leo frisch aus Berlin gekommen war, hatte er ihr Gefüge durcheinandergebracht und entsprechend holprig war der Start gewesen. Doch nach einer Zeit hatten sie sich bekrabbelt und waren zu einem wirklichen Team geworden. 

Pia hatte gelernt, die Mordermittlungen wirklich zu schätzen und die Aufklärungsquote ihres vermeintlichen Teams war ausgezeichnet gewesen. Bis zu dem Tag, an dem Leo alleine zu Schürk gefahren war. Das war der Punkt, an dem sich ihr Blatt gewendet hatte. In den Wochen danach war es ein schleichender Prozess gewesen, aber die Anzeichen waren unumstößlich da. 

Einen konkreten Verdacht hatten sie vor Weihnachten bekommen und Pia hatte sich dazu entschlossen, Leo eine Aufmunterung gegenüber auszusprechen. Nachdem sie den Verdacht überwunden hatte, dass er sich von Schürk bestechen ließ. Leos Verhalten, als er die Tasse in Empfang genommen hatte, hatte sehr dagegen gesprochen, dass er von Schürk Gelder oder andere Gefälligkeiten annahm. 

Den sicheren Beweis hatten sie seit Montag, seitdem Esther frustriert die lose Steckdose aus der Wand gerissen hatte und gleich ein paar Blatt Papier mitgenommen hatte. Zeugnisse einer Sabotage, die musterbeispielhaft für das nebulöse Vorgehen des Schürk Syndikats war. 

Nach ihrem jetzigen Gespräch hatte sie ihre schlimme Gewissheit und doch soviel mehr. Leos desaströse Erscheinung kurz vor Weihnachten erklärte sich. Seine Tränen, als er die Tasse in den Händen hielt. Sein Leistungsabfall.

Dass er nun wie eine Puppe, der man die Fäden abgeschnitten hatte, an seinem Schreibtisch in ihrem Büro saß und auf seinen schwarzen Bildschirm starrte, passte ebenso. Pia konnte sich vorstellen, wie sehr sein Leben auf den Kopf gestellt worden war und wieviel Angst und Sorge er nun haben müsste. Weiersberger hatte da zwar einen klaren Weg vorgegeben, aber er hatte nicht die emotionale Bindung, die Pia zu Leo aufgebaut hatte. 

Und nachdem nun klar war, dass er sich nicht bestechen ließ, war ihr Mitleid so stark, dass es tief in ihr schmerzte. 
Leo hatte versucht, sich umzubringen. Er hatte versucht, Schürk, Ross und sich zu töten und der drastische Schritt schnürte ihr die Kehle zu. Esther war ebenso sehr davon getroffen gewesen wie sie auch. Die Frage, ob Leo es noch einmal tun würde, stand im Raum und so wollte Pia ihn nach heute nicht einfach so hier lassen. 

Sie wollte ihn nicht am nächsten Morgen tot auffinden und sich ihr Leben lang vorwerfen müssen, dass unter anderem sie es war, die ihn in den Selbstmord getrieben hatte. 

„Kommst du mit etwas trinken?“, fragte sie und er sah hoch, als hätte sie eine andere Sprache gesprochen. Unverständnis kam ihr entgegen und Unsicherheit. 
„Etwas trinken gehen?“, echote Leo leise, die Frage nach dem Warum so deutlich in seiner Stimme, dass es ihn schmerzte. Er war doch nicht weniger ihr Freund, nur weil sie nun mit Sicherheit wussten, was sie vorher ausschließlich geahnt hatten. Nur weil er nun wusste, wer sie wirklich waren. 
„Ich bin ein Straftäter und ich habe euch belogen und euer Vertrauen missbraucht“, erläuterte er und Pia hatte das Gefühl, dass ihr Herz mit seinen Worten brach. 
„Du bist erst schuldig, wenn es ein rechtskräftiges Urteil gibt, Leo und ja, du warst nicht ehrlich zu uns, aber das heißt nicht, dass ich oder wir dich dafür jetzt hassen, verstanden?“

Ihre Worte überraschten ihn und die immer wieder sichtbaren Tränen an diesem Abend standen erneut in seinen Augen. 
„Ich wollte das alles nicht“, flüsterte er. „Ich wollte nie das Gesetz brechen und euch anlügen. Ich wollte nur meinen Job machen.“ Es war wie eine Entschuldigung an sie und Pia schüttelte den Kopf. 
„Du hast versucht zu überleben, Leo. Und du hast uns mit Sicherheit nicht die Hälfte von dem erzählt, was Schürk dir wirklich angetan hat, oder?“
Die Tränen fielen – endlich mochte man meinen. „Er bestimmt über mein gesamtes Leben…sie haben meine Passwörter, Zugang zu meiner Wohnung, mein Handy ist angezapft und ich bin mir nicht sicher, ob er nicht auch meine Wohnung verwanzt hat. Sie wissen alles über meine Familie. Ich…“ 
Pia fing Leos Schluchzen mit ihrem Pullover auf, als sie ihren Teamleiter eng an sich presste. Natürlich funktionierte es so. Totale Kontrolle, kein Schritt, ohne, dass Schürk es wusste. Monatelange Geheimhaltung, die Leo beinahe in den Tod getrieben hatte. 

Pia war selten so wütend auf jemanden gewesen wie auf Schürk und das Syndikat. 

„Das hier wissen sie nicht, Leo und du gehörst zu uns, okay? Du gehörst zwar nicht zur SoKo, aber wir sind stolz auf das, was du bisher geleistet hast, alleine und auf dich gestellt. Bei dem Rest helfen wir dir, versprochen. Er wird dich nicht mehr bedrohen können.“

Leo erwiderte nichts, presste aber seine Stirn gegen ihren Pullover. Pia umarmte ihn so eng, dass sie das Gefühl hatte, ihm die Luft abzuschnüren. Gleichzeitig hatte sie auch das Gefühl, dass er genau das jetzt gerade brauchte und strich ihm beruhigend über den bebenden Rücken. 


~~**~~


Adam hatte Vincent schon lange nicht mehr so nervös gesehen wie in diesem Moment. Eigentlich ruhte seine rechte Hand, der Mann, den er Freund nannte, tief in sich, war im Reinen mit sich und dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Eigentlich machte ihn nichts nervös und damit glich er Adams unstetes Wesen beinahe perfekt aus. 

Heute jedoch war Adam der Ruhige, zwangsweise, denn wenn er genauso nervös wie Vincent gewesen wäre, dann hätten sie kaum den hinter ihnen liegenden Geschäftstermin zur Erweiterung ihrer Handelsbeziehungen mit Italien so erfolgreich hinter sich gebracht. 

„Wann planst du mir mitzuteilen, was dein Verhalten soll?“, fragte Adam während sie die Treppen des kleinen Hotels in der Nähe von Valmont hinunterstiegen. Für die Jahreszeit war es überraschend mild in Frankreich, dennoch fröstelte Adam. 
„Was meinst du?“, entgegnete Vincent tatsächlich unruhig und Adam rollte mit den Augen. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, bis sie ihr Auto erreicht hatten und warf sich dann auf den Beifahrersitz. Er war hierhin gefahren, die Rückfahrt gehörte Vincent, auch wenn Adam den Gedanken nicht los wurde, dass Vincent aus lauter Unruhe den Wagen gegen den nächstbesten Baum setzen würde.

„Du verheimlichst was“, sagte Adam es ihm daher auf den Kopf zu und Vincent hielt in seinem Versuch inne, das Navi auf Adams Wohnung einzustellen. Er sagte nichts und Adam riss der ohnehin schon schwache Geduldsfaden. Wütend grollte er.
„Entweder du antwortest oder du läufst.“
Vincents Hände krampften sich um das Lenkrad, als könne er sich so festhalten und verhindern, dass Adam ihn aus dem Auto schubste. Das stimmt soweit auch, aber dennoch. 

„Es gibt ein Problem“, gestand seine rechte Hand ihm ein und Adam hob die Augenbrauen. Er lehnte sich im Sitz zurück und zog ein Bein zu sich auf das Polster. 
„No shit Sherlock. Das ist offensichtlich. Und weiter?“
Vincent schluckte, haderte mit sich, zögerte. „Leo Hölzer war nicht nur in Berlin am vergangenen Wochenende.“
Oha. Das wurde spannend. Adam legte den Kopf schief. „Wo noch?“
„In Świecko, bei meiner alten Dienststelle. Er hat den jetzigen Dienststellenleiter und… Adam befragt. Zu meiner Person. Er hat behauptet, ich sei ein Zeuge in einem Mordfall.“

Vincent mied den Blick auf Adam und dennoch konnte er jede Nuance der Angst auf dem Gesicht seines Freundes sehen. Die Angst milderte Adams Fassungslosigkeit und seine Wut auf Hölzer, der es immer noch wagte, hinter ihren Rücken Ermittlungen zu betreiben. Sie milderte den Zorn, der ihm einflüsterte, dass es vierzig Minuten bis nach Saarbrücken waren und dass er Hölzer an den Haaren aus seiner Dienststelle zog um ihn in der Saar zu ertränken. 

Adam schluckte diese Wut und konzentrierte sich lieber auf die Frage, woher Hölzer die dafür notwendigen Informationen hatte. Er kannte Vincent nicht. Nichts von ihm bis auf die Tatsache, dass er Vincent hieß und dass er Polizist gewesen war. Das reichte doch nicht…

„Hat Adam dich kontaktiert?“, fragte Adam mühevoll ruhig und Vincent nickte elendig. 
„Gestern Abend. Er war misstrauisch, weil Leo Hölzer es wohl so dargestellt hat, dass er meine Glaubwürdigkeit anzweifelt, und weil ich ihm von dem vermeintlichen Mord nichts erzählt habe. Ich konnte ihm aber glaubhaft versichern, dass ich nur Zeuge und nicht Beschuldigter bin. Hoffe ich.“

Das hoffte Adam für Hölzer auch. Wenn nicht, würde er den Bullen eigenhändig wegsperren und ihn erst wieder rauslassen, wenn Vincents Unschuld bewiesen war. Ging Hölzer so mit der langen Leine um, an die sie ihn gelegt hatten? So dankte er es ihnen?

„Das bereut er“, sagte Adam mit leisem Zorn, doch Vincent schüttelte den Kopf. 
„Egal, was dir gerade auch vorschwebt, Adam, mach es nicht. Denk an seinen Versuch, uns alle umzubringen. Er ist noch nicht stabil genug, dass du den Druck auf ihn wieder erhöhst. Wenn er sich erneut in die Enge gedrängt fühlt, wird er dumme Dinge tun und gerät mit Sicherheit in das Visier deines Vaters.“

Vincent, Psychologe durch und durch. Mitleidsmensch durch und durch, auch wenn er sich große Mühe gab, dass Adam es nicht sah. Nicht, dass Adam in diesem Moment geneigt war, auf ihn zu hören. Mit Sicherheit wollte er mehr von Hölzer kennenlernen, das stimmte nach wie vor. Aber er hatte eine Aufgabe, es galt, das zu schützen, was die Dreckssau aufgebaut hatte. Es galt sie beide zu schützen und Hölzer gefährdete das.  

„Und was ist deine Lösung dafür? Ihn so weitermachen zu lassen, damit dann spätestens in einem Monat alles zusammenbricht?“ Adam grollte und ungewöhnlich hoffnungslos sah Vincent ihn an.
„Ich habe keine“, gestand er ein. „Ihm zu drohen, macht zwar Sinn, aber ist wenig erfolgversprechend. Ihm dafür Schmerzen zuzufügen, wird in einer Katastrophe enden. Ihn dafür zu strafen scheint logisch, aber mit was?“
„Ich lasse ihm diesen Köter wegnehmen und damit haben wir ein Druckmittel gegen ihn, falls er sich nochmal danebenbenimmt.“

Vincent fuhr so gewaltig hoch, dass Adam im ersten Moment ebenfalls zurückzuckte. 

„Nein! Nein, Adam! Wir vergreifen uns nicht an Herbert! Das mache ich nicht mit. Nicht mit einem wehrlosen, traumatisierten Hund, der endlich ein bisschen Ruhe findet! Nein!“
„Es ist nur ein H-“, setzte Adam dem zischend entgegen, wurde aber rüde von Vincent unterbrochen. 
„Nein, ist er nicht! Ein Hund ist ein Lebewesen! Vor allen Dingen ein Lebewesen, das fühlt und nicht versteht, warum er wieder woanders hinmuss, weggesperrt, einsam. Nein. Ausgeschlossen.“
„Du hast verdammtes Mitleid mit einem Köter“, warf Adam ihm vor und Vincent schnaubte. 
„Ja und das würde dir auch gut zu Gesicht stehen!“

Der Vorwurf, der mit den Worten ungesagt im Raum stand, brachte Adam schneller zum Schweigen als es ihm lieb war. Nein, er hatte nichts für Hunde übrig. Aber er war auch kein mitleidsloser Bastard und das wusste Vincent. Er war nur…anders. Skrupelloser. 

„Also willst du, dass Hölzer damit einfach durchkommt?“, wich Adam aus und ließ Vincent damit erkennen, dass das Thema Riesenköter damit vom Tisch war. Die Erleichterung in den blauen Augen schmerzte. 
„Nein, das will ich nicht. Aber wir müssen die Balance finden.“
„Würde sich gut in nem Glückskeks machen“, grollte Adam und Vincent runzelte stürmisch seine Stirn.

„Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen“, gestand er schließlich ein und Adam nickte nach vorne. 
„Dann fahr los, ich überlege mir was“, wechselte er so abrupt das Thema, das Vincent ihn anstarrte, als hätte er den Verstand verloren. „Ich will nach Hause und du bist dran mit fahren“, grollte er und Vincent tat kopfschüttelnd das, was er wollte. 

Als sie nach vierzig Minuten auf Adams Parkplatz fuhren, hatte Adam eine vage Idee. Sie würde Hölzer und Vincent nicht gefallen, aber auch er hatte nur ein begrenztes Vorstellungsvermögen, was halbwegs erträgliche Strafen anbetraf. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 22: Misslunge Pläne und andere Kunstgegenstände

Notes:

Guten Abend ihrs,

hier nun der neue Teil zur Anatomie. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! :)

Vielen lieben Dank euch allen für eure Kudos, Kommentare, Klicks und co. Freut mich, dass die beiden Helden (*grrrr*) euch immer noch gefallen. ;) Wer von euch errät, in welcher Szene sie sich selbstständig gemacht und mir als Autorin eine lange Nase gezeigt haben?

Chapter Text

 

Mit schweren Gliedern legte Leo sich in sein Bett. Er ächzte und schloss mit Erleichterung seine Augen. Eigentlich mochte er seine Matratze, hatte aber in den letzten Monaten nicht wirklich zu schätzen gewusst, was er an ihr oder seinem Oberbett hatte. 

Leo hatte den Abend zuhause verbracht und sich mit musikalischer Untermalung eine Flasche Wein aufgemacht. Das erste Glas hatte er auf zwei erhöht und mit einem Blick von seinem Balkon heraus seine Gedanken fließen lassen. 

Entdeckt und erkannt zu werden, war…nicht so katastrophal schlimm, wie er befürchtet hatte und das, was Leo wie eine Hand im Nacken monatelang heruntergedrückt hatte, hatte sich nun soweit gelöst, dass er wieder in der Lage war, den Kopf zu heben und sich über Wasser zu kämpfen. Er fühlte sich, als könne er nun freier atmen. 

Pia, Esther und er waren vor zwei Tagen tatsächlich weggegangen und hatten fast ausschließlich über das gesprochen, was in den letzten Monaten passiert war. Das, was Leo ihnen in der Dienststelle nicht erzählt hatte, war schlussendlich in einem abgeschiedenen Bereich des Schiffes von seinen Lippen gekommen. Schürks auch sexuelles Interesse an ihm an als Mann. Seine Machtspiele, die er mit Leo getrieben hatte. Seine Rücksichtnahme nach Leos Eskalation und sein Besuch zu Weihnachten bei Leos Familie. 

Es war Esther, die mit ruhigen Worten die Frage gestellt hatte, ob Schürk ihn auch zu anderen Dingen als zu Informationsweitergabe, Ermittlungssabotage und Freizeitaktivitäten zwang. Leo hatte knapp den Kopf geschüttelt und es noch einmal verbal bestätigt, als er ihr Zögern und ihre Wut gesehen hatte.

Leo hatte ihnen auch eine charakterliche Einschätzung von Schürk gegeben und am Ende des Abends hatte er sich befreit gefühlt. Leichter. Gesehener. Er hatte sich nicht mehr alleine in seinem Kampf gegen Schürk gefühlt. Nicht mehr hilflos. 
Natürlich wusste er, dass ihm immer noch eine Strafe drohte und dass er immer mit großer Wahrscheinlichkeit noch ins Gefängnis kommen konnte, doch die in Aussicht gestellte Strafmilderung und die nicht erfolgte Verhaftung ließen ihn Mut schöpfen. Er hatte etwas, das ihm seit Monaten fehlte: Hoffnung. 

Er tat das Richtige, auch wenn er immer noch vorsichtig sein musste. Schürk war immer noch unberechenbar, seine Familie immer noch in Gefahr. Und – glaubte er Schürk – Leo ebenfalls. Pia hatte zu dieser Verbindung nur die Stirn gerunzelt und die Vermutung geäußert, dass es sich dabei um den Patriarchen handeln könnte. Leo stimmte dem zu, aber sicher war er sich nicht. Es könnte schließlich, wie von Esther vermutet, auch einfach eine Taktik sein. 

Dass alles zumindest offiziell so weiterlief wie bisher war da schon fast eine Erleichterung. 

Zumindest schenkte es Leo Ruhe und mit dieser Ruhe legte er sich auf die Seite, zum ersten Mal seit Monaten wieder amüsiert darüber, dass er in seinem 1,40m-breiten Bett immer auf der linken Seite schlief. Als wenn irgendjemand dazukommen würde oder er auf jemanden wartete. Leo fürchtete, dass es sein Unterbewusstsein war, das ihm den Geist von Matthias an die Seite stellte und immer noch darauf wartete, dass dieser zurückkehrte. 

Noch etwas, mit dem er leben musste. Aber das war in Ordnung, die Anzahl der Nächte, in denen er aus dem Bett fiel, hielt sich in Grenzen. 

Als Leo in den Schlaf überglitt, flohen seine Gedanken zu Nina und nach Berlin, in die Stadt, die ihm soviel Kraft gegeben hatte. Er träumte von seiner Vergangenheit in Berlin, ihren Ermittlungsfällen, von der hässlichen Seite des dunklen, mörderischen Berlins. 

Es waren seit langsam keine Alpträume, die Leo hatte, sondern Träume, in denen er sich wohlfühlte. Pia war dort, Esther auch und er vertraute ihnen, er flüchtete nicht vor ihnen. Sie ermittelten und schattenhafte Männer mit blonden Haaren tauchten im Hintergrund auf und verschwanden wieder. Es war nicht schlimm und Leo ließ sie gehen, weil sie keine Bedrohung waren.

Ganz im Gegensatz zu dem Wind, der ihm ins Gesicht blies und der Leo sich irritiert von Nina abwenden ließ. 
Der Wind hörte nicht auf, sondern wurde stärker und Leo trat einen Schritt zurück. Er riss sich los aus Berlin, von Nina, wollte ihr noch sagen, dass er gleich wiederkommen würde, dass er den Fall gelöst hatte, als er schon die Augen aufschlug und mit der Dunkelheit seines eigenen Schlafzimmers konfrontiert wurde.

Und dem blonden Alptraum namens Schürk entgegenstarrte, der durch das in sein Zimmer fallende Mondlicht beschienen direkt neben ihm lag. Ein großer, schwarzer Schatten, der Leo mit einem erschreckten Aufkeuchen aus dem Bett fahren ließ. 
„Nein“, entwich es ihm, während er sich bewusst wurde, dass es wieder einmal einer seiner Träume war, die ihm vorgaukelten, bereits wach zu sein. Panisch schlug er auf den Lichtschalter, in dem Wissen, dass das Alptraumbild namens Schürk mit der brachialen Helligkeit der Deckenlampe verschwinden und er allein sein würde.

Mit wild klopfendem Herzen sah er auf sein Bett und kollidierte schmerzhaft mit seiner Wand, als er einen erschrockenen Satz nach hinten machte. Schürk verschwand nicht, Schürk blieb. Er war wach und Schürk war da, lag in seinem schwarzen Anzug mit nichts drunter auf seinem Bett. Hatte sich neben ihm gelegt, während er schlief. 

„Hallo Leo“, lächelte der Teufel in Menschengestalt dunkel und streckte seine langen Finger nach Leos Kissen aus strich in sanften Bewegungen über den Stoff. „Guten…Morgen.“

Leos Augen huschten zu seinem Wecker, der ihm in roten, großen Ziffern eröffnete, dass es 3:38 Uhr war.
„Was…machst du hier?“, presste er hervor, sich auf das Wesentliche konzentrierend. Es war nicht einfach, denn sein schlafvernebelter Geist kämpfte mit den Überresten seiner Träume, gleichermaßen machte Leo Angst das Denken schwer. Ein Mann, hier in seinem Bett, das war… das durfte nicht sein. Dass es ausgerechnet Schürk war, der dort lag, machte es dabei nur noch schlimmer. 
„Herbert spielen. Du hast so schön mit ihm hier gekuschelt beim letzten Mal“, murmelte der blonde Mann mit einem Unterton, den Leo mühelos als psychopatischen Sadismus interpretierte. 
„Was?!“, fragte er entsprechend entsetzt und erntete nichts als ein vielsagendes Lächeln, das in einer ausgiebigen Musterung mündete. Bis auf eine lange Schlafanzughose aus Flanell trug Leo nichts und diese Nacktheit wurde ihm nun umso unangenehmer, da auch Schürk sich auf sie zu konzentrieren schien. Unwohl verschränkte Leo seine Arme und verbot sich jede weitere Nachfrage. Eigentlich wollte er es auch nicht wissen, denn alles, was Schürk sagen würde, würde die Situation noch viel schlimmer machen. Der Mann hatte mit ihm im Bett gelegen, während er geschlafen hatte. Er hatte ihn dabei beobachtet, wie er…
 
Leo erschauderte und presste seine Arme an den Körper. Das hatte Schürk noch nicht einmal gemacht, als er die zwei Wochen jeden Tag vorbeigekommen war. Warum jetzt? 

Schürk richtete sich auf und setzte sich „Ins Wohnzimmer mit dir“, sagte er mit plötzlich auftretendem, keinen Widerspruch zulassendem Ernst und Leo verbot sich die Frage, ob er sich etwas anziehen konnte. Er kannte diesen Ton, hatte ihn schon einmal gehört und in Kombination mit Schürks bewusstem Verletzen seiner Privatsphäre rechnete Leo nicht mit einer Erlaubnis. 

Leo hielt inne. Eine Erlaubnis dafür, sich Kleidung anzuziehen. Er drehte sich um und schloss ungesehen von Schürk die Augen. Was für ein bitterer, schlimmer Gedanke. Was für eine armselige Akzeptanz von ihm selbst, dass er erst jetzt darüber nachdachte, was es eigentlich für ihn bedeutete. Vor Monaten wäre dieser Gedanke noch undenkbar gewesen und jetzt?

Schürk trat hinter ihn und Leo ging weiter, in sein hell erleuchtetes Wohnzimmer. Natürlich war Ross auch hier und wie es schien, hatten sie in weiser Voraussicht bereits die Vorhänge geschlossen. Leo schluckte schwer. 

„Setz dich, Leo.“ Auch Ross hatte keine Freundlichkeit in seiner Stimme und Leos Instinkt schrie ihn an, dass sie wussten, dass er aufgeflogen war. Oder dass er sich Informationen über Vincent eingeholt hatte. Dafür würden sie ihm wehtun, Versprechen hin oder her. Alles deutete darauf hin.

Angespannt setzte er sich und schauderte. Er hatte die Temperatur in seinem Wohnzimmer heruntergestellt und es war kalt. Aber nicht nur. Er fühlte sich unwohl. Dass er das vor Ross nicht verbergen konnte, war klar und dieser runzelte missbilligend die Stirn. Er erhob sich und Leos Augen folgten seinem Weg zur Couch und zur Decke am anderen Ende schweigend. Er nahm sie auf und reichte sie Leo, deutete knapp auf seinen unbekleideten Oberkörper.

Unter Ross ausdruckslosen Augen schlang Leo die Decke um sich und spürte, wie sich neben ihm das Polster absenkte. Er musste nicht in Schürks Gesicht sehen um dessen brennenden Blick zu bemerken, der ihm viel zu nah war. 
Unwohl zog Leo die Decke enger und starrte auf einen Punkt hinter Ross, der sich nun gnädigerweise wieder hinsetzte.

„Letztes Wochenende warst du in Berlin“, sagte er und Leo verkrampfte sich. Das war er gewesen. Aber nicht nur.
„Am Montag bist du weiter nach Świecko gefahren und hast in der dortigen Polizeidienststelle Karol Pawlak und Adam Raczek nach mir befragt, hast vorgegeben, ich wäre ein möglicher, unzuverlässiger Zeuge in einem Mordfall. Du hast dich bei den Beiden nach meiner Vergangenheit erkundigt und nach den Vorfällen in der Dienststelle.“

Ross‘ ruhige Worte waren von unfassbarem Begreifen für Leo. Sein Kopf schoss hoch und entsetzt starrte er in den blauen Augen. Es war schlimmer, als Leo es befürchtet hatte. Weitaus. Nicht nur, dass sie genau wussten, was er getan hatte, sondern auch, was er gesagt hatte. Er öffnete seine Lippen und presste sie doch eine Sekunde später wieder aufeinander, eisern. Wie war das möglich? Doch nur durch einen Informanten in der Dienststelle. Einer der beiden Männer? Aller Wahrscheinlichkeit nach. Oder hatte jemand gelauscht? Das wäre Leo doch aufgefallen, oder? 

Er krallte seine Finger in die Decke und stellte sich auf das Schlimmste ein. Wussten sie dann auch schon, dass sein Team ihn enttarnt hatte? 
Mitnichten würde Leo hierzu auch nur ein Wort verlieren, wenn Ross oder Schürk es nicht konkret ansprachen. 

„Habe ich das korrekt wiedergegeben?“, fragte Ross und Leo nickte unmerklich. 
„Ja“, sagte er schlicht und stellte sich auf Gewalt für seine ehrliche Antwort ein. Doch Ross tat nichts, beugte sich noch nicht einmal vor. Auch Schürk blieb bewegungslos, doch das hieß nichts. Die Vergangenheit hatte ihn anderes gelehrt. Die ganze Situation, die Stille, es war wie die Ruhe vor dem Sturm, die Luft geschwängert von herausdrängender Energie. 

„Warum hast du nach Informationen geforscht, obwohl wir das von dir nicht wünschen?“
Obwohl sie das von ihm nicht wünschten…er hatte zu tun, was Ross und Schürk wollten und nur das. Von Freiheit, Selbstbestimmung oder überhaupt Menschenwürde keine Spur. 
Teils wütend, teils resigniert sah Leo hoch. „Ist der Grund wichtig? Ich denke nicht. Komm zur Sache und teile mir eure Strafe für mein Verhalten als ungehorsames Kind mit“, sagte er mit ruhigem, beinahe schon zornigen Zynismus in der Stimme und Ross runzelte missbilligend seine Stirn. 

„Du bist kein Kind, Leo und wir sehen dich nicht als solches.“
„Aber als jemand, der bestraft werden muss“, schloss Leo aus der Auslassung und Ross‘ Schweigen sagte ihm alles, was er darüber wissen musste. Er schnaubte und sah aus dem Fenster – zu seinen Vorhängen. Anscheinend sollten die Nachbarn nicht sehen, was Schürk und Ross ihm gleich antaten. 
„Erstmal möchten wir wissen, warum du nach den Informationen geforscht hast.“
„Und das hätte nicht bis morgen warten können?“
„Warum sollte es? So fühlt es sich eben an, wenn man ungefragt in das Leben eines anderen eindringt“, sagte Schürk von der Seite aus und Leos Kopf ruckte zu ihm. 
„Ach, deswegen hast du dich zu mir ins Bett gelegt und mich beim Schlafen beobachtet? Um mir zu zeigen, wie das ist?“ Leo lächelte freudlos. Der Schreck und die Angst über sein Aufwachen steckten ihm noch schwer in den Knochen und er hatte wirklich keine Diplomatie mehr übrig für die Beiden. Nur noch Wut über das Eindringen in seine Privatsphäre, das unmögliche Verletzten seiner Intimsphäre. 

Vielleicht war es auch die vermeintliche Sicherheit vor dem Enttarntwerden, die ihn kälter machte und weniger angsterfüllt. Die kleine Stimme in seinem Inneren, die ihn an Schürks Worte erinnerte, bracht er zum Schweigen. Just in diesem Moment brauchte er die Erinnerung daran nicht, dass sein Leben in Gefahr war, wenn er ausriss aus dem Erpressungsschema. 

„Als wenn ich das nicht wüsste oder habe ich es geträumt, dass du einen Schlüssel zu meiner Wohnung hast und ihn auch benutzt? Habe ich geträumt, dass du meinen Streaming-Account auf deinem Fernseher hattest? Habe ich geträumt, dass du Ross in meinem Leben und in meiner Wohnung hast rumschnüffeln lassen, damit er meine Tagebucheinträge findet? Dass du mich gläsern gemacht hast, obwohl ich nie darum gebeten habe und es nie wollte? Dass du in mein Leben gedrungen bist, ohne mich zu fragen, wie ich das finde. Ich weiß, wie das ist, dafür brauche ich dich nicht, in meinem Bett neben mir liegend“, erläuterte Leo augenscheinlich ruhig. Wären da nicht seine Fäuste, die die Decke beinahe zerrissen vor Anspannung. 

Es gefiel Schürk nicht, was er sagte, doch das war Leo herzlich egal in diesem Moment. Es war ihm egal, dass es sich in dem markanten Gesicht des blonden Manns wie in einer Unwetterfront zusammenzog, die im schlimmsten Fall wieder in Gewalt enden würde. Das obere Ende der Spirale kannte Leo ja schon.
„Und wenn du’s weißt, warum hast du es dann bei Vincent gemacht?“, hatte Schürk schlussendlich tatsächlich den Schneid, ihm diese Frage zu stellen und Leo wäre kurz davor gewesen, ihm an die Gurgel zu gehen, wenn nicht Ross wieder seine Finger im Spiel gehabt hätte. 

Wortwörtlich. 

Grollend sah Leo auf Ross‘ Finger, die auf seiner Decke lagen, genau dort, wo sie Leos Finger vermuteten. 
„Nein, Leo“, sagte Ross und Leo hasste es, wie sehr er auf die ruhige Stimme gepolt war. Wie sehr er sich durch sie Verbindlichkeit dort einfangen ließ.
„Ach, aber er?“, grollte er dennoch und Ross schüttelte den Kopf.
„Nein, auch nicht.“ Schürk traf ein warnender Blick und nach einem kurzen, stummen Duell schnaubte dieser. Er gewann sogar Abstand zu Leo und ließ somit zu, dass sich Leos Aufmerksamkeit voll auf den Mann konzentrierte, dessen Geschichte er nun kannte. Der nun einen vollständigen Namen hatte. Eine Vergangenheit. Einen Wohnsitz.

Dieses Mal trat Ross nicht zurück, sondern ging vor ihm in die Hocke, das Gesicht ernst und streng. 
„Warum hast du das getan?“, fragte er erneut und die Antwort war einfach für Leo. 
„Weil ich wissen wollte, wer du bist.“
„Aber ich wollte nicht, dass du das weißt“, hielt Vincent dagegen und Leo schüttelte den Kopf.
„Und ich wollte nicht, dass ihr in mein Leben eindringt. Es ist nur fair, ein Gleichgewicht zu schaffen“, hielt er dagegen und Ross hielt nachdenklich inne. 
„War das deine Intention? Ein Gleichgewicht zu schaffen?“

Ja, das war sie gewesen, nun aber war es eine andere und dementsprechend waren die Informationen natürlich auch bei Pia und Esther gelandet. Doch Leo würde den Teufel tun, das zu sagen, es sei denn, Schürk und er wussten auch das bereits. Aber dann würde er schon nicht mehr leben, oder? Dann hätten sie anders reagiert oder kam das noch? 

„Ja“, destillierte Leo seine Gedanken knapp und Ross nickte. 
„Aus deiner Sicht, verständlich. Aus unserer nicht. Und du bist nicht dumm, Leo. Du weißt, dass wir das nicht unkommentiert lassen werden.“
„Sag bloß, hätte ich gar nicht gedacht, nach meinem Aufwachen. Und nenn es nicht unkommentiert. Das ist beschönigend für das, was ihr vorhabt.“
„Was haben wir denn vor?“, fragte Schürk mit einem süffisanten Lächeln in der Stimme von der Seite und Leo sah ihm ernst in die Augen. 
„Mir wehzutun, körperlich, geistig, emotional“, sagte er ehrlich, eigentlich nur aus seiner Wut heraus, dass Schürk es wagte, sich in sein Bett zu legen. Er rechnete mit einer zynischen Antwort, einer bitterbösen Antwort, doch da war für Sekunden nur Schweigen und Offenheit in Schürks Gesicht. Überrumpelung anscheinend. Ehrliche Ratlosigkeit. Leo erkannte, dass er Schürk von seinem Kurs abgebracht hatte mit seiner Antwort und nun war da Leere. Leo nutzte sie, um seinen Standpunkt noch einmal mehr zu verdeutlichen. 

„Ich will nur gleichwertig sein. Ich will auch ein Mensch sein. Ich will, dass meine Grenzen respektiert werden“, fuhr Leo fort und verbot es sich, seine Augen auch nur eine Sekunde lang zu senken. „Ich sehe euch öfter als meine Familie. Über dich“, er deutete mit seinem Kinn auf Schürk, „weiß ich das, was offensichtlich ist, was sich durch die Behörden herausfinden lässt.“
Er wandte sich an Ross, der Leo immer noch mit aufmerksamen Ernst musterte. „Über dich wusste ich nichts. Wer du bist, welchen Namen du hast, wo du herkommst. Ich will mir ein Bild machen können.“

Leo ließ seine Worte wirken und die beiden Männer tauschten Blicke miteinander aus, die er schwerlich interpretieren konnte. Ross nickte und Schürk ließ sich mit einem Grunzen seitlich gegen die Lehne fallen. Er stützte seinen Kopf auf den Handballen und musterte Leo intensiv. 
„Du willst uns also kennenlernen?“, sagte er ruhiger und weniger verspielt als vorher. Leo verharrte, nicht sicher, was er mit diesem Ton anfangen sollte. „Die Gelegenheit erhältst du. Wir werden uns ab jetzt wieder jedes Wochenende treffen. Einen ganzen Tag lang von morgens bis abends. Du wirst dabei jede zweite Woche bestimmen, was wir tun. Und wenn du Fragen hast, egal, ob diese Vincent oder mich betreffen, dann wirst du sie uns stellen. Wir und nur wir werden dir darauf antworten.“

Das war nicht nur eine Drohung, erkannte Leo. Es war auch ein Versprechen. 

Es machte es die nun wieder gestiegene Häufigkeit ihrer Treffen nicht besser, ganz und gar nicht, doch das konnte Leo sich schönreden. Eine höhere Kadenz hieß mehr Informationen, insbesondere, wenn sie ihm seine Fragen wirklich beantworteten. Der Gedanke daran, Schürk so oft zu sehen, war immer noch schlimm für Leo, aber seine Zusammenarbeit mit der Sonderkommission gab ihm Kraft und eine Aufgabe. Und Leo war gut darin, sich durch eine Aufgabe durchzubeißen. 

„Herbert wird regelmäßig da sein“, sagte er, weil es ihm am Sinnvollsten erschien, Schürk jetzt schon einmal vorzuwarnen. Seine Eltern hatten ihm angeboten, dass er Herbert an Wochenenden holen konnte, wenn er Lust und Zeit hatte. Er tat Herbert gut und Herbert ihm und Leo konnte sich sehr gut vorstellen, mit dem Hund ein ganzes Wochenende zu verbringen. Es nun wieder abzusagen, weil Schürk die Quantität der Treffen hochgesetzt hatte… war vermutlich wahrscheinlich. So sehr, wie der andere Mann Herbert hasste, so wenig würde er ihn in seiner Nähe tolerieren wollen.

Schürks sich verdunkelnder Gesichtsausdruck sagte ihm alles, was er darüber wissen musste und das Grollen bestätigte mühelos Leos Annahme.
„Wenn dein Scheißköter auch nur einen Sabberflecken auf meine Couch macht, dann wirst du die solange schrubben, bis sie wieder weiß ist.“

Leo blinzelte, nun seinerseits überfahren von Schürks Worten. Er…sollte Herbert sogar mitbringen? Er verirrte sich in seiner Verwunderung rechtzeitig genug in Richtung Ross, um dessen ganz eigenes Erstaunen zu sehen. 

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, schnappte Schürk und Leo zog es vor, nichts zu sagen und das kurze Lächeln Ross zu überlassen. Er vergrub sich in seine Decke und fragte sich, wie er das, was heute passiert war, einordnen konnte. 

Ob er es überhaupt einordnen wollte. 

„Zu wem von beiden hast du noch Kontakt?“, fragte er schließlich in Richtung Ross und dieser musterte ihn aufmerksam. Wieder versicherte er sich in Richtung Schürk und Leo bemerkte das minimale Nicken der Zustimmung. 

„Zu beiden“, erwiderte der lockige Mann und Leo starrte ihm überrascht in die Augen. Wieso sollte er, nachdem zumindest einer von den Beiden mit Sicherheit Teil des Ganzen gewesen war? Es sei denn…
„Also stimmt das mit dem Mobbing nicht?“
Schmerz huschte sehr deutlich über Ross‘ Gesicht, auch wenn er ihn schnell vor Leo verbergen wollte. Es stand eine jahrealte Pein auf seinen Zügen, die Leo nur zu gut kannte und die maßgeblich die Weichen für sein jetziges Leben gestellt hatte.
„Nein, das ist passiert.“
„Ist das der Grund, warum du für Schürk arbeitest? Dass du dich an uns anderen rächen willst?“ Wenn schon, denn schon. Mal sehen, wie weit Ross‘ Bereitschaft ging, ihm seine Fragen zu beantworten.
„Nein. Ich möchte mich nicht an dir oder deinen Kolleginnen und Kollegen rächen.“ Leo erkannte kein Zeichen für eine Lüge. 
„Wieso hast du dann zu Pawlak und Raczek noch Kontakt?“
Ross lächelte und Leo konnte die Trauer darin nicht ganz identifizieren. Auch die Zärtlichkeit gab ihm Fragen auf. „Weil wir uns mögen.“

Leo schüttelte zynisch den Kopf und schnaubte. „Soviel dazu, dass Raczek seit deinem Weggang keinen Kontakt mehr mit dir gehabt hat. Ist eigentlich irgendjemand ehrlich hier?“ Er konnte und wollte den bitteren Unterton nicht aus seiner Stimme halten. Neben ihm bewegte Schürk sich.
„Du machst leise, zufriedene Geräusche, wenn du schläfst“, sagte der blonde Mann vollkommen aus dem Kontext gerissen. „Das finde ich schon eher charmant.“

Leo starrte Schürk an, als hätte er den Verstand verloren. 
„Was hat das damit zu tun?“, fragte er ungnädig und der blonde Mann zuckte mit den Schultern, den Kopf schief gelegt. 
„Du wolltest Ehrlichkeit, hier hast du sie. Außerdem riechst du gu-“
„Sei einfach still“, grollte Leo, weil er mit Sicherheit nicht hören wollte, wie er sich im Schlaf anhörte oder roch. Mit Sicherheit nicht. Nicht von Schürk. Eigentlich von niemandem außer Matthias. Dass seine Wortwahl nicht die Beste oder Klügste war, wurde ihm mit der Stille bewusst, die nach seinen Worten eingetreten war und an Schürks auf ihn fokussierter Aufmerksamkeit. 

Der andere Mann schien nicht wütend darüber zu sein und das, was in den blauen Augen stand, konnte Leo auch nicht wirklich entziffern. Bevor er sich jedoch entschuldigen konnte, wandte Schürk sich ab und wechselte einen stummen Blick mit Ross. Dieses Mal war er, der sich rückversicherte und das, was die beiden Männer nonverbal untereinander austauschten, gab Leo noch mehr Fragen auf. Vor Monaten noch hätte Leo brachiale Angst gehabt. Nun ahnte er, dass mehr dahintersteckte als der Plan, ihm wehzutun.

„Der mutige Herr Hölzer, eine nicht abgeschlossene Mehrteilerreihe.“ Schürks Stimme war eine Mixtur aus Belustigung und Warnung und Leo zog es vor, darauf nicht zu antworten. Teilweise aus Angst vor Schürks Antworten oder weiterer Ehrlichkeit. Pawlak und Raczek hatten also noch Kontakt zu Ross. Die Frage war, warum sie ihn belogen hatten. Um einen der ihren zu schützen? Gehörten sie auch zum Syndikat? 
Leo versuchte, sich die Wahrscheinlichkeit dessen auszurechnen. Dass eine kriminelle Familie wie die Schürks ihre gierigen Finger auch nach weiteren Teilen Deutschlands oder sogar ins Ausland ausstreckte, konnte Leo sich durchaus vorstellen. Świecko war Grenzstadt und mit Sicherheit würde sich von dort aus ein Markt nach Polen öffnen. Mit der örtlichen Polizei in seiner Tasche hatte Schürk einen weitreichenden Schritt in seine Richtung getan.

„Die Beiden stehen also auf deiner Gehaltsliste“, wechselte er ebenso abrupt das Thema wie Schürk auch und dieser lachte nur Sekunden später schallend. 
„Pawlak und Raczek? Ernsthaft? Im Leben nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ich daran kein Interesse habe.“
„Und nein, wir erpressen sie auch nicht“, schob Ross nach, bevor Leo etwas sagen konnte, also zog er sich wieder in seine Decke zurück, unter der ihm langsam etwas zu warm wurde. Es war eine Information, die er an Pia und Esther weitergeben konnte, ein Puzzleteil mehr, das sich zu einem immer komplexeren Bild zusammenfügte. 

„Mich interessiert allerdings, woher du die Informationen über mich hast“, sagte Ross sanft, aber unnachgiebig und Leo schob eine seiner Hände aus der Decke, schindete Zeit, indem er die Flusen auf ihr zupfte. Er sah weder Schürk noch Ross in die Augen, als er sich innerlich für den Kampf stärkte, der gleich folgen würde. 
„Leo…“ Eine noch sanfte Warnung. Unwirsch presste Leo die Lippen aufeinander und knibbelte weiter. Er würde Nina niemals verraten und sie damit der Gefahr aussetzen, dass das Syndikat ihr wehtat oder sie bedrohte. 
„Leo, komm schon.“ Immer noch sanft und genauso unnachgiebig. Eine Aufforderung und Lockung, so als würden keine Konsequenzen für die Person hintenanstehen. 

Er schüttelte den Kopf. „Das, was ich auch deinen ehemaligen Kollegen gesagt habe, habe ich auch der Person gesagt. Es geht um einen Zeugen in einem Ermittlungsfall und die Zuverlässigkeit des Zeugen. Mehr nicht“, versuchte er zu verhindern, was kam. Mit wenig Erfolg.
„Und wem hast du das gesagt?“, wiederholte Ross geduldig. Leo presste seine Lippen aufeinander und sah zur Seite, auf seinen Teppichboden. 
„Innenministerium“, presste er schließlich hervor. „Ein Bearbeiter aus dem Innenministerium hat mir die Informationen gegeben.“ Gelogen war das nicht und vielleicht konnte Leo es deswegen so glaubhaft zähneknirschend herüberbringen.
„Innenministerium“, echote Schürk mit Zweifeln in der Stimme und Leo zuckte mit den Schultern. 
„Übers Personalsystem“, spezifizierte Leo und zumindest Ross schien das zu reichen. Schürk hingegen…

Überrascht fuhr Leo herum und wandte sich abrupt dem blonden Mann zu, als dieser sich so nahe zu ihm hinüberbeugte, dass er dessen warmen Atem auf seinem Gesicht spürte. Durch die Nähe konnte Leo nirgendwo hinsehen als in Schürks Augen, war gezwungen, sich gänzlich auf ihn zu konzentrieren. 

Es sei denn, er wäre zurückgewichen. 

Jetzt, hier, eine halbe Stunde, nachdem Schürk ihn in seinem eigenen Bett aufgeweckt hatte, war Leo nicht danach zumute. Absolut gar nicht, so behielt er die Nähe bei und starrte Schürk in die blauen Augen. Dass es zu einem stummen Blickduell werden würde, damit hatte Leo nicht gerechnet und mit jeder Sekunde, die verging, wurde die Luft zwischen ihnen spannungsgeladener.
Sein Wohnzimmer war zu einem Verhörraum geworden, in den letzten Sekunden mehr als je zuvor. Schürk und er führten mit einem Mal einen Krieg gegeneinander, in dem Leo keine Schwäche zeigen durfte. Er ließ seinen Atem ruhig werden, senkte die Atemfrequenz. Seine Hand lag nunmehr entspannt auf der Decke.

„Über wen hast du die Informationen bekommen?“, hakte Schürk nach, seine Stimme überraschend samtig. Sein Atem strich über Leos Gesicht und auf diese Entfernung konnte er einzelne Sommersprossen und kleine Narben ausmachen, die beinahe unsichtbar waren. Sie brachten die Erinnerung an die Narben auf Schürks Oberkörper mit sich, die Leo an dem verhängnisvollen Tag vor Weihnachten gesehen hatte, ebenso wie Ross‘ ruhige Anmerkung, dass sein Auftraggeber Schmerzen gehabt hatte – unter anderem auf dem Rücken. 
„Über das Innenministerium“, wiederholte Leo ruhig und mit einer Sicherheit, die er in diesem Moment auch fühlte. Er musste es, denn es ging um Ninas Schutz. 
„Sag’s nochmal.“
„Über oder Innenministerium?“, fragte Leo, bevor er seinen überreizt-amüsierten Worten Einhalt gebieten konnte. Schürk lachte überrascht, ein freier, reiner Laut. Sein Gesicht verzog sich und wurde jünger, sanfter, es wurde zu etwas, das Leo so noch nie an dem anderen Mann gesehen hatte. 

Sein Ermittlerverstand nahm jedes Detail auf, das sich ihm hier bot, schließlich würde er Pia und Esther darüber berichten müssen. Jedes Detail zählte – also auch das, was Schürk anders machte als gewöhnlich. Sanfter. Weniger wie ein… Monster. 

Leo war sich nicht wirklich sicher, ob er schon bereit war für dieses Wissen.


~~**~~


„Du hast dich nicht an deinen Plan gehalten“, merkte Vincent leise an, kaum, dass Adam sich zu ihm ins Bett gelegt hatte. 

Es war fünf Uhr morgens und sie hatten erst am Nachmittag ihren ersten Termin mit einem ihrer Zwischenhändler. Genug Zeit also, das Schlafdefizit aufzuholen, dass sie durch Adams Plan eingefahren hatten. 
Vincent hatte darauf bestanden, dass Adam mit zu ihm kam und bei ihm schlief – in seinem Bett, wie immer, wenn er bei ihm übernachtete. An manchen Tagen war das besser und Vincent hatte auch jetzt nicht mit sich reden lassen. 

„Es hat sich nicht angeboten. Hölzer hat anders als erwartet reagiert“, murmelte Adam durch die Decke gedämpft, die er sich halb über sein Gesicht gezogen hatte, während er seine Eisfüße zu Vincent unter die Decke schob. Eben jener murrte protestierend, als ihn die beiden Eisblöcke trafen – wie auch immer es möglich war, dass Adam auf dem kurzen Weg von seinem kleinen Bad aus bis hin zu seinem Schlafzimmer so auskühlte. 

Vincent rollte sich auf die Seite, Adams Füße mittlerweile gekonnt fest zwischen seinen eigenen und drehte sich Adam zu. „Es hat sich nicht angeboten, weil Leo Hölzer anders war?“, echote er nachdenklich.
Adam hatte seinen Plan vorher mit ihm durchgesprochen. Vincent hatte dem zwar zugestimmt, das jedoch nur mit Bauchschmerzen. Die Invasion von Leo Hölzers Intimsphäre durch das Wecken war schon schlimm genug gewesen. Der Rest wäre nur mit äußerster Sorgfalt zu choreographieren gewesen und Vincent war entsprechend angespannt gewesen. Doch dann hatte Adam alle Drohungen, alle Klarstellungen, dass es Leo Hölzer nicht zustand, beiseite geschoben. Adam war unerwarteter Weise im Gespräch abgebogen und dann…

Überraschend sanft und nachgiebig war er gewesen, als ihre Verknüpfung ihnen eröffnet hatte, warum er Vincents Daten haben wollte. Vincent konnte nicht genau sagen, ob ihm Leos Worte, dass es einem Gleichgewicht diente, ausreichten. Vincent wusste bis jetzt nicht, was er davon und dem Versprechen halten sollte, das sie Leo Hölzer zum Schluss abgenommen hatten. Das Versprechen, diese Informationen für sich zu behalten. 

Sie beide wussten, dass Leo nicht lügen konnte, aber Vincents Bauchgefühl sagte ihm, dass etwas war. Was genau konnte er nicht identifizieren, aber er war nicht vollkommen beruhigt. Vermutlich, weil es sich um ihn selbst handelte. Seine Vergangenheit. Seine Geschichte. Leo Hölzer war die einzige Verknüpfung, die seinen Namen kannte und damit auch andere Dinge wusste. Wo er wohnte. In welcher Dienststelle er gearbeitet hatte. Wer seine Familie war. 

Vincent fühlte sich ungewollt gesehen damit und ja, es war genau das, was sie mit ihren Verknüpfungen machten. 

„Er war verzweifelt und nicht störrisch. Und jetzt hör auf, daran zu denken“, murrte Adam und schob sich nahe an ihn heran. Heute war anscheinend ein Tag, an dem er enge, körperliche Nähe ertrug und wollte. An dem er sie sogar brauchte, als eine Art Rückversicherung ihrer Freundschaft. Vincent hatte sich angepasst, denn er könnte Adam eigentlich täglich berühren und ihm diese Art der Versicherung geben, doch er respektierte Adams Grenzen.
Umso glücklicher war er, wenn Adam es zuließ. 

„Ich habe Angst, dass Leo Hölzer das zerstört, was zwischen Adam und mir ist“, formulierte er direkt und ehrlich seine Sorge. Sein Saarbrücker Adam brummte.
„Erinnerst du dich noch damals, was ich dir in unserem Club gesagt habe?“, fragte er schließlich und Vincent musste tatsächlich einen Moment überlegen. 
„Dass du nicht zulässt, dass mir etwas passiert?“, stellte er dann als Frage in den Raum und Adam nickte. die Decke hatte seine blonden Haare elektrifiziert und nun standen sie ab, als hätten sie ein Eigenleben.
„Das hat sich nicht geändert, Vince. Ich passe auch heute noch darauf auf, dass dir niemand wehtut. Auch ein schnöseliger Saarbrücker Ermittler nicht. Gerade der nicht.“
Adam grinste und es ließ Vincent amüsiert lächeln. Sie waren sich so ähnlich, seine beiden Adams. 
„Versprich mir das“, forderte er und Adam nickte. 
„Ich verspreche es dir. Hoch und heilig.“

Es beruhigte Vincents Bauchgefühl. Nicht ganz, aber zum größten Teil. 

„Aber er riecht wirklich gut, wenn er schläft.“
Vincent rollte mit den Augen. „Schön für deine Nase. Das bleibt das einzige Mal, dass du das getan hast, verstanden?“ 
Der impulsgesteuerte Mann neben ihm murrte, nickte jedoch. 


~~**~~


Sorgenvoll musterte Pia ihren Teamleiter, dessen Augenringe wieder zugenommen hatten und der bleich und schlecht gelaunt ihr Büro betreten hatte. Sie hatte ihm einen Kaffee lang Zeit gegeben, bevor sie ihn gefragt hatte, ob er mit nach oben kommen wolle. Auf ihre Dachterrasse – dem Ort, der ihn anscheinend zum Reden brachte. 

Mit fest zusammengepresstem Kiefer starrte Leo auf die Saar, in der sich die frühlingshafte Sonne spiegelte. Seine Haltung sprach von Anspannung und als Pia ihm eine Hand auf den Oberarm legte, zuckte er im ersten Moment zusammen, bevor er sich anscheinend bewusst wurde, dass nur sie es war, die neben ihm stand. 

Nur sie. Nicht jemand anderes. 

Das, was Leo Esther und ihr über Schürks Erpressung erzählt hatte, war mit Sicherheit nur die Spitze des Eisbergs, zumindest gewann Pia immer mehr den Eindruck. Sie war sich auch sicher, dass Leo ihnen viele Dinge, die Schürk ihm die letzten Monate angetan hatte, schlichtweg verschwieg. Aus Scham? Vermutlich. 

„Was ist passiert?“, fragte sie und Leo knirschte so laut mit den Zähnen, dass sie es bis hierhin hörte. 

„Schürk und Ross waren gestern Nacht bei mir. Sie haben mich damit konfrontiert, dass ich in Ross‘ alter Dienststelle war und den Leiter und seinen Kollegen nach ihm gefragt habe. Ross hat zu beiden noch Kontakt und anscheinend haben beide oder einer diese Information weitergegeben. Schürk hat als Strafe darauf die Häufigkeit unserer Treffen wieder hochgesetzt auf einmal die Woche. Und ich darf keine Ermittlungen in Richtung Ross mehr betreiben…ich soll nur noch sie fragen.“

Eingedenk Leos Geständnis, wie sehr er darunter gelitten hatte, dass Schürk es ihm aufgezwungen hatte, ihn jeden Tag sehen zu müssen, runzelte Pia besorgt die Stirn. Sie verstand auch mehr und mehr, mit welch ausgeklügeltem System Leo die letzten Monate über unter Druck gesetzt worden sein musste. Wie einsam und verzweifelt hatte er sich fühlen müssen, dass er den beiden Männern hilflos ausgeliefert gewesen war ohne mit jemandem darüber sprechen zu können.

Und dass die Ermittlungen, die er unter der Hand betrieb, ihm verdeutlichten, dass er niemandem trauen konnte - und dass er selbst von ihm fremden Personen an Schürk verraten wurde.

„Haben sie dir wehgetan?", fragte Pia besorgt, doch Leo schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich. Nicht mehr als sonst. Körperlich gar nicht. Sie haben mich nur unter Druck gesetzt."

Nur. Sorgenvoll schürzte Pia ihre Lippen.„Schaffst du es denn mit den Treffen?“, fragte sie und Leo atmete tief aus. 
„Habe ich denn eine Wahl? Wenn ich mich weigere, kommt er mit anderen Strafen um die Ecke. Das hier kann ich wenigstens nutzen um sinnvoll an Informationen zu gelangen. Zumal ich jede zweite Woche entscheiden soll, was wir machen.“
„Oh.“ Überrascht blinzelte Pia. „Das ist ungewöhnlich.“
Leo schüttelte den Kopf. „Ich musste schon einmal etwas aussuchen. Vermutlich will er mich austesten und weiter kennenlernen. Dadurch lernen, wer ich bin und das erreicht er durch meine Hobbys. Oder durch das, was ich bereit bin in meiner Freizeit zu tun. Vielleicht auch, weil er ein schlechtes Gewissen hat. Zumindest scheint es manchmal so.“
„Ein schlechtes Gewissen?“
Leo presste die Lippen aufeinander. „Er hat sich dafür entschuldigt, dass er mich geschlagen und gewürgt hat. Zweimal schon. Keine Ahnung, vielleicht ist es auch nur Taktik.“

Das glaubte Pia nicht, auch ohne, dass sie Schürk näher kannte. Jemand wie Schürk, der Leo derartig unter seiner Kontrolle hatte, hatte es nicht nötig, sich zu entschuldigen. Ganz im Gegenteil, er würde es sogar noch einmal machen, wenn sich die Gelegenheit bot. Doch anscheinend war das hier anders. 
Was, wenn Schürk tatsächlich eine Art von Reue empfand, zusätzlich zu seinem offensichtlichen Interesse an Leo? 

Das, was sie bisher über das Syndikat gewusst hatten, war nichts im Vergleich dazu, welche Möglichkeiten sich ihnen nun durch Leo eröffnet hatten. Ein direkter Zugang zu der sonst so verschlossenen Verbrecherfamilie. Vielleicht auch eine Einwirkungsmöglichkeit? Informationen, die ihnen weiterhelfen würden in ihrem Kampf gegen die organisierte Kriminalität?
„Glaubst du, dass man Schürk oder Ross umdrehen könnte?“, fragte Pia und stumm durchdachte Leo diese Möglichkeit. Ihr Vorschlag überraschte ihn noch nicht einmal, aber das hatte Pia auch nicht vermutet. Leo war mit einer der logisch denkendsten Menschen, die sie kannte. Natürlich würde er sich darüber Gedanken machen. 

„Ich weiß es nicht. Sie scheinen beide auf jeden Fall vermeiden zu wollen, dass die Person, die hinter ihnen steht, mich umbringt. Das haben er und Ross mir mehrfach gesagt. Also muss es jemanden geben, vor dem sie Respekt haben, dem sie aber nicht vollkommen hörig sind.“
Pia strich erneut über Leos Oberarm. Dieses Mal zuckte er nicht, sondern erwiderte ihren Blick fragend. 
„Wir werden nicht zulassen, dass dich jemand umbringt, ist das klar?“, stellte sie fest und ein minimales Lächeln huschte über seine Lippen. 
„Zumindest solange, bis ich ins Gefängnis gehe.“

Seine Antwort war noch nicht einmal sonderlich bitter und doch traf sie sie tief in ihrem Herzen. „Auch das ist noch nicht sicher, okay? Du bist auf unserer Seite, das zählt was. Du kooperierst und arbeitest mit, das hat der Richter positiv zu werten.“
Leo lächelte schmal. „Okay“, sagte er, aber hundertprozentig überzeugt war er nicht. „Wie dem auch sei, ich glaube, es ist der Patriarch.“
„Klingt wahrscheinlich, dass es der Vater ist. Was hältst du davon, es zu versuchen?“
„Was?“
„Schürk und Ross auf unsere Seite zu ziehen. Wenn Schürk versucht, dich kennen zu lernen, zeig ihm, wie gut die Seite ist, auf der wir stehen und wie gut er sich als Kronzeuge machen würde.“
„Auch als Kronzeuge müsste er ins Gefängnis, was sollte da der Anreiz für ihn sein?“

Pia räusperte sich. Die Saar bot ihr eine gute Ablenkung, aber nicht für lang, denn ihr kritischer und intelligenter Teamleiter hatte bereits eine Spur, der er nachgehen wollte. Er hatte eine Frage gestellt, auf die er gerne eine Antwort wollte.

„Du, Leo. Du bist der Anreiz“, erwiderte sie schließlich und sah vorsichtig in seine großen, runden Augen. „Anscheinend liegt ihm etwas an dir und deiner Meinung von ihm. Zeig ihm, womit er bei dir Fleißsternchen sammeln kann.“
„Womit er…ich…was? Aber…“ Sprachlos schluckte Leo und seine Gesichtsfarbe wurde bleicher. „Aber ich möchte nicht mit ihm schlafen.“ 
Pia erkannte ihren Fehler ein paar Sekunden später und sie schüttelte verbindlich den Kopf. „Darum geht es nicht, Leo. Du sollst mitnichten mit ihm schlafen. Du sollst ihm zeigen, was du von ihm erwartest. Nämlich, dass er ein guter Mensch sein und als Kronzeuge gegen das Syndikat dienen soll. Also beiden. Ross auch, aber ich nehme an, dass wir Ross bekommen, wenn Schürk auf unserer Seite ist.“
Leo nickte schwach. „Wie soll ich das bei Schürk denn hinbekommen?“

Sie lächelte. „Indem du einfach du bist, Leo. Indem du der gute, gesetzestreue Polizist bist, der es ihm unmöglich gemacht hat, dich zu bestechen.“
„Aber…aber ich kann nicht lügen.“
„Ist es das denn? Eine Lüge meine ich? Oder würdest du gerne sehen, wenn er gegen seine eigene Organisation aussagt und damit die destruktiven Strukturen durchbrochen werden, die soviel Leid bringen?“

Dass dem tatsächlich so war, erkannte Pia sehr deutlich auf dem ehrlichen und offenen Gesicht ihres Teamleiters.

„Ich will, dass er, nein, dass sie beide ins Gefängnis gehen für das, was sie mir und anderen angetan haben“, erwiderte er schließlich und Pia befand, dass das die beste Motivation war, die Leo haben konnte.  


~~**~~


Misstrauisch beäugte Hölzer Adams SUV. Vielmehr die hinten offenstehende Tür, welche ihn dazu einlud, sich auf die Rücksitzbank von Adams Mercedes zu setzen. Adam folgte dem Blick, konnte aber nichts feststellen, dass darauf hindeutete, was den Ermittler davon abhielt, sich auf die – wie er selbst wusste – bequemen Polster zu setzen. 

„Wo bringst du mich hin?“, fragte der andere Mann und Adam erkannte, was das Problem war. Sie trafen sich auf einem Pendlerparkplatz außerhalb von Saarbrücken, mitten im Nirgendwo. Hölzer sollte in ein anderes Auto umsteigen, nachdem Adam ihn so…intimsphärenverletztend geweckt hatte. 

„Wir fahren nach Frankreich und weil du mit Sicherheit nicht auf dem Beifahrersitz meines Wagens gesehen werden möchtest, bekommst du den Kindersitz hinten. Oder CEO-Sitz, je nachdem, was dir lieber ist.“
Keines von beidem stand deutlich in Hölzers Gesicht, aber er stieg ohne weiteres Murren ein. Adam tat es ihm gleich und schwang sich hinter das Steuer. Vincent saß neben ihm bereits auf dem Beifahrersitz und schickte ein kurzes Lächeln nach hinten, das an Hölzer abprallte wie ein Squashball an der Wand. 

Das letzte Mal, als sie in dieser Kombination in seinem Wagen gesessen hatten, hatte Adam hinten bei Hölzer gesessen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser sich heute aus dem Auto stürzen würde, war jedoch signifikant geringer als vor Monaten, so war warf Adam nur einen prüfenden Blick in das verschlossene Gesicht auf der Rücksitzbank. 
Er fuhr los und die ersten Kilometer verbrachten sie schweigend. Erst, als sie die französische Grenze hinter sich gebracht hatten, holte Adam den nachdenklichen Mann aus seinem blicklosen Starren in die vorbeifliegende Landschaft.

„Was ist mit deinem aktuellen Fall?“, fragte er und Hölzer sah ihm kurz in die Augen. 
„Wir haben noch keinen Verdächtigen“, sagte er knapp und Adam runzelte die Stirn.
„Wieso das?“
Hölzer musste überlegen, bevor er antwortete und als er es tat, war es mit weniger Widerstand wie am Anfang. Im ersten Moment brachte es Adam zum Lächeln, im zweiten wurde ihm damit jedoch auch etwas Anderes bewusst, das ihm nicht wirklich ein gutes Gefühl vermittelte. Hölzer machte das nicht freiwillig. Adam hatte schlichtweg den Widerstand des anderen Mannes gebrochen, was das Teilen von Informationen anging.

Die Erkenntnis dessen war bitter und fast hätte Adam abgewunken. Doch Hölzer war schneller. 

„Die Frau hatte keine Feinde, niemanden, der ihr augenscheinlich Böses wollte. Der klassische Ehemanntäter fällt aus Ermangelung eines Ehemanns aus. Die Zeugenaussagen sind harmonisch und legen nahe, dass die Frau eigentlich gar nicht hätte umgebracht werden dürfen.“ Ein Rapport wie abgespult, einstudiert, wenig aussagekräftig.

Wie gut, dass es kein Fall war, der das Syndikat betraf.

„Habt ihr die Hobbys der Frau gecheckt?“, fragte Adam und las Überraschung auf Hölzers Gesicht. 
„Noch nicht.“
„Lose Freundschaften, von denen ihre Kaffeeklatschfreundinnen und Kundinnen nichts wussten?“
„Haben wir noch nicht geprüft.“
„Was ist mir ihrem Geschäft, hat das online schlechte Bewertungen?“
„Nein, wir…“ Hölzer stockte, mit einem Mal misstrauisch. „Was wird das? Gehört das Opfer zu euch? Gehört der Täter zu euch?“
Adam grinste. „Nein, deswegen interessiert’s mich ja so.“

Dass das nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß, sah er. „Naja, sie wurde eben in ihrem Laden umgebracht. Mit einer ihrer Stricknadeln“, griff er Hölzers ersten, widerwilligen Report auf. „So wie die Bilder vom Tatort aussahen, ein Akt präziser Gewalt, die mit aller Ruchlosigkeit durchgeführt worden ist.“ Adam runzelte die Stirn. „Vielleicht ein konkurrierender Strickwarenladenbesitzer?“

Hölzers Blick teilte ihm durchaus mit, was der Ermittler von seinen Fähigkeiten hielt, Fälle zu lösen. Nichts wäre da noch positiv formuliert. 
„Habt ihr die schon gecheckt?“, schob Adam zur Sicherheit nochmal nach und Hölzer grollte. 
„Nein. Wir haben uns auf das familiäre und Freundesumfeld konzentriert“, erwiderte er und Adam hob die Augenbraue. 
„Aber ist das nicht ein bisschen eindimensional? Ich meine, wenn sich da schon keine Spur ergibt, dann sollte man doch weitere Kreise ziehen und auch kreativer denken.“
„Eindimensional…“

Neben ihm sah Vincent Adam mit großen Augen an und formte seine Lippen zu so etwas wie einem Sei besser still. Vielleicht auch zu einem Was soll das?. Ganz sicher war Adam sich da nicht. 

„Wir denken schon kreativ genug, danke“, murrte der Ermittler auf seinem Rücksitz und Adam machte eine lapidare Handbewegung. 
„Überprüf die umliegenden Wollläden und ob das Opfer vorhatte, da zu expandieren, und das jemandem nicht passte.“ 

Hölzer starrte ihn an, als wäre er der persönliche Anti-Christ. Das an sich war nichts Neues, aber nun mischte sich auch noch die Art von Fassungslosigkeit unter die Missbilligung, die Adam am Liebsten hatte. Hölzer hatte im Leben nicht damit gerechnet, dass er plötzlich von der Seite mitermitteln würde. Er hatte mitnichten damit gerechnet, dass Adam etwas Anderes wollte als schnöde Informationsweitergabe. 

Und hier war er. Feuer und Flamme für den Fall. 

„Also ich find’s spannend. Und ich glaube, ich weiß, wer der Mörder ist.“
„Wenigstens einer“, entfuhr es Hölzer genervt, bevor er sich davon abhalten konnte und Adam sah grinsend wieder nach vorne. 

Er hätte nicht gedacht, dass es soviel Spaß machen würde, sich vorzustellen, wer es war und sich die Informationen zusammen zu suchen. Er wollte das öfter machen, beschloss Adam und Vincents minimales Kopfschütteln zeigte ihm, dass er durchschaut war und das Vincent da ganz mit Hölzer übereinstimmte, was das Mitermitteln anbetraf. 

Adam sah da weniger ein Problem. Sie würden Hölzer und seinem Team noch oft genug in die Suppe spucken, da konnte er in ungefährlichen Fällen ruhig mitermitteln und Hölzers Fall lösen…als Ausgleich für alle Fälle, die er ihm versauen würde. Zumal es Hölzer von Vincent ablenken würde, wenn Adam ihn wieder und wieder auf seine Fälle ansprach. Zumindest war das Adams Hoffnung. 
 
Zwei Fliegen mit einer Klappe. 


~~**~~


Hölzer stand staunend inmitten der Lichter in dem abgedunkelten Raum und nutzte die vermeintlich unbeobachtete Minute dazu, sich mit großen Augen im Kreis zu drehen und einzelne Lichterketten mit seiner rechten Hand anzustoßen. Adam stand derweil halb verborgen am Rand der Installation und beobachtete den anderen Mann dabei, wie er nicht zum ersten Mal an diesem Tag vergaß, mit wem er hier im Musée des Beaux-Arts in Nancy war. 

Der Anfang war zugegebenermaßen holprig gewesen und dass Hölzer überhaupt außerhalb Saarbrückens freiwillig in Adams Auto gestiegen war, grenzte immer noch an ein Wunder. Dass sie über Hölzers Fall gesprochen hatten, war spannend, ihr Besuch im Museum war aber spannender und Adam schmunzelte schon über einige der Fälschungen, die hier hingen. 

Die Originale hatten sie schon längst über Umwege erhalten und an interessierte Liebhaber weitergegeben, die bereitgewesen waren, dafür eine richtig große Summe Geld zu bezahlen. Das wusste der ihn begleitende Polizist natürlich nicht und so widmete er sich nach den ersten, misstrauischen Minuten, was denn von ihm erwartet werden würde, ganz der Kunst um sich herum.

Adam wiederum widmete sich gänzlich der Kunst vor sich und beobachtete Hölzer in seinem natürlichen Habitat. Er saugte dessen Reaktionen in sich auf, dessen ehrliches Interesse und, wie er nun auch erkannte, wohl versteckte Begeisterung. 

Hölzer war jemand, der jedes Exponat und jedes Bild einer Ausstellung einer genauen Inspektion unterzog und Adam hatte ihren heutigen Zeitplan geistig schon über den Haufen geworfen. Vincent hatte dem murmelnd zugestimmt und Bastian geschrieben, dass er das Essen heute Abend um mindestens zwei Stunden verschieben und vielleicht etwas kochen sollte, was man warmhalten konnte. Keinen Eintopf.  

Adam ließ es sich nicht nehmen und machte von seinem lichterbeschienen, hauseigenen Polizisten inmitten von hunderten sternengleichen Lichtern gleich noch zwei Bilder, ohne dass dieser es mitbekam. Die Nahaufnahme von Hölzers seitlichem Profil glückte ihm dabei besonders und Adam grinste zufrieden. 

Sie gingen weiter und Adam stellte wieder einmal fest, dass er mit moderner Kunst nicht wirklich etwas anfangen konnte. Auch nicht mit den nackten Fischern, die mit ansprechenden Körpern ihrer Arbeit nachgingen. Suzanne Valadon hatte sich da ordentlich ausgetobt, befand Adam und auch Hölzer verharrte länger als erwartet vor dem Bild. 

„Na, Lust auf nackte Männerkörper?“, fragte Adam das, was am Ehesten eine ehrliche Reaktion inklusive Wut hervorrufen würde und im ersten Moment schien es, dass Hölzer über seine Anwesenheit irritiert war. Indigniert kräuselte Adam die Nase. Ernsthaft? Zwei Stunden im Museum und er war als Bedrohung aus Hölzers Gedanken gestrichen worden? Danke auch. 

Wobei er den anderen Mann vor Monaten auch in Ruhe dabei hatte beobachten können, wie dieser sein Bücherregal durchstöberte, also ja, anscheinend gab es Momente, in denen Hölzer seine Umgebung ausblendete. Sie waren nicht klug gewählt, aber es gab sie. 
„Nein“, grollte Hölzer schließlich vorhersehbar. „Außerdem handelt es sich dabei um ein und dieselbe Person, in verschiedenen Posen. Der Liebhaber der Künstlerin.“ 

Klugscheißer. 

Letzteres hatte Hölzer gerade von der Informationstafel abgelesen, aber Adam ließ es ihm durchgehen. 

„Mir fehlen die Details in dem Bild“, erwiderte Adam mit gerunzelter Stirn und es war noch nicht einmal gelogen. „Der Coypel von gegenüber gibt mir da mehr“, deutete er auf die Zerstörung des Palastes von Armida und Hölzer folgte seinem Blick. Lange Zeit betrachtete er das opulente Gemälde, die Stirn kritisch zusammengezogen. 
„Was gefällt dir daran?“, fragte er schließlich und überraschte Adam mit dem in der Frage enthaltenen Interesse. 

Für gewöhnlich war Hölzer wenig zugänglich. Seine Fragen bezogen sich meist auf das, was Adam an illegalen Dingen tat oder auf Versicherungen, dass Adam ihm nicht wehtun würde. Diese Frage hier und dass er nun offenes und auch ehrliches Interesse an Adams Sichtweise zeigte, war…erstaunlich. Es war ein Novum und Adam konnte nicht sagen, dass es ihm missfiel.

„Die Gesamtkomposition, die Details, die Farben, das Schattenspiel, die dreidimensionalen Körper“, erwiderte er entsprechend ausführlich und Hölzer sah wieder zurück. 
„Es ist so unrealistisch“, merkte er wie in Gedanken an und Adam schnaubte.
„Ach? Engel mit Flügeln, die Teile von Säulen fliegend wegtragen sind unrealistisch? Wie kommst du denn darauf?“, spottete er sacht und erntete ein Augenrollen.  
„Außerdem ist es so…trostlos.“
„Trostlos?“ Wie in aller Welt kam Hölzer denn darauf?
„Die Farben, alles ist ein wenig Ton in Ton, es gibt wenig Abwechslung in der Szenerie. Der Himmel ist auf der einen Seite sehr blass und wird dann schnell dunkel.“

Hölzer untermalte seine Worte mit seiner Hand, die in sicherem Abstand das nachfuhr, was er als These in den Raum gestellt hatte. Adam missachtete eben das zugunsten von Hölzers Mimik. Zum einen, weil er das Bild in- und auswendig kannte. Zum anderen weil er durchaus gefangen war von der verbindlichen, aber auch melodischen Stimme, die ihm Hölzers Sichtweise erklärte, die sich aus keinem Dokument erschloss, das sie sich im Vorfeld zu Hölzers Erpressung angeeignet hatten.

Er war gefangen von der kritischen Art, wie Hölzer die Dinge um sich herum sah, wie er sie wahrnahm. Davon, so stellte Adam fest, wollte er mehr. Deswegen reichten ihm Hölzers emotionale Reaktionen noch nicht. Er wollte seine Gedanken kennenlernen und wissen, wie der andere Mann über die Welt dachte.

Nicht unbedingt über die gleich kommenden, langweiligen Glaskrüge, aber so grundsätzlich. 

 

~~~~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 23: Tauschgeschäfte

Notes:

So und hier nun auch der neue Teil. Es hat etwas länger gedauert, aber nun ist er da. Ich hoffe, er gefällt und wünsche euch sehr viel Spaß beim Lesen! Vielen lieben Dank an dieser Stelle nochmal für die Kudos, Klicks und Kommentare *hugs*

Chapter Text

 

„…und dann wollte er wissen, ob wir uns die anderen Wollläden angesehen haben. Und hat dann darauf gedrängt, dass ich das nachhole“, schloss Leo zähneknirschend seinen Bericht über das Wochenende und nahm einen Schluck Kaffee aus der Tasse, die Pia und Esther ihm zu Weihnachten geschenkt hatten. Er hatte heute Morgen gezögert, sie zu nehmen und seine Finger dann zurückgezogen. Pia hatte ihm daraufhin ohne Kommentar die Tasse vollgemacht und in die Hand gedrückt. 

„Ein Team“, hatte sie schlicht gesagt und sich auf ihren Stuhl fallen lassen um seinem Bericht zuzuhören. 

Es war erleichternd, dass sie offen sprechen konnten. Zwei Techniker des MEK aus Nordrhein-Westfalen hatten den Raum unter dem Vorwand von Wartungsarbeiten nach Wanzen und Kameras abgesucht und nichts gefunden. Das war beruhigend, dennoch war Leo weiter vorsichtig, dass Schürk und Ross nichts erfuhren. Schließlich wussten weder er und noch die SoKo, wer noch von Schürk bestochen oder erpresst wurde. 

„Was soll das denn? Hat er damit etwas zu tun?“
Leo zuckte mit den Schultern und schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf. „Es scheint eher so, als würde es ihm Spaß machen.“
Esthers Blick sagte ihm, wieviel sie von seiner These hielt – nämlich gar nichts. „Falscher Weg, den er dafür eingeschlagen hat“, schnaubte sie verächtlich und Leo konnte ihr nur zustimmen. 
„Aber eigentlich hat er Recht, oder?“, warf Pia ein und Esther bewarf sie dafür mit der zusammengeknüllten Hörnchentüte. Das Papier prallte an Pias Stirn ab und rollte zu Leo, der es mit vielsagend hocherhobener Augenbraue am Papierkorb vorbeiwarf. 

„Guter Wurf, Hölzerchen“, lobte Esther trocken und Leo zog instinktiv eine Grimasse, sich im nächsten Moment nicht sicher, ob es ihm noch zustand. Esther schenkte ihm Sekunden später eine ähnlich kindische Antwort und Leo verwarf den Gedanken wieder. 
„Wir sollten die anderen Besitzerinnen und Besitzer überprüfen und zumindest mal ihre Verbindungen zum jetzigen Opfer checken.“

Eines hatten Esther und Leo gemein: Sie beide starrten Pia so missmutig an, als hätte diese vorgeschlagen, dass es eine gute Idee wäre, Schürk ins Team zu holen, damit er weitere seiner Ideen in den Orbit blies. 


~~**~~  


Das Messer in Adams Hand wog schwer. Gedankenverloren starrte er auf die Klinge und drehte den Holzgriff, um es von allen Seiten beschauen zu können. Es war eines der größten Messer, die er besaß und er erinnerte sich genau, wie es sich angefühlt hatte, als er seine Finger über Hölzers gelegt hatte und durch dessen Hand das Messer gespürt hatte. 

Vor Monaten war es gewesen, ganz am Anfang ihres erzwungenen Kennenlernens. Beinahe ein Jahr her war es nun. Der Ermittler hatte Adam unterstellt, ein Mörder zu sein und die Retourkutsche dafür bekommen. Eine Drohung ohne körperlich brutal zu werden, ein notwendiges Statement, das Adam körperlich nahe an Hölzer herangebracht hatte.  

In der Zwischenzeit war so viel geschehen, dass Adam sich nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt noch nach irgendeiner ihrer eigentlichen Regeln spielten. Ihm schien es nicht so, nicht mit Hölzer und Vincent regelmäßig in seiner Nähe. 

Argwöhnisch hatte Adam Hölzers Verhalten die letzten drei Treffen über belauert, immer in Beobachtungsposition, ob der Ermittler wieder überkochen würde. Ob es zuviel werden würde für Hölzer, ihn so oft zu sehen. Adam achtete auf jedes Schweigen, auf jeden abgewandten Blick und erkannte doch keine Warnzeichen. Vincent ebenso wenig und es passierte das Gegenteil. Hölzer stellte Fragen. Am Anfang zögerlich, als müsse er um jede Silbe kämpfen und als würde er es nicht gerne tun, aber verlangte nach Informationen von Adam und Vincent. Immer mal wieder. Er hörte auf die Antworten, die sie beide ihm gaben. Er hörte mehr auf die Antworten, die Vincent ihm gab. Was findest du daran?, war eine Frage, die Adam während ihrer letzten Treffen öfter gehört hatte. Mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen, mit angespannten Schultern. Adam wiederum regelte seine arroganten oder zynischen Antworten auf diese Fragen hinunter.  Gut, nicht immer, aber er versuchte, mit Vincents Anleitung, nicht allzu viel zu zerstören und Hölzer reagierte darauf. 

So auch heute und Adam schnitt das Obst für den Obstkorb, während die anderen Beiden sich über die aktuellen Informationen in der Dienststelle unterhielten. Unter anderem darüber, dass Hölzers Team tatsächlich auch die anderen Strickwarenladenbesitzer überprüft hatte. Brav, auch wenn es noch kein Ergebnis gegeben hatte. 
Hölzer sprach besser auf Vincent an, wenn es um Informationsweitergabe ging und so hatte Adam ihm diesbezüglich das Feld überlassen – zumindest für heute. 

Das war nicht der einzige Grund, warum er das Wohnzimmer verlassen hatte und der zweite von Dreien kündigte sich nun mit verräterischem Klacken auf seinem Holzboden an und schob seinen massigen Kopf um die Ecke, mit dem dummen Gummihuhn in einem sabbernden Maul. 
Das Tier war wie angekündigt hier und Adam wusste immer noch nicht, was er davon halten sollte. Seit die Dreckssau ihm das bissige Vieh auf den Hals gehetzt hatte, konnte Adam die Anwesenheit von großen Hunden schwer ertragen. Eigentlich bis Weihnachten gar nicht. 

Und bis auf gezwungenermaßen diesen Köter hier, den Hölzer in sein Leben gezwängt und gequetscht hatte und der sich nun auf seiner Couch und in seinem Wohnzimmer breit machte mit seinen langen, ungeschickten Beinen und seinem massigen Körper.

Und seinem Gummihuhn, mit dem das Tier jetzt quietschte, während es ihn aufmerksam beobachtete. 
 
Missmutig starrte Adam den Hund an, den er anscheinend mit seinen Geräuschen angelockt hatte und der nun der Meinung war, er würde mit ihm und dieser besabberten Lächerlichkeit eines Spielzeuges spielen.

Als wenn Adam auch nur in Erwägung ziehen würde, seine Finger in Richtung des Hundes oder des Huhns zu bewegen. 

Nur dass der Drang des Köters, ihm nahezukommen, anscheinend größer war als dessen Angst vor ihm. Langsam kam er näher, seine absurd braunen Augen auf Adam gerichtet. Er quietschte erneut mit dem Huhn und legte es dann viel zu nahe vor Adam ab. 

„Aha.“ Nicht das Klügste, was ihm jemals eingefallen war, aber er hatte den irrwitzigen Drang sich vor dem zu ihm hochsehenden Tier zu rechtfertigen. „Und jetzt?“

Der Hund sah das Huhn an, dann ihn, dann die Anrichte, auf der das Obst lag. Das besabberte Ding zu seinen Füßen war eine Spielaufforderung, befand Adam und schob erst einmal die Weintrauben aus der Reichweite des Tieres. „Meine“, sagte er der Kopf des Hundes wandte sich ihm zu, eines der absurd großen Ohren fragend erhoben. 
Vorsichtig wurde er gemustert, ebenso vorsichtig starrte er zurück. Wieder sah der Hund auf das Huhn.

„Ich werde das Ding nicht anfassen, das kannst du vergessen. Und hast du nicht dein eigenes Futter? Dein Herrchen ist doch mit deinem ganzen Hausstand hier eingezogen.“ Als er Hölzer gefragt hatte, ob er plante, bei ihm einzuziehen, hatte er sich ein hochgradig unerfreutes Grollen eingehandelt. Adam fand immer noch, dass die riesige Tüte mit Futternäpfen, Futter und der Hundedecke schon darauf hindeutete. Dass Hölzers Horrorvorstellung, hier zu wohnen, mit dem nicht übereinstimmte, war Adam klar. 
 
Die Rute des Tieres schlug einmal probeweise und vorsichtig setzte er noch eine Pfote auf das Huhn, gab eines seiner dunklen Grunzen von sich. Wieder sah er auf die Anrichte und kam dieser näher. Dieses Mal schien es ihm mit einem kurzen Seitenblick einer der Äpfel angetan haben. Auch den schob Adam weiter weg und ein leises Winseln entkam dem sabbernden Riesenmaul. Der Hund sah von ihm zum Apfel und wieder zurück und Adam hob die Augenbraue. Wieso kam ihm das Vieh jetzt überhaupt so nahe? 

Und…noch näher. 

Wie erstarrt sah Adam zu, wie dieser kalte, feuchte Schnauze gegen seine Hand stupste. Vorsichtig gar, bevor der Hund einen Satz zurückmachte, wieder einmal erschrocken über seine eigene Courage. 
„Feigling“, sagte Adam schnaubend und wusste nicht, wen von ihnen beiden er meinte. Vielleicht war er deswegen auch eher geneigt dazu, seine Hand auszustrecken und mehr Mut zu zeigen als sonst. 

Misstrauisch wurde er belauert und schlussendlich näherte sich der Hund seiner Hand und roch an den Fingern, leckte mit seiner Riesenzunge darüber. Dieses Mal ging er nicht stiften, sondern schlug mit der Rute, während er erwartungsvoll zu Adam hochstarrte. 

Wenn er seine Finger bespeichelte, würde er ihn wohl nicht beißen, befand Adam mit zittriger Unsicherheit und legte vorsichtig seine Hand auf den Kopf des Tieres. Auch das wurde nicht mit Aggression beantwortet und Adam gestattete sich das Gefühl des weichen, grauen Fells unter seinen Fingern. 
Das schien dem Hund zu gefallen und er kam wieder näher, befand sich nun nur noch ein paar Zentimeter von seinem Bein entfernt. 
„Sabber mich ja nicht an“, warnte Adam und sah ruckartig hoch, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. 

Hölzer stand unweit des Türrahmens im Flur und sah mit viel zu aufmerksamen Augen zu Adam und dem Vieh. Seine Lippen waren nicht ganz so fest aufeinandergepresst wie sonst und es standen Fragen in seinem Gesicht, die Adam nicht beantworten wollte. 
„Kommst du mit ihm klar?“, stellte er eine von ihnen und Adam grollte. 
„Bisschen spät für die Frage.“
„Warum? Ihr scheint euch gut zu verstehen.“ Hölzer sah auf Herbert, der gerade, die günstige Gelegenheit nutzend, im vermeintlich unbeobachteten Moment seinen massigen Kopf in Richtung Anrichte schob. 
„Herbert, nein“, sagte er streng und ein Schaudern durchlief Adam. 

Ob Hölzer auch woanders streng sein konnte? 

Adam ließ seinen Blick über die heutige Kleidungswahl seines persönlichen Polizisten schweifen. „Schönes Shirt im Übrigen. Hätte ich früher gewusst, dass du in allem anderen so gut aussiehst, hätte ich dir niemals nur das Weiße auferlegt“, sagte er um seine Lust in etwas Harmloseres zu kanalisieren und Hölzer davon abzubringen, ihn auf Herbert anzusprechen. Die Provokation wirkte und Adam konnte praktisch sehen, wie die Gedanken des anderen Mannes in einer Nadelöhrkurve von ihrem Pfad abkamen. 
„Spannend. Dabei hätte ich gedacht, dass du meinen Kleiderschrank genauso durchwühlt hättest wie alles andere auch.“

Hölzers zynischer Ton ließ Adam lächeln. „Nein“, sagte er und sah auf Herbert herunter, der unsicher zwischen ihnen beiden hin- und hersah. Seine Rute deutete auf Vorsicht, wenn nicht sogar Angst hin. „Soll ich’s nachholen?“
Der Ermittler vor ihm erkannte auch, dass es dem Hund gerade nicht gut ging und atmete bewusst aus, ließ Adams Frage im Äther verschwinden, ohne ihr eine Antwort zu schenken. Er ging in die Hocke und streckte die Hand aus. 
„Komm zu mir“, lockte er Herbert sanft zu sich und der Hund drückte sich an ihn. „Alles ist gut“, murmelte Hölzer die Lüge, die deutlich in seinen Augen stand. 

Adam rollte mit den Augen und widmete sich wieder seinem Messer und dem Obst.

Der dritte Grund, warum er das Wohnzimmer eigentlich verlassen hatte, war die Dreckssau und die Schläge, die seinen Rücken vor zwei Tagen zu wund gemacht hatten um lange sitzen zu können. Aber Hölzer wollte heute eines seiner Gesellschaftsspiele spielen, also spielten sie. Nachdem sie heute bereits das Baumhaus zuende gebaut hatten. 

Mit dem Ergebnis, dass der Baum nun grüne Sommerblätter aufwies, weil es Hölzer so wollte. Dafür hatte Adam eines der Männchen – die Mutter der klassisch heterosexuellen Familie – nun Leo getauft und auf die Ähnlichkeit zwischen der Figur und dem Original hingewiesen.  

„Wolltest du nicht die zweite Runde des Spiels vorbereiten?“, fragte er lapidar, als Hölzer keine Anstalten machte, sich zurück ins Wohnzimmer zu begeben. Der andere Mann zuckte mit den Schultern und deutete auf das Gummihuhn. 

„Das ist ein Tauschgeschäft“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen und Adam bewegte diesen Satz stirnrunzelnd in seinen Gedanken. Was sollte er mit dem ollen Huhn anfangen?
„Wofür das denn?“, schnarrte Adam entsprechend unfreundlich und Hölzer nickte mit seinem Kinn knapp zur Anrichte. 
„Herbert mag Essen. Er hat dir das Huhn vorbeigebracht, damit du ihm etwas davon abgibst.“
„Was bin ich, die Wohlfahrt?“

So vielsagend, wie Hölzers Augen auf ihm ruhten, brauchte Adam keine Antwort. Nicht eine Silbe. Lieber widmete er sich da dem Hund selbst, der sich mit einem Winseln an Hölzers Oberschenkel drückte und Adam sich wie den schlimmsten Menschen fühlen ließ. 
Was zum Teufel. 

„Hol dein Huhn, wir gehen zurück“, murmelte Hölzer sanft und das passte Adam nun ganz und gar nicht. Er war hier der Aggressor, weil er dem Hund keinen Tauschhandel gönnen wollte. Ein Apfel gegen ein angesabbertes Huhn. Na toll. 

Grollend griff er zu dem Obst und hielt es dem Hund unwirsch hin. „Dann nimm eben“, sagte er und kam sich komisch vor, mit dem Tier zu sprechen, das ihn mit Sicherheit nicht verstand. 
Erst danach wurde er sich bewusst, was er getan hatte und in welche Nähe der Zähne er sich damit begeben würde. 
Wie gut, dass Hölzer ihn davon abhielt und ihm den Apfel aus der Hand nahm.

„Der Grutzen ist giftig für ihn. Nur das Fruchtfleisch“, wurde er stirnrunzelnd zurechtgewiesen und Adam verzog missmutig die Lippen. Nun war er es, der Hölzer den Apfel aus der Hand rupfte und ihn mit knapp kalkulierten Bewegungen zerschnitt, sorgsam das Kerngehäuse entfernend. 
Wortlos drückte er Hölzer alle Stücke in die Hand und nickte in Richtung Köter, dessen Schnauze, voreilig wie sie war, seine Hand abschleckte, weil sie glaubte, dass Adam ihn füttern würde. Mit Sicherheit nicht.  

Adams Finger zuckten und Hölzer, der verdammte Idiot, nutzte das aus um ihm ein Stück Apfel hinzuhalten, die Aufforderung dahinter klar in seinen Augen. Das Vieh sah ebenfalls zu ihm hoch, nicht zu Hölzer, der das verfluchte Stück Apfel in den Händen hielt. 

Es war eine Aufforderung, ein Testen, ein Kräftemessen. Es war die Rache dafür, was er Hölzer angetan hatte. Adam konnte nicht kneifen, auch wenn er vor seinem inneren Auge gleich mehrere Finger verlieren würde. 

Mit festem Blick auf Hölzer traf er eine Entscheidung und griff sich das Stück Apfel. Er führte es an seine Lippen und biss es zur Hälfte ab. Die andere Hälfte hielt er vorsichtig dem riesigen Maul hin, das mit ungeahnter Vorsicht danach griff. Die Lefzen des Viehs legten sich um seine Finger und die raue Zunge holte sich das Stück, ohne die riesigen Zähne zu benutzen. Die kamen erst zum Einsatz, als der Hund sich von ihm soweit entfernte, dass er in Ruhe auf seinen Küchenboden sabbern konnte…und die auf den Boden fallenden Apfelstücke auflecken konnte.

Adam starrte auf seine feucht glänzende Hand und sagte sich, dass es besser gelaufen war als gedacht. Dass Hölzer von ihm nun anscheinend auch noch erwartete, dass er die restlichen drei Viertel des Apfels an das Vieh verfütterte, war beinahe schon vorhersehbar. 

Nicht vorhersehbar war das Vieh, das ihn jetzt beinahe so ansah, wie es auch Vincent ansah. Eben so, als ob Adam ihm nun auch mehr als nur einen Funken an Aufmerksamkeit schenken würde. 


~~**~~


„Bring doch mal den Adam mit. Er war schon lange nicht mehr bei uns“, sagte seine Mutter natürlich genau in dem Moment, als Leo den Kuchen in seinem Mund kaute und sich erst einmal daran verschluckte. Hustend und mit Tränen in den Augen versuchte er, die Krümel des Streuselkuchens in die richtige Röhre zu bekommen und nicht daran zu ersticken, während seine Gedanken zu einem unschönen Stillstand gekommen waren. 

Herbert, der bisher mit wachem Auge neben ihm gesessen hatte, versuchte nun, mit seiner riesigen Zunge zu helfen und Leo hatte für einen kurzen Moment mit atmen und den Hund avon abhalten, ihm die Zunge durchs Gesicht zu ziehen alle Hände voll zu tun, bevor er wieder atmen konnte und einen guten Schluck Wasser nahm. 

„Nein, Mama“, presste er hervor und mied den aufmerksamen Blick seines Vaters, der dem Ganzen schweigend beiwohnte. 
„Warum denn nicht?“, fragte sie und strich ihm besorgt über den Rücken. „Geht’s wieder?“
Leo nickte und blinzelte die Tränen weg, strich Herbert beruhigend über den Kopf und schob eben jenen gleichzeitig weg von seinem Kuchen. Der Miese. 

„Weil er viel zu tun hat“, sagte Leo und gelogen war das nicht. Es war nur nicht der Grund. Warum sollten seine Eltern Schürk sehen wollen? Was sollte er nochmal hier? Mitnichten würde Leo das tolerieren, dass der blonde Mann seiner Familie noch einmal näherkam. Weihnachten hatte gereicht. Es reichte, dass er Schürk jedes Wochenende sah – ein Umstand, den Leo nur deswegen ertrug, weil er eine Aufgabe und ein Ziel hatte und weil Schürk sich nicht wie das hinterletzte Arschloch verhielt. Ein Fortschritt in der sonstigen Persona des anderen Mannes.  

Dass er nun… nein. 

Nein. 

„Wir könnten auch einfach mal essen gehen?“, schlug seine Mama vor und in Leos Gedanken entstanden ganz andere Horrorszenarien, die allesamt auf ein katastrophales Ergebnis hinausliefen. Er wollte Schürk nicht in der Nähe seiner nichtsahnenden Eltern. 
„Er ist wirklich viel beschäftigt, Mama“, versuchte er sich an einem Widerspruch und sah die aufkommende Enttäuschung in ihrem Gesicht. 
„Aber er war so nett und er hatte so viel Spaß bei uns.“
Da war er auch der Einzige gewesen. Spaß. Genau. Schürk hatte Spaß gehabt. 
„Schlag’s ihm doch mal vor. Vielleicht findet er ja die Zeit.“

Leo belog seine Eltern wirklich nicht gerne. Er war auch schlecht darin, zumindest laut ihrer Aussage. Und der aller anderen. Aber er würde nicht weiter diskutieren, ob Schürk nun von seinen Eltern eingeladen wurde oder nicht. Und schon gar nicht, ob sie essen gehen würden. Zumal er eigentlich Panik davor haben müsste, aufzufliegen, indem er mit Schürk und seinen Eltern essen ging. 

„Mach ich“, presste er hervor und seine Mutter musterte ihn aufmerksam. Leo grollte. „Ja, wirklich!“

Mit Sicherheit nicht. 


~~**~~


„Marianne, kannst du mir bitte mal die Akte der Pfaffenkopfstraße geben?“, fragte Georg die ganz in schwarz gekleidete Mittfünfzigerin, die ihm bis zur Schulter ging. Schwarz war ihre Leidenschaft und Georg kannte niemanden, der so viel schwarze Dinge besaß, wie seine Arbeitskollegin. 
Ihre schwarzen Fingernägel mit den schwarzen Strassblumen waren ein absurder Kontrast zu dem dicken, in die Jahre gekommenen Aktenordner, den sie nun über den Tisch hievte. 
„Ist das immer noch nicht abgeschlossen?“, stöhnte sie und Georg brummte. 
„Nein. Das Architekturbüro baut einen Mist nach dem anderen.“
Sie rollte mit den Augen und Georg brummte aufmunternd. Georg schlug den Aktendeckel auf und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung in ihrem eigentlich ausgestorbenen Flur. Neugierig folgte er dieser und erkannte Schürk, der gerade versuchte, sich an seinem Büro vorbei zu stehlen, anscheinend wieder einmal auf dem Weg zu seinen Kolleginnen und Kollegen. Georg wusste genau, warum, und stirnrunzelnd lehnte er sich zurück. 

Heute war fast keiner da, sie waren ausgedünnt durch Urlaub und Krankheit. Magen-Darm, anscheinend beim gemeinsamen, vorgestrigen Mittagessen übergesprungen. An ihm war das Ganze zum Glück vorbeigegangen und bot Georg nun die Möglichkeit, seiner Frau ihren Wunsch zu erfüllen und zu sehen, ob der blonde Mann sich genauso wand wie sein Sprößling.
Georg erhob sich und trat in den Flur hinaus. 
„Da ist heute niemand. Eigentlich die ganze Woche nicht mehr“, sagte er und der Mann im schwarzen Anzug und lässig in den Hosentaschen gesteckten Händen drehte sich mit einem arroganten Lächeln zu ihm um. Es erlosch in dem Moment, als er Georg erkannte und seine Mimik auf beinahe offen und ertappt wechselte. Schürk wurde abrupt vorsichtig, insbesondere, als Georg jetzt auf ihn zukam. 

„Kann ich etwas ausrichten?“, fragte er verbindlich, aber mit warnendem Unterton und stumm wie ein Fisch schüttelte der blonde Mann den Kopf.
„Nein, dann komme ich nächste Woche wieder.“ Natürlich, weil Georg mit seinem Polizistensohn nicht erfahren sollte, was Schürk trieb. Als wenn er das nicht ohnehin schon wüsste. 

Georg brummte. „Sie sind anscheinend in der letzten Zeit schwer beschäftigt“, merkte er an und überrascht runzelte Schürk die Stirn. Die Hände in seinen Taschen ballten sich zu Fäusten und Georg erkannte, wie unwohl der andere Mann sich fühlte. Warum das so war, konnte er nur erahnen. Ein Mann gleichen Alters wie sein Vater… die Angst musste tief sitzen. 
„Wie meinen Sie das?“
„Mein Sohn sagte, dass Sie viel zu tun haben.“
Irritiert schürzte Schürk die Lippen. „Hat er das?“
„Hat er nicht mit Ihnen über die Einladung meiner Frau gesprochen?“
In Schürks Augen stand die Verneinung, noch bevor er den Mund aufmachte. „Nein, hat er nicht. Welche Einladung?“
„Meine Frau möchte Sie gerne zum Kaffee einladen. Leo meinte, Sie wären sehr beschäftigt, er wollte allerdings mal nachfragen.“

Die Überraschung in Schürk war echt, erkannte Georg. Die großen, blauen Augen machten ihn weniger arrogant und überheblich, sie schienen den Jungen dahinter zum Vorschein kommen zu lassen. 
„Nein, das hat er nicht. Allerdings hatten wir beide auch stressige Tage. Das ist wahrscheinlich untergegangen.“
Schürk war kein so schlechter Lügner wie Leo, aber nichtsdestotrotz ein Lügner. Gerade jetzt erkannte Georg das sehr deutlich an der kurzen Unsicherheit in Schürks Stimme. Es war ein weiterer Punkt auf seiner Liste der Ungereimtheiten, was die Beziehung seines Sohnes mit diesem Mann anbetraf. 

„Wie wäre es mit diesem Samstag?“
Schürk überfuhr das völlig. Er blinzelte, öffnete die Lippen, schloss sie wieder, öffnete sie wieder und schluckte dann. Er zuckte mit den Schultern und holte seine Hände aus den Taschen. 
„Okay. Ja, das ist okay“, sagte er dann und Georg lächelte verbindlich. 
„Schön. Drei Uhr nachmittags ist Ihnen recht?“
„Äh ja. Wenn es… Leo auch recht ist, dann ja.“
„Besprechen Sie das mit ihm?“
„Ja, das werde ich. Mit Sicherheit.“
„Schön. Meine Frau und ich freuen uns“, ließ Georg eine subtile Warnung in seine Worte einfließen und nickte knapp. Schürk starrte ihn an und nickte dann ebenfalls, eine Geste, die nicht mehr als ein Spiegel des gerade Gesehenen war; nichts Eigenes. 

Georg drehte sich um und kehrte zu Marianne zurück, die anscheinend einen ungeliebten Anrufer am anderen Ende der Leitung hatte und so oft die Augen verdrehte, dass Georg es aufgab, mitzuzählen. 

Dafür waren seine Gedanken auch viel zu weit weg. Bei dem Glück seines Sohnes. Oder das, was sein Sohn gerade als Glück bezeichnete. Georg war sich da nicht so sicher. 


~~**~~


 „Wann hattest du vor, es mir mitzuteilen?“

Leo blinzelte, versuchte, nicht ganz motiviert und auch nicht ganz erfolgreich, sich die Müdigkeit aus den Knochen zu vertreiben. Er warf einen Blick auf seinen Wecker und der teilte ihm mit, dass es 2:41 Uhr war. Mitten in der Nacht. Anscheinend war er im Modus aus seinem Schlaf hochgeschreckt und an sein Handy gegangen, das nun die Dunkelheit hell erleuchtete und sich Leos vernebelten Geist fragen ließ, wer eigentlich am anderen Ende der Leitung war. 

„Wie meinen…?“, fragte er und wischte sich übers Gesicht, sich aufstöhnend auf den Rücken drehend. 
„Wie kommt es, dass dein Vater mich darauf anspricht, ob du mich gefragt hast, ob wir beide bei deinen Eltern auflaufen und du deine Zähne mal wieder nicht auseinanderbekommst?“

Leo ließ die Worte über sich hinwegwaschen, sein träger Geist ein sehr williger Gefährte bei diesem Vorhaben. Er verstand noch nicht einmal die Hälfte des Wortsinns und das, was er begriff, ergab im Nachhinein auch nicht wirklich einen Sinn. 

„Keine Ahnung“, erwiderte er das, was am Unverfänglichsten schien und setzte sich langsam auf. 
„Wach auf, Hölzer, oder ich komme bei dir vorbei und sag dir das alles noch einmal in dein  Gesicht!“
Die Drohung, so absurd sie war, ließ ihn tatsächlich hellwach werden. Nicht das Versprechen als solches, dass er heimgesucht würde – seit Schürks letztem Besuch schloss er sich im Schlafzimmer ein. Nie wieder würde er mit solch einer bösen Überraschung wach werden wollen. 

„Schürk?!“, fragte er um ganz sicher zu gehen und sah die vertraute Nummer, die er immer noch nicht eingespeichert hatte, aber sehr wohl auswendig kannte. 
„Ja, Blitzmerker.“
Fieberhaft versuchte Leo sich daran zu erinnern, was der Inhalt ihres gerade geführten Gespräches gewesen war und blieb an seinem Vater hängen. 
„Was hast du mit meinem Vater zu schaffen gehabt?“, hakte er beunruhigt nach. Er wollte seine Familie aus der Schusslinie halten und bisher hatte Schürk sich auch von ihnen ferngehalten. Was sollte das jetzt?
„Ich war in der Stadtverwaltung und da haben wir uns unterhalten.“
„Wieso? Wage es ja nicht, ihn in deine schmutzigen Geschäfte zu ziehen, Schürk!“
„Meine schmutzigen Geschäfte, du Saarbrücker Top-Ermittler, musst du mir erst einmal nachweisen. Viel Erfolg dabei. Und ich wollte nicht zu deinem Vater, sondern dein Vater hat mich heimgesucht. Und uns eingeladen. Samstag, drei Uhr nachmittags, zum Kaffee bei deinen Eltern.“

Leo kniff sich. 

Er musste es tun, wenn ansonsten hätte er nicht geglaubt, dass er wach war, sondern schlicht und ergreifend, dass er einen Alptraum hatte. Von Schürk mal wieder. Aber nein, er war wach und der andere Mann war tatsächlich am Telefon und erzählte völligen Mumpitz. Ein Wort, das er Esther gestohlen hatte und indem er nun Trost fand und was ihm Kraft gab, das zu ertragen, was Schürk ihm an den Kopf geworfen hatte. 

„Ich will nicht, dass du meinen Eltern zu nahe kommst“, sagte er und am anderen Ende der Leitung schnaubte es.
„Hättest du dir früher überlegen und dein verdammtes Maul aufmachen sollen.“
„Dann bleib doch einfach weg.“
„Nicht bei der Einladung, die dein Vater ausgesprochen hat.“
Leo knirschte mit den Zähnen. „Als wenn du dich zu irgendetwas zwingen lässt“, spottete er aus der vermeintlichen Sicherheit seines abgeschlossenen Schlafzimmers heraus, angefressen, dass er schon wieder nachts geweckt worden war. Doch seine Worte verursachten ihm, sobald er sie ausgesprochen hatte, einen bitteren Nachgeschmack. 

Durch Herbert als unumstößliche Tatsache in seinem Leben war Schürk gezwungen, die Anwesenheit des Hundes zu akzeptieren. Das hatte Leo ihm klar und deutlich gemacht und Schürk hatte nachgegeben. Mehr noch. Er war von seiner kühlen Missachtung dazu übergegangen, mit Herbert zu sprechen und ihn vorsichtig zu füttern. 
Als er wegen Tangermann wütend gewesen war, war er Schürk körperlich angegangen und dieser hatte sich nicht mit der ihm zur Verfügung stehenden Kraft gewehrt. Er hatte antizipiert, was Leo getan hatte. Das Wegstoßen war logisch gewesen, aber dennoch hatte er Leo für eine erstaunlich lange Zeit die Oberhand gelassen. 

„Wie dem auch sei“, schob Leo nach. „Hatte das nicht bis morgen Zeit? Warum mitten in der Nacht?“
Schürk schnaubte. „Ich bin noch wach.“
„Ich aber nicht!“
„Jetzt schon.“

Leo barg sein Gesicht in seinen Händen. Einfach unmöglich. 
„Ich will dich wirklich nicht in der Nähe meiner Eltern haben“, sagte er schließlich in die Stille hinein und Schürks Stimme drang ungewohnt ernst durch die Leitung. 
„Glaubst du, mir macht das Spaß, deinen Eltern den netten Freund des Sohns vorspielen zu müssen? Spoiler, dem ist nicht so, ich habe nach wie vor kein gesteigertes Interesse an deiner Familie. Aber du hast ja nicht den Mund aufmachen können, als deine Eltern dir den Vorschlag gemacht haben und hast mich dadurch ins offene Messer laufen lassen. So misstrauisch, wie dein Vater war, stand eine Ablehnung nicht im Raum.“
Leo knirschte mit den Zähnen. So bitter es auch war, Schürk hatte Recht. Er hatte es ja durch sein Schweigen verhindern wollen, hatte aber nicht damit gerechnet, dass sein Vater eigeninitiativ tätig werden würde. Dass er misstrauisch war, wusste Leo, dazu hatte sein Papa ihn zu nachdenklich gemustert während der Weihnachtstage.

„Das heißt, mein bester, hauseigener Polizist, wir können uns am Samstag auf ein lauschiges Kaffeekränzchen bei deinen Eltern einstellen. Überleg dir schonmal, wie du den schönen Schein aufrechterhalten willst, ohne dir eine Flasche Wein hinter die Binde zu kippen.“
„Wie wäre, wenn du damit anfängst, etwas unter deinem Anzug zu tragen?“, schnappte Leo wenig amüsiert über die Erinnerung an Weihnachten. Als wenn er noch einmal in Schürks Gegenwart betrunken sein würde. 
„Wünsche?“

Schürks ernste Frage überraschte Leo so sehr, dass er für die ersten Augenblicke stumm blieb. Er konnte keine Falle dahinter erkennen, aber das hieß nichts. Er konnte Wünsche äußern, was der andere Mann trug? Die Falle dahinter würde vermutlich ein quid pro quo sein. Schürk würde ebenso sehr einen Wunsch äußern und der wäre für Leo von Nachteil.

„Nein“, grollte er entsprechend unerfreut und wurde mit einem Brummen belohnt. 
„Du klingst im Übrigen ganz bezaubernd, wenn du noch verwirrt bist vom Schlaf“, schob Schürk nach und Leo erwog, einfach aufzulegen. 
„Gibt es sonst noch etwas, oder kann ich jetzt weiterschlafen?“, erwiderte er anstelle dessen zähneknirschend mit einem letzten Überbleibsel an guter Erziehung und für eine unangenehme Weile herrschte Stille in der Leitung. 
„Nein, gibt’s nicht. Gute Nacht, Dornröschen“, schnarrte der blonde Mann und legte einfach auf. Aufstöhnend ließ Leo sich auf sein Kissen zurückfallen und schloss die Augen. So ein Arschloch. 

Samstag würde eine Katastrophe werden.

Leo griff sich sein Handy und stellte es so ein, dass nur noch seine Dienststelle, Pia, Esther und seine Familie durch den Nicht Stören-Modus hindurchkamen. Damit er wenigstens nachts Ruhe vor Schürk hatte.


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 24: Die Wahrheit zwischen Torten und Schneeglöckchen

Notes:

Einen wunderbaren zweiten Advent euch!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie, etwas überpünktlich dieses Mal. ;) Viel Spaß beim Lesen, aber Achtung, es gibt eine Triggerwarnung: Erwähnung von Kindesmisshandlung, nicht plastisch beschrieben.

Vielen lieben Dank euch allen für all eure Kommentare, Kudos und Klicks! :3

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text


„Leo Hölzer, sprich mit mir.“

So sanft Vincents Stimme auch war, so unnachgiebig ließ er sie klingen. Morgen war Adam alleine mit Leo bei Leos Eltern und das Nervenbündel an seiner Seite schwieg sich eisern darüber aus. Dass da weitaus mehr hintersteckte als nur Schweigen, erkannte Vincent mit schier spielerischer Leichtigkeit. Zugegeben, genau deswegen hatte er auch ein außerplanmäßiges Treffen mit Leo anberaumt. Heute Abend würde er mit Adam sprechen, nun aber musste er diesen nervösen Mann beruhigen, damit der morgen nicht ihr gesamtes System verriet und seinen ohnehin schon misstrauischen Vater auf Adams Fährte brachte.

Leo Hölzer sprach aber nicht, sondern ging nur einen Schritt schneller über den frühlingshaften Waldweg. Es knirschte und knackte unter seinen Sneakern und mittlerweile war er so schnell, dass Vincent kaum noch hinterherkam; langsam reichte es Vincent. Er haschte nach Leos Fingern und hielt den ganzen Mann sacht daran zurück, die den Winter hinter sich lassende Luft empört einziehend. 

„Du läufst weg“, sagte er gnadenlos ehrlich und hätte damit nicht mehr ins Schwarze treffen können. Die großen, grünen Augen sagten es ihm, das schwere Schlucken. 
„Was befürchtest du für morgen?“
„Alles!“
Leider sehr unkonkret, seufzte Vincent innerlich. Unkonkret, aber wahr. Er strich über Leos Hand, der seine Finger zwar vernichtend niederstarrte, aber nichts sagte. Vincent hielt ihn sacht genug um ihm jederzeit deutlich zu machen, dass er sich entziehen konnte, aber anscheinend zog Leo es vor, seine nonverbale Wut auf Vincents Finger zu projizieren. 
„Er wird sich benehmen.“
„Meine Eltern werden Wind davon bekommen. Sie sind jetzt schon misstrauisch. Ich kann sie doch nicht anlügen.“
„Vielleicht musst du das gar nicht, wenn du so nahe an der Wahrheit bleibst, dass deine Worte glaubwürdig sind.“

Leo entzog sich ihm und steckte seine Hände in die Taschen seiner grünen Jacke, unter der Vincent das leere Holster ausmachte. Er schüttelte den Kopf. 
„Warum zieht er sie mit hinein? Sie haben doch damit überhaupt nichts zu tun.“
„Nein, das haben Sie nicht und Adam wird sie auch weiterhin herauslassen. Das haben wir so besprochen.“
„Warum hat er dann ja gesagt?“, knurrte Leo und Vincent seufzte. In einigen Dingen waren sich Adam und er gar nicht so unähnlich – vor allen Dingen, wenn es darum ging, Sachen nicht zu sagen. 
„Weil dein Vater ihn überrumpelt und gefragt hat.“
„Und da hat er sich nicht behaupten können?“

Vincent schwieg, denn alles, was er dazu sagen könnte, wäre zu offenbarend und intim gewesen. Dass Adam Angst vor älteren Männern hatte zum Beispiel. Dass er der verbindlichen Ehrlichkeit von Herrn Hölzer nicht wirklich etwas entgegen zu setzen hatte – etwas, das Vincent sehr deutlich nachvollziehen konnte. 

Er schwieg zu lange, denn Hölzer Junior folgte seinem Vater auf dem Fuß, was Misstrauen und kritisches Denken anging. So half nichts, weder Vincents sanftes Lächeln noch die ihnen entgegenkommenden Jogger, um Leo von seinen Beobachtungen abzulenken.

„Es wird alles gut werden morgen, dessen bin ich mir sicher.“
„Wird er sich benehmen?“, fragte Leo beinahe schon verzweifelt und Vincent gestattete sich, dem anderen Mann über den Arm zu streichen. 
„Ja, wird er“, sagte er und glaubte mit Überzeugung daran. Über alles andere würde er auch nicht nachdenken wollen. „Ich weiß, es wird dir schwerfallen, aber sei…freundlich zu ihm. Du musst deinen Eltern nicht vorspielen, dass ihr eine Liebesbeziehung habt, aber sei einfach so freundlich zu ihm, wie du es deinen Kolleginnen gegenüber bist.“

Leo zuckte so gewaltig zusammen, dass Vincent sich im ersten Moment gleich mit erschreckte. War es der Vergleich zwischen Adam und seinem Team, der ihn so umtrieb?
„Ich will nicht freundlich zu ihm sein“, murmelte Leo schließlich und zupfte an einem toten, im Weg hängenden Ast. 
„Verstehe ich, nach allem, was geschehen ist. Wie wäre es, wenn du anstelle dessen interessiert bist?“
„Interessiert?“
„Ja. Du hast den letzten Monat über mehr Fragen an uns gerichtet als die Monate davor zusammengerechnet. Und natürlich spricht da der interne Ermittler aus dir. Du bist wissbegierig und neugierig…das zu zeigen ist nicht verkehrt.“

Es würde Adam milde stimmen und ihn davon abbringen, in Anwesenheit von unbeteiligten Personen dumme Dinge zu tun. Dass es auch Adams Interesse wecken würde oder vielmehr schon geweckt hatte – Vincent seufzte innerlich. Besser das, als wenn Leo tot wäre. Besser, als wenn sie alle tot wären. 
Vincent deutete fragend auf den Waldweg vor ihnen. „Sollen wir weiter?“, fragte er, als Leo nicht antwortete und schweigend folgte der nachdenkliche Mann ihm. 

„Wie geht es dir sonst?“, fragte Vincent und Leos Gesicht drückte sehr deutlich aus, dass er liebend gerne weiterhin über den morgigen Tag sprechen würde als auch nur eine Silbe darüber zu verlieren, wie es ihm ging. 

„Ich hätte gerne ein freies Wochenende“, sagte er schließlich als Eingeständnis dessen und Vincent notierte es sich gedanklich. Es war das erste Mal seit ihren wöchentlichen Treffen, das Leo derartiges äußerte und Vincent achtete nur zu sehr auf mögliche Warnzeichen einer bevorstehenden Überlastung. 

Ob dies eins war, würde er mit Adam nach dem morgigen Tag besprechen.


~~**~~


„Nicht dein Ernst“, zischte Leo, sein Elternhaus im Rücken und garantiert bereits neugierige Augen auf sich gerichtet. Wenn nicht von Mama und Papa, dann von den Nachbarn, die feststellten, dass der großgewordene, kleine Leo nun mit einem Mann ankam. Einer, der schon an Weihnachten hier gewesen war. 
Das war der Nachteil und Alptraum der Vorstadt, so schön und ruhig sie auch war. 

Und wie sie sich damals die Mäuler über ihn zerrissen hatten, als er Matthias mitgebracht und der neugierige Nachbar von gegenüber sie beide gesehen hatte, wie sie schüchtern Händchen gehalten hatten. 
Manfred Stoiber, ein Zugezogener, wie seine Eltern sagten. Er war zwar vor mehr als dreißig Jahren ins Saarland gekommen, aber immerhin. Als Gegenleistung für seine Aufnahme bespitzelte er mit Leidenschaft die ganze Nachbarschaft und versorgte alle mit Informationen über potenzielle Einbrecher. Dass diese sich in den meisten Fällen als falsch herausstellten, hatte die Nachbarschaft resigniert akzeptiert und Leo sah zu, dass er dem Mann aus dem Weg ging. 

Jede Beteuerung, dass er nur beim Mord arbeitete, half nichts. Polizist war Polizist und damit eine eierlegende Wollmilchsau. 
Wenn er also Pech hatte und Stoiber in seinem Haus war, dann wusste spätestens heute Abend die ganze Straße von dem Mann an Leos Seite, der mit einem ausladenden Blumenstrauß und einer Flasche besten Whiskeys neben ihm stand. 

„Du wirst meinen Eltern keine teuren Geschenke machen“, deutete er erbost auf das Ensemble und Schürk schnaubte. 
„Teuer liegt ihm Auge des Betrachters. Für jemanden mit deiner Gehaltsklasse vielleicht.“
Leo überlegte, ob es opportun wäre, Schürks Kopf Bekanntschaft mit dessen Autodach machen zu lassen und entschied sich zugunsten seines Rufes dagegen. 
„Wenigstens werde ich für ehrliche Arbeit besoldet“, erwiderte er anstelle dessen und Schürk lächelte eines seiner kühlen, arroganten Lächeln. 
„Ehrlich? Was sagen denn deine Kolleginnen dazu, dass du ihre Informationen an mich weitergibst?“
Wäre er nicht bereits enttarnt worden, hätten Schürks Worte Leo noch verletzen können. Dann hätten sie ihn tief getroffen und wütend gemacht. Nun aber wusste er, dass er ein Netz hatte, das ihn auffing. Er gab jede Information über Schürk an die SoKo weiter, die er erhalten konnte. 

Es war genau das Netz und diese Macht, die Leo nun lächeln ließen. „Finden sie nicht in Ordnung, aber sie akzeptieren natürlich meine Entscheidung als Teamleiter“, erwiderte er und genoss jede Nuance Überraschung auf Schürks Gesicht. 
„War das ein Witz? Aus deinem Mund? Echt? Dass ich das noch erleben darf!“, grinste Schürk, nachdem er sich gefangen hatte und presste Leo die Flasche Whiskey gegen die Brust. Notgedrungen fing Leo sie ab, bevor sie zu Boden fallen konnte, als Schürk seine Hände wegnahm. 
„Und jetzt Abmarsch. Die Vorstadt langweilt mich jetzt schon.“
„Dann fahr zurück, ich finde schon eine Ausrede für dich.“

Die sich öffnende Tür zu seinem Elternhaus unterbrach ihre mehr oder minder unsinnige Diskussion und Leo versteifte sich. Seine Mutter, glücklich strahlend, winkte ihnen als würde es ein angenehmer Nachmittag werden. Und hatte Leo nicht auch genau dafür zu sorgen? Eben dass es ein angenehmer Nachmittag wurde? Dass seine Eltern nicht erfuhren, was eigentlich lief?

Leo lächelte zurück und setzte sich in Bewegung. Zumindest bis er sich besann, dass er eigentlich auf Schürk zu warten hatte. Unwillig drehte er sich zur Seite und wartete, bis der blonde Mann zu ihm aufschloss. 
Nebeneinander überquerten sie die Straße und Leo umarmte seine Mama, gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. 
„Hallo“, strahlte sie und er nickte. 
„Hallo Mama.“
„Und hallo Adam. Schön, Sie wieder zu sehen.“
Nervös huschte sein Blick zu Schürk, dessen Kieferknochen sich deutlich unter der Haut bewegten. 
„Hallo Frau Hölzer“, grüßte er neutral, vorsichtig gar und streckte an Leo vorbei den Blumenstrauß in ihre Richtung. „Für Sie.“
„Ach das ist aber lieb, vielen herzlichen Dank! Und dazu auch noch so hübsche Blumen. Das freut mich. Kommen Sie doch rein.“ 

Leo folgte der Aufforderung seiner Mutter und betrat das ihm sonst so vertraute Haus mit einem derart fremden Gefühl, dass es ihn einen Moment lang schauderte. Schürk gehörte nicht hierher, er hatte hier nichts verloren und war beinahe sofort eine störende Präsenz in dem Haus, das immer Frieden und Sicherheit für ihn bedeutete hatte. 

„Guten Tag die Herren“, durchschnitt die ruhige Stimme seines Vaters dieses Gefühl und Leo wurde durch einen begeisterten Herbert abgelenkt, der ihn schwanzwedelnd mit seinem Huhn begrüßte und freudig zwischen Knurren und Winseln hin und herwechselte. Aufgeregt sah er abwechselnd von ihm zu Schürk und quietschte mit dem Gummitier.
„Hallo Papa“, lächelte Leo und schob Herbert mit einem Kuss zur Seite, der sich weit vorsichtiger als bei ihm nun auf Schürk fixierte.  

Natürlich erinnerte er sich an das Tauschgeschäft und entsprechend erfreut quietschte er mit seinem Huhn, das wie von alleine seinen Weg an Schürks dunkelblauer Jeanshose fand und dort feine Sabberspuren hinterließ. 
Schürk hatte sich tatsächlich für etwas Anderes als seinen Anzug entschieden und sah…normal aus. Er trug ein schwarzes Shirt mit dreiviertel Arm, die Jeans zeigte zum ersten Mal, was für Beine eigentlich in dem Anzug steckten und die Sneaker war so formlos, wie er Schürk noch nie gesehen hatte.

Die Worte des blonden Mannes in Bezug auf Herbert lösten Leo aus seinen Betrachtungen und vorsichtig sah er hoch, erkannte jedoch keine Bosheit. Eher eine wohlversteckte, angewiderte Zurückhaltung, die darin mündete, dass Schürk seine Hand auf Herberts Kopf legte und der Hund samt Huhn unter dieser still verharrte, als wüsste er, wie vorsichtig er mit Schürk sein musste. 

„Die Beiden kennen sich also auch schon“, merkte sein Vater an und Leo streckte ihm die Flasche Whiskey entgegen, von der Schürk schon seit Weihnachten wusste, dass sein Vater ihn gerne trank. 
„Von ihm“, nickte Leo und nachdenklich musterte sein Papa die Flasche. 
„Vielen Dank“, sagte er und die Betonung der Worte war seltsam. Sie deutete auf etwas hin, das nur zwischen seinem Vater und dem Mann neben ihm existierte. Dass der blonde Mann davon nicht im Geringsten überrascht war, alarmierte Leo nur umso mehr und mit Gewalt schloss er seine Lippen. Fragen über Fragen schossen durch seine Gedanken und keine davon konnte er jetzt und hier stellen. 

„Kommen Sie.“ Es war eine vielsagende Aufforderung, der sowohl Leo als auch Schürk ohne Widerspruch folgten. 


~~**~~


Das Hölzersche Haus war auch außerhalb von Weihnachten ein Hort an kitschigen Dingen. Perfekt gelebte Vorstadtidylle mit Blumen auf dem Tisch, Blumen im Garten, Bildern von glücklichen Menschen an den Wänden, dazu zusammengewürfelte Kunst und ein die ganze Wohnzimmerwand bedeckendes Bücherregal. Nette Aussicht und bequeme Couch inklusive. Zumindest glaubte Adam das, denn er wurde geheißen, sich an den kitschig gedeckten Tisch mit einer Torte und einem Kuchen zu setzen. Mit einer Thermoskanne Kaffee inklusive. Es roch ausgezeichnet und sein leerer Magen knurrte verräterisch. 

Er hatte heute Morgen nichts herunterbekommen, nicht im Vorgriff auf den jetzigen Termin und die Belastungen, die damit einhergingen. Entsprechend unterzuckert war er jetzt auch und barg seine zitternden Hände unter dem Tisch. 
Angespannt wartete Adam, dass der Rest dieser Menschen sich auch setzte und das die Inquisition begann. 

Ein Kaffeeklatsch, das bekam selbst die Dreckssau nicht hin, was aber maßgeblich daran lag, dass er keinen Kuchen aß und alles, was Genuss sein könnte, zutiefst verachtete. 

„Kaffee?“, fragte Frau Hölzer und Adam nickte stumm. Sie füllte seine Tasse und Hölzer Junior war der Nächste in der Reihe. Er bedankte sich mit einem warmen Lächeln, das Adam beinahe schon eifersüchtig machte. Mal sehen, ob er es hinbekam, dass das Lächeln auch ihm galt. Irgendwann. Zunächst einmal galt ihm nur die Aufmerksamkeit des riesigen Hundes, der jetzt, wo Adam saß, fast auf einer Augenhöhe mit ihm war und ihn und den Tisch interessiert musterte. Unwohl wandte Adam seinen Blick ab. Größer zu sein als der Köter war annähernd okay. Das Maul auf seiner Gesichtshöhe zu haben…nicht so sehr. 

Frau Hölzer setzte sich und gab den Blick frei auf ihren Ehemann. Fragend musterte Hölzer Senior Adam, in seiner Hand bereits den Kuchenheber. 
„Es gibt gedeckten Apfelkuchen und Cappucino-Nuss-Torte. Welches darf ich Ihnen zuerst auftun?“
Natürlich aß Adam Kuchen, gerne sogar, in allen Formen und Varianten. Kuchen an einem Tisch mit Eltern zu essen war aber etwas, das er unterschätzt hatte und so flüsterte ihm sein Verstand im ersten Moment panisch ein, dass es eine Falle war. 

Doch Hölzer war nicht die Dreckssau.

„Apfelkuchen“, sagte er nicht ganz so fest in der Stimme, wie er es gerne gehabt hätte und erhielt ein viel zu großes Stück. „Danke.“
„Selbstverständlich gerne.“ Wieso klang alles, was der ältere Mann sagte, wie eine Prüfung oder Warnung? 
Seinen Sohn fragte er jedenfalls nicht, sondern gab ihm gleich ein Stück der Torte auf. War das so im Haus Hölzer? Durften sich die Kinder den Kuchen nicht aussuchen?

„Leo fängt immer damit an, deswegen steht sie hier auf dem Tisch“, erläuterte Frau Hölzer lächelnd und zwinkerte. „Egal, was der andere Kuchen ist, es gibt immer Cappuccino-Nuss-Torte für ihn.“ 
Oh wie gut, dass Hölzer Junior in Ansätzen so aussah, wie Adam sich fühlte. Ertappt. Erkannt. Unfreiwillig gesehen. Herzlich willkommen im Club. 
„Das ist schön zu hören“, sagte Adam ruhig und warf einen kurzen Seitenblick auf seinen vermeintlichen Partner, der mittlerweile im Fokus des riesigen Tieres war und ihn abwesend streichelte. 
„Haben Sie einen Lieblingskuchen?“, fragte Hölzers Mutter und Adam fühlte sich für einen Moment an Maria erinnert. Maria wusste, was er gerne mochte, eben weil er es ihr gesagt hatte. Sein jüngeres, naiveres Ich hatte das, vor langer Zeit und sie wusste es immer noch. 
„Ich habe nicht wirklich einen“, log er. Sicher war sicher. 
„Das macht die künftige Auswahl einfacher.“ Frau Hölzer hatte Sommersprossen, fiel Adam auf, jetzt, wo er sich im direkten Fokus von ihr wiederfand. Ihr freundliches, rundes Gesicht war eine nette Abwechslung in der Riege der kritischen Hölzer-Männer und Adam fand Ruhe in ihrer Freundlichkeit. Erst verspätet wurde ihm bewusst, dass es hier auch um künftige Treffen ging.

Nein danke. Zum Glück sah Hölzer Junior das genauso. Adam wechselte von seinem Kuchen zur Kaffeetasse. Das war sicherer im Moment. Er nahm einen Schluck und selbst der Kaffee war gut. 

„Backen Sie?“, fragte Hölzer Senior und Adam sah von der Tasse hoch. 
„Ich?“, echote er und blinzelte. „Nein. Ich habe einen Koch, der das für mich erledigt.“
Hölzer selbst war wenig überrascht über Adams Aussage, das hatte er seiner Ehefrau voraus. 
„Sie haben einen eigenen Koch?“, hakte er nach und Adam wog den Kopf hin und her.
„Was heißt eigenen… er ist der Koch meines Vaters und ich leihe ihn mir unschicklich oft aus“, erwiderte Adam und schmunzelte bei dem Gedanken an Bastian. Eher unschicklich als oft und auch das war zu Beginn eine Rache an seinem Vater gewesen, bevor er dazu übergegangen war, mit Bastian zu schlafen um diesem einen nicht unerheblichen Nebenverdienst zu verschaffen. Adam zahlte gut und Bastian machte es Spaß, zumindest hatte er ihm auf mehrfache Nachfrage nichts Anderes gesagt. 

Das Erstaunen in den grünen Augen seines hauseigenen Polizisten beantwortete Adam mit einem Grinsen. 
„Dachtest du etwa, dass ich Bastian alleine bezahle? Bin ich Krösus?“
„Ich war mir nicht sicher, ob du Bastian überhaupt bezahlst.“ Hölzer und seine Art, erst zu sprechen und dann zu denken. Sich Sorgen machen, dass seine Eltern Wind von der Erpressung bekamen und sich dann gefährlich nahe an die Wahrheit zu begeben. 
„Leo kocht im Übrigen auch gut“, lenkte Adam, generös wie er war, das Thema von Bastian ab. „Naja, also fast so gut wie Bastian.“ Die Provokation hatte ihre gewünschte Wirkung und Hölzers Miene verdunkelte sich. 
„Was gab’s denn?“, fragte seine Mutter neugierig und Hölzer nahm ein Stück seiner Lieblingstorte. 
„Curry. Laut ihm“, Leo deutete mit dem Daumen auf Adam, „ungewürzt.“
Die Eltern tauschten einen Blick untereinander aus und schmunzelten dann beide. Sie zuckten mit den Schultern und Adam verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee, als er erkannte, dass sie ihm damit Recht gaben.

Hölzer Junior verschluckte sich definitiv und generös wie er war, klopfte Adam ihm auf den Rücken, damit die Torte dahin rutschte, wo sie hin sollte. 
„Siehst du, sag ich doch, dass ich Recht hatte“, grinste Adam und liebte das wütende Funkeln aus tränenunterlegten Augen. 
„Mir hat’s geschmeckt“, rechtfertigte er sich und Adam brummte zustimmend.
„Mir auch, nach etwas Chilipulver.“

Der Hund an Hölzers Seite nutzte die Unaufmerksamkeit seines Beisitzers, um vermeintlich unauffällig seine riesige Schnauze in Richtung Kuchen zu schieben. 
„Darf er das?“, fragte Adam unschuldig und deutete auf Herbert. So hieß er. 
„Ey!“, beschwerte Leo sich bei eben jenem und schob sanft das Maul vom Tisch. „Mein Kuchen.“
Das wurde anders gesehen, aber wer war Adam, dass er sich in diese Diskussion einmischte? Lieber beobachtete er Hölzer, wie dieser ohne seine übliche Anspannung mit dem Hund interagierte. 

„Ich habe Ihren Vater schon lange nicht mehr gesehen“, sagte der Senior und Adam zuckte ungewollt zusammen und teilte seinen Apfelkuchen mit der Gabel nahtlos in noch mehr Teile als vorher. Er starrte auf das Schlachtfeld auf seinem Teller und überlegte sich, was er darauf antworten sollte. Der Hölzer an seiner Seite sah von seinem Vater zu ihm und wieder zurück. 
„Ihr kennt euch?“, fragte er und Adam hörte die beinahe schon panische Unsicherheit in der Stimme seines hauseigenen Polizisten. 
„Sicher. Herr Schürk und sein Sohn sind regelmäßige Besucher in der Bauabteilung. Kein Wunder bei den Bauvorhaben, die sie beide in den letzten Jahren umgesetzt haben und künftig noch umsetzen.“

Das Problem, erkannte Adam, war gar nicht der Ermittler und seine Unfähigkeit, seine spontanen Reaktionen für sich zu behalten. Das Problem war der Vater, der kritisch hinterfragte, was ein sensibel gelenktes Konstrukt war. Der Mann, der ihn kannte, obwohl Adam nie Kontakt zu ihm gehabt hatte. 
Vincent hatte die mögliche Verbindung zwischen Vater, Sohn und ihren Tätigkeiten als nicht gefährlich eingestuft, aber Adam war just in diesem Moment sehr versucht, diese Einschätzung zu revidieren. Spannend war jedoch, dass der Vater mit seinem Sohn bislang nicht darüber gesprochen hatte. 

Das holte sie jetzt beide ein. 

„Ja, wir kennen uns. Habt ihr beiden darüber nicht gesprochen?“, fragte Hölzer Senior nun seinerseits mit erhobener Augenbraue und Adam schüttelte den Kopf. 
„Wir lassen das Geschäftliche meistens außen vor. Leo darf ja aus ermittlungstaktischen Gründen auch nicht wirklich über seine Arbeit sprechen.“
Stimmte, war aber gelogen und Adam erkannte anhand der angespannten Schultern, dass sie kurz davor waren, sich aufs Glatteis zu begeben. 
„Wie dem auch sei, meinem Vater geht es ausgezeichnet. Er hat sich aus dem Baugeschäft etwas zurückgezogen“, sagte Adam und war stolz auf sich, dass er bei der Bezeichnung Vater nicht würgte. Dass sich trotzdem etwas in seiner Tonlage befinden musste, erkannte er an dem nachdenklichen Zug um Hölzer Seniors Lippen. 

„Dann hat er sicherlich mehr Zeit für die Familie“, meinte es Hölzers Mutter zwar gut, aber Adam konnte dem gar nichts abgewinnen. Ebenso wenig konnte er das bittere Auflachen aufhalten, das wie Verrat über seine Lippen kam. 
„Oh ich wünschte, es wäre nicht so“, schob er hinterher, eigentlich als Erklärung für die nichtsahnende Frau, die er durch sein Lachen nicht hatte verärgern wollen. Dass diese Erklärung durch vier kritische Ohren aufgenommen und verarbeitet wurde, erkannte Adam viel zu spät. 
„Wie soll ich sagen, klassisch Saarbrücker Sturkopf mit Tendenzen zum Patriarchendasein“, winkte Adam beschönigend ab und rettete sich erneut zu seinem Kuchen. Rechtzeitig mochte man meinen, denn nun stand der Hund mit seinem doofen Huhn bei ihm und bot es ihm erneut in einem Tauschgeschäft an. 
„Am Besten, Sie ignorieren ihn einfach. Er lernt gerade, nicht am Tisch zu betteln, aber bei Fremden versucht er es dann doch noch.“ 
„So fremd sind sich die Beiden nicht, Babsi. Guck ihn dir an.“ Hölzer Seniors Auffassungsgabe wurde langsam wirklich lästig, befand Adam.
„Ach na klar, wenn Sie ja öfter bei Leo sind oder Leo bei Ihnen, dann haben Sie Herbert natürlich schon näher kennengelernt. Weihnachten war er ja eher zurückhaltend und schüchtern.“

Das Grollen des Ermittlers neben ihm überraschte Adam dann doch. 
„Mama, Papa, hört auf nachzubohren!“, beschwerte sich Hölzer mit leicht geröteten Wangen. „Wir bohren doch gar nicht nach, Leo. Wir haben doch nur vermutet, dass ihr euch öfter seht.“
Daran lag es also. „Keine Sorge, unsere Treffen sind ganz unverbindlich“, mischte Adam sich mitnichten hilfreich ein. Der Drang, Hölzer zu ärgern und zu necken, war da und wurde nur befeuert durch seine eigene Nervosität. 
„Sind sie das?“, war Hölzers Mundwerk schneller als seine Gedanken und Adam grinste von Ohr zu Ohr. 
„Oh, sind sie es nicht? Das freut mich zu hören!“ 
Hölzer sah aus, als würde er ihn mit der Kuchengabel ermorden wollen und Adam fühlte sich in seinem Element. Er liebte das tiefer werdende Rot auf den bärtigen Wangen ebenso wie die Empörung, die die grünen Augen heller machte. 

„Jungs, Jungs, versteht euch“, mischte sich Frau Hölzer ein, diplomatisch und sanft. Es rief Hölzer zur Raison und er wandte sich wieder seiner Mutter zu. Adam nahm seinen eigenen Kuchen in Angriff und pickte sich aus dem Schlachtfeld, das er produziert hatte, die Apfelstückchen heraus. 
„Ich finde es schön, dass Sie hier sind. Es freut mich sehr.“

Die beiden Männer der Familie schwiegen. Wohl aus unterschiedlichen Gründen und schon gar nicht mit dem gleichen Wissensstand. 

„Ich freue mich auch sehr über die Einladung. Dankeschön“, sagte Adam so sanft wie er konnte und wurde mit einem Lächeln belohnt, das er mit Sicherheit nicht verdient hatte. Schon alleine dafür, dass er log. Solche Einladungen hatte er vor fünfzehn Jahren das letzte Mal erhalten und da waren sie wirklich das gewesen, was er nun nur vorgab. Einladungen zum Kaffee von der Familie seines damaligen Freundes. Schon damals hatte Adam seinen Zeh in eine Welt getaucht, die nicht die Seine war, naiv in der Annahme, dass er jemals Teil dieser sein würde. 

Jetzt wusste er es besser und der Weg, den andere so unbeschwert gingen, war ihm durch seine eigenen Taten in der Vergangenheit mehr als verbaut. 

„Sie haben im Übrigen einen schönen Garten“, lenkte Adam das Gespräch auf ein derart unverfängliches Thema, dass er alle seine unschönen Erinnerungen an damals in den hinterletzten Winkel seines Selbst schieben konnte. 
Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass der Garten Herrn Hölzers Spielwiese war und er damit automatisch in den unerwünschten Fokus des älteren Mannes gelangte, vor dem er unsinnigerweise immer wieder eine aufflammende Angst verspürte. 


~~**~~


Georg gewann immer mehr den Eindruck, dass hier irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Die Zurückhaltung seines Sohnes könnte man mit Schüchternheit begründen, seinen Eltern den aktuellen Partner vorzustellen. Die Zurückhaltung Schürks könnte man mit der Angst, den Eltern des Partners nicht zu gefallen, begründen. 

Könnte, wären da nicht die kleinen Dissonanzen in dem Verhalten seines Sohnes und des anderen Mannes gewesen. Leo hatte Schürk kein einziges Mal angelächelt, sehr wohl aber Babsi und ihn. Sie waren sich körperlich nicht nahe gewesen, noch nicht einmal auf die unbewusste Art, die Liebende des Öfteren an den Tag legten. Schürk hatte seinen Sohn geneckt, was, wenn Georg ehrlich zu sich war, auch durchaus notwendig war um Leo aus seinem Schneckenhaus heraus zu holen. Es hatte Leben in seinen Sohn gebracht, aber das Leben hatte primär daraus bestanden, seinen Partner so anzusehen, als würde er ihn umbringen wollen. 

Das deutlichste Zeichen für Georg war eigentlich die Heftigkeit gewesen, mit der Leo seine Finger zurückgezogen hatte, als diese Schürks zufällig beim Abräumen berührt hatten. 

So verhielt sich kein Paar. 

Genau deswegen hatte sich Babsi auch unter dessem Protest ihrer beider Sohn gegriffen um mit Herbert spazieren zu gehen, während Georg vorgegeben hatte, mit dem blonden Mann über den Garten fachsimpeln zu wollen. Dass dieser keine Ahnung und das Thema nur gewählt hatte, um auf eine seichte Ebene bei Tisch zu kommen, war offensichtlich. Babsi und er hatten sich vorher abgesprochen und so hatten sein Sohn und sein Partner keine andere Wahl gehabt. 

Georg ahnte, dass die Antwort auf seine Frage, ob Schürk seinem Sohn wehtat, auch darin lag, wie Schürk mit seiner eigenen Vergangenheit und vielleicht auch Gegenwart umging. Dr so euphemistisch bezeichnete Patriarch war in Wirklichkeit viel mehr als das – ein Diktator. Was, wenn das Verhalten vom Vater auf den Sohn übergegangen war?

Wie auch schon an Weihnachten wurde Schürk mit dem Moment, in dem sie alleine waren, vorsichtig und fühlte sich noch unwohler als vorher. Unruhig stand er neben ihm, seine Hände in seinen Hosentaschen, die Lippen fest zusammengepresst. Sie befanden sich im Garten und sahen den gierigen Blaumeisen zu, wie sie sich Futter aus der Futterstation holten. Hyazinthen und Krokusse blühten um die Wette.
Alles in allem ein schöner Anblick und einer, der Georg die nötige Ruhe vermittelte. 

„Sind Sie ein Familienmensch, Herr Schürk?“, fragte Georg unumwunden und sein Gesprächspartner schürzte die Lippen, unsicher, was er mit der Frage bezweckte. 
„Geht. Warum fragen Sie?“
„Weil Sie sich den ganzen Nachmittag unwohl gefühlt haben.“
„Nein, das habe ich nicht.“
„Ihre ganze Körperhaltung und Ihre Anspannung sagen mir etwas Anderes.“
„Wirklich, ich…“
„Auch jetzt fühlen Sie sich nicht wohl. Wie an Weihnachten. Sie haben Angst vor mir.“
Unstet huschten die blauen Augen über die sorgsam von ihm gepflegten Beete. „Nein, warum sollte ich?“
„Dann lassen Sie es mich umformulieren. Sie haben Angst vor Männern meines Alters, die Ihnen nahekommen und mit denen Sie alleine sind.“
Schürk hielt inne, schien für Sekunden wie eingefroren. Erst verspätet schnaubte er und schüttelte den Kopf. „Dann dürfte ich mit der Hälfte der Bevölkerung nicht reden. Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.“ Es war eine Ausrede, schnell dahingeworfen, gewürzt mit dem Schutzschild der Arroganz.

Georg bedeutete Schürk, ihm zu folgen und ging zum hinteren Teil des Gartens, dort, wo die Schneeglöckchen in ihrer weißen Pracht wucherten. Heute war es noch nicht zu warm, aber auch nicht mehr februarkühl und eigentlich hätte Georg die Zeit gerne für einen Streifzug durch den Garten genutzt. Nicht aber mit dem Mann an seiner Seite. 

„Sie sind Weihnachten vor mir zurückgeschreckt“, stellte er in den Raum und zupfte ein paar gelbe Blätter. 
„Zufall.“ Sekündlich wurde Schürks Stimme abweisender und kühler, seine Mimik ebenso. Georg musterte ihn und stellte fest, dass das Freundliche, das Sanfte anscheinend die Maske gewesen war und das, was er jetzt sah, zur Persona des blonden Mannes gehörte. Es passte auch besser zu dem fürchterlichen Mann, von dem seine Kolleginnen und Kollegen ihm berichteten. 

„Ihr Vater hat Sie geschlagen.“
„Bullshit.“ Das Zischen, das die Worte begleitete, war boshaft und Georg wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Hätte es spätestens jetzt gewusst, wenn nicht…

Ruhig schob er seine Hände in seine Taschen und öffnete seine Gestik für den anderen Mann, zeigte ihm, dass er keine Bedrohung war. „Ich war schon immer bei der Stadtverwaltung, Herr Schürk. Ich habe da meine Ausbildung gemacht, habe mich hochgearbeitet, habe die Laufbahn gewechselt, das volle Programm. Vor 26 Jahren habe ich an der Pforte gearbeitet und die Anliegen weitergeleitet. Normalerweise komische und krude Dinger, etwas, was ich jetzt gerne noch erzähle.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte Schürk lauernd und Georg atmete tief ein. Das Kommende belastete ihn immer noch, das wusste er. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, wusste er das. 

„Vor 26 Jahren stand ein Junge an der Pforte, dürr, schlaksig, neun Jahre alt. Er hatte blonde Haare, so wie Sie, nur waren diese kurzgeschoren. Dieser schüchterne, ängstliche Junge brauchte drei Anläufe, um aus der weitest entfernten Ecke der Eingangshalle zu mir zu kommen. Erst, als es fast leer war und ich eigentlich Feierabend machen wollte, hat er sich zu mir getraut und darum gebeten, dass ich ihm helfe. Weil sein Vater ihm immer wieder sehr wehtut. Als ich zu lange gezögert habe, auf seine Worte zu reagieren, hat er Angst bekommen, dass ich ihm nicht glaube und hat mit einem gehetzten Blick auf seine Umgebung das T-Shirt hochgezogen. Und dieser dürre, beinahe unterernährte Junge mit der leisen Stimme und den Tränen in den Augen war voller Hämatome und Spuren eines Gürtels. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich zu schnell aufgestanden bin und der Junge vor mir zurückgezuckt ist, aus Angst, ich würde ihm etwas antun. Ich habe mich dann auf ein Knie begeben um kleiner zu sein als er und ihn dann soweit beruhigt, dass er wieder zu mir gekommen ist. Er hat sich dabei immer wieder umgesehen, als wäre der Teufel hinter ihm her und in gewisser Weise war er das wohl auch. Der Junge meinte, dass er schnell Hilfe bräuchte, da ihn sonst sein Vater finden würde und ich habe so schnell es ging das Jugendamt kontaktiert. Während wir auf den zuständigen Beamten gewartet haben, hat er einen meiner Müsliriegel verschlungen, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Darauf folgten noch zwei Mars, die ich noch in der Jackentasche hatte. Erst danach und kurz vor dem Eintreffen des Jugendamtes habe ich einen Namen aus dem Jungen herausbekommen. Er hieß so wie Sie. Adam Schürk. Nur dass seine Stimme den Namen nur flüstern konnte, aus Angst vor dem mächtigen Vater.“

Eigentlich hätte er Schürks Namen nicht mehr sagen müssen, so bleich, wie der andere Mann bereits zu Anfang seiner Geschichte geworden war. Seine ausgeprägte Kiefermuskulatur arbeitete und die Sehnen am Hals traten deutlich zum Vorschein, als er Georgs Worten zuhörte und begriff, was er sagte. Seine Atmung ging mit jeder Sekunde hektischer und seine langen Finger ballten sich zu Fäusten, in denen die Knöchel weiß hervortraten. Schürk sah so aus, als würde er gleich umfallen und Georg lächelte schmerzlich. 

„Ich habe mich immer gefragt, was aus diesem armen Jungen geworden ist. Ich habe das den Bearbeiter des Jugendamtes gefragt, der mir gesagt hat, dass alles gut sei und dass sich um den Jungen gekümmert worden wäre. Ich habe mich das bis zum ersten Moment gefragt, in dem ich die Kolleginnen und Kollegen über Sie haben sprechen hören und Sie das erste Mal gesehen habe. Bis ich Sie zusammen mit Ihrem Vater gesehen habe. Und da habe ich mich gefragt, auch angesichts der Tatsache, wie sehr mein Sohn vor Ihnen zurückzuckt und wie unglücklich er in Ihrer Gegenwart erscheint, wieviel von dem Mann, vor dem der Junge so viel Angst hatte, schließlich auf den Jungen übergegangen ist.“

Schürk sagte nichts, doch sein Gesicht zeigte nun deutlichen Hass. Soviel Hass, dass es Georg Angst machte und er zurückzuckte, als er Schürk mit einem Schritt auf ihn zutrat und ihn überragte. Er hatte seine Fäuste gehoben, als wollte er ihn schlagen und dennoch passierte nichts. Dafür arbeitete es in dem markanten, mit hektischen roten Flecken übersäten Gesicht. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt und er sah aus, als wäre er ein Raubtier, das kurz vor dem Absprung war…gleichzeitig jedoch auch wie ein Mensch, der am Liebsten weglaufen würde. Er entschied sich fürs Erstere, auch wenn er dafür einen unangenehm langen Zeitraum brauchte. 

„Sie wollen die Wahrheit?“, schnappte Schürk und lächelte so grausam, dass es Georg schüttelte. Er bleckte wie ein Tier die Zähne und legte den Kopf schief.
„Sie bekommen sie. Sperren Sie gut Ihre Ohren auf, Hölzer, denn ich sage das Folgende nur einmal.“

Georg hatte noch nie so ein sadistisches Lächeln gesehen und es fuhr ihm durch Mark und Bein.

„Ihr Sohn und ich sind nicht zusammen. Ich kontrolliere Ihren Sohn, ich erpresse ihn seit Monaten, damit er das tut, was ich will. Mit seinem kleinen, schmutzigen Geheimnis, jemanden mit einem Spaten ins Koma geschlagen zu haben. So eine wunderbare Leine, an der ich ihn da habe. So angreifbar ist er, dass er sich tunlichst fügt, ansonsten wandert das Ganze zur Polizei und er darf für den Rest seines Lebens hinter Gitter. Ach Moment…ich musste meine Kontrolle über ihn vor Weihnachten ja lockern, weil er versucht hat, sich und mich umzubringen, der Idiot. Und wissen Sie, warum ich ihn so sehr unter meiner Kontrolle halte? Weil ja alles gut ist mit meinem Vater und weil ich so sehr nach ihm komme. Weil er ja so ein netter Mensch ist. So ein Menschenfreund. So ein Polizistenfreund, dass er keinen Vertrag damit hat, ihm in die Quere kommende Bullen umzubringen. So sieht es aus, mit Ihrem Sohn, meinem Vater und allem, was dazwischen ist. Und ich rate Ihnen eine Sache, Hölzer Senior, mischen Sie sich da nicht ein. Halten Sie meinetwegen das Händchen Ihres Sprösslings. Streichen Sie ihm übers Köpfchen, wenn er mich wieder einmal nicht ertragen kann. Aber halten Sie Ihr gottverdammtes Maul. Mein liebenswerter Vater und ich kontrollieren die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Richterschaft. Egal, wem Sie es sagen, wir werden es erfahren und dann können Sie Ihren Sohn, Ihre Frau, Ihre Tochter und schließlich sich vom Boden aufkratzen, erschossen, erwürgt, welche Todesart auch immer meinem Vater einfällt.“

Schürk lachte in beißender, schriller Helligkeit, was Georgs Angst und Panik mit Leichtigkeit befeuerte. In seinen Ohren rauschte es, so sehr von Wut und Schmerz befeuert, dass es Georg unmöglich war, klar zu denken. Leo…er wurde erpresst? Durch Schürk? Er hatte versucht, sich…
Georg schlug die Hand vor seinen Mund, riss sich sie nur Sekunden später wieder weg. 
„Sie widerliches Schwein. Sie ekelhaftes, widerliches Schwein“, sagte er und grollte verzweifelt. Er wollte Schürk packen, ihm ins Gesicht schlagen, ihn würgen für das Ungeheuerliche, was er gerade gehört hatte, was Schürk ihm in aller Ernsthaftigkeit gesagt hatte. Nichts davon tat er, auch wenn die zornige, verzweifelte Hilflosigkeit ihn dazu drängte. Aber er war nicht so jemand. Außerdem…hatte er Angst. Solche Angst um seinen Sohn. 

Um seinen armen Leo.

Wieder tauchte das Bild von dem kleinen Jungen vor seinem inneren Auge auf, der vor ihm gestanden hatte, mit nackter Angst in den Augen. Vor einem Vater, dem er jetzt ähnlicher war als jemals zuvor. 

„Das ist das, was mein Vater aus mir gemacht hat. Bedanken Sie sich bei Ihrem Jugendamt“, grinste Schürk grausam und trat einen Schritt zurück. Die Distanz half und Georg presste zumindest soviel Luft in seine Lungen, dass er genug atmen konnte. 
„Verlassen Sie mein Haus. Gehen Sie und kommen Sie nie wieder. Halten Sie sich von meinem Sohn fern.“
Schürk lachte laut. „Das werde ich nicht. Ich werde ihn weiterhin sehen und zusehen, dass die Dreckssau ihre Hände nicht an noch einen Polizisten legen wird. Sie können ihn fragen, was mit aufsässigen Polizisten passiert ist, die sich in der Vergangenheit verweigert haben. Und dann entscheiden Sie, ob sie Ihre Fresse halten oder ob Sie das Leben Ihrer Familie riskieren wollen.“
„Raus mit Ihnen! RAUS!“, brüllte Georg untypisch für sich, hilflos und zornig zugleich. Wenn er nicht brüllte, dann würde er sich nun wirklich an Schürk vergreifen, dessen war er sich sicher. 

Schürk tippte sich höhnisch an die Schläfe. „Ich empfehle mich.“

Er drehte sich um und ging ins Haus, zog sich Schuhe und Jacke an und warf die Haustür so laut zu, dass Georg es selbst noch im Garten hörte. 

Erst, als er ein Auto in vollkommen überhöhter Geschwindigkeit wegfahren hörte, sackte er auf seiner Gartenbank zusammen und barg sein Gesicht in seinen zitternden Händen. 


~~**~~


Adam bremste scharf, als er beinahe einem von der Seite kommenden Mercedes die Vorfahrt nahm und sein eigenes Auto in einen Totalschaden verwandelte. Mit knapper Not entkam er dem Unfall und nahm das laute Gehupe des anderen Wagens nur am Rand wahr. Er zitterte am ganzen Körper, war kaum in der Lage, das Lenkrad gerade zu halten, geschweige denn, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Sein Kiefer war wie zugeschweist und er hatte das Gefühl, dass er in den nächsten Sekunden nicht mehr in der Lage sein würde zu atmen. 

Mit Mühe brachte er das Auto in zweiter Reihe zum Stehen und wählte seine Notruftaste – die Schnellwahltaste für Vincents Handy. 

Es brauchte keine zwei Mal Klingeln, bevor sein Freund und seine rechte Hand abnahm. „Adam? Was ist los?“, fragte Vincent besorgt und ein Wimmern verließ Adams Kehle. 
„Vincent bitte…komm. Es ist etwas passiert und ich kann nicht…bitte komm“, flehte er nach Luft schnappend und nur marginal hörte er, wie sein Freund sich in Bewegung setzte. 
„Wo bist du, Adam?“

Adam brauchte drei Anläufe um Vincent seine Position zu schicken und presste seinen Kopf auf das Lenkrad, als die Nachricht ankam. 
„Alles klar, Adam, bleib bei mir, ich komme zu dir, ich bin bald da. Ich beeile mich und wenn du solange meiner Stimme zuhörst, kann dir nichts passieren, in Ordnung? Höre einfach auf meine Worte und ich bin ganz bald da.“

Adam erwiderte nichts, doch Vincents Stimme hielt ihn davon ab, einfach hier und jetzt in diesem Auto zu ersticken. Draufzugehen mit der Erinnerung an das, was damals geschehen war und mit dem Wissen, was er am heutigen Tag getan hatte. 

Trotzdem schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und erst Vincent, der sacht die Tür öffnete und ihn von seinem Gurt befreite, brachte Luft in seine Lungen. Ebenso sanft half er ihm aus dem Wagen und hielt ihn, während Adam sich hustend und würgend auf dem Grünstreifen der Straße übergab und nicht mehr die Kraft hatte, sich auf seinen Beinen zu halten.


~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

....sorry? o.O

Chapter 25: Die Stille nach dem Sturm

Notes:

Einen wunderbaren Abend euch allen,

inmitten von Abgründen, Katzen und Tigern hier nun der neue Teil zur Anatomie. Ich bleibe meiner (wie ich seit dem gestrigen Tag weiß) nur partiell canon-passenden Charakterisierung für Vincent treu, ich hoffe, ihr seht es mir nach! ;) Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und weiterhin eine schöne Weihnachtszeit. Passt auf euch auf und lasst es euch gut gehen!

Chapter Text

 

Schlotternd saß Adam an dem dicken Baumstamm gelehnt, seine Jacke eine notdürftige Decke über seinem Oberkörper. Nachdem er alles losgeworden war – Kaffee, Kuchen, Magensäure – hatte Vincent ihn vorsichtig an den Stamm gelehnt und saß nun mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an seiner Seite. Adams Augen brannten und er wünschte, dass es nur von der ätzenden Magensäure wäre, die sich seine Speiseröhre hinaufgekämpft hatte. 

Vincents Hände auf seinem Körper waren ein Anker, aber Adam fragte sich ernsthaft, wie lange sie noch dort bleiben würden, wenn Vincent hörte, was er getan hatte. Fünf Monate nach Weihnachten und er hatte es zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit verbockt. So richtig verbockt dieses Mal. Hölzer kannte ihn von früher, hatte Erinnerungen freigesetzt, die Adam panisch und ängstlich gemacht hatten und was hatte er getan? Zurückgeschlagen, weil er wusste, dass der ihm gegenüberstehende Mann hilfloser war als sein Vater. Also hatte er in rasender, blinder Wut alles von sich gegeben, was er nie hätte sagen dürfen. 

Nie. NIE.

Der Fallout dessen war unberechenbar und dennoch vorhersehbar. Hölzer würde zur Polizei gehen, sein Vater würde Hölzer Junior umbringen und ihn dafür strafen, dass er versagt hatte. Vincent wäre ebenfalls in Gefahr und nur, weil Adam seinen Mund nicht hatte halten können. 

„Was ist geschehen?“, murmelte Vincent und Adam holte schluchzend Luft. 
„Ich…ich…du musst gehen, ich habe dumme Dinge getan, ich...ich….“ Wirklich kohärent war er nicht und Vincent nahm das mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis. 
„Adam, ich gehe nicht“, betonte er und Adam schnaubte. 
„Doch, wirst du. Ich habe schlimme Dinge getan.“
„Das glaube ich nicht, Adam.“

Es brauchte seine Zeit, bis Adam die Kraft fand, Vincent in die Augen zu sehen. Noch viel länger brauchte er, um mehr zu können, als den rauen Stamm in seinem Rücken und die unbequeme Betonkante unter seinem Hintern zu spüren.

„Ich habe Hölzers Vater alles erzählt. Alles. Dass wir seinen Sohn erpressen, dass die Dreckssau Bullen umgebracht hat, dass die Dreckssau seinen Sohn umbringen wird. Dass Hölzer versucht hat, mich umzubringen…dich habe ich nicht erwähnt…wenigstens das…wenigstens…“

Adam musste nicht in Vincents Augen sehen um zu wissen, dass dieser entsetzt war von dem, was Adam ihm gerade gesagt hatte. Vollkommen ratlos und hilflos im Angesicht dessen, was Adam getan hatte und wie er ihr System mit Füßen getreten und in die Luft gesprengt hatte.
Vincent schlug sich eine Hand vor den Mund und es war tatsächlich Panik in seinen Augen.

„Das hast du getan?“, wisperte er und Adam nickte elendig. 
„Der…der Alte kennt mich. Er hat…hat gesagt, dass er der am Empfang war, damals, als ich zum Jugendamt gegangen bin. Er war derjenige, der mich zu dem Arschloch von Jugendamtbearbeiter gebracht hat. Und er erinnert sich an mich. An den Jungen, der ich damals war. Er…er…das war eine Falle, er wollte mich nur darauf ansprechen, dass ich…“ Adam donnerte seinen Hinterkopf gegen den Baumstamm. 
„Vincent, du muss gehen. Hölzer wird zu den Bullen gehen und es wird alles auffliegen. Die Dreckssau soll dich nicht bekommen. Du musst gehen“, flehte er, doch der sich langsam auf den Boden setzende Mann im Rock blieb stur. 
„Nein, Adam. Ich bleibe. Ich muss nur…ich kann nur gerade noch nichts sagen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie wir weitermachen sollen.“

Adam dachte nicht, dass Vincent seine Hand nehmen würde, als er sie ihm hilfesuchend entgegenstreckte. Dass er es dennoch tat, war ein Wunder.

Das Adam nicht verdient hatte mit seinem Wahn, alles zu zerstören, was ihm vermeintlich gefährlich werden konnte.


~~**~~


Leo betrat stirnrunzelnd das Haus seiner Eltern. Schürks Wagen stand nicht mehr vor ihrem Haus und mit einem Blick an die Garderobe stellte er fest, dass auch Jacke und Schuhe fehlten. 
Er erlöste Herbert von der Leine und streifte seine eigenen Schuhe ab. 
„Papa?“ Fragend sah er ins Wohnzimmer, wo sein Vater von ihm abgewandt mit eingesunkenen Schultern am Tisch saß, den Blick nach draußen gerichtet. Er reagierte nicht auf Leo und ebenso nicht auf Herbert, der ihn freudig begrüßte, bevor er unsicher verharrte. 
„Papa? Was ist?“, fragte Leo und kam um ihn herum. Er hielt inne als er das gerötete Gesicht seines Vaters sah und damit die Tränen, die gefallen waren und immer noch in seinen Augen standen.
 
„Was ist los?“, wiederholte Leo alarmiert und legte ihm die Hand auf die Schulter, musterte ihn besorgt. Hinter ihm kam seine Mutter ins Wohnzimmer und musterte ihren Mann ebenso sorgenvoll. 
„Georg?“, fragte sie sanft und runzelte besorgt die Stirn. 
Erst sein Vorname schien seinen Vater aus der Starre zu lösen zu können und blind sah er zu ihnen hoch. Schweigend sah er von seiner Frau zu Leo und blieb dort mit schmerzverzerrtem Gesicht hängen. 
„Würdet ihr euch setzen. Bitte?“, wisperte er und wischte sich fahrig über das Gesicht, starrte an ihnen vorbei nach draußen in den Garten. 
„Wieso?“, fragte Leos Mutter sanft und sein Vater presste gepeinigt die Lippen aufeinander. 
„Bitte.“

Leo gehorchte beinahe augenblicklich, aber nur, weil er seinen Vater noch nie so erlebt hatte. Er holte sich einen Stuhl und setzte sich unweit seines Papas an den Tisch. Seine Mutter nahm neben ihm Platz und gemeinsam warteten sie darauf, dass er die Kraft dazu fand zu sagen worum es ging. Es fiel ihm deutlich schwer und mehrfach schluckte er. 

„Ich habe Schürk damit konfrontiert, dass ich ihn von früher kenne, als er als kleiner Junge am Empfang im Rathaus gestanden und um Hilfe gebeten hatte. Er hat es nicht gut aufgenommen und ist ausgerastet. Er hat mich bedroht und mir Dinge an den Kopf geworfen, die….“ Sein Vater schloss gepeinigt die Augen und Leos Herz ging in einen schmerzhaft schnellen Takt über. Sein Vater kannte Schürk schon so lange? Wieso hatte er keinen Ton darüber verloren? Wieso hatte er ihm nichts gesagt, nachdem Schürk an Weihnachten hier gewesen war?

„Leo…hast du versucht, dich und ihn umzubringen, vor Weihnachten?“, fragte der Mann, den Leo immer nur als einen starken, unbeugsamen Mann kennengelernt hatte, mit leiser, gebrochener Stimme und Tränen in den Augen. Seine Worte trafen Leo wie Pistolenkugeln und er erstarrte. Was er versucht hatte, wusste niemand außer seinem Team, Ross und Schürk…was hatte der blonde Mann seinem Vater gesagt? Wieso hatte er es gesagt? Leo schwieg ängstlich und spürte anhand der sich verändernden Stimmung zwischen ihm und seinen Eltern, dass er sich alleine dadurch verriet. 

Sein Vater weinte wieder und seine Mutter presste ein ersticktes „Was?“ hervor. Bestürzt sah sie Leo an, die Lippen hilflos geöffnet. Sie war bleich und Leo senkte beschämt den Blick. Er hatte ihr das nicht sagen wollen, auch seinem Vater nicht. Er hatte nie gewollt, dass die Beiden sich nach seiner Jugend wieder solche Sorgen um ihn machten. Niemals. Ebenso wenig wollte er, dass sie ihn dafür verachteten, was er getan hatte. Einen Polizistensohn zu haben, der kriminell war…welche Eltern wollten da denn schon?

„Erpresst er dich schon seit Monaten und zwingt dich, das zu tun, was er will?“, fragte sein Vater weiter und Leo presste die Fingerkuppen auf den Stoff seiner Chino. Herbert stupste ihn unsicher an, auf der Suche nach einer Erklärung für die veränderte Stimmung im Raum. Zittrig legte Leo eine Hand auf den massigen Kopf und strich beruhigend darüber. 

Wieder eine Wahrheit, die nur von Schürk selbst stammen konnte. Leo presste seine Lippen aufeinander. Er musste keine verbalen Antworten geben. Sein Vater las es in seinem abgewandten Gesicht. Alles davon. 

„Droht er dir mit…deinem…und unserem Tod?“
Das Kitzeln auf seinen Wangen waren seine eigenen Tränen, stellte Leo erschrocken fest und Hebert winselte. Er reckte den Kopf und seine große Zunge fuhr großflächig, aber vorsichtig über Leos Wange.

„Hast du…jemandem…einen Spaten über den Schädel geschlagen…?“
Leo presste fest seine Lider aufeinander. Schürk hatte restlos alles verraten. Alles, was er jemals vor seiner Familie hatte verheimlichen wollen. Alles, wovor er sie jemals beschützen wollte. Alles lag ekelhaft hässlich brach und er fand weder den Mut noch die Kraft zu lügen. 

Leo nickte. „Ja, es stimmt alles. Er hat nicht gelogen“, sagte er tonlos und die darauffolgende Stille war so ohrenbetäubend dass Leo glaubte, unter der Last dessen zu ersticken. Er traute sich nicht, aufzusehen und in die enttäuschten und bestürzten Gesichter seiner Eltern zu sehen. Ein Sohn, der ein Straftäter war, ein Sohn, der versucht hatte, einen Mord zu begehen, ein Sohn, der versucht hatte, sich selbst umzubringen. Ein Sohn, der es nicht schaffte, sich aus einer Erpressung zu lösen und sich nach Monaten damit abgefunden hatte, das er keine andere Wahl hatte als sein eigenes Leben aufzugeben. Und dazu dann noch seinen Erpresser in sein Elternhaus schleppte und ihn an den Kaffeetisch setzte. 

Herberts Kopf lag auf seinem Oberschenkel und war Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Traurig musterten ihn die braunen Augen und Leo strich ihm immer wieder über den Kopf. Es dauerte nicht lang, bis er erneut in eine Gedankenspirale abrutschte, die ihm Horrorszenarien vorgaukelte. Wie seine Eltern ihn aus dem Haus jagten und die Kolleginnen und Kollegen riefen, weil er ein Straftäter war und ihnen seit Jahren etwas verschwieg, was ihn zu einem schlechten Menschen machte. Weil er vor Weihnachten etwas Ungeheuerliches getan hatte. 

Sein Vater schluchzte hinter der Hand, die er auf den Mund gepresst hatte und auch die Schultern seiner Mutter bebten. Leos Sicht auf seine Oberschenkel verschwamm ebenso. 
„Es tut mir leid, dass ich euch nichts gesagt habe. Es tut mir leid, dass ihr es so erfahren habt. Es tut mir leid, dass ich euch mit so etwas belasten muss und ihr keinen guten Sohn habt.“
„Nein!“, begehrte sein Vater wütend auf. Sein Kopf ruckte hoch und die Bewegung ließ Leo zusammenzucken. Verneinte sein Vater seine Entschuldigung? Der Wunsch, dass sie ihn nicht verstießen?  

„Du bist unser Sohn, wir lieben dich. Wir. Lieben. Dich. Ich liebe dich.“ So zornig, wie sein Vater die Worte herauspresste, fiel es Leo schwer, sie ihm zu glauben. Erst verspätet fiel ihm auf, dass der Zorn nicht ihm galt, sondern seinen Worten. Seiner Annahme, dass er kein guter Sohn war.
„Warum hast du uns nichts gesagt?“, fragte seine Mama und suchte mit ihren Fingern Leos Hand. Ihre Berührung tat gut, auch wenn Leo nicht sicher war, ob er sie verdient hatte.

„Weil ich euch nicht da hereinziehen wollte“, erwiderte er leise. „Matthias‘ Vater war gewalttätig. Er hat Matthias geschlagen, immer und immer wieder. Es wurde immer schlimmer und irgendwann hatte ich Angst, dass er ihn totschlägt, weil er nicht aufgehört hat. Vor allen Dingen an dem einen Tag… da war ich dabei und in der Ecke stand ein Spaten, den habe ich gegriffen. Ich habe zugeschlagen und Matthias‘ Vater ist umgefallen. Er liegt bis heute im Koma.“
Trotz seiner schlimmen Worte strich seine Mutter ihm weiter über die Finger. 
„Das muss vor Jahren gewesen sein.“ Die Stimme seines Vaters klang bestürzt und Leo nickte elendig.
„Zwei Jahre vor seinem tödlichen Unfall.“
„Du warst noch ein Kind…“

Er war ein Jugendlicher gewesen und hatte sich strafbar gemacht. Er hatte geschwiegen und nun lag der Mann, den er davon abhalten wollte, seinen damaligen Freund zu schlagen, seit Jahren im Koma. 

„Und damit erpresst er dich?“
Leo nickte elendig. „Er hat meine Wohnung durchwühlen lassen, als er beschlossen hat, mich zu erpressen. Dabei hat er mein Tagebuch gefunden, wo ich quasi ein Geständnis abgelegt habe. Damit erpresst er mich seit fast einem Jahr und ich muss tun, was er verlangt. Er will Informationen über meine Fälle, er sagt mir, wenn ich Fälle manipulieren muss, er verlangt, dass ich Zeit mit ihm verbringe.“ 

Nun war es raus, alles davon. Die Erleichterung, die er bei Pia und Esther unterm Strich gefühlt hatte, stellte sich hier nicht ein. Leo fühlte sich schrecklich. Nichts davon hatte er jemals auf seine Eltern abladen wollen. Es war eine Bürde, die er ausschließlich alleine zu tragen hatte. Eine Belastung, die auf keinen anderen Schultern liegen sollte als auf seinen eigenen. 

„Hast…hast du deswegen versucht, dich umzubringen?“, fragte seine Mama fast flüsternd und Leo presste die Lippen aufeinander. Um Zeit für die Antwort zu gewinnen, strich er über Herberts Schädel. 
„Ja, habe ich. Vor Weihnachten habe ich versucht, ihn und mich zu… erschießen. Aber ich konnte es nicht. Deswegen bin ich auch Weihnachten zu euch gekommen. Damit ich nicht alleine bin. Bei euch, also bei jemanden, der aufpasst. Und da ist.“

Wie sehr es ihn immer noch belastete, merkte Leo an den Tränen, die auf seine Hose tropften. Er zitterte und zuckte entsprechend überrascht zusammen, als seine Mutter seine Hand losließ. Jedoch nur, erkannte er ein paar Sekunden später, um ihn gegen ihren warmen, weichen Körper zu pressen. Leo traute sich nicht, ihre Umarmung zu erwidern, aber er konnte nicht verhindern, dass er seine Stirn an ihren Bauch bettete. 

„Es tut mir leid“, murmelte er. „Es tut mir so leid, dass ich kein guter Sohn bin und dass ich euch Schmerzen bereite. Das wollte ich nicht. Wirklich nicht.“
Sein Vater erhob sich und umarmte Leo ebenfalls, schloss somit den Kreis. 
„Du bist der beste Sohn, den wir haben“, murmelte er. „Du bist unser Junge, unser Sohn und du hast nichts falsch gemacht. Du hast dir nichts vorzuwerfen und du musst dich schon gar nicht dafür entschuldigen, dass du so verzweifelt warst, dass du…“ Sein Vater stockte, konnte nicht aussprechen, was Leo beinahe getan hätte. „Es war gut, dass du zu uns gekommen bist, Leo. Ich freue mich so sehr, dass du uns soviel Vertrauen geschenkt hast um bei uns zu sein. Ich freue mich so sehr, dass du heute immer noch hier bist. Bei uns.“

Leo schwieg, ließ sich gedanklich wie körperlich in die Nähe seiner Eltern und Herberts fallen. Er ließ ihre Nähe durch ihre Körperwärme durch sich hindurchfließen und lauschte ihren Herzschlägen, die sich so widersprüchlich gegen seine Haut drückten. 

„Ich will das nicht mehr…sterben meine ich. Es ist besser geworden nach Weihnachten. Erträglicher“, murmelte Leo in der Hoffnung, seine Eltern beruhigen zu können. „Er hat sein Verhalten mir gegenüber geändert. Danach. Er hat gesehen, dass er mich dahin getrieben hat.“ Dass Schürk ihm mehr Freiraum ließ, traute er sich nicht zu sagen. Es klang…falsch. Es klang niedergerungen. 
„Tut er dir weh?“, fragte seine Mama und Leo schüttelte den Kopf, lehnte sich an sie und sah an ihr vorbei in den Garten. So wie zu Weihnachten.  
„Nicht mehr. Er hat mir am Anfang viel Angst gemacht.“
„Das merkt man, Leo. Du hast diese Angst immer noch in dir.“
Leo schnaubte. „Jetzt bin ich primär wütend. Er ist eine lästige Belastung in meinem Leben.“

Sobald er es geäußert hatte, wusste Leo, dass es genau das war. Schürk war von einer absoluten Bedrohung seines Lebens zu einem lästigen Element geworden. Einem Termin, den er wahrzunehmen hatte einmal die Woche. Auch und gerade dadurch bedingt leichter, dass er Pia und Esther die Informationen lieferte, die er dadurch erlangte. 

„Er hat gesagt, dass sein Vater lästige Polizisten umbringt und dass dein Leben und auch unsere Leben in Gefahr sind, wenn jemand etwas davon erfährt.“ 
Leo blinzelte. Das war also die große Gefahr im Hintergrund. Der Vater, der Patriarch des Syndikats. Wie er es bereits vermutet hatte, aber nie wirklich die Bestätigung bekommen hatte.
„Er schien trotz seiner hässlichen und verletzenden Worte seinen eigenen Vater nicht zu mögen“, schob sein Papa nachdenklich nach und Leo hob den Kopf. 
„Weil er ihn misshandelt?“, stellte Leo als Frage in den Raum und er sah zu seinem Vater empor. Sacht löste der sich von ihm und ließ sich mit einer Hand auf seinem Oberarm auf den Stuhl zurückgleiten. Seine Mutter hielt ihn noch einen Moment länger, dann zog sie sich ihren eigenen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Nachdenklich runzelte Leo die Stirn. „Was war damals? Als du ihn zum ersten Mal getroffen hast. Warum hast du mir das ein Weihnachten nicht erzählt?“

Er hatte kein Mitleid für Schürk, mit Sicherheit nicht. Vor allen Dingen nicht jetzt, nachdem Schürk die erstbeste Gelegenheit dafür genutzt hatte, seinen Eltern wehzutun. 

„Er kam als kleiner Junge zu uns, in die Stadtverwaltung und hat um Hilfe gefragt. Ich habe ihn zum Bearbeiter des Jugendamtes gebracht und gedacht, dass ihm dort geholfen wird. Anscheinend…wurde es das nicht. Er hat gesagt, das ich mich beim Jugendamt bedanken soll, dass er so geworden ist, wie er heute ist.“
Leo schnaubte stumm. Natürlich, typisch Schürk. Anderen die Schuld geben für sein eigenes Versagen. 
„Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich dir damit nicht wehtun wollte.“ 

Weil er auch geschlagen worden war, hörte Leo in den nicht gesagten Worten. Weil es etwas in dir auslösen könnte. 
Wenn Leo seinem Vater erzählen würde, wie oft er sich in Berlin mit potenziellen Straftätern körperlich auseinandersetzen hatte müssen, dann würde dieser mit Sicherheit mehr als erschrocken sein. Das hatte Leo nichts ausgemacht, im Gegenteil. Es war oftmals befriedigend gewesen, als Gewinner aus solchen Zweikämpfen herauszugehen. Warum Schürks Angriff auf ihn dann immer noch in seinen Träumen auftauchte, war Leo gar nicht so sehr ein Rätsel, wie man es vermuten mochte. Schließlich war Schürks Gewalt intim und brutal gewesen, nicht hilflos. Sie hatte ihn zu einem Zeitpunkt erwischt, in dem er keine Schutzwälle mehr hatte. 

Im Gegensatz zu jetzt. 

„Er sagte, dass er dich erpresst, damit die Dreckssau dich nicht umbringt“, durchschnitt sein Vater seine Gedanken und Leo nickte. 
„Bei mir nannte er ihn Arschloch.“ Leo überlegte. „Ich weiß, dass es das nicht besser macht, Papa, aber…ich glaube, sein Vater ist der schlimmere Mensch.“
Dass diese Aussage bei seinem Vater nicht auf Gegenliebe stieß, war nur zu deutlich. „Nein, ich glaube, beide tun sich nichts. Er hat dir wehgetan, so sehr, dass du dich umbringen wolltest. Wie kann man so etwas verzeihen?“ 

Ja, wie konnte Leo damit leben? Das war eine gute Frage. Dank Ross konnte er es, der ihm Schürks Denkweise nähergebracht hatte. Wieder und wieder hatte er Brücken gebaut, hatte vermittelt, hatte Leos schlimmen und schlechtem Bild etwas Anderes dagegengesetzt. Leo schwieg, zu sehr gefangen in seinen Gedanken und Emotionen, die konkurrierend in ihm tobten. 

„Er war es… oder? Er hat dich geschlagen und gewürgt. Diese Hämatome waren nicht von einem Einsatz.“ Die Wahrheit in der Stimme seiner Mutter ließ Leo zusammenzucken. Seine Augen huschten kurz zu ihr und er verspürte ein schlechtes Gewissen, dass er sie angelogen hatte. Auch seinen Vater, der schweigend an seiner Seite verharrte und dessen Gesicht ein düsteres Zusammenspiel aus Zorn und Missfallen war. 
„Ja, er war das. Ich habe seinen Ziehonkel verhaften lassen und er ist ausgerastet.“ Alarmiert sah Leo hoch. „Hat er dir etwas getan, Papa?“, fragte er mit plötzlich klopfendem Herzen und sein Vater verneinte nonverbal. 
„Er hat den Sicherheitsabstand unterschritten, nicht mehr.“

Das war gut, denn wenn Schürk sich auch noch körperlich an seiner Familie vergriffen hätte, wäre Leo jetzt aufgestanden und zu ihm zu fahren. 

„Du musst damit zu deinen Kolleginnen und Kollegen“, sagte seine Mutter und Leo schüttelte den Kopf. 
„Das geht nicht, Mama. Es sind tatsächlich Polizisten gestorben und wenn der Patriarch es wirklich ernst meint, dann seid ihr alle in Gefahr. Das kann ich nicht zulassen.“
„Aber er erpresst dich! Er tut dir weh. Er würgt und schlägt dich.“
Schuldbewusst sah Leo hoch. 
„Er erpresst mich seit Monaten, Mama. Und…er hat es nur einmal getan. Also mir körperlich wehgetan. Er hat sich dafür entschuldigt.“
Sein Vater grollte. „Wie alle Täter immer. Sich entschuldigen und es dann doch wieder tun“, erwiderte er erbost und Leo senkte seine Augen. Er kam sich dumm vor, Schürks Verhalten auch noch klein zu reden. Er kam sich tatsächlich vor wie die Frau, die von ihrem Mann misshandelt wurde und ihn dennoch verteidigte. 

Was er in Berlin hunderte Male erlebt hatte. Wieder und wieder der gleiche, frustrierende Mist.

Firm fasste sein Vater ihn an den Händen und drückte zu. „Entschuldige bitte, ich hätte das nicht so formulieren sollen. Du bist mein erwachsener, kluger Sohn, du weißt, wie du Menschen einzuschätzen hast. Du bist derjenige, der es durchgemacht hat, nicht ich und du bist derjenige, mit dem Schürk gesprochen hat.“

Leo schluckte schwer und sah kurz hoch. Die Worte gaben ihm mehr Kraft als er es gedacht hatte und er zwang ein kurzes Lächeln auf seine Lippen. 

„So wie es ist, ist es im Moment wirklich okay. Ich bin nicht wehrlos, versprochen. Wirklich nicht. Und er bereut, was er vor Weihnachten getan hat. Das merke ich auch in seinen Handlungen. Nicht nur in seinen Worten.“

Seine Eltern tauschten niedergeschlagene Blicke miteinander.

„Aber was, wenn deine Kolleginnen und Kollegen es mitbekommen?“, lenkte sein Vater auf ein anderes Thema um und Leo dachte an den Abend, den er mit Pia und Esther zusammen verbracht hatte, in der festen Annahme, sie würden ihn nun verhaften. 
„Das werde ich dann sehen“, erwiderte er eingedenk der Möglichkeit eventueller Wanzen ausweichend. „Ich habe aber Pläne, falls es so sein sollte. Bitte, Mama und bitte Papa, unternehmt nichts. Macht keine eigenständigen Schritte. Bitte nicht. Bitte vertraut mir, wenn ich sage, dass alles gut werden wird. Ich weiß, dass euch nun das Wissen aufgebürdet wurde, dass ich ein noch nicht verurteilter Straftäter bin, aber bitte, sagt noch nichts. Erstattet noch keine Anzeige gegen mich. Erst wenn…“ Ja, wenn was?

Geschockt atmete sein Vater ein. „Als wenn wir jemals Anzeige gegen dich erstatten würden, Leo!“
„Aber das solltet ihr, weil ich mir etwas zu Schulden habe kom-“
„Leo Eduard Hölzer.“

So streng hatte Leo seine Mama in den letzten Jahren selten gehört und er zuckte zusammen, zog die Schultern hoch, den Kopf ein. Sein zweiter Vorname, das am Besten gehütete Geheimnis seines Seins, so genannt nach seinem Großvater mütterlicherseits. Niemand sprach ihn damit an außer seine Eltern in Kindertagen und Pubertätszeiten und auch das nur, wenn er wirklich wirklich Mist gebaut hatte. Anscheinend so wie jetzt. 

„Wir werden dich mitnichten anzeigen und wage es ja nicht, uns das noch einmal vorzuschlagen. Du bist unser aufrichtiger, gut erzogener, werteversessener Sohn.“
Leo überlegte und grub seine Zähne in die Unterlippe. War er nicht und das wussten sie alle hier. Dank Schürk hatte seine Eltern keine Illusionen mehr, wer ihr Sohn war. 
„Aber wenn es soweit sein sollte, dann wusstet ihr von nichts“, schob er nach und wagte den Blick in die Augen seiner Mutter und seines Vaters. „Und bitte sagt Caro nichts. Sie soll nicht auch noch hineingezogen werden. Bitte.“

Grimmig starrten seine Eltern zurück. „Du verlangst viel von uns, Leo“, erwiderte sein Vater ernst. „Ich weiß doch noch nicht einmal, wie ich das Wissen um das, was dieser Bastard dir angetan hat, verarbeiten soll. Er gehört dafür bestraft. Für jede einzelne Sekunde Schmerz, die er dir bereitet hat und Gewalt, die er dir angetan hat. Wie erträgst du seine Nähe? Wie kannst du nur ein freundliches Wort an ihn richten? Wie schwer muss es dir gefallen sein, uns Weihnachten etwas vorzuspielen und so tun, als wäre der Mann neben dir kein Monster?“ Seine Stimme war immer und immer leiser geworden und Leo schluckte mit Tränen in den Augen. 

„Ich habe gelernt, damit zu leben“, rutschte es ihm heraus, bevor er sich beherrschen konnte und sein Vater schüttelte fassungslos den Kopf. Seiner Mutter standen erneut die Tränen in den Augen und Leo konnte nicht viel anderes tun als ihre Hand zu ergreifen und sie sacht zu drücken. 

„Bitte bleib heute hier“, flehte sie und Leo nickte stumm. Wenigstens das konnte er seinen Eltern Gutes tun, wenn er sie schon wieder, 20 Jahre nach seiner Teenagerzeit, in Sorgen stürzte. 

„Wir werden Caro nichts sagen, sondern das dir überlassen. Wenn du die Zeit als gut ansiehst, dann wirst du sie informieren“, versicherte ihm sein Vater und Leo atmete erleichtert auf. Es war nicht viel, was ihm als Last genommen wurde, aber zumindest ein bisschen. 


~~**~~


Müde rieb sich Leo über die Augen und sah auf den Kopf herunter, der schnarchend und sabbernd an seiner Brust ruhte. 

Nachdem er den Abend im unangenehmen, niedergeschlagenen Schweigen mit seinen Eltern verbracht hatte, waren sie ins Bett gegangen und er hatte sich in sein ehemaliges Kinderzimmer zurückgezogen. Eigentlich um nachzudenken und sich einen Plan zu überlegen, wie er Schürk noch heute Nacht heimsuchte und ihn mit allem konfrontierte, was dieser seinen Eltern angetan hatte. 

Herbert war ihm zuvor gekommen, als er sich in Leos Zimmer gestohlen hatte und zu ihm aufs Bett geklettert war, die langen Beine und die Schnauze überall, ja auch in gefährlicher Nähe zu Leos Hoden, bevor er sich der Länge nach auf ihn legte und seinen Kopf an Leos Bauch und Oberkörper bettete. 
Bevor Leo auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, aufzustehen und sich mitten in der Nacht aus dem Haus seiner Eltern zu stehlen, war Herbert mit einem Grunzen eingeschlafen und schnarchte an seinem Brustkorb, sein Sabber Leos Shirt durchnässend. 

Leo wagte nicht, sich zu bewegen und hatte seinen Kopf mit einem stummen Aufseufzen an das Kopfteil gebettet. Zumindest hielt das seine Wut in Grenzen und gab ihm die Möglichkeit, auch über seinen Zorn hinweg nachzudenken. 

Ob er Esther und Pia von Schürks Eskalation erzählen sollte. Ob es Sinn machte, sich nicht zu stellen. Ob er jemals die Traurigkeit und Enttäuschung seiner Eltern besser machen können würde. Öfter als es ihm lieb war, kehrten seine Gedanken zu Schürk zurück und zu dem absoluten Gegensatz, den der Mann in sich darstellte.

Schürk war ein Teufel – das wäre einfach zu denken, aber Leo ging nicht aus dem Kopf, was sein Vater ihm erzählt hatte. Schürk war ausgerastet, als sein Papa ihn mit seiner Kindheit konfrontiert hatte. Einer ganz und gar nicht schönen Kindheit. 

Schürk war von seinem Vater geschlagen worden und hatte sich Hilfe gesucht. Hilfe, die er anscheinend nicht bekommen hatte. Leo, Adam hat Schmerzen, kamen ihm Vincents Worte ins Gedächtnis. Du hast Adam wehgetan. War es immer noch so und der Patriarch schlug ihn? Es waren keine Gedanken, die er sich eigentlich machen sollte, denn sie zeigten Schürk als Opfer und nicht als Täter.

Und Schürk war doch nur letzteres. 

Zumindest konnte sich Leo nicht erlauben, ihn als etwas Anderes zu sehen, denn Mitleid oder Verständnis für den Mann zu haben, der ihn bedrohte, ihm unmittelbaren Zwang aussetzte und nun auch noch seinen Eltern unfassbar wehgetan hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. 

Warum ihm dabei dann trotzdem die Beschreibung seines Vaters des kleinen hageren Jungen nicht aus dem Kopf ging, war Leo ein Rätsel. 


~~**~~


Vincent war nicht nur ratlos, er war auch hilflos. Zum ersten Mal, seit er mit Adam zusammen beschlossen hatte, ihr System aus Verknüpfungen aus dem Nichts zu erheben, wusste er nicht mehr weiter. Adam war seit gestern zu nichts mehr zu gebrauchen. Er lag im Bett, die Decke halb über seinen Kopf gezogen und starrte die Wand an. Ab und an schlich er wie ein Geist aus dem Zimmer um ins Bad zu gehen und er aß nur, wenn Vincent ihn mit Engelszungen dazu überredete. Was er bisher einmal geschafft hatte. 

Auch Vincent war nicht wirklich zum Essen zumute. Er würde Adam nicht verlassen, egal, wie oft dieser ihn darum gebeten hatte in den letzten Stunden. Aber das, was Adam getan hatte, war eine Katstrophe. Mehr Mitwisser, unberechenbare Mitwisser, die Vincent nicht einfach so erpressen oder bestechen konnte. Einen gradlinigen Vater, der vermutlich jetzt schon bei der Polizei gewesen war. Oder ein Leo Hölzer, der aus Wut auf einem Rachefeldzug war. Es waren so viele Variablen, die er nicht berechnen konnte, dass es ihm schier schlecht wurde an möglichen Katastrophen, die sich ereignen konnten. 

Vincent hatte gestern Abend noch Adams helfende Hände beauftragt, ein Auge auf Familie Hölzer zu haben und bisher hatte es keine Auffälligkeiten gegeben. Andererseits war aber auch nicht das Haus von Leos Eltern verwanzt, was bedeutete, dass sie nichts über das wussten, was dort geschah. Mit wem Leo Hölzer oder seine Eltern kommunizierten. 

Vincent hatte davon abgesehen, Leo zu kontaktieren und so konnte er nur raten, was in dem anderen Mann vor sich ging. 

Nachdenklich starrte Vincent auf die Tasse mit heißer Gemüsebrühe, die er gerade für Adam zubereitete, damit dessen Magen etwas Warmes und Herzhaftes hatte. Vielleicht würde Adam sie sogar ganz trinken dieses Mal. Er rührte sorgfältig um und schreckte schier panisch hoch, als es klingelte. 

Dass es einer der Nachbarn war, war unwahrscheinlich. Entgegen Adams Behauptung vor Weihnachten, dass das Haus vor den Männern seines Vaters nur so wimmelte, war dem schlicht nicht so. Es lebten ganz normale, nichtsahnende Menschen hier. Menschen, die Adam als Eigenbrödler kennengelernt hatten und ihn in Ruhe ließen. 
Adams Vater ließ es sich manchmal nicht nehmen, unangemeldet vorbei zu kommen und es wäre der ungünstigste Zeitpunkt, den er sich aussuchen könnte. Es wäre ein katastrophaler Zeitpunkt, der sich nahtlos in eine Verkettung von Umständen einreihen würde, die zu Adams Untergang führen konnten. 

Vincent ging zur Gegensprechanlage und die Videoaufnahme zeigte ihm Leo Hölzers ernstes Gesicht. 

Das war unerwartet, so noch nie dagewesen, und könnte auf seine ganz eigene Art und Weise katastrophal werden. Vincent schluckte und betätigte den Summer. Mit mulmigen Gefühl sah er zu, wie Leo das Haus betrat und öffnete die Wohnungstür. So wie es sich anhörte, nahm der Ermittler zwei Stufen auf einmal, anscheinend auf seinem ganz eigenen Kriegspfad. Verdenken konnte Vincent es ihm nicht. 

Die Ruhe, die Leo Hölzer ausstrahlte, sobald er in Vincents Blickfeld kam, war irritierend und beunruhigend zugleich. 
„Hallo Leo.“
„Ross.“
Sein Nachname, seitdem Leo Hölzer ihn kannte, öfter als es Vincent lieb war. Aber wenigstens war er nicht mehr der Handlanger. 
„Würdest du mich Vincent nennen, wenn ich dich darum bitte?“, fragte er und prallte ab an einer unsichtbaren Mauer, die Adam und er gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Gewalt eingerissen hatten. 

Ausdruckslos starrte Leo ihm in die Augen, die Hände locker an seinen Seiten. Polizistenpose, erkannte Vincent. Breite Schultern, verbindliche Gesten. Kein Zurückweichen vor Widerstand.
„Nein, würde ich nicht. Deswegen bin ich auch nicht hier. Ich möchte zu Schürk.“
Vincent schluckte. „Das ist keine gute Idee im Moment, Leo. Du solltest besser ein anderes Mal wiederkommen.“
„Ich möchte zu Schürk“, wiederholte Leo, als hätte er Vincents Worte nicht gehört und ließ erkennen, dass er ein Nein nicht akzeptierte. 
„Das geht nicht. Es ist zu deinem Besten, wenn du es nicht tust.“
„Geh beiseite, Ross. Ich möchte zu Schürk oder ich stelle mich den Kolleginnen und Kollegen.“

Das war keine Drohung, das war ein Versprechen und Vincents Herz machte einen schmerzhaften Satz in seinem Brustkorb. Er trat instinktiv einen Schritt nach vorne und Leo wich vor ihm zurück. Nicht aus Angst, sondern aus absolutem Unwillen, in seine Nähe zu kommen oder angefasst zu werden. Vincent respektierte das und trat den Schritt wieder zurück, nahm sich auch körperlich zurück. Er beschwichtigte nonverbal und erlebte zum ersten Mal, was Leo eigentlich wirklich als Ermittler ausmachte. Hier stand der Teamleiter, der sich nicht unter Druck setzen ließ. Ein Mann, der keine Angst hatte. 

Hier stand der eigentliche Leo Hölzer und Vincent hatte Schwierigkeiten, sich gegen die nonverbale und verbale Dominanz durchzusetzen. 
Er verlor den Kampf schneller als gedacht und trat beiseite, Leos Drohung wie Donnerschläge in seinen Ohren. Keine einzige Silbe dessen war unglaubwürdig gewesen, ganz im Gegenteil. 

„Wo ist er?“
Vincent schloss die Tür hinter sich, froh, Leo erst einmal aus dem Flur bekommen zu haben, hinein in die Sicherheit der Wohnung, weg vom Treppenhaus, von dem aus der zur Polizei gehen könnte. Vincent atmete tief durch. „Leo, bitte, hör mir zu. In seiner momentanen Verfassung wäre jedes Gespräch, das ihr führen würdet, eine schlimme Katastrophe. Es würde so enden, wie euer Besuch bei deinen Eltern und das hilft niemandem etwas. Bitte gib ihm etwas Zeit.“
Leo trat an ihm vorbei und sah ins Wohnzimmer, als hätte er nichts gesagt. Er sah sich um und wandte sich dann zur Küche. 

Leo musterte ihn ernst und die Intensität in seinen Augen ließ Vincent zu Boden sehen. „Entweder du sagst mir, wo ich ihn finde oder ich durchsuche die ganze Wohnung. Ich bin nicht in der Stimmung um mit dir darüber zu diskutieren, Ross. Ich bin auch nicht in der Stimmung, mir deine Argumente anzuhören.“ 
Finale Worte, die jeden von Vincents Beschwichtigungsversuchen zunichtemachten. 
„Er liegt im Bett“, gab Vincent nach, in der Hoffnung, damit wenigstens etwas von dem, was nun kommen würde, durch Kooperation zu verhindern. 
„Gut.“
„Würdest du vorher deine Schuhe ausziehen?“, fragte er und deutete auf Leos Sneaker. Vielsagend hob Leo die Augenbraue und trat an ihm vorbei, ging in Richtung Schlafzimmer. Er öffnete ohne anzuklopfen die Tür und schloss sie mit einem finalen Laut hinter sich. Dass er nicht auch noch abschloss war auch alles. 

Vincent sah ihm nach und begab sich auf leisen Sohlen zur Tür. Er lehnte sich gegenüber an die Wand, bereit, jederzeit einzugreifen, wenn es eskalierte. Nicht falls. Wenn. 


~~**~~


Das letzte Mal, als Leo Schürks Schlafzimmer betreten hatte, war er verzweifelt gewesen, von Angst und Horror schier zerfressen. Ross hatte ihn angeleitet und ihn auf das Bett dirigiert, ihn Stück für Stück beruhigt und Leo gezeigt, dass Gewalt nicht zwangsweise mit Gegengewalt beantwortet werden musste. 

In diesem Moment spürte Leo nichts von der damaligen Unsicherheit und Verzweiflung. Er war wütend und dieses Mal war seine Wut auf Schürk nicht mit erdrückender Hilflosigkeit durchsetzt, sondern mit finaler Ruhe. 

Schürk hatte eine Grenze überschritten, von der es kein Zurück gab. Dass der andere Mann ihn verletzte, war so sehr zur Realität für Leo geworden, dass es nur noch Tropfen in eine Leere voller scheinbarer Gleichgültigkeit war. Noch eine Verletzung mehr auf eine Seite, die ohnehin schon von Schürk vernarbt war, mit größeren und kleineren Einschnitten in sein Selbst. Das, was am Anfang ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war und sich ihm immer wieder hatte übergeben lassen, war mit dem Lauf der Monate zur Gewohnheit geworden. Anpassungsfähig, wie Leo war, hatte er antizipiert und gelernt, mit dem Ziehen zu Leben, was von diesen Narben ausging. 

Jetzt war das anders. 

Das, was Schürk vor Weihnachten nur angedroht hatte, war gestern geschehen. Der Angriff auf seinen Vater und damit auf seine gesamte Familie war etwas, das nicht vernarben konnte. Es war eine klaffende Wunde, die schmerzte. 

Er hatte genug und er war heute hier um ein finale Grenze zu ziehen. Das war das Ergebnis, zu dem er gestern Nacht gekommen war. Er musste einen Schlussstrich ziehen. 

Leo ließ seinen Blick über das ausladende Bett schweifen, in dem unmissverständlich Schürk lag, die langen Beine angezogen, die Decke bis über den Kopf gezogen. Die blonden Haare lagen in wirren Strähnen unter der hellgrauen Decke. Schürk rührte sich nicht, obwohl Leo nicht glaubte, dass er schlief. Dafür hatte er die Tür zu laut hinter sich geschlossen. 
Gut, wenn Schürk es so wollte, dann konnte er es bekommen.

Leo setzte sich in den weißen Sessel am Kopfende des Bettes und stützte seine Unterarme auf die Oberschenkel. Er beobachtete den sich hebenden und senkenden Deckenberg.

„Dass ich für dich nicht mehr als Objekt bin, das dir zur Verfügung zu stehen hat, ist mir schon seit Monaten klar. Dass du, um mich klein zu halten und dir meinen Gehorsam zu sichern, versuchst, mich wie einen Hund zu erziehen, ebenfalls“, begann Leo mit ruhiger Stimme. All die Emotionen der letzten Monate waren die Basis dieser Ruhe, des Zenits, den Schürk überschritten hatte. 

„Dass du dabei meine Familie mit ins Spiel bringst, hast du mir zu Beginn gleich gesagt und vor Weihnachten auch noch einmal bekräftigt, gefolgt von deinem Versprechen, es dann doch nicht zu tun.“
Der Deckenberg fror in seinen Bewegungen ein und Leo wusste, dass er Schürks volle Aufmerksamkeit hatte. 

„Das Versprechen hast du gebrochen, aber ich habe auch nichts Anderes von dir erwartet.“ Keine Sekunde lang nahm Leo seinen Blick vom Bett, seine Haltung entspannt. 
„Gestern hast du mir die Entscheidung genommen, ob ich meinen Eltern davon erzähle, dass ich jemanden mit einem Spaten angegriffen habe. Sie wussten es noch nicht und dank dir wissen sie es jetzt, dass ihr Sohn ein Straftäter ist. Gestern hast du mir ebenfalls die Entscheidung genommen, ob ich meinen Eltern davon erzähle, dass ich seit Monaten von dir erpresst werde. Auf dein Geheiß hin und um sie zu schützen, habe ich mit niemandem drüber gesprochen und mir bisher größte Mühe gegeben, es geheim zu halten. Gestern hast du mir die Entscheidung genommen, ihnen zu erzählen, dass ich versucht habe, mich und dich umzubringen.“

Leo war stolz, dass seine Stimme bei der Erinnerung daran nur minimal zitterte und das auch nur kurz. Er fand schnell zu seinem Weg zurück und dieser lautete heute nicht Emotionalität. 

„Du hast jedes deiner Worte bewusst so eingesetzt, dass es meinen Vater über alle Maßen verletzt hat. Sein Polizistensohn ist jetzt ein Sohn, der jemanden mit einem Spaten den Schädel eingeschlagen hat. Der versucht hat, sich umzubringen. Der versucht hat, jemand anderen umzubringen. Der erpresst wird. Du hast meinem Vater an den Kopf geworfen, dass dein Vater ein Polizistenmörder ist und dass er mich umbringen wird, wenn ich nicht das tue, was ihr wollt. Mein bisher zufriedener Vater und meine glückliche Mutter haben jetzt Angst. Sie haben Angst, um ihr Leben, um meins, um Caros. Sie waren normale Menschen, die mit Gewalt nichts zu tun hatten, bis du sie in den Abgrund gestoßen hast.“

Er ließ seine Worte auf den schweigenden Mann wirken und machte sich bewusst, wie umgedreht ihre Positionen gerade waren. Schürk befand sich in dem Raum der Wohnung, an dem man einen Menschen oft am schutzlosesten und offensten erlebte. Das Schlafzimmer bot wenig Raum für die täglichen Masken, die jeder von ihnen trug, angefangen bei der Kleidung, weitergehend zur Mimik und Gestik. Für Leo war das Schlafzimmer mit der intimste Ort, den die Wohnung zu bieten hatte.

Entsprechend schutzlos hatte er Schürk nun auch hier vor sich. Mochte der andere Mann die Decke als Barriere zwischen ihnen beiden wahrnehmen, so war sie es nicht. Sie konnte ihn weder vor Leo noch vor seinen Worten schützen. Sie konnte ihn auch davor nicht schützen, dass Leo sein Verhalten sah und interpretierte. 

Ebenso wenig konnte sie Schürk davor schützen, dass Leo sich nun erhob, den oberen Rand der Decke griff und sie hinunterzog. Groß und erschrocken starrte Schürk ihm entgegen, das Gesicht bleich und die Augenränder tief und dunkel. Die übliche Arroganz und überhebliche Ruhe fehlten vollständig und Leo fragte sich, ob das der eigentliche Mann hinter all den verletzenden Worten und der zerstörerischen Dominanz war. 
 
„Meine Eltern stehen nun da, wo ich am Anfang mit dir stand. Beim Unglauben über diese unbegreifbare Situation. Bei der Hilflosigkeit und Angst. Ich habe versucht, Ihnen das Trauma deiner Erpressung und deiner Anwesenheit zu ersparen und du hast alle dir zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, um das zu torpedieren. Du hast nicht nur versucht mich zu zerstören, sondern jetzt auch meine Familie.“

Der Analytiker in Leo nahm den feinen Tränenfilm, der in Schürks Augen auftauchte, beinahe augenblicklich zur Kenntnis. Auch das war ein Novum sowie die völlige Abstinenz der üblichen Überlegenheit. Leo fragte sich, warum. Welchen Grund könnte jemand wie Schürk haben zu weinen? Die logische Seite versuchte dafür eine Begründung zu finden, während Leos emotionale Seite vor eben diesem Wissen zurückscheute. Vor allen Dingen jetzt, da etwas in ihm aufkeimte, was sich verdächtig nach unnützem Mitleid anfühlte. 

Die logische Seite setzte sich durch. „Ich will wissen, warum.“

In dem markanten Gesicht war deutlich zu erkennen, wie überfordert Schürk war. Der blonde Mann schluckte und seine Halsschlagader pochte deutlich sichtbar unter der blassen Haut. Er sagte jedoch nichts, blieb immer noch stumm. 

„Bisher musste ich lediglich darauf achten, dass du mein Leben nicht zerstörst. Das ist jetzt anders. Jetzt bin ich auch noch dazu verpflichtet, meine Familie zu schützen und das werde ich in letzter Konsequenz tun, indem ich mich den Kolleginnen und Kollegen stelle und dafür sorge, dass meine Familie polizeilichen Schutz erhält. Vor dir und deinem Vater.“

Da war er raus, sein Plan B um die ganze Katastrophe in geordnete Bahnen zu bringen. Er hatte seinen Eltern davon nichts gesagt um sie nicht zu verunsichern, doch in der letzten, schlaflosen Nacht, die er mit Nachdenken und Möglichkeiten durchspielen verbracht hat, war es zu einer unwahrscheinlichen und einer wahrscheinlichen Lösung gekommen. Die Unwahrscheinliche attestierte dem Mann vor ihm eine Berechenbarkeit, die dieser nicht hatte. Eine Verbindlichkeit, die anscheinend nichtexistent war. 
Er ließ Schürk erkennen, wie ernst es ihm damit war und sah zum ersten Mal so etwas wie Furcht und Sorge in dem eingefallen wirkenden Gesicht.  

„Nein“, krächzte Schürk und Leo verzog verächtlich die Lippen. 
„Nein zu was?“, fragte er scharf nach und Schürk zuckte zusammen. Überhaupt schien er mitnichten der Mann zu sein, der Leo das Leben in den letzten Monaten zur Hölle gemacht hatte und auch das wurde von dem Ermittler in ihm aufgenommen. Indizien und Beweise, die Leos Bild über den blonden Mann anders machten und es veränderten. Als er hierhin gefahren hatte, hatte Leo sich auf andere Dinge eingestellt. Schürk anzuschreien. Selbst angeschrien zu werden. Ja, auch auf Gewalt. Hierauf? Nicht. 

„Wirst du nicht.“
„Das ist deine Argumentation?“ Ungläubig zog Leo die Augenbrauen hoch. Das war alles, was Schürk liefern konnte? Erbärmlich. Sehr sogar. Vielleicht hatte sich Schürk doch nicht so sehr geändert, wie er gedacht hatte. Der andere Mann schwieg und Leo trat einen Schritt zurück, teilweise angewidert über seine eigenen Gedankengänge, die Schürk so etwas wie Menschlichkeit attestierten. Ein Dasein abseits von seinen schlechten Eigenschaften. 
„Dachte ich mir. Alles, was du kannst, ist sadistisches Psychopathentum. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank, dass du mein Leben und das meiner Familie ruiniert hast.“ Er wandte sich ab, nicht mehr länger bereit, in die seltsam hilflosen und doch verschlossenen Augen zu schauen, in das Gesicht, das ihm immer wieder gezeigt hatte, wie hilflos er selbst war und wie wenig Wert die Versprechen besaßen. 

Er kam exakt einen Schritt in Richtung Tür weit, bis es hinter ihm raschelte und eine eisern um sein Handgelenk geschlungene Hand ihn davon abhielt, sich weiterhin zu entfernen. Leo atmete tief ein, antizipierte die Berührung. Schürks Finger waren klamm und kalt, von ungeahnter Kraft, wenn er sie in Relation zu dem schmalen Oberkörper nahm. Dass Leo es eigentlich besser wissen müsste, nachdem Schürk ihn mit eben diesen Fingern gewürgt hatte, war eigentlich logisch. Wie so vieles. Nur, dass es eben nicht so war.
Langsam drehte er sich um. Hin zum auf dem Bett knienden, halbnackten Mann, dessen Oberkörper wieder einmal Spuren von Gewalt trug, zusätzlich zu den Narben, die er schon hatte. 
Die Worte seines Vaters kamen Leo in den Sinn; über den kleinen Jungen, der um Hilfe gebeten und der sie anscheinend nicht bekommen hatte. Ob der Junge von damals noch in dem Mann von heute steckte? Leo bezweifelte es. Ob der Mann heute noch geschlagen wurde? Leo vermutete es und erinnerte sich an Schürks angewidertes Verbot, dass er sich selbst beim Sex wehtat. Hatte es eine Verbindung? Leo ahnte es. 

Schürks Mimik war eine Mischung aus Sorge, Bestürzung, Angst und Unsicherheit. Nur sein Griff war so fest wie das Würgehalsband, das Leo seit fast einem Jahr um seinen Hals trug. 
„Er…er hat mich auf Dinge von früher angesprochen. Er kennt mich von früher. Das war nicht gut, das hat mich wütend gemacht. Und dann habe ich Dinge gesagt.“
„Dinge…“, echote Leo mit unverhohlener Abscheu. 
„Viele Dinge, die ich nicht hätte sagen sollen“, spezifizierte Schürk rau und die Worte kamen wie Scherben von seinen Lippen. Er kämpfte mit jedem einzelnen von ihnen und nur der drängende Wunsch, Leo nicht gehen zu lassen, schien ihm die Stärke zu geben, Leo ins Gesicht zu sehen. 
„Eigentlich hätte ich gar nichts sagen sollen.“
Ja, das war korrekt. Schürk hätte einfach schweigen sollen. Seinen verdammten, zerstörten Kuchen essen und den Mund halten. „Du hast mit deinen Worten die Unschuld und das Unwissen meiner Eltern zerstört.“

Schürk wusste darauf nichts zu erwidern. Zitternd presste er seine Lippen aufeinander und Leo hatte das Gefühl, dass es Sturheit war, die ihn seinen Blick nicht abwenden ließ.

„Was sagst du meiner weinenden Mutter, die sich so große Sorgen um mich macht, dass sie mich am Liebsten dabehalten möchte und die mich gefragt hat, ob ich nicht lieber in eine Klinik möchte? Was sagst du ihr, wenn du ihr gegenüberstehst? Was sagst du meinem Vater, dem du ins Gesicht gesagt hast, dass du mich weiterhin sehen wirst, obwohl du mich erpresst und einen Vater hast, der mich tot sehen will?“
Alarmiert riss Schürk die Augen auf. „Ich rede nicht mehr mit ihnen.“
„Ist das dein Weg? Verbrannte Erde hinterlassen und die Menschen mit dem Fallout deiner Worte zurücklassen?“ Freudlos verzog Leo die Lippen. „Ist das bei dir in der Familie so?“

Die Finger um sein Handgelenk fassten so eng zu, dass es Leo Schmerzen bereitete. Wäre Schürks Gesicht für einen Augenblick nicht völlig ohne Masken gewesen, ein blanker Spiegel aus Pein, hätte Leo sich losgemacht. 

So war er in der Frage gefangen, was Schürks Griff eigentlich war – Fessel oder das Klammern an einen Anker?

„Ich habe nicht so eine Familie wie du sie hast“, sagte Schürk und Leo fragte sich, für was das eine Begründung sein sollte. 
„Und deswegen kannst du mit meiner umgehen wie mit deiner?“, fragte er gnadenlos und Schürk schüttelte den Kopf. Unmerklich zwar, aber es war da. 
„Ich werde nie wieder mit ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen…Dinge sagen. Sie haben Ruhe vor mir.“
„Nein, haben sie nicht. Adam Schürk wird immer als Schatten bei ihnen sein. Als jemand, gegen den sie eigentlich Strafanzeige stellen wollen, gegen den sie aber nichts unternehmen dürfen.“
„Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es“, gestand Schürk ein und Leo schnaubte. Er sah aus dem Fenster und dachte an das, was Pia und er besprochen hatten. Was Esther auch noch einmal bekräftigt hatte. Seine Aufgabe war es, Schürk umzudrehen und in diesem Moment schien ihm diese Möglichkeit zum Einen greifbarer als jemals zuvor und doch weiter entfernt als jemals zuvor.  

Weil er selbst eigentlich nicht mehr bereit war, Schürks Handlungen zu tolerieren und seinen eigenen Frust darüber hinunter zu schlucken. Uneigentlich…musste er mit genau diesem Widerstand warten, bis sie Schürk und das Syndikat dingfest gemacht hatten und er somit die Gerechtigkeit bekam, die er wollte. 

„Entschuldigung.“

Das eine Wort machte Leo so wütend, dass er abrupt zu Schürk zurückkehrt und diesen an seinem gefangenen Handgelenk zu sich heranzog. Durch die plötzliche Bewegung musste Schürk sich an seinem Oberarm abfangen und Leo grollte ihm direkt ins Gesicht. 
„Ein leeres Wort, wie zuvor auch schon. Wofür hast du dich nochmal vor Weihnachten entschuldigt? Mir wehgetan zu haben. Mich gewürgt und geschlagen zu haben. Und dann machst du hier weiter? Du entschuldigst dich, mich verletzt zu haben? Meiner Familie wehgetan zu haben? Spar dir das Wort, ich will sehen, dass es dir wirklich leid tut. Ich will das durch dein Verhalten sehen und deine Handlungen. Worte bedeuten bei dir nichts.“

Wäre Leo nicht bereits enttarnt worden, hätte er Schürk jetzt und hier ins Gesicht gesagt, dass er von ihm nichts mehr wissen wollte und dass der andere Mann sich seine wöchentlichen Treffen in die Haare schmieren konnte. Aber das hier war – so wütend es ihn auch machte – eine Chance, die Leo nutzen konnte, um dem Syndikat endgültig die Karten zu legen. Und holte er sich nicht auch gerade ein Stück Macht zurück? Ihre Rollen schienen vertauscht und Schürk so ratlos und verzweifelt, wie er zu Beginn gewesen war. 

„Doch, das tun sie“ begehrte eben jener auf und Leo blinzelte. Er klang niedergeschlagen, überhastet und rief wieder den Leo auf den Plan, der begann, so etwas wie Mitleid mit einem Menschen zu haben, der als Kind von seinem Vater gequält wurde. Der Mensch, der seine Anwesenheit hier nicht dazu nutzte, ihn zu bedrohen und zu erziehen, sondern, der sich unterordnete im Angesicht von Leos Dominanz. 

„Ich schütze deine Familie, aber sie dürfen nichts sagen. Zu niemanden. Sie dürfen nicht zur Polizei gehen“, presste Schürk rau und drängend hervor, sich nun in Leos Handgelenk und seinen Oberarm krallend. „Wenn sie es tun, dann wird er es erfahren und dann wird er euch umbringen.“

Leo musterte Schürk sehr lange schweigend, kartographierte das ganze Gesicht, jede Regung, jedes Muskelspiel. Die Tatsache, dass es dem blonden Mann nicht egal war, was mit ihm passierte, verwirrte Leo eines ums andere Mal. 

„Du wirst dich von meinen Eltern fernhalten. Du wirst dich ihnen und meiner Schwester nicht mehr nähern, nicht mit ihnen sprechen. Auch in der Stadtverwaltung nicht. Ich bemühe mich, dass sie nichts sagen werden und wenn sie es doch tun und ihnen etwas geschieht, dann werde ich dich wegen Beihilfe zum Mord und für den Rest deiner Straftaten drankriegen. Und ich will wissen, welche Rolle dein Vater in dem Ganzen spielt.“
Zum ersten Mal, seit er hier war, kam Widerstand in Schürk auf. „Das kann ich nicht sagen“, sagte er und Leo zog ihn erneut zu sich heran. 
„Mit Sicherheit kannst du das, du hast es schließlich schon getan. Ich bin gläsern für dich, aber ich kenne die Gefahr, der meine Familie und ich ausgesetzt sind, nicht? Bullshit. Das endet jetzt.“
„Er ist eine Gefahr, reicht dir das nicht?“
„Nein. Hat er Polizisten getötet?“

Schürk zögerte. Er sah zur Seite, schindete Zeit und nickte schließlich. Unmerklich, aber es war da. 
„Weil sie ihm in die Quere gekommen sind?“
Schürks Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ja.“
„Und warum gibt es das System der Erpressungen und Bestechungen?“
Wieder sah Schürk so aus, als würde er überall anders sein wollen, aber nicht hier. „Um weitere Morde zu verhindern“, gestand er leise und bestätigte damit das, was er ihm vor Weihnachten schon ins Gesicht geschleudert hatte. Es stimmte mit dem überein, was er gestern Leos Vater gesagt hatte – voller Zorn, nicht wie jetzt mit Verzweiflung. 
Das Schlimmste war, dass Leo Schürk glaubte. 

Er begriff, dass Schürk nur noch diese Kerndrohung hatte. Sein Gehorsam gegen sein Leben und das Leben seiner Familie. Es gab kein Tagebuch mehr, das ihn verraten würde. Es gab kein dunkles Geheimnis, das ihn sofort ins Gefängnis bringen würde, wenn Schürk es publik machte, denn es war schon publik. Und Leo war noch hier, eine geborgte Zeit, bis sie alles unter Dach und Fach gebracht hatten.

Er sah auf sein Handgelenk, dessen Blutzufuhr langsam wieder in Gang kommen sollte. Sein Oberarm, der sich im eisernen Griff der langen Finger befand. Schürk hatte Angst, dass er ging. Er hatte Angst vor den Konsequenzen.  

Leo überlegte, ob der Moment geeignet dazu wäre, um das Zeugenschutzprogramm anzubringen und entschied sich dagegen. Schürk würde jetzt vielem zustimmen, die wahren Zugeständnisse kamen jedoch erst mit der Zeit. Dann, wenn Leo ihm mit Ruhe und nicht mit Verachtung begegnen konnte. 

Der Gerechtigkeitsmensch in Leo wollte Schürk sofort für das strafen, was dieser getan hatte. Der Ermittler in ihm wusste, dass er warten musste. So sehr das auch seiner ehrlichen Seite entgegenstand. 

Schürk schien zu spüren, dass er ihn nicht mehr festhalten musste um sich zu ankern, denn langsam löste sich er sich Leos Handgelenk und Oberarm. Er setzte sich zurück auf das Bett und gewährte Leo einen breiten Einblick auf seinen Oberkörper. 
Leo nickte in Richtung der nackten Haut. „Die Narben, sind die von ihm?“
„Und selbst wenn? Was ändert es?“, fragte Schürk, während er versuchte, sich die Decke über den Oberkörper zu ziehen. Als er erkannte, was er tat, ließ er abrupt seine Hände sinken.
 
Momentan änderte es nichts. Künftig… „Sag du es mir.“

Überrascht ruckte Schürks Gesicht hoch und Leo erkannte, dass der andere Mann um die besondere Bedeutung seiner Wortwahl wusste. Leo trat zurück, als Schürk sich aus dem Bett schob und sich erhob. Stumm sah er zu, wie der andere Mann sich den hellen Hoodie griff und ihn sich mit einem Schaudern überstreifte. 

„Es ändert nichts. Du wirst nicht weniger ein Polizist sein, der von mir erpresst wird, wenn du weißt, dass sie von ihm sind. Du wirst nicht weniger wütend auf mich sein für das, was ich getan habe und künftig auch tun muss.“

Es schien, als wäre mit der Kleidung auch ein Hauch Ironie und Stärke in Schürk zurückgekehrt. Diese schlängelte sich Leo nun vorsichtig entgegen, geradezu testweise, ob Leo das noch akzeptierte. Zu seinem und vermutlich auch Schürks Erstaunen tat er das. 
„Dein Vater muss dir sehr wehtun, wenn du immer wieder auf Abwehrhaltung gehst, wenn das Thema auf ihn kommt“, stellte Leo ehrlich fest und der Mann neben ihm fror ein. Aufmerksam beobachtete Leo ihn, hielt den Testballon weiterhin hoch.  

Doch dieses Mal rastete Schürk nicht aus, dieses Mal saß er es schweigend und Leo ignorierend aus. 

„Verstehe“, sagte Leo ruhig und wünschte sich, dass seine Stimme keine Ansätze von Mitleid haben würde. 
„Willst du noch einen Kaffee?“, fragte Schürk, als hätten sie das Gespräch gerade nicht geführt in einer Art Häuslichkeit, die Leo mehr als irritierte. Er schüttelte den Kopf. 
„Nein, ich fahre zu meinen Eltern zurück.“

Schürk sah auf und für den Bruchteil einer Sekunde war es da…das ehrliche Bedauern.

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt.  
 

Chapter 26: Handarbeit

Notes:

Ein frohes, neues Jahr euch allen!

Die Feiertage sind vorbei und damit auch der einhergehende Stress. Jetzt wird es wieder regelmäßige Updates geben und ich denke, dass wöchentlich wieder das Maß der Dinge sein wird.

Ich danke euch allen für eure Kommentare, eure Kudos, aber auch ganz besonders für eure Kritik. ;) Und wünsche euch nun viel Spaß mit dem neuen Teil.

Ein großer Dank geht an dieser Stelle an atthefishhouses für die fachliche Unterstützung!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Die Gemüsebrühe schmeckt scheiße.“

Murrend trank Adam den letzten Schluck der salzigen Pampe, jede Gelegenheit nutzend, Vincents fragendem, aufmerksamen Blick auszuweichen. Hölzer war nach seinen strengen, unnachgiebigen Worten gegangen und Adam hatte sich aus seinem Schlafzimmer getraut, was anscheinend etwas war, das seine rechte Hand lobend und mit Fleißsternchen erwähnen musste. 

Zumindest sah Adam es in Vincents Augen. 
Seine besorgten Lippen verließ keine Silbe und das war nach näherem Hinsehen noch viel schlimmer, weil Vincents stumme Erwartungen an Adams Drang sich zu rechtfertigen kratzten.

Dann lieber das Essen kritisieren. 

„Soll ich Bastian rufen?“, hakte Vincent nach und Adam schnaubte das Küchenfenster an, aus dem er auf die Welt da draußen starrte. 

„Habe keine Lust zu ficken.“ Nein, die war ihm gehörig vergangen. Außerdem erinnerte es ihn viel zu präsent an den guten Teil des Gespräches mit Hölzers Eltern. 

„Ich meinte zum Kochen.“

Adam schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Hab noch vegane Tiefkühlpizza.“ Eigentlich war die für Vincent, aber Adam hatte zwei und heute war er nicht wählerisch. Er hatte zwar mehr Hunger als vor Hölzers Besuch, aber mal sehen, was seine Unterhaltung mit Vincent noch so brachte. 

„Willst du?“

Er zuckte mit den Schultern. „Mach.“

Vincent übernahm sanft die Führung und kramte in der übervollen Gefrierschublade, in der Bastian minutiös alles eingefroren hatte, was er Adam kochen konnte. Auf den Beuteln stand, was drin war und wann es eingefroren wurde –damit es im Gefrierfach nicht schlecht wurde. 

Wissen, das Adam erst nach und nach gesammelt hatte. So etwas hatte sein sadistischer Vater nie für wissenswert gehalten.

Unwirsch grollend kam er zu seinen eigentlichen Gedanken zurück und trat beiseite, als Vincent den Ofen anmachen wollte. 

„Das, was er gesagt hat, tut weh und ich weiß nicht, warum.“

Da war sie raus, die beinahe schon kindliche Wahrheit. Adam wusste nicht, wie er sie anders formulieren sollte. Hölzer hatte ihm mit ruhiger, bestimmter Wut Dinge an den Kopf geworfen, die Adam ein schlimmes Gefühl in der Magengegend verursacht hatten. Es war ein Gefühl, das er nur mit Elias Tod und seiner Schuld daran verband. 

Vincent ignorierte ihn und sorgte erst einmal dafür, dass die beiden gefrorenen Pizzen in den Ofen kamen. Viel zu früh, wenn man der Anleitung glaubte. Genau richtig, wenn man Vincent fragte. Um wertvolle Energie zu sparen. 

Eben jener richtete sich auf und schenkte Adam seine volle Aufmerksamkeit. Es schmeckte Adam nicht, die in Vincents Gesicht eingebrannte Sorge zu sehen. Er war der Grund, wie immer. Seit Hölzer da war, regelmäßig. 

„Wie fühlt es sich an?“, fragte Vincent und Adam zuckte mit den Schultern. 

„Tut weh“, wiederholte er wie eine kaputte Schallplatte und Vincent nickte. 

„Weh vor Wut oder weh vor schlechtem Gewissen?“

„Ja.“ Adam war wütend auf sich selbst und bereute das, was er gesagt hatte. Hätte er Hölzer Senior gegenüber kalt und überheblich reagiert, wäre das nicht passiert. So? Die Frage, was es ihn kümmerte, wenn es anderen Menschen schlecht ging, kam auf, gestellt von dem Menschenhasser, der er oft war. Die Antwort darauf war nach Hölzers Besuch gar nicht mehr so einfach, zumal sie sich auch auf die Familie des Ermittlers erstreckte, die Adam eigentlich nichts bedeuten sollte. 

Eigentlich. 


~~**~~


Leo setzte sich auf einen der Holzstühle und verzog kurz vor Schmerz das Gesicht. Bequem hatte die Staatsanwaltschaft noch nie gekonnt und nachdem er sich gestern mit einer Grindr-Bekanntschaft getroffen hatte, wusste er das noch weniger zu schätzen. Sein Ausdruck blieb Esther nicht unbemerkt und kritisch musterte sie erst ihn, dann den Stuhl. 

Leo zog es vor, ihr keine Lügen aufzutischen und schüttelte nur stumm, aber verbindlich den Kopf. Sie sollte nicht auf dumme Ideen kommen.
Alles okay, schob er dann noch lautlos nach und konzentrierte sich auf Weiersberger, der ebenfalls mit einem Schnaufen Platz nahm und die Thermoskanne Kaffee unzeremoniell auf den Tisch neben Milch und Zucker stellte. 

„Möchtest du, Leo?“ Fragend griff Rainer zur Kanne und Leo nickte, sah zu, wie sich sein Becher mit dem pechschwarzen Staatswanwaltschaftskaffee füllte. Nicht so schlimm wie der ihrer eigenen Nachtschicht, aber dennoch mit Vorsicht zu genießen. 

„Bitteschön.“

„Danke dir“, nahm Leo die Tasse dankbar an und Rainer machte mit den anderen weiter. 

Sie trafen sich heute unter dem Vorwand des neuen Ermittlungsfalls im Gebäude der Staatsanwaltschaft, in einem der kleinen, nicht verwanzten Aktenräume. Leo hatte danach gefragt, nachdem er sich am Sonntagabend darüber im Klaren geworden war, dass er mit der SoKo über das Geschehene am Wochenende sprechen musste. 

„Also, was gibt es, Hölzer?“ Das Weglassen jedweder Höflichkeitsform war Weiersbergers Art der Vertrautheit und anscheinend war Leo auch im Kreis der Baumanns und Heinrichs. Rainer…Rainer wurde geduzt, weil die beiden miteinander dreimal die Woche Squash spielen gingen. 

Leo nahm einen Schluck Kaffee und verzog mehr als beim Hinsetzen das Gesicht. Das war ja fürchterlich. Absolut ekelhaft. Sich räuspernd stellte er die Tasse auf den Tisch. Pia und Esther waren da anscheinend leidgeprüfter als er und tranken ungerührt.

Oder mit toten Geschmacksknospen, sicher war Leo sich da nicht. 

„Ich habe neue Informationen über Schürk“, leitete er ein und sah auf die Tischplatte. Anscheinend hatte jemand die Papierstärke unterschätzt und einen schwungvollen Kugelschreiberstrich auf dem Holztisch verewigt. 

„Der Patriarch hat einen Koch, der auch für seinen Sohn arbeitet. Bastian heißt er, den Nachnamen kenne ich nicht. Mit Schürk Junior schläft er auch, soweit ich weiß. Ob dieser ihn dafür bezahlt, ob er es freiwillig macht oder gezwungen wird, kann ich nicht sagen. Er scheint aber…nicht unglücklich zu sein.“

Immer, wenn Leo an den ersten Tag mit Schürk zurückdachte, tat er es mit Vorsicht, da er der damit einhergehenden Demütigung nicht wirklich Herr wurde. So schlimm seine eigenen Gefühle dafür aber auch waren, so wenig hatte er gesehen, dass Bastian ängstlich oder ablehnend oder angeekelt war. Im Gegenteil. Selbst wenn er Schürk bekochte und bediente tat er das mit einer Vertrautheit, die gegen jede Form der Gewalt sprach, wenn Leo sein Bauchgefühl befragte. 

Pias Lippen verließ ein ermunterndes Geräusch und aus dem Augenwinkel heraus sah Leo, wie Weiersberger und Rainer sich Notizen machten. Esther hörte ihm nachdenklich zu. Die de Kugelscheiber umfassenden Kerben auf der Tischplatte waren Leo eine willkommene Abwechslung und gleichzeitig ein Anker für seine chaotischen und wilden Gedanken. 

„Schürk war letztes Wochenende bei meinen Eltern. Er wollte mit ihnen und mir Kaffee trinken.“ Leo modifizierte die Wahrheit, denn er wollte weder sich noch der SoKo eingestehen, dass seine Eltern bis zu diesem Samstag geglaubt hatten, dass ihr Sohn einen festen Freund hatte. Wenn sein Vater das überhaupt jemals geglaubt hatte. 

Unruhig strich er sich über seine Jeans. 

„Mein Vater kannte ihn von früher aus der Stadtverwaltung, er wusste, wer er war und hat es ihm auf den Kopf zugesagt. Daraufhin ist Schürk eskaliert und hat meinem Vater gesagt, dass er mich erpresst. Um mich anscheinend vor seinem eigenen Vater zu schützen, der wohl schon in der Vergangenheit Polizisten umgebracht hat, die ihm im Weg waren.“

Da war sie raus, die abstruse, hässliche, schlimme Wahrheit, die für vollkommene Reglosigkeit sorgte. 

„Ich habe ihn am Sonntag damit konfrontiert und er hat noch einmal bekräftigt, dass es sein Vater ist, der die gestorbenen Polizisten umgebracht hat.“ Er hatte nach Weihnachten recherchiert, aber war bis auf vier Todesfälle innerhalb der Polizei Saarbrücken in den letzten Jahren auf nichts gestoßen. Einer davon schien linksradikal motiviert zu sein, einer ein Unfall und die anderen beiden hatten natürliche Todesursachen. Nichts, was Leo auch in Ansätzen hätte beweisen können. 

Er sah hoch und Weiersberger ließ ihn nicht aus seinen Augen. 

„Er hatte Angst, dass ich mich der Polizei stelle und sein Vater mich ebenso umbringt.“

Es war komisch, das noch einmal zu bekräftigen. Komisch, das zuzugeben, als wäre Schürk kein Straftäter, der ihn in den letzten Monaten dazu gezwungen hatte, seinen Beruf zu konterkarieren. 

„Angst?“, echote Pia, ihre Bewegungen wie festgefroren, ihr gesamter Körper wie absprungbereit. 

Leo zuckte mit den Schultern. „Um mich oder um sich oder seine rechte Hand. Er hatte auf jeden Fall Angst.“

„Das ist ein Anknüpfungspunkt“, merkte Rainer an.

„Aber auch einer, der hindert“, warf Esther ein und Weiersberger brummte. 

„Es kann eine gute Vorlage für Sie sein. Wir werden aber erst einmal prüfen, ob die Morde tatsächlich überhaupt durch Schürk Senior begangen worden sein konnten.“

Leo runzelte die Stirn und glättete die Spuren auf seine Chino. „Ich habe recherchiert. Nichts, was augenscheinlich auf Schürk hindeutet.“

„Wir werden sehen, ob wir anderweitig etwas finden können.“

Die erwartungsvolle Stille zwischen ihnen wurde von Sekunde zu Sekunde gespannter. 

„Aber da ist noch etwas.“ 

Das Bild des verstörten, halbnackten Mannes, der seine Hand so sehr um Leos Handgelenk gekrallt hatte, dass er heute noch dunkle Spuren der Fingerabdrücke trug, erschien vor Leos innerem Auge, als hätte es sich dort eingebrannt. Schon wieder hatte Schürk sich auf seiner Haut verewigt, doch dieses Mal waren es keine Spuren von Gewalt. Verzweiflung würde Leo das nennen, was er am Sonntag in Schürks Gesicht gesehen hatte. 

„Sein Vater schlägt ihn seit Jahren“, sagte er leise und zögerlich, als wäre es ein Geheimnis. Leo hatte lange mit sich gerungen, ob er es anbringen sollte und auch jetzt kam es ihm fast wie Verrat vor. Obwohl er Schürk mitnichten zu schützen hatte. Im Gegenteil. 

„Wohl schon, als er ein kleiner Junge war. Da hat er versucht, das Jugendamt um Hilfe zu bitten, aber hat sie wohl nicht erhalten.“ Seinen Worten folgte Stille und schließlich war es Esther, die abfällig schnaubte. 

„Wir haben hier also den armen, kleinen, misshandelten Verbrechersohn, der nie Liebe, dafür aber umso mehr Schläge bekommen hat und deswegen nun meint, die Welt terrorisieren zu können.“

Leo musterte sie und sie grinste wölfisch. Freude sah er nicht, eher absolute Abneigung. 
Nicht, dass Leo selbst zum Lachen zumute gewesen wäre. Er starrte Esther sprachlos an, nicht in der Lage, ihren verletzenden Worten etwas entgegen zu setzen. Derartiger Widerstand kam in ihm hoch, dass er in diesem Moment Schürk unweigerlich in Schutz nahm. Zumindest den Jungen, der er mal gewesen war, der Hilfe gesucht und sie anscheinend nicht bekommen hatte. 

Aber es war nicht nur Schürk. Er selbst fühlte sich durch Esthers Worte entwürdigt. Sein jüngeres Ich, das immer wieder unter Detlef und seiner Clique gelitten hatte.

„Esther, das war unsensibel“, sagte Rainer tadelnd und Leo starrte ihm warnend ins Profil, bevor ihm bewusst wurde, dass vermutlich schon längst seine komplette Vergangenheit vor der Sonderkommission ausgebreitet worden war. Wahrscheinlich hatte Rainer bereits alles über ihn erzählt.

„Was ist daran unsensibel, wenn es sich bei Schürk um ein gewalttätiges, manipulatives Arschl-“

„Er war auch mal ein Kind, dem Hilfe versagt wurde“, durchbrach Leo wütend Esthers Tirade. „Irgendwann, zu irgendeinem Zeitpunkt.“

Sie schnaubte. „Hast du etwa Mitleid mit ihm, nach allem, was er dir angetan hat?“, fragte sie beißend nach und Leo schüttelte ungläubig den Kopf. 

„Ich habe Mitleid mit dem Jungen, der keine Hilfe erhalten hat.“

„Den dein Vater kennt?“, hakte Pia nach, weitaus sanfter als Esther. Einfacher zugänglich für Leo.

„Ja. Mein Vater war damals an der Pforte und Schürk hat ihn um Hilfe gefragt. Laut seiner Aussage ein kleiner, dürrer, verschüchteter Junge, der panische Angst vor seinem Vater hatte. Mein Vater sagte, dass er deutliche Spuren von Misshandlungen auf seinem Körper sehen konnte und tatsächlich gibt es die auch heute noch, diese Spuren. Und Narben der Alten.“

„Sie haben Herrn Schürk nackt gesehen?“ Weiersbergers Frage war so absurd in diesem Moment, dass Leo im ersten Moment amüsiert schnaubte. Nackt gesehen…so konnte man es auch nennen. 

„Schürk ist kein Mensch, der wenig von seinem Körper hält“, erwiderte Leo mit abgewandtem Blick. Sein Mitleid und der Drang, Schürk zu verteidigen, waren in dem Moment verflogen, als er an ihr erstes Zusammentreffen dachte, das sich in zwei Wochen jähren würde. Immer noch brannten Demütigung und Scham in ihm, unterfüttert von unbegründeter, aber in seinen Gedanken eingebrannter Angst, dass ihm das Gleiche passieren würde. 

„Leo?“

Pia wieder, ihre Stimme vorsichtig und besorgt. Leo wusste nicht, was er in diesem Moment mehr hasste, seine verfluchte, offene Mimik oder seine Unfähigkeit, das Erlebte hinter sich zu lassen.

„Ich brauche eine kurze Pause“, presste er hervor und erhob sich, niemandem der Anwesenden in die Augen sehend. Der Weg raus aus dem Raum kam ihm wie eine Erlösung vor, die darauffolgende Einsamkeit auf der Toilette ebenso. Erst verspätet wurde Leo bewusst, dass er sein mit Fingerabdrücken umrandetes Handgelenk mit seiner eigenen Hand festhielt. 

Wie einen Anker.


~~**~~


„Hallo mein Junge.“

Adam lächelte, als er das faltige Gesicht seines Ziehonkels sah und zog ihn in eine kurze, aber enge Umarmung. 
Onkel Boris war niemand, der wirklich engen Körperkontakt wünschte. Eigentlich tolerierte er ihn auch nur von Adam und das eigentlich auch nur, nachdem Adam ihn als kleiner Junge schüchtern gefragt hatte, ob er ihn kurz in den Arm nehmen dürfte. Seitdem hatte Adam sich das Recht immer wieder herausgenommen, nicht zuletzt jetzt gerade.

Es tat gut, Onkel Boris zu sehen, auch wenn es nur für eine halbe Stunde wäre. Dank dem bezahlten Staatsanwalt und dank einer bewusst-blinden Krampe, die Freundlichkeit genauso gerne entgegennahm wie Geld, war er hier. Eine halbe Stunde, zusammen mit der Anwältin der Dreckssau.

„Wie geht es dir?“, fragte Adam entsprechend knapp und der hagere Mann schnaubte verächtlich. 

„Drecksloch ist das hier, aber es lässt sich aushalten. Und dir? Was macht der Vater?“

Adam schluckte alles Hässliche, was ihm auf der Zunge lag, hinunter. Rahel Stern würde ausnahmslos alles an seinen Vater weitertragen und Adam musste für das kommende Wochenende halbwegs fit sein. Nicht, dass seine Höflichkeit ein Garant dafür war, aber er musste es ja nicht noch herausfordern. 

„Die Geschäfte laufen gut, es ist soweit ruhig. Mit dir würde es besser laufen, aber das weißt du ja.“

„Mit Sicherheit.“

Adam lächelte und sah dann aus dem vergitterten Fenster. 

„Ich habe nicht aufgepasst und du bist ins Gefängnis gekommen“, sagte er das, was er schon seit Onkel Boris Verhaftung hatte gestehen wollen. 

„Ich weiß, mein Junge. Rahel hat es mir bereits berichtet.“

„Es tut mir leid“, presste er hervor. Schon wieder eine Entschuldigung in so kurzer Zeit. Schon wieder Worte, die Unwohlsein in ihm auslösten. Nicht wegen ihrer Bedeutung, sondern wegen dem, was sonst für ihn dahinterstand. 

„Unsinn. Spar dir das, Entschuldigungen sind was für Schwächlinge. Mach’s beim nächsten Mal besser.“ Onkel Boris‘ scharfe Worte zu Beginn milderten sich mit der Weisung zum Schluss ab und Adam nickte. 

„Versprochen.“

„Wie läuft‘s mit dem Bullen? Hast du’s ihm gezeigt, nachdem er den Scheiß gemacht hat?“

Adam lächelte breit, ein lang antrainierter Schutzreflex seinem Vater gegenüber. „Klar. Macht er nicht noch einmal“, sagte er mit Überzeugung in der Stimme. Gelogen war es nicht, wenngleich auch aus anderen Gründen. 

„Das ist mein Junge“, lobte Boris ihn und deutete auf die beiden Stühle. 

„Setzt euch. Was gibt’s Neues?“, fragte er Rahel, die ihre Hornbrille zurechtrückte und mit dem typisch strengen Zug um ihren Mund ihre Akten aufschlug. 

Adam war somit abgemeldet, aber er genoss trotzdem die Zeit, die er hier verbringen konnte. Bald würde das Verfahren beginnen und Onkel Boris würde wieder freikommen. Ganz egoistisch freute ihn das, auch wenn Vincents lästige Stimme in seinem Hinterkopf ihm deutlich machte, dass der Mann vor ihm tatsächlich ein Mörder war und von ihrem unfähigen Justizsystem dafür bestraft gehörte. 

Noch viel lästiger war es, dass sie Zweifel in Adam säte und dass anstelle einer Erleichterung nun auch noch Hölzers Visage vor seinem inneren Auge auftauchte und ihm vorwarf, wie sehr jemand wie Onkel Boris doch verurteilt gehörte. 


~~**~~


„Hölzer.“

Leo sah langsam von seinem Ermittlungsvermerk hoch und starrte Esther in das unwirsch verzogene Gesicht. Ebenso unerfreut presste er die Lippen aufeinander und es dauerte etwas, bis ihre Mimik weicher wurde. 

„Es tut mir leid. Das mit dem jungen Schürk war übers Ziel hinausgeschossen. War doof von mir.“ So sehr die Erklärung aus dem Nichts kam, so sehr wusste sie Leo nach ein paar Sekunden des Überlegens auch zu schätzen. 
Leo nickte knapp. „Ja, das war es. Ich danke dir aber für deine Entschuldigung. Es bedeutet mir…sehr viel.“

Ihm persönlich. Weil er wusste, wie es war, geschlagen und gequält zu werden und keine Hilfe zu erhalten. Hilflos und verzweifelt zu sein. Nicht mehr weiter zu wissen. 

Die Art, wie Esther ihn musterte, ließ darauf schließen, dass Rainer etwas über seine Vergangenheit gesagt hatte. Sie öffnete die Lippen, schloss sie wieder. Öffnete sie erneut und straffte die Schultern. 

„Wir kriegen Schürk für das dran, was er dir angetan hat.“ Ihre Worte überraschten Leo und er wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. Dann lächelte er kurz und nickte. 

„Ich freue mich auf den Moment.“ 

„Ich mich auch, das kannst du mir glauben.“

Ganz fertig schien Esther nicht zu sein, so nachdenklich, wie ihre Stirn in Falten gelegt war. 

„Wie geht es deinen Eltern mit dem Wissen?“, fragte sie und Leo presste die Lippen aufeinander.

„Ich habe sie gebeten, dass sie nichts unternehmen.“

„Hast du ihnen von uns erzählt?“

Er schnaubte selbstironisch und schüttelte den Kopf. „Alter Ermittlergrundsatz: je weniger Mitwisser umso besser.“

„Fällt dir das schwer?“

„Mit Sicherheit.“ Esthers knappe Fragen machten es Leo leicht, ehrlich zu ihr zu sein und er sah schlussendlich hoch. „Sie machen sich Sorgen und ihnen geht es nicht gut. Ich kümmere mich um sie und versuche mein Bestes.“

„Brauchst du Hilfe?“

Überrascht schüttelte Leo den Kopf. „Vielen Dank, aber ich denke, ich schaffe das.“
Esther lächelte und berührte sacht seinen Oberarm. 

Leos Handy pingte und sie beide starrten auf den sich erhellenden Bildschirm. Nach Monaten des ewigen Versteckspiels traute Leo sich wieder, sein Handy offen liegen zu lassen und so konnte auch Esther nun einen ungehinderten Blick auf Schürks Nachricht werfen. 

~Oper oder Töpfern?~

Leo blinzelte und hob die Augenbraue. Esther gab ein fragendes Geräusch von sich. 

„Es geht um das Treffen dieses Wochenende“, erläuterte Leo zögernd. Es ging also weiter wie bisher. Natürlich, einen anderen Weg kannte Schürk ja nicht. 

„Er lässt dich aussuchen.“ Es war keine Frage und doch hörte er Verwunderung in ihrer Stimme. 

„Jedes zweite Wochenende und anscheinend auch an denen, wo er eigentlich die Entscheidung trifft.“ Vielleicht gab es doch eine Änderung. Schürk, der ihm in einer Art absurdem Kompromiss entgegenkam.

Leo beobachtete Esther dabei, wie sie nachdenklich auf das langsam erlöschende Display starrte, die Lippen geschürzt und ihre Hände zu Fäusten geballt. Leo fragte sich im ersten Moment, warum. Im Zweiten wurde er sich bewusst, wie sehr er schon an das Leben gewohnt war, das Schürk ihm aufgezwungen hatte. Esther hatte diesen Vorlauf nicht und so nahm Leo sie einen Moment lang als notwendigen, justierenden Kompass für seine eigenen Empfindungen. 

Doch der Hass vom Beginn und die hilflose Wut wollten sich auch jetzt nicht einstellen. 

„Töpfern“, sagte Leo seufzend und Esther sah ihm überrascht ins Gesicht. 

„In der Oper zu reden kommt einer Straftat gleich. Wie soll ich da an Informationen kommen?“ Vor allen Dingen jetzt, wo er Schürk womöglich dorthin leiten konnte, wo die SoKo ihn haben wollte. 

„Du könntest seinen Kopf auf die Töpferscheibe drücken“, schlug Esther vor und Leo fragte sich unwillkürlich, was passieren würde, wenn die Beiden aufeinanderträfen. 

Gewalt, aller Wahrscheinlichkeit nach. 

Viel Gewalt. 

„Lust hätte ich“, gab Leo murmelnd zu und wurde im nächsten Moment überrascht durch Esthers Hand auf seiner Schulter. Sacht drückte sie zu und beugte sich zu ihm hinunter. 

„Ich meine das ernst, Leo. Für das, was er dir angetan hat, wird er büßen. Ich werde mich über den Moment freuen, in dem seine Strafe beginnt und ihm alles um die Ohren fliegt. Bis dahin, Hölzer, zähle ich auf dich und wenn du nach einem Treffen mit dem Arschloch jemanden zum Reden brauchst, bin ich da, verstanden? Ich kann auch den Sandsack mit seinem Gesicht drauf halten, auf den du einprügelst.“

Leo schmunzelte. Ein tröstlicher Gedanke. 


~~**~~


Nein, es hatte sich in der Tat nichts geändert, stellte Leo fest. Schürks Verzweiflung von Sonntag war verschwunden, er selbst sein arrogantes, altes Ich im Anzug, dieses Mal jedoch sogar mit Unterwäsche und Shirt. Barfuß allerdings und zweifelnd sah Leo von den nackten Füßen auf dem Waldboden des abgelegenen Parkplatzes hin zu den Schuhen in den langen, schmalen Fingern. 

Ross war auch dabei und Leo wusste, dass er das Thema Zeugenschutz auch heute nicht anbringen können würde. Nicht in Ross‘ Gegenwart. 

„Angst, dich schmutzig zu machen?“, spielte Schürk auf seine eher legere, in die Jahre gekommene Jeans und sein ausgeblichenes T-Shirt an und Leo hob die Augenbrauen. Natürlich hatte er keine Begrüßung erwartet. Eigentlich wusste er auch gar nicht so genau, was er erwartet hatte. Was konnte man von einem Mann wie Schürk erwarten? Nachdem, was er getan hatte. Nach der Schwäche, die er Leo gegenüber gezeigt hatte. Wobei Leo es nicht als Schwäche bezeichnen würde, doch in Schürks Augen war sein Verhalten von Sonntag sicherlich so zu kategorisieren.  

Leo erkannte, dass es genau das war. Schürk würde genauso reagieren. Mit einem dummen Spruch, einer Provokation, etwas, das möglichst weit entfernt von seiner Schuld war. Bedeutete das, dass sie nicht mehr da war?

Leo bezweifelte es. Zum ersten Mal unterstellte er Schürk nicht per se etwas Böses. 

„Ich habe auf jeden Fall keine Angst, dich schmutzig zu machen“, entgegnete in einer erfrischenden, neuen, boshaften Art und Weise. Bei allem, was er Schürk zugestand, er war immer noch wütend und ob sich diese Wut gänzlich lösen würde, konnte er zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. 

„Versuch’s“, schnaubte Schürk und es kam Leo mehr wie der misslungene Versuch eines Flirts als eine Drohung vor.


~~**~~


Stumm musterte Adam Hölzer, der neben ihm mit seinen Händen auf den Tonklotz schlug und Geräusche produzierte, die Adam mit Sicherheit einer anderen Situation zugeordnet hätte. Einer ganz anderen Situation, auch wenn diese festen, schlagkräftigen Hände schon wussten, was sie taten. 

Adam warf einen Blick in das konzentrierte Gesicht des ernsten Mannes und nicht wirklich ungebeten kamen ihm Bilder in den Kopf, wie Hölzer wohl aussehen mochte, während Adam unter obszönem Klatschen von Haut auf Haut wieder und wieder in ihn stieß.  Wie er den vor ihm knienden Körper nach vorne warf, so gewaltig, dass Hölzer sich abstützen musste.

Grobe Lust, geboren aus Leidenschaft und Ungeduld. 

Ein Räuspern holte ihn aus seinen Gedanken und Adam blinzelte. Es kam nicht von Hölzer, sondern von Vincent, dessen hoch erhobene Augenbraue die beste Anstandsdame war, die Adam je haben konnte. 
„Ist ja gut“, murmelte er und zog damit die zurückhaltende Aufmerksamkeit des Mannes auf sich, der mit ernster Miene, aber bereitwilliger als vorher in sein Auto gestiegen war um sich in die Pampa von Frankreich kutschieren zu lassen. 

In die Töpferwerkstatt einer alten Kunstliebhaberin, die Adam über seine Aufgabe im Syndikat kennengelernt hatte. Sie war eine ausgezeichnete Fälscherin, die ihre Leidenschaft für das Töpfern entdeckt hatte und nun nur noch in Ausnahmefällen Aufträge annahm. 
Lieber verbrachte sie ihre Zeit damit, ahnungslose Kursteilnehmer mit strengen, französischen Worten für ihre amateurhafte Laienhaftigkeit zu verdammen. 

Dass bis auf Vincent alle in diesem Raum fließend Französisch sprachen, wusste Adam auch nur deswegen, weil Hölzer nach dem dritten Satz sehr höflich, aber sehr bestimmt gesagt hatte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen Tonballen in den Händen hielt und mit Respekt, aber Unvermögen an diesen Kurs herangehen würde. 

Madame Mimose, wie sie sich nannte, hatte kurz innegehalten, wohlwollend genickt und Hölzer dann darauf aufmerksam gemacht, dass er den Klumpen in seinen nicht mit genug Respekt und strenger Liebe in Form klopfte. Schlug. Wie auch immer man diese obszönen Geräusche auch nannte, die eine flache Menschenhand auf dem erdbraunen Material anrichteten. 

Adam hatte wohlweislich seinen Mund gehalten um Hölzer nicht auf dumme Gedanken zu bringen, der während der ersten Stunde Fahrt kein einziges Wort an ihn verloren hatte. Es war nach seiner Eskalation nur zu verständlich gewesen. Wieder war es Vincent gewesen, der mit sanften Nachfragen die zunächst eisige Stimmung aufgetaut hatte, bevor Hölzer auch nur daran dachte, auf Adam zu reagieren. 

Ein Gutes hatte es gehabt. Adam war in der Lage gewesen, Hölzer in seinen Reaktionen zu beobachten und sich ein Bild über den Mann zu machen, der ihm gegenüber ein neues Selbstbewusstsein gefunden hatte. Auch wenn Adam wenig von dem dominanten Mann von Sonntag erkennen konnte, trug Hölzer eine Ruhe in sich, die er vorher nicht hatte. 

„Fester, schlagen Sie fester zu“, tadelte Madame Mimose auf Französisch streng und rupfte dem Ermittler den Ton aus der Hand. Sie betrachtete das Material wie einen persönlichen Affront und hielt einen mahnenden Zeigefinger hoch. Mit fester Hand schlug sie die braune Kugel und Adam hütete sich, noch einmal in seine zweideutige Gedankenwelt abzudriften. 

„Vielen Dank“, erwiderte Hölzer zurückhaltend höflich und presste den Klumpen auf seine drehbare Töpferscheibe, die zwischen seinen gespreizten Schenkeln stand. Er hatte die Ellbogen auf seine Knie abgestützt und Adam konnte die Muskeln sich unter der Haut bewegen sehen. Ebenso gut konnte er seine dunklen Fingerabdrücke auf Hölzers gebräunter Haut sehen. 

Adam runzelte die Stirn. Er hatte Hölzers Handgelenk umklammert, in der gar nicht mal so irrationalen Angst, dass dieser gehen würde. Er konnte sich jedoch nicht daran erinnern, so fest zugepackt zu haben. Anscheinend aber schon. Hölzer schien es ihm zumindest offen nicht nachzutragen. Dass es der Laune des anderen Mannes ihm gegenüber nicht zuträglich war, war Adam klar. Mit einem Ruck löste er sich aus diesen Gedanken. 

Vincent hatte seinen Klumpen schon positioniert und Adam war bereits zweimal durch Madame Mimoses harte Schule gegangen und hatte sich dadurch vorab Wissen angeeignet. Um nicht gleich mit Verachtung gestraft zu werden. 

„Gut machst du das“, lobte Adam, weil er nicht anders konnte, als eine Reaktion aus Hölzer heraus zu kitzeln. Der Blick, der ihn traf, hatte mit Missbilligung schon nichts mehr zu tun und Adam lächelte. Vielleicht ein bisschen zufriedener als vorher. Vielleicht nicht ganz so teuflisch. 

„Weiter!“, trieb ihre persönliche Dozentin sie an und erklärte ihnen, wie sie die Drehscheibe zu bedienen hatten, wie sie ihre Hände zu halten hatten um den Ton zu formen, wie oft sie den Ton zu einer länglichen Säule formen mussten um ihn dann wieder mit beiden Händen nieder zu pressen.

„Unglaublich. Unglaublich“, schüttelte sie den Kopf in schwer akzentuiertem Deutsch und drehte sich mit einem strengen Blick auf Adam weg. „Ich komme gleich wieder. Und ich erwarte bis dahin Fortschritte.“

Hölzer sah ihr nach, als wäre sie sein persönlicher Antichrist, verbot sich jedoch jedweden Kommentar. Zumindest interpretierte Adam die zusammengepressten Lippen so. 

Die klassische Musik, die in Madame Mimoses sonnendurchflutetem Studio im Hintergrund dudelte, tat Hölzers weiterhin erfolglosen Versuchen, den Ton zum Wachsen zu bringen, keinen Abbruch, ganz im Gegensatz zu Vincent, der mit eiserner Konzentration und seinem angeborenen Feingefühl am Erfolgreichsten war. Adam selbst war zielgerichtet und pragmatisch, von hübsch war aber keine Spur. Musste es auch nicht sein. 

Nur der Ermittler neben ihm schien auf Kriegsfuß mit dem Material zu stehen und bevor Madame Mimose zurückkommen und ihn erneut schelten konnte, erbarmte Adam sich seiner. 
„Wenn du deine Finger mit Feingefühl und Sanftheit um den Klumpen legst und ihn dann nach oben führst, könntest du mehr Erfolg darin haben, dein bemitleidenswertes Stück irgendwie zum Stehen zu bringen“, erklärte Adam mit dem zweifelhaften Feingefühl einer Abrissbirne. Vincent räusperte sich erneut und Hölzer steinigte ihn mit seinen Blicken, nahm den Fuß vom Tretpedal.  

„Ach und du kannst das besser?“, grollte er dunkel. Dieses Mal verkniff er sich jedoch das „Zeig‘s mir“ und zwar aus gutem Grund, aber wer war Adam, dass er es nicht trotzdem tat, hilfreich wie er war?

Grinsend erhob er sich und hockte sich Hölzer gegenüber. Seine geschundenen Knie knackten, aber das war angesichts des Kommenden ein Opfer, das er gerne bereit war zu bringen. 
„Hände her, wir machen das zusammen“, befahl er und im ersten Moment weigerte sich Hölzer rundheraus. Adam hatte das Gefühl, dass er die Arme auch nur deswegen nicht verschränkte, weil sie voller Schlammspritzer waren – schließlich musste man den Ton ja schön feucht und glitschig halten. 

Hölzers Augen zuckten zur Seite, erst zu Adams Stück, dann zu Vincents Stück und schlussendlich zu Vincent, der sie beide nun mit zwei hochgezogenen Augenbrauen musterte. Du musst es ihm schon selbst sagen, stand in seinen Augen, doch Hölzer brachte keine Silbe über seine Lippen. 

„Es reicht, wenn du mir das sagst“, entschied er dann und Adam lächelte. 

„Nein, das tut es nicht. Du musst es fühlen.“

„Mit dir zusammen?“

Adam nickte zu seinem mehr oder minder geraden Türmchen, dann zu Hölzers Katastrophe. „Erfolgversprechend, oder?“
In den grünen Augen stand ein ganz klares „Fick dich!“, die zusammengepressten Lippen verließ jedoch nichts. Fast wünschte sich Adam das Gegenteil. 

Adam schloss seine Hände um den Ton und nickte zu Hölzers Fingern. „Na los, Hände auf meine oder willst du damit etwa nach Hause gehen?“, deutete Adam auf den unförmigen Klumpen nd forderte den Drang zur Perfektion des anderen Mannes heraus. Hölzer gehorchte nach einigem Zögern misstrauisch. Beruhigend berechenbar, verbuchte Adam stumm für sich und wurde sich bewusst, dass Hölzer ihn zum ersten Mal von sich aus anfasste ohne ihn zu schlagen, in einer…fast friedfertigen Umgebung. 

Mal sehen, ob das für die künftigen Kurstage auch galt. Schließlich wollten die Schüsseln ja auch bemalt werden. Schließlich würden sie noch andere Dinge tun. Adam hatte da schon entsprechende Ideen und irgendwann würde er Hölzer schon dazu bekommen, in seiner Gegenwart einen Anzug zu tragen. 

Mit beinahe schon diebischer Freude genoss Adam das Gefühl von Hölzers Fingern auf seinen und nickte dann zum Fußpedal. Die Scheibe setzte sich in Bewegung und Adam führte ihre Finger den festen, kühlen, glitschigen Ton entlang nach oben, seine Augen unablässig auf das bärtige Gesicht des anderen Mannes gerichtet, der kein interessanteres Ziel zu kennen schien als die Töpferscheibe.

Das Surren eben jener untermalte Adams Bemühungen, die viel zu verkrampften Gliedmaßen auf seinen dazu zu bringen, dem Ton dauerhaft etwas Gutes zu tun. 

„Locker lassen“, knurrte er deswegen und streckte seine Finger etwas, schubste Hölzers auf etwas Abstand. 

„Lass du doch locker“, kam es reichlich eingeschnappt zurück und Adam schnaubte. Als wenn er hier das Problem wäre. Zumindest, was das Töpfern anbetraf. 

„Lass du dich doch führen.“

„Ich habe genug von deiner Führung.“ Oha, eine mehr als wütende Kampfansage, befand Adam. Neben ihm bewegte sich Vincent, anscheinend bereit, jederzeit einzugreifen, doch Adam hatte das unter Kontrolle. Er hatte eine Idee, wie er die Bombe Hölzer entschärfen konnte. 

Langsam beugte er sich näher zu Hölzer. 

„Aber manchmal kann die auch ganz nützlich sein.“ In den grünen Augen stand Wut, die beinahe an Abscheu grenzte und Adam sah, wie wenig Hölzer seine Auflockerung zu schätzen wusste. 

„Wann?“ Eine Steilvorlage, quasi. Adam nickte auf die Töpferscheibe.

„Gerade jetzt, wenn du durch meine Hände spürst, was getan werden muss. Wenn du verstehst, was ich tue und wie ich es tue“, raunte Adam. Er ließ Hölzer nicht aus seinen Augen und wurde ebenfalls nicht aus den Augen gelassen. Er ließ zu, dass der doppelte Sinn der Worte in Hölzer einsank, dass er die Symbolik begriff und sich davon abkehrte, von Adam geführt zu werden. 

Vincent bewegte sich und der Moment ging ohne weitere Auswirkungen. Adam löste sich ebenfalls und gab dem Ton mehr Raum. Gemeinsam mit Hölzer formte Adam ihn. Es kam durchaus ein passables Ergebnis heraus. Eine halbwegs gerade Säule, die sie zusammen wieder hinunterdrücken konnten. 

Dreimal hintereinander. Aufrichten. Hinunterdrücken. 

„Perfekt“, grinste Adam und saß die stumme, notwendige Empörung des anderen Mannes aus, die sich ihm hier entgegentrug. Er sah rechtzeitig genug zu Vincent, um dessen wohlverstecktes Augenrollen zu erkennen. 

„Und jetzt du.“ 

Adam nahm seine Hände von der Scheibe und Hölzer verharrte einen Moment lang. Schließlich umfasste er den Ton, sanfter als vorher. Mit seinem Fuß betätigte er das Pedal und die Scheibe rotierte erneut. 

Hölzer kam exakt zwei Mal soweit, den Ton zu bearbeiten, das Gesicht hochkonzentriert. Fasziniert beobachtete Adam ihn dabei und vielleicht übersah er deswegen auch, wie sich das nun wohler geformte Stück Ton unter Hölzers erschrockenem Blick durch eine falsche Bewegung von der Scheibe löste und in Richtung von Adams Gesichts flog, nur um dort mit einem lauten, feuchten Klatschen aufzutreffen. 

„Mon Dieu!“, ertönte es empört hinter ihm und Adam konnte dem nur grollend zustimmen, während er versuchte, sich das Ton-Wasser-Gemisch aus den Augen, der Nase, seinem geöffneten Mund und dem Bart zu wischen, während jemand deutlich amüsiert prustete, der nicht Vincent war. 

Auch nicht Madame Mimose. 

Hölzer, nicht hämisch wie sein Vater oder sadistisch-kühl wie Onkel Boris, sondern einfach frei von allem. So wie Vincent. Anders als Vincent, denn es sprach einen anderen Bereich in seinem Brustkorb an.

Vermutlich ließ Adam Hölzer auch deswegen etwas länger gewähren, bevor er sich einen guten Schwung Pampe vom Gesicht wischte und seine Hand unzeremoniell in Hölzers Gesicht drückte und damit das Lachen in ein überraschtes, empörtes Grollen übergehen ließ. 

„Monsieurs! S'il vous plaît!“, empörte sich Madame Mimose nun vollkommen zurecht und Adam hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr dazu kommen würden, die Schalen zu brennen. 

 


~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Das kommt davon, wenn man eigentlich ganz locker eine Szene im Stil von "Ghost - Nachricht von Sam" schreiben möchte, sich dann aber zur Informationsakquise Youtubevideos anschaut, so zum Beispiel dieses hier.

Was das Ghostgefühl ein wenig...konterkariert. Gut. Ja. :D Wie gut, dass man beide Szenen ja ein wenig vermischen kann.

Chapter 27: Baden gehen für Anfänger

Notes:

Einen wunderbaren Sonntag euch allen!

Dieses Mal gibt's den neuen Teil sogar einen Tag zu früh (yaih :D) und Adam ist wieder sein ganz eigenes Selbst. Aber lest selbst.

Vielen Dank euch allen für eure Kommentare, eure Kudos, eure Klicks! <3

Chapter Text

 

„Leg dich hin.“
„Nein.“
„Stell dich nicht an. Jetzt leg dich hin.“
„Ich denke nicht daran. Ich bleibe so.“
„Anscheinend denkst du überhaupt nicht. Wer bleibt dabei schon sitzen?“
„Ich.“
„Schonmal was von einer Nackenstarre gehört?“
„Mein Problem.“
„Du machst das ganze Erlebnis kaputt.“
„Das du dir ausgesucht hast.“
„Ich habe dir zwei Optionen gegeben und du hast diese gewählt. Gib mir nicht die Schuld.“
„Als wenn ich mit dir in die Sauna gehen würde.“

Vincent rieb sich die Nasenwurzel. Von allen Nächten, die er mit romantischem Sternegucken verbracht hatte und immer noch mit seinen beiden Adams verbrachte – so auch in drei Wochen wieder - das hier war keine davon. 

Adam hatte Leo Hölzer die Wahl gestellt, entweder Sauna oder Serienmarathon mit anschließendem Sternegucken. Die Wahl war klar gewesen und so hatte Leo Hölzer pünktlich um zwölf Uhr bei Adam geklingelt. Herbert war auch mit dabei und Vincent freute sich mehr über die Gesellschaft des Hundes als er den entgangenen Saunabesuch betrauerte. 

Herbert freute sich ebenso und so hatten sie neben dem Serienmarathon einen ausgiebigen Spaziergang mit einem glücklichen Herbert in den Vogesen gemacht. Um an dem von Adam ausgesuchten Platz Sterne zu gucken. 

Zu dritt, mit Kerzen und kleinen Happen, die aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit durchaus auch in der großen Hundeschnauze verschwunden waren. Momentan lag er zufrieden zwischen Leo und ihm, den Kopf schläfrig auf Vincents Rock gelegt. Bei dem Schlagabtausch beider Männer über Vincent hinweg hatte er zwar interessiert ein Ohr gehoben, sich aber keine weiteren Sorgen gemacht. Was vermutlich daran lag, dass er mittlerweile an den Umgangston der Beiden gewöhnt war. Und daran, dass Adam ihm mittlerweile mehr Aufmerksamkeit schenkte. Heute hatte er ihn sogar zweimal kurz gestreichelt, während er ihn als sabberndes Monster bezeichnet hatte. Vincent verbuchte das als Erfolg, 

Von Adams Versuchen, Leo Hölzer dazu zu bewegen, sich ebenfalls rücklings auf die Decke zu legen, konnte man das nicht sagen. Der Ermittler blieb stur und nahm anstelle dessen einen Schluck seiner Limonade. 

Vincent lächelte und strich dem murrenden Herbert über den großen Schädel. Er sah zu Leo, der sie beide über die kerzenbeschienene Dunkelheit hinweg nachdenklich musterte. Vincent hielt den Blick und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum es nicht zu der befürchteten Eskalation gekommen war. Warum Leo Hölzer so ruhig geblieben war, obwohl Vincent beinahe jede Form der Auseinandersetzung erwartet hatte. Aus Leo Hölzers Perspektive sicherlich mit Recht. 

Und dennoch. Er war zu Adam ins Schlafzimmer gegangen und die Worte, die er ihm ins Gesicht gesagt hatte, waren brutal ehrlich, aber nicht sadistisch gewesen. Klar und deutlich hatte er Adam dargelegt, was er von seinem Verhalten hielt. Leo Hölzer hatte Grenzen aufgezeigt, war aber nicht soweit gegangen, Adam nicht mehr oder nicht so oft sehen zu wollen. Was in diesem Moment sicherlich möglich gewesen wäre. 

Dass der Ermittler diese Möglichkeit nicht gesehen hatte, daran glaubte Vincent nicht. Daher stellte er sich erneut die Frage, warum er diese Chance nicht ergriffen hatte. 
Um Adams Weisung folgend sie auszufragen, so wie er es jedes Wochenende tat? Leo Hölzer war offener und zugänglicher als in den Monaten zuvor. Er stellte Fragen, er gab Antworten, ehrlich und direkt. Er forderte Adam heraus, nicht zuletzt beim Töpfern. Er lachte in Adams Gegenwart – zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, aus Freude. 

Dass er damit noch viel mehr Adams Interesse weckte als vorher, war ihm anscheinend nicht bewusst und Vincent achtete bei jedem ihrer Treffen darauf, ob absehbar war, dass die nächste Katastrophe anstand. 

War es nicht, denn beide Männer fanden einen Weg zu kommunizieren, der Vincent sich die Haare raufen ließ. Leo Hölzer – blind für seine Taten und in Bezug auf sich mit Sicherheit kein guter Ermittler. Adam Schürk – Soziopath, der durch den Mann, der in diesem Moment neben ihm saß, Menschlichkeit lernte. Eigentlich war alles auf einem guten Weg – wäre da nicht Vincents Bauchgefühl, das wieder einmal Zweifel anmeldete. 

„Ich will euch nächste Woche nicht sehen“, sagte Leo Hölzer leise, aber fest in der Stimme in Vincents beinahe schon verzweifelte Überlegungen hinein. Überrascht musterte er das abgewandte Gesicht und die kurze Pein dort. Adam war ebenso aufmerksam, jedoch weniger kooperativ als Vincent. 
„Nö“, widersprach er schlicht, weniger eine Verneinung, denn eine Herausforderung. Leo Hölzer sollte Widerstand leisten. 

Für ein paar Sekunden sah es so aus, als würde dieser nicht kommen. Als wäre der Grund, aus dem Leo das forderte, zu gewaltig. 

„Doch“, revidierte der Ermittler Vincents Eindruck dann mit fester Strenge in der Stimme und Adam schnaubte.
„Warum?“
„Weil ich alleine sein möchte.“
„Jetzt plötzlich?“
„Ja.“

Vincent hörte, was Leo nicht sagte. Er hörte das Zögern, die Wahrheit auszusprechen. Über Leos abwesenden Blick hinweg sah Vincent Adam an und schüttelte stumm den Kopf. Adam wiederum hob die Augenbrauen. Warum?, fragte er stumm und Vincent nickte knapp in Richtung des Ermittlers, der in die Betrachtung des vor ihnen liegenden, schwarzen Waldes versunken zu sein schien. 

„Wenn du dich hinlegst…Deal“, schlug Adam auch noch Profit aus Leo Hölzers Bitte und Vincent rollte mit den Augen. Das eigentlich friedliche Sternegucken rückte vor seinem inneren Auge in weite Ferne, denn mit Sicherheit würde das Gespräch spätestens jetzt zu einem Streit ausarten.

Aber…auch jetzt überraschte Leo Hölzer ihn. 

„Manipulatives Arschloch“, sagte er wenig schmeichelhaft, legte sich aber nach ein paar Sekunden Zögern mit dem Rücken auf die Decke, ganz zur Freude von Herbert, der nun endlich seine Gelegenheit sah, sich auch auf Leo zu verteilen. Genug Beine und Pfoten hatte er ja und so hatte Leo schneller einen der Vorderläufe im Gesicht, als er reagieren konnte. Sacht führte er sie nach unten und umfasste sie, streichelte über die riesigen Pranken. 
„Siehst du, jeder gewinnt“, grinste Adam und stützte sich auf seinen linken Ellenbogen um besser auf sie beide schauen zu können. Leo sah nicht so aus, als würde er in diesem Moment gewinnen und kam erst nach ein paar Momenten wieder zu ihnen zurück.

Adam schien Selbiges zu spüren und lehnte sich zurück, deutete mit seiner Hand in den klar sichtbaren Sternenhimmel über ihnen. 

„Kennst du dich mit Sternenbildern aus?“, fragte er und Leo brummte verneinend. „Warst du noch nie sternengucken?“
„Nicht mit der Absicht, zum Astronomen ausgebildet zu werden.“
„Dann ist heute dein Glückstag.“
„Bezweifle ich.“

Vincent fand, dass anscheinend beide Männer viel zu viel Gefallen daran fanden, ihre Gespräche durch unsinnige Diskussionen in die Länge zu ziehen und kraulte seufzend Herbert hinter seinem Ohr. Ein bisschen erinnerte er ihn an Speedy. 
Wie sehr er die Hundedame vermisste, wurde ihm erst jetzt bewusst und er freute sich darauf, sie in drei Wochen wiedersehen zu können. Wenn er Adam für ein Wochenende alleine ließ um seinen Adam zu besuchen. 

Herbert winselte leise und tränkte sein Shirt am Unterarm mit Sabber. Ein Auge öffnete sich kurz, dann schloss er sie wieder und ging dazu über, weiter mit dem Hinterkopf an Vincents Brust gelehntzu schlafen. 

„Wir haben es Mai, also stehen die typischen Sternbilder des Frühlings gerade hoch am Himmel“, begann Adam die Lektion, die auch schon Vincent sich hatte anhören müssen. Theatralische Gesten von Adams rechtem Arm begleiteten seine Worte und fast kam es Vincent so vor, als hätte Leo Hölzer durch sein Nichtwissen die Büchse der Pandora aufgemacht.  „Die große Jungfrau räkelt sich im Süden, über ihr wacht der Bärenhüter und der prächtige Löwe wandert schon langsam Richtung Westen. Ihre hellsten Sterne Regulus, Spika und Arktur bilden dabei das strahlende Frühlingsdreieck, das wir schon in der Dämmerung sehen konnten. Wenn wir in den Himmel geguckt hätten und nicht damit beschäftigt gewesen wären, den Köter durch die Natur zu jagen.“

Nein, Adam würde heute keine Gnade zeigen, seufzte Vincent innerlich und verfolgte Leo Hölzers widerwillige Aufmerksamkeit. 

„Und wusstest du, dass der große Wagen eigentlich der große Bär ist? Oder vielmehr ein Teil davon? Faszinierend oder, wenn man sich etwas näher damit beschäftigt.“
„Es sind Sterne, deren Licht nur noch scheint, weil sie so weit weg von der Erde sind, dass die Lichtgeschwindigkeit uns noch nicht erreicht hat. Viele von ihnen sind bereits erloschen“, hielt Hölzer so unromantisch wie es nur ging dagegen und Adam schnaubte. 
„Ungebildete Banause“, schoss er zurück und Vincent wünschte sich auf seine Couch, mit Adam per Skype auf seinem Schoß.

Sie sprachen viel und häufig in letzter Zeit, was Vincent sehr genoss und Adam beruhigte. 

„Wenn du nach rechts guckst, siehst du ihn, den großen Wagen. Und um ihn herum, also da, da und da sind die Sterne, die ihn zum großen Bären machen.“ Tatsächlich folgte Leo Hölzer Adams Fingerzeig und sog das Wissen in sich auf, was ihm dargereicht wurde. 

Ganz der Ermittler, der er war. 

„Ich sehe ihn nicht“, gab er schließlich stirnrunzelnd zu und Vincent fragte sich, ob er das absichtlich machte – Adam auf seine Spur zu bringen und ihm Steilvorlagen zu liefern. So auch jetzt. Mittlerweile durfte er doch wissen, wie sehr Adam auf eben solche ansprang und wie sie ihn anspornten. Er rollte sich zu Leo und kam ihm so näher als es eigentlich schicklich wäre für das, was sie hier machten. Seine Hand schob sich vor Leos Gesicht und er streckte langsam seinen Arm aus, bis er den unteren Teil des großen Wagens erreicht hatte. 

„Folge meiner Hand. Siehst du das Viereck? Das ist das Unterteil. Von dort aus geht der Henkel nach links und darum herum siehst du den Rest des Sternbildes.“

Leo folgte tatsächlich, wie beim Töpfern auch und Vincent erlaubte sich einen Moment des Innehaltens. Vor fast einem Jahr wäre das undenkbar gewesen, ein No-Go, etwas, das er Adam niemals mit Verknüpfungen erlaubt hätte. Vor fast einem Jahr wären die Spielregeln eisern und klar gewesen. 

Es fiel Vincent wie Schuppen von den Augen. Das war der Grund, warum Leo Hölzer sie nächste Woche nicht sehen wollte. Vor einem Jahr hatten sie angefangen, sein Leben unter ihre Kontrolle zu stellen. 

Eine Kontrolle, die etwas gewichen war, was Vincent nicht zu definieren wagte.

Lieber schob er diese Überlegungen auf morgen und hörte nun zu, wie Adam Leo ein Jahr später nun in einer ruhigen, nicht arroganten Stimme die Sterne erklärte. Es war beruhigend und fast meditativ, so ließ Vincent sich von der Stimme seines besten Freundes, der lauen Mainacht und Herberts leisem Schnarchen wegtragen, die Worte der Bedeutungslosigkeit übergebend. 

Vielleicht, aber nur ganz vielleicht, schlief er dabei ein. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, war es eine große, nasse Zunge, die ihn schlussendlich aus seinen Träumen von einem glücklichen Leben mit seinen beiden Adams aufweckte.

Und er feststellte, dass die beiden Männer sich nicht gegenseitig umgebracht hatten. 


~~**~~


Leo sah dem sich entfernenden Wagen nach, Herbert zwangsweise an der kurzen Leine haltend. Der Verräter wäre sonst mit Ross mitgefahren. Seinem Kissen, seiner Kuschelgelegenheit, seinem am meisten geliebten Menschen, zumindest hatte Leo das Gefühl. 

„Dir ist schon klar, dass er einer der Bösen ist?“, fragte er die deutsche Dogge, die winselnd mit der Rute schlug, nicht im Geringsten von seiner Frage beeindruckt. Genaugenommen war Leo sich auch nicht sicher, wem er diese Frage stellte. Herbert für Ross oder sich für Schürk?

Schürk war wie ausgewechselt und sprach damit eine Seite in Leo an, gegen die er sich schlecht wehren konnte. Er ahnte, welche Seite es war und fragte sich, ob er wirklich geistig bei seinem 16-jährigen Ich stehengeblieben war, das sich immer gewünscht hatte, dass Detlef bereute und von nun an lieb zu ihm sein würde. 

Ein frommer und naiver Wunsch, zumindest was Detlef anging. Schürk, so schien es, erfüllte ihm diesen. Den Körperkontakt, den der blonde Mann suchte, war tolerierbar und ewig präsent. Wenig davon erinnerte Leo an die Zeit direkt vor Weihnachten. Da half es schon, dass sich jedes Mal, wenn Leo mit Wut an Schürk denken wollte, das Bild des geprügelten, schüchternen Jungen, der sich nicht zum Tresen seines Vaters traute, vor sein inneres, geistiges Auge schob. 

Leo runzelte die Stirn, als ihm mit einem Mal etwas Anderes bewusst wurde. Er erinnerte sich an die Aussage von Frau Schiller in Bezug auf den Freund ihres verstorbenen Sohnes. Ein dünner, hagerer, junger Mann. Ein schüchternes Ding, das den Mund nicht aufbekam und Angst vor allem hatte.

War Schürk dieser Mann gewesen? Damals? War so die Uhr des Verstorbenen in den Wirkungskreis des Syndikats gekommen? Er blinzelte. 

„Was sagst du Herbert, ist er der Mörder?“, fragte Leo in die Dunkelheit hinein und Herbert bellte leise. „Ist das ein Ja?“

Herbert nießte und verteilte seinen Sabber auf Leos Hand, seine Hose, seinen Wagen. Das hieß dann wohl nein. Oder?


~~**~~


„Wir haben Tangermann.“

Überrascht sah Leo hoch und musterte Rainer stumm. Fragend hob er die Augenbraue und begegnete Weiersbergers Aufmerksamkeit, der ihm grimmig zunickte. 

Dieses Mal trafen sie sich unweit eines Tatorts in einem verlassenen Gebäude der Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten, das an das Land zurückgehen sollte. Eine Vorsichtsmaßnahme, wie Leo wusste, und entsprechend unsicher war er erst gewesen, als er mit dazu geholt worden war. Dass sie ihn nun einweihten, ihn mitnahmen, löste die latente Unsicherheit, die Leo immer noch in sich trug, wenn er nicht mit genug Informationen dienen konnte. 

„Wie?“, fragte er und Esther lächelte schmal. 
„Das MEK hat geholfen“, sagte sie kryptisch und Leo wusste, dass er zumindest darauf keine Antwort erhalten würde. Er nickte, nahm das Ergebnis als das, was es war. Tangermanns Verschwinden von vor ein paar Wochen hatte ihn so wütend gemacht, dass er Schürk zum ersten Mal von sich aus angegangen war, im festen Glauben, dass der andere Mann ihren Zeugen umgebracht oder entführt hatte. Leo erinnerte sich noch gut an die Wut über sich selbst, jemanden verraten zu haben nur um seine Familie zu schützen. 

Die damalige Hilflosigkeit war heute nur noch ein Schatten in Leos Gedanken. Nicht zuletzt auch durch seine Enttarnung oder durch Schürks völlige Eskalation von vor dreieinhalb Wochen, die das Machtverhältnis zwischen ihnen angeglichen hatte.

„Wird er aussagen?“
„Wir bearbeiten ihn gerade, aber wir sind zuversichtlich, dass er uns helfen wird.“ 
Nachdenklich ließ Leo sich Schürks damalige Aussage durch den Kopf gehen. Tangermann hatte dankbar das Geld angenommen, was ihm geboten worden war. Er hatte sich anscheinend für ein besseres Leben entschieden, für eine Zukunft außerhalb von Saarbrücken. Es war die menschenfreundlichste Alternative gewesen, die dem Mann hatte einfallen können. 

Leo musterte Rainer fragend, steckte seine Hände unwohl in seine Hosentaschen. „Stimmt es, dass sie ihm eine Wohnung gekauft und ihm Geld gegeben haben?“
„Hat Schürk dir das gesagt?“ Eine lästige Eigenschaft seines damaligen Schulfreundes waren immer die Gegenfragen gewesen. So auch jetzt. 
„Ja.“
Rainer nickte zögerlich. „Ja, das MEK hat ihn in einer Wohnung gefunden, die nicht zu seinen sonstigen Lebensumständen passte. Zur Herkunft des Geldes dafür schweigt er sich aus.“
„Er hat es von Schürk bekommen“, wiederholte Leo wie eine kaputte Schallplatte und Rainer nickte. 
„Das ist wahrscheinlich.“
„Dann hat er nicht gelogen.“

Leo war noch nicht einmal verwundert darüber. Schürk tat viel, aber er hatte selten gelogen. Dinge verschwiegen, Leo bewusst in eine andere Richtung gelenkt, aber gelogen…

Neben seinen Berührungen war das die zweite Konstante in seinem Verhalten Leo gegenüber gewesen. 

„Du wirkst nicht glücklich darüber“, merkte Pia an. Leo wich ihrer Musterung aus, da er ahnte, was sie gerade auf seinem Gesicht lesen konnte und dass sie die falschen Schlüsse ziehen würde. Er zuckte mit den Schultern. 

„Es gefällt mir nicht, dass Schürk die Wahrheit gesagt hat“, erwiderte er und wusste, sobald er die Worte ausgesprochen hatte, dass sie eine Lüge waren. Pia wusste das auch, so wie sie ihn ansah. 

„Wir wissen jetzt auch, wer der Koch ist. Bastian heißt eigentlich Sebastian de Vries. Er ist 29 Jahre alt und hat mit 16 eine Ausbildung zum Koch gemacht und abgebrochen. Drei Jahre lang war er wie von der Bildfläche verschwunden, dann ist er mit 21 Jahren wieder aufgetaucht. Er hat die Ausbildung beendet, sein Abitur nachgemacht und hat in einem Zeitraum von zwei Jahren mehrfach Anzeigen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses erhalten. Das endete abrupt mit 25 Jahren und seitdem ist es still um ihn geworden. Laut den Steuerunterlagen ist er seitdem bei Roland Schürk angestellt und bekocht ihn. Und seinen Sohn, wie Sie gesagt haben. Die sexuellen Dienstleistungen sind nirgendwo vermerkt, also gehen wir davon aus, dass er sich das Geld schwarz verdient. Oder dass er gar nicht bezahlt wird.“

„Erregung öffentlichen Ärgernisses im Rahmen von Prostitution?“, hakte Leo nach und Weiersberger nickte. 
„Wer war sein Zuhälter?“
„Anscheinend niemand.“
„Wie ist er dann zu Schürk gekommen?“
„Das wissen wir nicht.“

Leo überlegte und ging seine Möglichkeiten durch. „Ich kann versuchen, es herauszufinden, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“
„Ist er regelmäßig bei Schürk?“
„Eigentlich immer nur dann, wenn es Essen gibt.“ Richtiges Essen gab es selten, aber dadurch, dass er mittlerweile Wünsche äußern konnte, wäre es mit Sicherheit eine Möglichkeit, das zu forcieren. 
„Machen Sie es, wenn es nicht zu auffällig ist.“
Leo nickte. 

„Wir haben ebenfalls die Todesfälle bei der Polizei untersucht und sind zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen wie Sie, Hölzer“, sagte Weiersberger und schob Leo eine dicke Akte über den Tisch. „Alles deutet auf die offiziellen Ergebnisse hin, allerdings gibt es ein paar Ungereimtheiten. Manfred Sternler war kerngesund, durch eine kurz vor seinem Tod durchgeführte, ärztliche Untersuchung bewiesen. Er hatte vor, sich beim SEK zu bewerben und wäre den Monat darauf angenommen worden. Ein Herzinfarkt war möglich, aber nach heutigem Stand eher unwahrscheinlich. Der linksradikal motivierte Mord an Thorsten Mester wurde niemals durch entsprechende Kreise bestätigt. Unsere V-Leute sagen ebenfalls, dass sie eine Täterschaft aus dem Kreis für unwahrscheinlich halten.“

Leo schluckte. „Also stimmt es. Sein Vater kann der Mörder sein.“
„Davon gehen wir momentan aus, ja.“
Zum Ersten Mal, seit Schürk ihm von seinen noblen Erpressungsplänen erzählt hatte, hatte Leo wirklich Angst, so als würde ihm erst jetzt bewusst werden, wie konkret die Gefahr war, die ihm entgegenstand. Wobei er keine Angst um sich hatte. „Wie kann ich meine Familie schützen?“, fragte er mit rauer Stimme und Weiersberger nickte in Richtung Akte. 

„Wir lassen sie durch ein Team beobachten. Das ist bereits angeordnet“, sagte er. „Auch wenn die Familien der verstorbenen Polizisten nie Ziel waren. Wir wollen aber kein Risiko eingehen.“
„Danke“, murmelte Leo und blätterte die Akte weiter durch. Seine Finger zitterten.
„Wir haben Ihnen ebenfalls einen Schutz zugeteilt. Für den Fall, dass Schürks Worte Ihnen gegenüber nichts wert sind.“

Zögernd sah Leo hoch. Ein Stunt mit Netz und doppeltem Boden also. Jemand, der ihn bewachte, aber auch. 

„Danke“, wiederholte er unsicher, was er davon halten sollte. 


~~**~~


„Ich liebe deinen Schwanz, er ist wunderschön.“

Gedankenverloren strich Leo über die Wange des vor ihm knienden Mannes, wanderte von dort aus in die blonden Haare. Instinktiv lehnte er sich in dem Sessel etwas zurück, spreizte seine Beine und leckte sich über die Lippen. 

„Du bist wunderschön“, raunte er, überwältigt von seinen eigenen Gefühlen, die ihn so verwundbar machten an diesem Tag. Er hatte sich Urlaub genommen und war weggefahren, nach Kaiserslautern. Weit weg aus Saarbrücken, weg von den Erinnerungen an das, was vor einem Jahr geschehen war. 

Er hatte sich in der Stadt herumgetrieben, seinen Geist mit kulturellen Eindrücken gefüttert, bevor er sich in einem der einschlägigen Clubs einen Mann zum Ficken gesucht hatte. Einen blonden, schlanken, großen Mann, der es liebte, sich Schwänze in den Rachen zu stecken. Der es liebte, wenn er dabei grob angefasst würde.

Leo erinnerte sich noch nicht einmal an seinen Namen, aber das war auch egal, als der Namenlose Leos Schwanz zwischen die Lippen nahm und ihn so enthusiastisch und versiert verwöhnte, dass Leo Sterne vor seinen Augen sah. Er packte zu, grub seine Hand in die blonden weichen Haare und dirigierte den Mund dorthin, wo er ihn hinhaben wollte. Solange, wie er ihn dort haben wollte. 

Der Mann vor ihm wollte es hart, als bekam er es. Er wollte es dominant und das sollte Leo am heutigen Tag nur Recht sein. Er wollte befriedigen und Leo wollte befriedigt werden. Er wollte ausradieren, was in seinen Gedanken tobte, was er vor einem Jahr miterleben musste und es mit anderen Erinnerungen übertünchen. Erinnerungen, in denen er die Macht hatte. 

So wie jetzt. Durch seine Hand in den blonden Haaren des Mannes, der nicht Adam Schürk hieß, aber ihm ähnlich genug war, um Leo die Möglichkeit zu bieten. So war der Orgasmus, der ihn schließlich überrollte, nicht schal und bitter, sondern erfüllt von einer Ruhe, die Leo dringend vermisst hatte.

Auch wenn sich der erhoffte Rachegedanke nicht wirklich einstellen wollte.


~~**~~


Warum Schürk sich mit ihm an seinem eigenen Wahltag ausgerechnet zum Wandern treffen wollte, war Leo ein Rätsel. Nicht zuletzt deswegen, weil der Mann neben ihm zwar Wanderkleidung trug – ein ungewohnter Anblick – es aber offensichtlich war, dass er mit der Steigung der Vogesen nichts anzufangen wusste und schon gar nicht auf sie vorbereitet war. Ross war dieses Mal nicht dabei, was Leo erst dann erfahren hatte, als er auf dem Wanderparkplatz aus seinem Auto gestiegen war. 
 
Es war wieder eines von Leos Hobbys, das sie machten. Wandern gehen, raus in die Natur, weg aus Saarbrücken und hinein in den Wald. Für einen frühsommerlichen Tag war es heiß heute und so kam auch Leo ins Schwitzen, aber nicht so sehr, wie Schürk selbst, dem es deutlich anzusehen war, wie wenig er diese körperliche Anstrengung schätzte

Warum er sich dann dazu entschieden hatte, ihn hierhin zu bestellen, war Leo immer noch ein Rätsel. Er könnte nachfragen, vielleicht, aber er war nicht in der Stimmung dazu, nicht mit dem Echo der sich nunmehr gejährten Erpressung. 
Lieber nutzte er das, was sich ihm hier bot und bestaunte die Natur um sich herum. Die Strecke von zwanzig Kilometern war ideal für einen Tagesausflug. 
Leo hatte bisher von einer Pause abgesehen, ganz zum Leid des Mannes neben ihm. Was dieser ihm auch durchaus mehrfach mitgeteilt hatte. 

Die Pause erzwang Schürk just in diesem Moment, als er in einem kleinen Seitenweg anscheinend etwas entdeckte, was Leo entgangen war. Erfreut grunzte er auf und deutete auf den kleinen, beinahe schon zugewucherten Weg. 
„Wir gehen da lang!“, bestimmte Schürk nach Kilometern des Schweigens und schlug sich durch das Dickicht. Leo sah der verschwindenden Gestalt zweifelnd hinterher. Er hatte zwar sein Handy dabei und eine entsprechende Wanderkarte heruntergeladen, aber wenn sie hier querfeldein liefen, dann würden sie sich im Nu verirren. Und eigentlich hatte Leo gedacht, dass er heute Abend wieder zuhause sein würde. 

Eigentlich. 

Leo prägte sich den Weg und die Details in der Natur rund um sich herum ein und folgte Schürk hinein ins Dickicht, das ihn nach ein paar Metern zu einem versteckten, kleinen See mit Steg und Grasstrand führte. Das Wasser glitzerte verführerisch in der Sonne und Leo schirmte seine Augen mit seiner rechten Hand ab um richtig sehen zu können. 

Kaum zehn Sekunden später wünschte er sich, dass er es nicht getan hätte, denn Schürk entledigte sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht nicht nur seines Rucksacks, sondern auch seines Oberteils und zu Leos Schrecken gleich auch noch der Schuhe, Socken und beider Hosen. 

Er trägt heute sogar Unterwäsche, soufflierte sei Unterbewusstsein lakonisch und Leo grollte. Als wenn das auch nur ein Deut zur Sache tat. Oder jetzt wichtig wäre.

„Endlich Abkühlung!“, freute Schürk sich wie ein kleiner Junge und Leo war noch in seinen Gedanken bei der Vorstellung, dass ein unbekannter See mit unbekannter Tiefe mit Sicherheit nicht dazu einladen sollte, über den vielleicht morschen Holzsteg zu laufen, mit Anlauf dort einfach hinein zu springen und dabei mehr als…

Arschbombe!

…gefährlich war.

Leo blinzelte, als Schürk mit einem lauten Platschen untertauchte und Leo sich ausmalte, wie er Ross mitteilen müsste, dass Schürk am heutigen Tag verstorben war, weil er sich in einem unbekannten See den Kopf gestoßen oder sich ein herausragendes Metallteil durch Brust gerammt hatte.

Schneller, als sich der Gedanke zu einer handfesten Angst manifestieren konnte, war Schürk aber auch schon wieder aufgetaucht und schwamm lachend zur Mitte des kleinen Sees, der hoffentlich keine Strudel hatte. 

Hoffentlich nicht.

Auf halber Höhe drehte eben jener sich um und winkte ihm ausgelassen. „Los, komm auch rein.“

„Im Leben nicht.“

Dass er die Worte laut ausgesprochen hatte, wurde Leo bewusst, als Schürk mit den Augen rollte, während er sich auf dem Rücken treiben ließ. „Es ist kalt, erfrischend und angenehm zum Schwimmen. Außerdem ist es viel zu heiß in der Sonne.“

Was kein Grund war, sich nackt auszuziehen und mit wackelndem Arsch in irgendeinem französischen Teich zu verschwinden. Was, wenn es Zitteraale gab? Oder andere Tiere? Solange sie Schürk nicht lebensgefährlich verletzten und ihn in die missliche Lage brachten, einen Tod zu erklären, der kein Mord war, sollte ihm das herzlich egal sein, befand Leo sich selbst scheltend und verschränkte seine Arme. 

Ausdruckslos starrte er auf das Wasser und wurde sich erst verspätet bewusst, wie selbstverständlich und mit welcher beinahe schon kindlichen Freude Schürk in diesen See gesprungen war. Es war schon wieder eine neue Facette an dem Mann, eine beinahe schon kindliche, unbeschwerte. Es war, als wäre er eine ganz andere Person. 

Wenn er Ross danach fragen würde, würde dieser mit Sicherheit eine Geschichte über Schürk erzählen, in vorsichtigen, zurückhaltenden Worten, die in Leo Verständnis aufbringen sollten, dessen war er sich sicher. 

„Los, komm! Es ist wirklich angenehm und außerdem würde dir eine Abkühlung auch gut tun.“

Leo hatte eine sehr gute Vorstellung davon was ihm gut und nicht gut tun würde. Nackt neben Schürk in einem unbekannten Tümpel zu baden, gehörte jedoch nicht dazu. Mitnichten. Allerdings war die Aussicht, zumindest seine Füße in das klare, blaue Wasser zu stecken, während er auf dem Steg saß, schon durchaus ansprechend. 

Was sollte da auch schon passieren?

Er gab sich einen innerlichen Ruck und löste die Schnallen seines Rucksacks. Ebenso langsam zog er die Wanderschuhe und Socken aus und kam barfuß zum in den See ragenden Rand des Stegs, während Schürk seine planschenden Runden zog und den See mit kreisförmigen Wellen überzog. 
Leo ließ sich auf die verwitterten und bemoosten Holzbohlen nieder und streckte seine Füße in das kalte und erfrischende Wasser. Es tat gut, aber er würde den Teufel tun und das vor Schürk zugeben, der sich nun zu ihm zurücktreiben ließ. 

„Nicht zuviel Wasser“, spottete er und Leo bedachte ihn mit einem unerfreuten Blick. Alles andere, was ihm auf der Zunge lag, schluckte er hinunter und war bemüht, Schürk ins Gesicht zu starren und nicht auf das klare Wasser, das wirklich gar nichts der Einbildung überließ. 
„Warst du früher öfter in den Vogesen wandern?“, ergriff Schürk erneut das Wort und Leo zuckte mit den Schultern. 
„Ab und an.“ Oft genug, dass er die Wanderparkplätze kannte und einige der Strecken schon mehrfach gelaufen war um den Kopf freizubekommen. Vor…Schürk hatte er das getan. Bevor der in diesem Moment glücklich lächelnde Mann mit den nassen Haaren ihm seine Selbstbestimmung genommen hatte. 

Leo musste wegsehen. Jetzt, in diesem Augenblick konnte er Schürks Anblick und damit die Bedeutung, die dieser für sein Leben hatte, nicht ertragen. Das vergangene Jahr war die Hölle für ihn gewesen und erst jetzt kam er wieder auf die Beine. Es war besser, zumindest solange, wie er sich einreden konnte, dass er nicht im Gefängnis landen würde für das, was er getan hatte. Solange, wie er sich einreden konnte, dass seine Familie durch die Polizei geschützt wurde. Auch wenn er Beweise gegen das Syndikat und Schürk sammelte und ihm das immer noch Ruhe und Zuversicht verschaffte. Gegen dessen Vater, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Mord an den Polizisten in Auftrag gegeben oder selbst durchgeführt hatte. 

Manchmal fühlte Leo sich, als würde er nicht genug tun. Pia und Esther sahen das anders, aber Leo hatte keine Ahnung, wie es werden würde, wenn alles einem unabhängigen Richter präsentiert werden würde.

Einer, der nicht aus Saarbrücken kam. Einer, bei der er sich sicher sein konnte, dass die neuralgischen Stellen umgangen wurden, die mit drinhingen. 
Es war Zukunftsmusik und Leo musste sich noch mit dem Gedanken anfreunden, dann selbst vielleicht ins Gefängnis zu gehen und dort zu ertragen, was sie ihm antun würden. Ihm, als schwulen Bullen im Knast, da hatte Schürk schon Recht gehabt mit seinen gehässigen Worten. 

Leo grub seine Zähne in die Unterlippe. Momentan sah er noch keinen Ausweg, wie es anders ausgehen könnte, wenn Weiersberger Anklage erhob. In seinen schlimmsten Alpträumen malte er sich aus, wie er zusammen mit Syndikatsmitgliedern im Gefängnis landen würde. Er würde das kein Jahr überleben, vermutlich noch nicht einmal die U-Haft. 

„Na los, hilf mir mal raus“, streckte eben jener, blonder Ursprung seiner Probleme ihm die Hand entgegen. Leo verfing sich an den nachdenklichen Augen und war im ersten Moment versucht, nein zu sagen. Nein zu allem. Dann jedoch obsiegte sein nunmehr monatelang indoktrinierter Gehorsam und er kämpfte sich hoch, um Schürk im Stehen besser aus dem Wasser ziehen zu können und ihm dabei nicht auf den nackten Körper zu starren. Seine dunklen Gedanken halfen und er ergriff die langen Finger. 

Als er daran zog, überraschte ihn der starke Widerstand und zu spät erkannte Leo das vorfreudige Lächeln auf Schürks Lippen. Zu spät erkannte er, dass er sich wie ein Anfänger hatte vorführen lassen und nun mit seinem Stolz, seiner Würde und seinen Klamotten in dem eiskalten See unterging. 

Ein Gutes hatte es jedoch. Seine selbstzerstörerischen Gedanken wurden in null-Komma-nichts durch Wut abgelöst, Wut auf diesen verfluchten, verdammten Mann, Wut auf seine eigene Dummheit.


~~**~~


„Arschloch!“, grollte Hölzer nicht zum ersten Mal und Adam grinste. Auch nicht zum ersten Mal, denn das, was jetzt an Feuer, so missbilligend es auch war, da war, war um Längen besser als die Trauer und Verzweiflung, die er kurz über Hölzers Gesicht hatte huschen sehen. 

Genaugenommen hatte er von Anfang an geplant, seinen hauseigenen Polizisten mit ins Wasser zu ziehen, schließlich hatte er noch einen gut bei Hölzer und der See war nicht um Längen so kalt wie der vor Weihnachten. Aber als dieser von seiner nachdenklichen Entspannung aus in etwas Schlimmeres geglitten war, hatte Adam akuten Handlungsbedarf gesehen und das getan, was Hölzer sehr leicht aus solchen Momenten herausholte: Er hatte ihn wütend gemacht. 

Entsprechend zufrieden lag er nun bäuchlings neben Hölzer auf dem Gras am Rand des Sees und ließ sich die Sonne auf seinen nackten Körper scheinen. Seine Arme hatte er auf dem Boden vor sich verschränkt und das Kinn daraufgelegt. Hölzer selbst saß – bis auf seine schwarze Unterhose unbekleidet, außerhalb seiner Griffreichweite neben ihm und durchbohrte ihn mit seinen hübschen, grünen Augen, den Rest der Kleidung neben sich zum Trocknen ausgebreitet. 

Adam räusperte sich und deutete auf das schwarze Stück Stoff. „Vielleicht solltest du das auch ausziehen, damit-“
„Halt die Fresse!“, schnappte Hölzer wütend.  
Für gewöhnlich ließ Adam nicht so mit sich reden, doch in diesem Fall genoss er das Blubbern der warmen Belustigung in seinem Magen. Ja, da war er, der Hölzer, den er wollte. Der Hölzer mit Feuer, der keine Angst vor ihm und den Konsequenzen seiner Worte hatte.
„Dir ist schon klar, dass das der älteste Trick der Welt ist, oder?“, forderte Adam deswegen sein Glück noch ein wenig mehr heraus und fühlte sich pflichtschuldig aufgespießt durch die stumme Wut des Mannes. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich dich damit bekommen würde.“

Was da alles so über das schöne Gesicht huschte bei seinen Worten. Alles davon blieb ungesagt und Adam lauschte dem Schnaufen, das anstelle dessen Hölzers Lippen verließ. Schweigend richtete der andere Mann seine Aufmerksamkeit auf den See hinaus und Adam befürchtete ein erneutes Abgleiten in seine Gedankenwelt. Selbst ohne Vincent wusste Adam, wohin diese Reise gehen würde und er machte sich dazu bereit, Hölzer wieder da heraus zu holen, als dieser zu ihm zurücksah und mit einem Stirnrunzeln in seine Richtung nickte. In die Richtung seines Rückens.

„Das ist Körperverletzung“, sagte er und Adam brauchte einen Moment, um zu begreifen, was Hölzer meinte. Nicht sich selbst, sondern ihn. Adam. Adams Körper, den er ihm in all seiner zerschlagenen, hämatombewehrten Pracht zeigte. Adam musste gestehen, dass er bis gerade eben nicht darüber nachgedacht hatte, wie er aussah, aber es stimmte. Die Dreckssau hatte ihn Anfang dieser Woche in der Mangel gehabt. Ein Deal in Brüssel war schiefgelaufen und er war der Prügelknabe gewesen. Hinzukamen wahrscheinlich die alten Narben auf seinem Rücken, die er über die Jahre hinweg gesammelt hatte für seine Unfähigkeit, der perfekte Sohn zu sein und seine Dreistigkeit, in diese Welt geboren worden zu sein.

Adam gefiel die Richtung, in die ihr Gespräch lief, nicht, ganz und gar nicht. Das Letzte, an das er denken wollte, wenn er mit Hölzer unterwegs war, war die Dreckssau und das, was diese ihm wieder und wieder und wieder antat. 
Er zuckte mit den Schultern und schloss die Augen, verschloss sich vor der Wahrheit und dem Mann neben sich, der Blut geleckt hatte. 

Der Ermittler war erwacht und Adam wusste, dass Hölzer nicht lockerließ, wenn man es ihm nicht verbot. Das war das Bewundernswerte und das Frustrierende an dem Mann. 

„Hast du mir deswegen vor Weihnachten verboten, diese Art von Sex zu haben?“

Die Frage kratzte an Adams Versuch, sich dem Ganzen zu entziehen. Sie war so direkt, dass er sich genötigt fühlte, seine Augen nun doch wieder zu öffnen um Hölzer in die Augen zu sehen. Die Vorsicht und Verständnislosigkeit, die er dort sah, gaben ihm keine Antworten, sondern nur neue Fragen. Zusätzlich zu denen, die er sowieso schon hatte. 

„Nein.“
„Sondern?“ 

Für einen Augenblick war Adam ratlos. Für einen Augenblick hatte er keine Ahnung, ob er Hölzer von Bastian erzählen sollte. Aus dem Einen wurde mehrere und erst nach unanständig langer Zeit traf er eine Entscheidung. Vermutlich, weil er so etwas wie ein schlechtes Gewissen hatte für seine damaligen Worte. Für das, was er ihm verboten hatte. Wie er es getan hatte. 

Es war keine von Adams Glanzstunden gewesen, das musste er zugeben. Die wütenden Worte, die er sich dafür von Vincent eingefangen hatte, waren mehr als berechtigt gewesen. Dass dieser nun aber bei dem Anblick seines Rückens an das dachte, was Adam ihm vor Weihnachten verboten hatte, war eine Verbindung, die Adam so ganz und gar nicht haben wollte. 

„Bastian wurde von einem seiner Kunden mal übel zugerichtet. Hat geblutet und konnte nicht richtig laufen. Was er mir aber erst nach zwei Tagen mitgeteilt hat“, grollte er und schloss die Augen. 
Nachdenklich schürzte Hölzer die Lippen. „Bist du sein Zuhälter?“
Adam schnaubte. Was für eine Frage nach dem, was er Hölzer offenbart hatte. Ganz der Ermittler, immer nach einer Straftat suchend. „Nein. Bastian hat immer auf eigene Faust gearbeitet. Ich habe mich nur um seinen Kunden gekümmert und ein eindeutiges Feedbackgespräch geführt.“
„Hast du ihn umgebracht?“ Irgendwie hatte Adam das Gefühl, dass seine Gedanken in einer Dauerschleife liefen. Hölzer schon wieder. Gleich immer das Schlechteste denkend. 
„Er lebte noch, als ich ihn auf eine Parkbank gesetzt habe. Und soweit ich weiß, ist er heute ein braver Kunde ohne Ambitionen, möglichst brutal zu ficken.“

Der Mann neben ihm brummte und Adam öffnete ein Auge. Hölzer musterte und vermaß ihn, als wäre er eine Landkarte.

„Dann schlägt dein Vater dich immer noch?“

Vielleicht ersäufte er Hölzer auch einfach in dem See, damit er aufhörte, ihn mit seinen Fragen nach dem Offensichtlichen zu nerven. Adam dachte ein paar Sekunden ernsthaft darüber nach, dann beschloss er, es erst einmal mit einer anderen Taktik zu versuchen. 

Ablenkung. 

Adam rollte sich langsam und lasziv auf den Rücken, wohl wissend, dass der Anblick seines nackten Körpers, insbesondere seines Schwanzes, Hölzer aus dem Konzept bringen würde. Siegessicher lächelnd musterte er den anderen Mann, während er sich streckte und ihm einen ungehinderten Blick auf alles gewährte. 

Oh ja, der Erfolg war da. Hölzer zuckte, seine Augen zuckten, seine Aufmerksamkeit richtete sich für den Bruchteil einer Sekunde auf den dargebotenen Ablenkungskörper. Seine Wangen färbten sich unter dem ohnehin schon sonnengeröteten Teil noch etwas tiefer ein und er schluckte. Adam lächelte siegessicher, doch keine Sekunde später erlosch alle Unsicherheit auf Hölzers Gesicht und seine Mimik schulte sich eisern auf Ermittler. 

„Damit kannst du mich nicht ablenken“, hatte Hölzers Stimme nichts von der gerade noch erhofften peinlichen Berührtheit. No-Bullshit stand in seinen Augen und Adam wusste im ersten Moment nicht wohin mit sich und seiner ins Leere gelaufenen Taktik, peinlich berührt und splitterfasernackt vor jemanden, der ihn nicht schlagen und nicht mit ihm ins Bett steigen wollte. Hm.  

„Das sind Spuren von Misshandlungen. Jahre alt“, konkludierte Hölzer, als würde er ein Mordopfer begutachten und für einen Moment kam sich Adam auch vor wie eins. Sein junges Ich, das Kind, das er hatte sein sollen, war es auf jeden Fall, gestorben durch das Regime seines Vaters. „Und da sind Spuren von Misshandlungen, ein paar Tage alt.“
„Und wenn? Sollte dich doch freuen, wenn es jemanden gibt, der mir zeigt, wo’s lang geht, oder?“, rettete Adam sich in beißenden Zynismus und prallte an vollkommener Ruhe ab. Hölzer hatte ihn, er hatte sich in ihm verbissen und die Fährte, die er aufgenommen hatte, war keine Gute. 

„Warum wehrst du dich nicht dagegen?“, hakte Hölzer nach und Adam drehte sich frustriert wieder auf den Bauch. Wenn seine Schwanzablenkungstaktik schon nicht funktionierte, musste er auch nicht die unbequeme Position weiterhin beibehalten.  
„Bisschen intim die Frage, oder?“
Gnadenlos sah Hölzer auf ihn hinunter. „Genauso intim wie deine Schnüffelei in meinem Leben und meinem Grindr-Account.“

Recht hatte er damit, befand Adam und es juckte ihn wirklich, Hölzer die gewünschte Antwort zu geben. Konnte er es? Wenn er Vincent fragte, war die Antwort sicherlich nein. Vincent hatte schon zu so vielem nein gesagt, was Adam getan hatte. Selbst hierzu hätte er nein gesagt und Adam eine Decke gereicht. Er hatte ihm dafür den Kopf gewaschen. Was war denn dann schon dabei, zu verraten, wenn er sagte, warum er nicht den Mut fand zu gehen. Es änderte doch nichts. 

„Er hat seine Methoden um Menschen dazuhalten wo er sie will.“
Fragend legte Leo den Kopf schief. 
„Schürk Senior hasst es, einen schwulen Sohn zu haben. Das lässt er an eben jenem aus. Das Endergebnis siehst du hier.“ Knappe Worte für jahrzehntelange Prügel und Nächte, eingesperrt im Schrank, befand Adam und Ähnliches erkannte er in Hölzers Gesicht. 
„Warum arbeitest du noch für ihn?“
„Warum arbeitest du noch für mich?“, hielt Adam dagegen und Hölzers Miene verdunkelte sich beinahe augenblicklich. 
„Ich arbeite nicht für dich, du erpresst mich“, grollte er und Adam lächelte knapp. 
„Tja. Und so wenig, wie du von mir loskommst, komme ich von ihm los. Ein ewiger Kreislauf.“

Hölzer musterte ihn, als versuchte er, bis zu seinem Hirn durchzudringen. Die Lippen öffneten und schlossen sich währenddessen ohne Unterlass, wollten etwas sagen, überlegten es sich dann anders. Es arbeitete hinter der hübschen Stirn und schlussendlich kam Hölzer mit sich zu einem Ergebnis. 
„Es gibt Zeugenschutzprogramme oder Kronzeugenregelungen“, sagte er zögernd und Adam lächelte. 
„Ich wäre tot, bevor ich dem Staatsanwalt auch nur die erste Silbe des Wortes vor die Füße kotzen könnte“, winkte er ab. 
„Aber das…“

„Leo, lass es. Bitte“, sagte Adam so sanft, wie es ihm möglich war. Die Alternative wäre gewesen, den anderen Mann anzuschreien und das wollte er hier nicht. Nicht heute, nicht an diesem schönen Tag. Eigentlich überhaupt nicht. Außerdem war Hölzers Vorname schön und Adam gefiel es, ihn auszusprechen. Wie er jetzt feststellte. 

Die Wirkung, die sein einfacher Satz und seine Intonation hatten, war sofort greifbar. Leo Hölzer, hochkritischer und strenger Kriminalhauptkommissar, saß überrumpelt neben ihm, starrte ihn mit großen Augen an, schloss langsam den Mund, öffnete ihn, schloss ihn wieder, jeden Widerstand in sich erlöschen lassend. 

Wie ein Ballon ohne Luft fiel er in sich zusammen und griff in einer Übersprungshandlung nach seinem Rucksack. Wortlos kramte er sein Wasser und das Obst heraus, das er sich anscheinend mitgebracht hatte, und aß es mit schweigendem Blick auf den See. So konnte man Hölzer also auch außer Kraft setzen…durch Sanftheit. Durch eine Bitte, die Hölzer mehr aus dem Konzept brachte als sein nackter Körper es tat. Adam wusste nicht, ob er beleidigt sein oder sich geehrt fühlen sollte.

Nichtsdestotrotz konnte Adam die Gedanken in dessen Hirn beinahe hören und wusste, dass Vincent davon überhaupt nicht begeistert sein würde. Auch wenn für Adam der Gedanke an eine Zeugenschutz- oder Kronzeugenregelung mit glücklichem Ausgang beinahe eine Erlösung war. Eine Utopie, die ihm niemals zustehen würde.


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 28: Angenehme Träume, Herr Kriminalhauptkommissar

Notes:

Mit etwas Verspätung hier nun der neue Teil. Sorry! Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und immer daran denken, es geht aufwärts! Sowohl mit den Beiden als auch mit den Erkenntnissen! ;)

Vielen lieben Dank euch allen für eure Kudos, Kommentare, Klicks :3.

Chapter Text

Vincent legte seine Grillwurst unter den kritischen Blicken zweier Augenpaare auf den kleinen Extragrill. Adam hatte diesen für ihn angefacht, obwohl Vincent das gut und gerne auch selbst hätte tun können. Aber soweit hatte er seinen grillversessenen Partner noch nicht, dass er das zuließ. Ebenso wenig hatte er zugelassen, dass Vincent seine veganen Mitbringsel auf dem Fleischgrill zubereitete. Wo kamen sie denn da hin, dass Vincent seiner eigenen Prämisse untreu wurde? 

Ungefähr so war die unwirsche Begründung gewesen, mit der Adam die Anschaffung des petrolfarbenen Kugelgrills gerechtfertigt hatte. Vincent war zu klug um das nicht auszudiskutieren, also brachte er brav immer neue Dinge mit, die man zum einen grillen und zum anderen auch essen konnte. Das war bei weitem nicht bei allen Fleischersatzprodukten so, aber einige gingen. Manchmal experimentierte er auch selbst – mit gemischtem Erfolg. 

Die Würstchen heute waren lecker, auch wenn weder Karol nach Adam wirklich viel davon hielten, ihren Gesichtern nach zu urteilen. 
Vincent hob seine Augenbraue und hielt einen Gemüsespieß hoch. „Besser?“, fragte er lakonisch und Adam rollte mit den Augen. 
„Nein danke. Wir haben“, deutete er auf das Fleischmonstrum das vier Höhlenmenschen oder eben zwei Polizisten aus Świecko sattmachen würde. Adam hatte für sich entdeckt, dass einen Braten zu grillen eine gute Möglichkeit wäre, noch mehr Fleisch zu essen und so gab es anscheinend seit geraumer Zeit das. Glaubte er Karols gepeinigten Worten. 

„Wie geht es dir?“, fragte Adams bester Freund und Dienststellenleiter mit seinem unverwechselbar schweren Akzent und Vincent lächelte. 
„Gut. Ich freue mich, endlich wieder hier zu sein.“
„Und in Saarbrücken? Was ist mit diesem Polizisten, der neulich hier war?“
Es war nicht so, als hätte Vincent das Ganze nicht schon öfter mit Adam im Skype besprochen und natürlich auch Freitag persönlich. Dass Karol, ganz der Ermittler, der er war, da noch einmal nachhaken musste, war Vincent klar, auch wenn er es gerne umgangen hätte. 
„Er hat mich als Zeugen vernommen, festgestellt, dass ich wohl doch ganz verlässlich bin und ermittelt nun anscheinend in andere Richtungen. Genau kann ich das aber nicht sagen, er hat mich seitdem nicht mehr kontaktiert.“

Vincent war schon immer gut im überzeugenden Lügen gewesen. Hatte er auch sein müssen. So fiel es ihm jetzt nicht schwer, den beiden Männern weiszumachen, dass er überhaupt keinen Kontakt zu Leo Hölzer hatte. Es tat ihm weh, ja, denn er würde gerne vollkommen ehrlich zu Adam sein, aber Vincent war auch ein Mann, der Angst vor Einsamkeit hatte. Zumal er Adam wirklich liebte und ihn egoistischerweise nicht missen wollte aus seinem Leben. 

„Vermutlich ist er so ein karrieregeiler Aufstreber, der unbedingt weiterkommen möchte und dem es egal ist, wen er dafür hängt“, schnarrte Adam böse und Vincent schüttelte den Kopf. 
„Nein, das schien mir nicht so.“ Leo Hölzers Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Das Bild eines verzweifelten Mannes, der versuchte, weiterhin dem Gesetz zu dienen und an der Erpressung fast zugrunde ging. Neuerdings tauchte auch das Bild eines lachenden Mannes auf, den ausgerechnet sein Adam aus Saarbrücken soweit gebracht hatte. 

„Er möchte nur seinen Job machen“, wiegelte er ab und Adam streckte eine Hand nach ihm aus. Vincent warf einen prüfenden Blick auf den Grill, ob auch alles noch sicher war, dann kam er zu seinem Partner, der ihn ohne viel Federlesen in einen sachten Kuss zog. Vincent erwiderte ihn und war froh, dass er Adam damals mit viel Sturheit und Geduld gezeigt hatte, dass es auch für Männer okay war, Zärtlichkeit gegenüber Männern zu zeigen. 

Adam hatte es erst nach und nach verinnerlicht und noch viel länger gebraucht, um selbst dazu zu stehen, dass er sich von seinem eigenen Geschlecht auch wirklich angezogen fühlte. Und nicht nur von Vincents Hintern in einem gut sitzenden Rock oder einer schicken Stoffhose. 

„Du bist hier, das zählt“, murmelte Adam und bettete seine Stirn an Vincents. 

Und ja, das tat es. 


~~**~~


„…und dann hat er sich umgedreht.“ Leo schnaubte. „Natürlich nutzt er die Gelegenheit, sobald Ross nicht da ist um blank zu ziehen und mich damit abzulenken. Aber nicht mit mir, was glaubt er denn? Dass er mich ablenken kann, indem er mir seinen Schwanz zeigt? Als wenn ich nur darauf fixiert wäre. Oder er so schön wäre. Und was glaubt er denn? Dass er mich einfach um etwas bitten kann, mit sanfter Stimme? Das ist doch Taktik. Und schlechte noch dazu. Als wenn ich darauf anspringen würde.“ 

Er rollte mit den Augen und hob abwehrend die Schultern. Natürlich hatte Schürks Tonfall etwas tief in ihm angesprochen, das Leo nicht ganz beziffern konnte. Es hatte ihn von jetzt auf gleich ratlos gemacht. Verloren, wie er darauf reagieren sollte. Unfähig, seinen Auftrag zu erfüllen. Unerklärlich, wie so einiges in letzter Zeit. Warum legte er sich auch hin, wenn Schürk Sterne gucken wollte? Warum folgte er seinen Erklärungen? Warum gab er ihm seine Hände, wenn sie Ton formten? Warum lachte er in dessen Gegenwart?

„Es muss am Tag gelegen haben. Es war so schön dort und das Wandern hat Spaß gemacht. Es war seit langer Zeit wieder das erste Mal, verstehst du? Raus in die Natur, ins Grüne, nur mit meinen Gedanken. Klar, und ihm. Aber er war erträglich irgendwie. Nicht so schlimm wie vorher. Fast…handzahm, und das, obwohl Ross nicht da war.“

Leo sah nach oben und Herbert starrte erwartungsvoll auf ihn hinunter. Eins seiner Ohren bewegte sich, hob sich probeweise bei der Erwähnung von Ross‘ Namen. Natürlich. Ross, Vincent und spazieren gehen waren Signalworte für Herbert, die er überall und immer gut fand. Auch heute, einen Tag nach Leos Wander- und unfreiwilligem Badeausflug in den Vogesen, der Länge nach ausgebreitet auf Leo. Gemeinsam mit ihm auf der Gartenliege bei seinen Eltern. Achtzig Kilo waren nicht einfach so wegzustecken und so lag Leo unter dem Riesenhund, als Hundebettersatz dienend. Als wenn es nicht schon warm genug wäre.

Er hatte den freien Sonntag genutzt um zu seiner Familie zu fahren, nicht zuletzt, weil Caro ihn darum gebeten hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Eltern in letzter Zeit komisch waren. Nicht so fröhlich wie sonst, zurückgezogener. Es hatte Leo ein schlechtes Gewissen gemacht und so versuchte er heute, sie etwas zu beruhigen. Dass ihm gut ging. Dass er nicht unter Schürk litt – nicht so sehr wie vorher. 

Bisher ohne nennenswerten Erfolg, denn so sehr sie sich auch bemühten, ihn anzulächeln und ihm klar zu machen, dass er geliebter Teil ihrer Familie war, so sehr war da immer noch eine Barriere zwischen ihnen. Oder war diese gar nicht wegen Schürk, sondern wegen seinen Taten? War es doch zuviel, dass sie einen Sohn hatten, der einen anderen Menschen ins Koma geschlagen hatte? Waren sie bei Matthias‘ Mutter gewesen? Leo traute sich nicht mehr zu ihr und damit zu ihrem Mann, der sich seit Jahren in häuslicher Pflege befand. 

Herbert schleckte ihm durchs Gesicht und Leo wehrte ihn lachend ab. „Ey! Was soll das, du Mieser!“, beschwerte er sich eher pro forma, denn Herbert riss ihn – wie Schürk gestern auch schon – aus seinen dunklen Gedanken. 

„Aber danke für’s Zuhören. Auch wenn ich es sonst mit niemandem teilen kann. Zumindest nicht in der Detailtiefe. Stell dir mal vor, ich erzähle Pia davon. Die wird doch über einen nackten Schürk mehr als nur die Augenbrauen heben. Von Esther, Rainer oder Weiersberger ganz zu schweigen.“

Herbert schnaufte und sah zur Seite, als er in Geräusch von der Terrassentür her hörte. Leo folgte seinem Blick und sah seine Mutter auf sie beide zukommen. Bei ihrem Anblick lächelte sie sanft, doch da war immer noch der betrübte Zug um den Mund. So wie früher – als er nicht alles von der Schule erzählte und seine Eltern aus lauter Hilflosigkeit zur Direktorin gegangen waren. 

„Das sieht sehr bequem aus, zumindest für Herbert“, sagte sie, als sie neben ihnen zum Stehen kam, und strich dem Hund über den Kopf. 
„Solange es ihm gefällt und er sich wohl fühlt, auf jeden Fall.“
„Das tut er. Und er liebt dich.“ Sie hielt einen Moment inne, dann kroch Entschlossenheit über ihr rundes Gesicht. „So wie dein Papa und ich auch.“

Oh. So eine Art von Gespräch würde es also werden. Leo schluckte und fand sich gefangen unter Herberts körperlichem Gewicht und dem seelischen Gewicht der Aufmerksamkeit seiner Mama. 
„Ich liebe euch auch“, sagte er und sie ließ sich mit einem Seufzen neben ihm auf dem Gartenstuhl nieder. 
„Du siehst zufrieden aus“, merkte sie an und strich ihm über die auf Herbert liegende Hand. 
„Das bin ich auch“, gab Leo zögernd zu, sich erst, als er den Satz herausgebracht hatte, bewusst werdend, dass er stimmte. 
Sacht schürzte sie ihre Lippen. „Trotz allem, was passiert?“

Trotz Schürk. Trotz der Erpressung. Trotz seines Geheimnisses. 

„Es wird besser – von Mal zu Mal“, gestand Leo ein und dachte an ihre letzten Treffen. Er hatte in Schürks Gegenwart gelacht, so befreit wie schon lange nicht mehr. Vor einem Jahr – undenkbar. Oder dass Schürks Tonlage und Worte Nerven in ihm trafen, die auch jetzt noch nachklangen. Ebenso undenkbar, aber nun unwiderruflich da.
„Fühlst du dich verpflichtet, dich mit ihm gut zu stellen? Bist du davon überzeugt, dass er dich gut behandelt?“, hakte seine Mama vorsichtig nach und Leo brauchte einen Moment um zu verstehen, was sie eigentlich fragte. Als er es begriff, seufzte er leise. 

„Mama, das Stockholm-Syndrom wurde doch von einem Psychiater erfunden, dessen Fachwissen bei der damaligen Geiselnahme in Stockholm von einer der weiblichen Geiseln in Frage gestellt wurde. Es hat nur zur Diskriminierung und Diskreditierung der weiblichen Geiseln gedient“, erwiderte er mit einem entschuldigenden Lächeln. „Außerdem nein. Ich habe das ganze letzte Jahr über Widerstand geleistet. Ich habe mich keine Sekunde mit ihm fraternisiert oder war ihm dankbar für das, was er getan hat.“

Das Letzte stimmte nicht ganz. Leo war in den vergangenen Monaten immer wieder dankbar gewesen – für kleine Dinge. Aber er hatte sich jedes Mal dafür verdammt. Und außerdem war ihr Machtgefüge nicht mehr unbalanciert. Die ersten Veränderungen hatten nach Weihnachten eingesetzt und spätestens, nachdem er Schürk damit konfrontiert hatte, was er seinen Eltern angetan hatte, hatte er nach der Macht gegriffen, die er eigentlich über sein eigenes Leben haben sollte. 

Im Rahmen seiner aktuellen Möglichkeiten.

Nachdenklich musterte seine Mama ihn und Leo fühlte sich gesehen, mehr als je zuvor.
„Du hasst ihn nicht“, stellte sie schließlich fest und Leo schüttelte nach einer viel zu langen Zeit den Kopf, ertappt und erkannt. 
„Nicht mehr.“
„Magst du ihn?“

Zweifelnd hob Leo seine Augenbrauen. „Mama. Nein. Er ist ein arroganter Mistkerl.“ Es war das Schlimmste, was ihm nach gestern für Schürk einfiel, insbesondere nachdem diese ihn so schändlich ins Wasser gezogen und sich einfach vor ihm geräkelt hatte. Seine Mutter seufzte. 
„Ich habe deinen Vater davon abgehalten, doch zur Polizei zu gehen. Glücklich ist er damit nicht, denkt er doch, dass er dich vor dem Mann beschützen muss. Vielleicht solltest du auch noch einmal mit ihm sprechen.“

Leo nickte langsam. „Ich habe Schürk konfrontiert, Mama. Am Tag nach dem er Papa alles gesagt hat. Ich habe ihm ganz klar gesagt, was ich von seinem Verhalten halte und er schien…verzweifelt. Nicht arrogant oder gewaltbereit. Ich habe ihm klare Vorgaben gemacht, dass er sich von euch fernzuhalten hat und er hat diesen zugestimmt.“

Er wusste nicht genau, warum er dieses Wissen mit seiner Mutter teilte und warum er für Verständnis warb. Was er aber sah, war, dass seine Mama diesem nicht ablehnend gegenüberstand. 

„Du hattest schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“, sagte sie schließlich scheinbar ohne Zusammenhang und erhob sich. „Aber genug von dem Mann, der uns allen die Laune verdirbt. Ich möchte dich mit Torte füttern, bis du rund bist. Kommst du?“

Leo blinzelte überrascht. „Cappuccino-Nuss?“, fragte er, reichlich überflüssig. Das teile ihm auch der bedeutungsschwangere Blick seiner Mutter mit, die ihren Kopf just in diesem Moment schief legte. „Wird es je etwas Anderes geben?“, fragte sie lakonisch und er konnte dem nur zustimmen. 


~~**~~


„Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock!“, beschwerte Adam sich lautstark und schwang sich auf seine Tischplatte. Er schlug seine Beine unter und kam vor einem minimal zurückweichenden Hölzer im Schneidersitz zum Sitzen.

Er wurde angestarrt, als würde er gleich das Papier der Ermittlungsakte zu fressen bekommen. 

„Er war‘s!“, deutete er auf den zweiten Eintrag der Verdächtigenliste und Hölzer grollte, zog die Akte weg, die er zwangsweise hatte mitbringen müssen. Weil es Anfang der Woche einen zweiten Mord gegeben hatte. Weil Adam Interesse an dem Fall hatte. Weil Hölzer und sein Team anscheinend blind waren für seine offensichtliche und wahre Theorie.   

Vincent, der anscheinend guter Hoffnung war, dass sie beide sich nicht umbrachten, war einen Moment lang unaufmerksam gewesen und öffnete nun in stummen Protest die Lippen. Adam!, stand in seinen Augen, klar und deutlich, aber Adam ließ sich davon nicht beirren. 

„Der hat ein Motiv und sein Alibi ist mehr schlecht als recht dahingezimmert.“
„Er war aber schon immer der erfolgreichere Laden“, widersprach Hölzer hitzig. „Hat mehr Gewinn gemacht, hat keinen Grund, beide Ladenbesitzerinnen zu ermorden und das Alibi ist durchaus glaubwürdig!“
„Nein, ist es nicht, das kann er sich auch gekauft haben.“

Hölzer hob seine Augenbraue. Missbilligend starrte er zu ihm hoch und schnaubte abfällig.

Die Augenringe kamen sicherlich von dem Schlafmangel der letzten Woche, befand Adam. Das LKA war beinahe täglich im Würgegriff der Medien gewesen, eine Pressekonferenz nach der nächsten, während der Mörder schon zum Serienkiller aller Strickwolllädenbesitzerinnen im Saarland stilisiert wurde. Adam befand, dass die Presse gar nicht mal so Unrecht hatte, schließlich gab es noch ein paar Konkurrenzgeschäfte und wenn er richtig lag, würde der Täter wieder zuschlagen. 

„Wo? Im Second-Hand-Laden für wasserdichte Alibis?“

Adam widerstand knapp dem Drang, dem Ermittler gegen die Nase zu schnipsen. Haarscharf. 

„Soll ich ihn für dich befragen? Ich mache das. Geht auch schneller, als wenn du es tun würdest.“

Die Art, wie Hölzer Luft holte, teilte Adam mit, dass er kurz davor war, in die Luft zu gehen. Vielleicht wurde er dann wieder streng? Ein Teil von ihm freute sich darauf, ein anderer war frustriert, dass sein hauseigener Polizist das Offensichtliche nicht sah. 

„Adam, das ist kein guter Pl-“, begann Vincent, der Diplomatische, wurde jedoch durch den ruckartig aufstehenden Mann unterbrochen. 

„Untersteh dich und stelle irgendwelche Befragungen in meinem Fall an. Du bist weder Ermittler noch sachverständiger Zeuge. Mein Fall, mein Team, meine Regeln, ist das klar?“, grollte Hölzer und Vincent drückt sanft aber unnachgiebig Adams Arm. Adam warf ihm einen kurzen, unerfreuten Blick zu. 

„Dann ermittle mal in die richtige Richtung, du sturer Bock! Dann würdest du auch mehr Schlaf bekommen und nicht aussehen wie der lebende Tod!“, hielt Adam dagegen und Vincent schob sich in dem Moment zwischen sie beide, in dem Hölzer auf Adam losgehen wollte. 

„Nein. Nein nein nein. Nicht streiten. Schluss“, sagte er streng und hielt die Hände beschwichtigend hoch. Zumindest Hölzer ließ sich davon abbringen und verschränkte missmutig die Arme. 

„Wir haben es Wochenende und mit Sicherheit hat Leo die Woche über intensiv Ermittlungen betrieben. Außerdem ist Leo ein sehr fähiger Ermittler, der mit Sicherheit weiß, was er tut“, vermittelte Vincent zwischen ihnen beiden und Adam grollte. 

Leo grollte zurück. "Hör auf deine rechte Hand, der ist klüger als du.“

Vernichtend starrte Adam Vincent in die blauen, strengen Augen, die ihm jedwede Antwort verboten. 

„Wie wäre es, wenn wir uns wie geplant auf die Couch setzen und die Dokumentationsreihe über das asiatische Nachtleben schauen, die diese Woche herausgekommen ist? Die klang doch interessant, oder?“ Das Oder war keine Frage, befand Adam und schob seinen Hintern vom Tisch. 

„Von mir aus, dann bleibt der Mörder eben noch etwas länger auf freiem Fuß.“

Als Hölzer den Mund öffnete, hob Vincent seinen strengen Zeigefinger. „Nein, Leo. Du machst deine Arbeit. Sehr gut. Am Montag wieder. Lass dich davon nicht provozieren. Alles ist gut.“

Nichts war gut, befand Adam, fügte sich aber Vincents Raubtierbändigung. 


~~**~~


Trotz mangelhaftem Ermittlungswillens seines hauseigenen Polizisten hatte Adam dann doch noch einen guten Abend. 

Nachdem sie Pizza bestellt hatten und er den grummeligen Mann neben sich soweit bekommen hatte, dass er ein Stück seiner Pizza - mit allem, was auf der Karte stand - gegen ein Stück Tunfisch und Spinat mit Adam tauschte, hatten sie die wirklich gut und seicht gemachte Dokumentationsreihe geschaut. Vincent hatte das Licht in seinem Wohnzimmer angenehm gedimmt und die Balkontür einen Spalt offen stehen gelassen, um die laue Frühlingsluft hinein zu lassen. 

Sein hauseigener Polizist war mittlerweile so weit, dass er sich sogar ohne Nachhilfe sein eigenes Wasser einschenkte – etwas Anderes trank er außer Kaffee bei Adam nicht. Vincent und er hatten sich auf eiskaltes Radler festgelegt.

In einem unbedachten Moment zog Hölzer eins seiner Beine zu sich auf die Couch und Adam starrte unauffällig aus dem Augenwinkel auf die Bewegung. Wohl nicht unauffällig genug, denn genauso schnell und schuldbewusst verschwand das Bein auch wieder auf den Boden und Hölzer saß neben ihm wie ein Besucher auf der Psychologencouch. 

Adam verbuchte aber bereits die kleine, unachtsame Geste der Entspannung als Erfolg und grinste in sich hinein. Ganz so steif war Hölzer in seiner Gegenwart nicht mehr und Adam fragte sich, ob es am letzten Wochenende lag. Oder einem anderen davor. Er hatte Vincent nichts von Hölzers unfreiwilligem Badeausflug erzählt, nur von ihrer Wanderung in den Vogesen. Er wollte Vincent ja nicht beunruhigen. 

Dass Hölzer mitten in der nächsten Folge jetzt aber wieder grollte, irritierte Adam. Genervt rollte er mit den Augen, das „Was denn diesmal?“ schon auf den Lippen. Er drehte seinen Kopf zu ihm und hielt inne, als er sah, dass dieser noch nicht einmal die Augen offen hatte. 

Hölzer schlief, auf seine linke Hand gestützt, den Kopf stirnrunzelnd zur Seite geneigt. Ruhig und gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Adam blinzelte, fasziniert von dem nicht ganz ungewohnten Anblick. Gut, auf seiner Couch schon, aber grundsätzlich wusste er ja, wie ein schlafender Hölzer aussah. 

Er drehte sich zu Vincent und gab den Blick frei auf Hölzer, der just in diesem Moment im Schlaf seufzte. 
Seine rechte Hand hob die Augenbrauen und er setzte an, etwas zu sagen, doch Adam bedeutete ihm mit einem Fingerzeig auf seinen Lippen zu schweigen. Anstelle dessen holte er sein Handy heraus, schaltete es auf stumm und nickte Vincent zu. 

Der griff sich sein eigenes Telefon und rief ihren Chat auf. Stirnrunzelnd machte er ebenfalls den Ton aus und tippte anschließend. Adam starrte erwartungsvoll auf seinen Bildschirm. 


Nachricht I

 


Adam rollte mit den Augen und erhob sich so vorsichtig, wie er konnte. Im gleichen Atemzug reichte Vincent ihm widerwillig die Decke und vorsichtig breitete Adam sie über Hölzer aus. 
Im Gegensatz zu Vincents Befürchtung wachte der Ermittler davon nicht auf. Im Gegenteil. Es schien, als würde er noch im Schlaf spüren, dass eine Decke auf ihm lag, so wie er sie besitzergreifend umfasste und sie über seine Schulter enger zog. 

Murrend rutschte er eine Etage tiefer und legte sich im Schlaf auf die Couch, die Beine angezogen, den Kopf auf der Lehne. 

Adam bestaunte jede einzelne Bewegung des sonst so beherrschten Mannes und griff erneut zu seinem Telefon.


Gespräch II
 

 

Vincent hob fragend die Hände, erhob sich aber ebenso vorsichtig wie Adam auch. Hölzer wurde auch davon nicht wach und Adam lächelte nun offen. Das hier war besser als das Bein auf der Couch. Mit Anlauf war es das. Und wie er sich auf morgen früh freute. Oder heute Nacht. Oder wann auch immer Hölzer aufwachte und begriff, dass er hier bei ihm eingeschlafen und dass ihm nichts passiert war.


~~**~~


Leo vergrub sich unter der Decke, noch eher unwillig, sich dem hellen Morgenlicht zu stellen. Schließlich war es Wochenende und er konnte ausschlafen. Er hatte zwar anscheinend vergessen, seine Vorhänge zu schließen und das rächte sich jetzt, aber dafür hatte er eine Decke.
Er grimmte und grub seinen Kopf in das raue Laken seines Bettes, das eigentlich gar nicht so rau sein durfte, wenn Leo seine per Wäschetrockner getrockneten Laken durchging. 

Kritisch runzelte er die Stirn. Seltsam, aber nicht seltsam genug, dass er dem hier und jetzt auf den Grund gehen wollte. Dafür war er zu Teilen auch zu entspannt, was in der letzten Zeit eine Seltenheit war. Er streckte seine Beine aus und wunderte sich dann doch über die Socken an seinen Füßen. 

Was war denn…?

Irritiert öffnete Leo seine Augen und schlug die Decke um seinen Kopf zurück. Noch irritierter starrte er an die Decke, die um soviel niedriger war als seine Altbaudecke. Fragend sah er zur Seite und blieb zunächst irritiert an der dampfenden Kaffeetasse hängen, die vor ihm auf dem Couchtisch stand. Erst von dort aus wanderte seine Aufmerksamkeit weiter durch den Raum und Leo setzte sich keine Sekunde später instinktiv auf, als er Schürk unweit von sich sah, das Kinn auf seine Unterarme gestützt auf den Polstern lehnend. Wie ein auftauchendes Krokodil lauerte er dort und Leo versuchte, in seine trägen, schlafeswirren Gedanken zumindest soweit Ordnung zu bringen, dass er begreifen konnte, was hier geschah. So recht einstellen wollte sich das aber nicht.

„Was machst du hier?“, grollte Leo noch etwas neben sich und Schürks Lippen verzogen sich zu einem amüsiert-spöttischen Lächeln. 
„Wohnen“, antwortete er lakonisch und Leo begriff erst jetzt, wo er sich befand. Dass dies nicht seine Wohnung war. Nicht sein Bett, noch nicht einmal seine Couch. Und was das zu bedeuten hatte. Was hatten sie gestern gemacht? Eine Serie geschaut und Leo war müde geworden, daran erinnerte er sich. Und das und an seinen Kampf, die Augen offen zu halten, den er anscheinend verloren hatte. 

„Hast du mir was ins Wasser getan?“, verließ der erste, sinnvolle Gedanke seine Lippen – befand Leo im ersten Moment. Dass Schürk das nicht so sah, verdeutlichte Leo die düsterer werdende Mimik des blonden Mannes, der sich nun erhob und mit einem abfälligen Schnauben um das Sofa herumkam. Misstrauisch folgte Leo ihm mit seinen Blicken und beobachtete ihn dabei, wie er sich auf einen seiner Sessel niederließ. Die Ellbogen auf seine Oberarme aufstützend, starrte Schürk Leo unerfreut in die Augen. 

„Wie wäre es mit folgendem: du warst so müde und so vollgefressen, dass du es dir tatsächlich erlaubt hast, einzuschlafen. Weder Vincent noch ich haben dir irgendetwas ins Getränk gemischt. Wozu auch? Damit ich die ganze Nacht auf deinen armseligen Arsch aufpassen muss um zu verhindern, dass du wieder auf Erkundungstour gehst, während ich schlafe? Ja, genau dafür habe ich dir Schlafmittel in dein Wasser geschüttet, weil ich so ein Masochist bin, der auf Schlafentzug steht.“

Leo schluckte und versuchte, den wütenden Wortschwall zu begreifen. Das, was Schürk sagte, war logisch. Es war der normale Weg, nicht das, was Leo vermutete. Er war derjenige mit der anscheinend blühenden Fantasie. Verlegen senkte er den Blick, sah dann zum Fenster. 
„Warum die Decke?“, fragte er rau und Schürk schnaubte. 
„Teil meines sadistischen Vergnügens ist es, Menschen mit Decken zuzudecken, wenn sie schlafen.“

Das wurde immer peinlicher, befand Leo. Vielleicht sollte er aufhören, dumme Fragen zu stellen und einfach den Mund halten. Er starrte auf die Tischplatte und den Kaffee dort. 

„Der ist für dich, so wie du ihn immer trinkst. Und nicht vergiftet.“
Natürlich musste der Nachsatz kommen. Er hatte es irgendwie auch verdient, befand Leo und strich sich über das Gesicht und durch die Haare. 
„Okay“, stimmte er zu und nahm sich Zeit schindend die Tasse. Er starrte in die hellbraune Flüssigkeit, als wäre sie das Wertvollste und Interessanteste an diesem Morgen. Er starrte hinein, in die Unmöglichkeit seines Körpers, in Schürks Wohnung eingeschlafen zu sein. Wie konnte das passieren? Wie hatte er sich so entspannen können um die Nacht durchzuschlafen ohne auch nur einmal aufzuwachen? 

Unter Schürks brennendem Blick und vielsagendem Schweigend schwenkte Leo die Tasse. Die Geste des guten Willens, wie Leo notgedrungen anerkennen musste. Wie auch die Decke. Wie das Schlafen lassen. Wie…so vieles, was Schürk in der letzten Zeit getan hatte. Es gab in letzter Zeit wenig, das Schürk mit dem Mann gemein hatte, der er vor einem Jahr war. Sehr wenig, wenn nicht gar nichts. Das zu erkennen und sich einzugestehen, war schwer, aber die Bitterkeit, die damit einhergehen sollte, blieb aus. Nur die Bitterkeit, dass Leo diesen unberechtigten Vorwurf gemacht hatte, für den er keine richtige Entschuldigung fand. 

Frustriert über sich selbst und seine Nervösität nahm Leo noch einen Schluck und kam nicht umhin, den wirklich guten Kaffee zu würdigen. Für vier Schlucke mehr, bevor er den Mut dazu hatte, Schürk noch einmal in die Augen zu sehen. 
„Du hast mich beim Schlafen beobachtet“, formulierte Leo seine letzten Bedenken deswegen so neutral, wie er konnte und ein unwohler Schauer rann seinen Rücken hinunter. Es war schon einmal passiert und er war aufgewacht. Wieso hatte sein Instinkt nichts gesagt, wieso hatte er nichts gespürt? Schürk war doch eine Gefahr, oder? Oder? 

„Auch, ja. Und ich habe mir Gedanken über die kommende Woche gemacht. Böse Syndikatsdinge.“ Schürk winkte lax ab. „Nichts für brave Polizisten.“
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Leo sich herabgesetzt gefühlt. Entwürdigt. Nun aber schnaubte er nur, froh um die lapidare Erwiderung. 
„Erzähl’s mir“, forderte er, immer noch Schürk selbst meidend so gut es ging. 
„Was?“
„Die bösen Dinge.“
„Der feine Herr Kriminalhauptkommissar, auch sonntags im Dienst. Oder rufst du gleich den KDD?“
„Kommt drauf an, hast du einen Mord begangen?“
„Kommt drauf an, wirst du mich dann verhören, wenn?“

Schürk wackelte mit den Augenbrauen und Leo konnte quasi schon sehen, wie vor seinem inneren Auge ein primitiver Verhörporno ablief. Mit Handschellen und allem. Vielleicht war die Ablenkung doch nicht besser als Schürks Wut über seine unsinnigen Vorwürfe?

Wäre nicht so, als wäre Leo von seinen Bettgeschichten nie auf solche Rollenspiele angesprochen worden oder als wäre ihm nicht entsprechendes Bildmaterial präsentiert worden. Ob er es denn nicht scharf fände? Nein. Ob er sich für ein solches Rollenspiel nicht begeistern könne? Mit Sicherheit nicht. 

„Du stellst es dir gerade vor, oder?“, fragte Schürk in diese Erinnerungen hinein und Leo zuckte zusammen. Ratlos blinzelte er.
„Was sollte ich mir vorstellen?“
„Mich zu verhören.“
Was sollte das denn jetzt? Warum sollte er das… na gut, doch. Ja. Vielleicht hatte er sehr oft darüber nachgedacht. „Und wenn?“
„Wie würdest du es tun?“, hakte der blonde Mann neugierig nach. Leo zuckte mit den Schultern. Der Kaffee war gut und fast leer. Er musste langsamer trinken. 

„Situationsbedingt. Das kommt drauf an, wie sich die verdächtige Person verhält“, gab er so sachlich er konnte eine Antwort um Schürk nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Auf nicht noch mehr dumme Gedanken, wie er mit einem Blick in dessen Gesicht erkannte. Vielleicht sollte er wieder etwas Dummes über gepanschte Getränke sagen, damit Schürk von diesem speziellen Pfad abkam. Wut war besser als dieses Interesse. 

„Wenn der oder die Verdächtige sich wehrt? Gibt es dann Handschellen?“ 
„Es gibt vor allen Dingen einen rechtlichen Beistand“, rollte Leo mit den Augen. Leider. Die Meisten waren die Pest für sie als Ermittlungsbeamte. Aber es war ein grundgesetzliches Recht, das jedem Beschuldigten zustand und das war gut so.
„Ich würde alleine da sitzen.“
Und Leo konnte sich von Glück schätzen, wenn er dabei wenigstens bekleidet wäre, ja. 
„Schön für dich.“
„Bist du in Verhören gnadenlos?“
„Ich bin sachorientiert.“

Schürk schwieg und Leo ahnte, dass bei den Gedanken nichts Gutes bei rumkommen würde. Als der andere Mann sich abrupt erhob, zuckte er entsprechend nervös zusammen und Schürk hielt inne. 
„Ich hole mir meinen Kaffee“, sagte er und Leo starrte auf die Tischplatte. Er sollte einfach gehen, der Tag war sowieso vorbei. Seit gestern Nacht um 24:00 Uhr. Er hatte hier nichts mehr zu suchen und sollte nach Hause gehen und sich dort duschen. Einfach die Decke zurückschlagen, seine Schuhe anziehen und gehen. Warum also saß er noch hier? 

Eine gute Frage, befand Leo und erhob sich. Sein Körper und seine Gedanken waren immer noch nicht ganz da, verwirrt über das fremde Aufwachen. Wann hatte er das letzte Mal in einer Wohnung geschlafen, die nicht seine eigene oder das Haus seiner Eltern war? Er konnte sich nicht recht daran erinnern und dass er jetzt hier war, war schwer zu verdauen. 

„Im Badezimmer sind im Übrigen eine eingepackte Zahnbürste, Handtücher und Duschgel, wenn du dich frisch machen möchtest. Vincent kommt auch gleich mit den Brötchen, dann können wir frühstücken“, rief Schürk aus der Küche und Leo hielt in seiner Bewegung, sich in Richtung Flur zu begeben, inne.

Frühstücken? Ein Duschset? 

„Wenn du möchtest“, ergänzte Schürk mit seiner Tasse in der Hand, als er aus der Küche kam und Leo starrte ihn an. Konnte er das? Wollte er das? Das letzte Frühstück, das er mit Schürk gehabt hatte, war schlimm verlaufen. In den Treffen nach Weihnachten hatten sie entweder nur gebruncht, zu Mittag oder zu Abend gegessen. 

„Ich dusche nicht“, sagte er und Schürk hob die Augenbrauen. 
„Spannend. Riecht man gar nicht. Wälzt du dich anstelle dessen im Staub, so wie Spatzen?“

Leo blinzelte, im ersten Moment ratlos, was Schürk meinte. Erst verspätet erkannte er, was er gesagt hatte und wurde sich bewusst, dass da wirklich nur Mist bei rauskam heute. Unzusammenhängender, unvollständiger, blöder Mist. 
„Sehr witzig. Nein, ich dusche nicht bei dir.“
„Your loss, meine Regenwalddusche ist phänomenal. Aber Zähneputzen in fremden Badezimmern geht? Oder ist das auch so ein Kink von dir?“
Leo grollte und rieb sich über seine plötzlich kühlen Oberarme. „Das ist überhaupt kein Kink von mir. Ich will nur nicht-“

Bevor er den Satz beenden konnte, schloss Ross die Tür auf, in der Hand eine Brötchentüte. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte er sanft. 
„Guten Morgen, Leo. Wie hast du geschlafen?“, fragte er, als sei es etwas ganz Normales, Natürliches, hier einzuschlafen. Gut, für ihn vermutlich schon, aber…

„Hölzer erzählt grad von seinen Reinigungsgewohnheiten. Er duscht nicht“, flüsterte Schürk verschwörerisch und Leo zischte missgelaunt. 
„Das ist gelogen! Ich dusche bei dir nicht. Bei mir schon!“, fühlte er den Drang, sich zu rechtfertigen und Ross räusperte sich.
 „Das dachte ich mir schon. Ich habe Frühstück geholt, wenn du etwas möchtest.“

Leo dachte an den guten Kaffee. Er dachte an Schürks noch ausstehende Antwort. 
„Wenn du mir dafür vom Syndikat erzählst“, handelte er mehr ungelenk als alles andere und der blonde Mann zuckte mit den Schultern.
„In Ordnung.“

Es war Ross, dessen ersticktes Geräusch Leos Forderung als das würdigte, was sie wirklich war: ein Unding, dem viel zu schnell zugestimmt worden war. 
„Was?! Adam, das kann nicht dein Ernst sein.“
„Nur ein bisschen. Er weiß doch sowieso schon soviel.“
„Das heißt nicht, dass du noch mehr sagen musst!“, empörte Ross sich und Schürk winkte ab. 
„Denk an unser Versprechen. Wenn er Fragen hat, dann soll er sie uns stellen. Also.“

Leo wohnte dem Schlagabtausch stumm bei. Er würde mit Sicherheit nicht einfach an Antworten kommen. Das wusste er, das wusste auch Schürk, der anscheinend keinerlei Unterschied machte, wenn es darum ging, Menschen zu foppen. Leo schnaubte innerlich. Verfluchter Krimineller. 

„Ich will mir vor dem Frühstück die Zähne putzen“, lenkte er ab und Schürk deutete hinter sich in den Flur. 
„Zweite Tür links, liegt alles schon am Waschbecken.“
Leo nickte und ging mit schnell schlagendem Herzen den Flur entlang. Er war noch nie in Schürks Bad gewesen und beinahe schien es ihm, als würde er nun eine unsichtbare Grenze übertreten und in etwas Intimes eintreten, das ihm vorher verschlossen geblieben war. 

Etwas Intimes, was aber mit Sicherheit eine Gegenleistung seinerseits forderte. 


~~**~~


„…und dann sind Vincent und ich in den Louvre spaziert und haben die Mona Lisa gegen eine Fälschung ausgetauscht. Das Original haben wir in Zeitungspapier eingerollt und unter dem Arm herausgetragen. Ein großer Coup, auf den wir immer noch stolz sind“, schloss Schürk seine langatmige, ausschweifende und mit Sicherheit gelogene Nacherzählung des Plots von Arsène Lupin und Leo bereute mit jedem Bissen, doch hier geblieben zu sein. Jetzt wusste er, wie Schürk sich anhörte, wenn er log, denn das der andere Mann auch nur ein Körnchen Wahrheit von sich gegeben hatte, daran hatte Leo berechtigte Zweifel.

Aber war es nicht auch gut so? Er stand immer noch vollkommen neben sich, wie er hier aufwachen konnte. Er war immer noch damit beschäftigt, seine Eindrücke aus Schürks Bad zu verarbeiten, also dem Tanzsaal, den der geflieste Raum in hellen, erdigen Tönen darstellte. Wenn Leo es ehrlich zugab, dann war er fürchterlich neidisch auf die große Eckbadewanne in der mit Sicherheit drei Personen Platz hatten. Aber er gab es nicht zu, also hatte er auch kein Problem.

So langsam verspürte Leo den Druck, dass er weitere Informationen aus Schürk herausbekommen musste. Etwas Brauchbares, etwas, das Leo weiterverwerten konnte, um nicht Pias und Esthers Entgegenkommen noch weiter auszunutzen. Nachdenklich hielt er sich an seinem Kaffee fest und knabberte an seiner Käsebrötchenhälfte, während Schürk und Ross genüsslich ihre eigenen Brötchen aßen. 

„Wieso?“, fragte er schließlich und sah, dass seine Frage nicht wirklich verstanden wurde. Wie auch? „Wieso macht ihr das? Wieso habt ihr euch aktiv für ein Leben als Kriminelle entschieden?“
So ungelenk und direkt die Frage auch gestellt war, es war der Kern dessen, was Leo wissen wollte. 
„Wir sind nicht kriminell oder hast du Vorstrafen bei uns gefunden?“, fragte Schürk mit einem herausfordernden Lächeln und Leo musterte ihn finster. 
„Ihr seid wandelnde Tatbestandsmerkmale auf zwei Beinen, Vorstrafen hin oder her.“
„Drei“, korrigierte Schürk ihn grinsend. Leo rollte mit den Augen und saß die darauffolgende Stille geduldig aus. 

„Man ist, was man ist“, erwiderte Schürk schließlich ausweichend und Ross musterte ihn vorsichtig. 

Leo beobachtete ihn dabei. Wenn er davon ausging, dass Schürk in diesem System aufgewachsen war, kannte er nichts Anderes. Ross aber schon, Ross kannte die Gegenseite. Daher würde er vielleicht auch mehr Aufschluss geben. 
„Also macht es euch Spaß?“, ließ Leo seinen nächsten Testballon steigen und Schürk lehnte sich zurück, das Brötchen vergessen auf seinem Tisch.
„Macht dir das Polizistensein Spaß?“, kam die vorhersehbare Gegenfrage und Leo hob seine Augenbrauen. 
„Das habe ich mir ausgesucht, also für gewöhnlich ja.“ 

Hatte es ihm vor einem Jahr zumindest. Seitdem lief er im Notbetrieb, zuerst verzweifelt, jetzt entschlossen. Ob er noch Freude als Ermittler empfand…Leo wusste es gerade nicht. Lieber wartete er da auf Schürks Antwort auf seine eigentliche Frage, die – so musste es Leo sich selbst eingestehen – ihn ebenso interessierte. 

Könnte er mit der Antwort leben, dass es Schürk Spaß machte, andere Menschen zu quälen? Mit Sicherheit nicht. Er glaubte aber nicht, dass er diese Antwort erhalten würde. Im Gegensatz zu seiner ersten, begründeten Einschätzung des Mannes, schien er kein grundsätzlicher Sadist oder Psychopath zu sein. Ein Mensch…mit fragwürdigen Ansichten und kriminell durch und durch, aber ein Mensch, der mehr war als das Monster, das ihn erpresste. 

Die Antwort kam nicht und Leo runzelte kritisch die Stirn. 

„Du hast studiert“, fuhr er fort. „Hat es da nicht irgendwann eine Möglichkeit gegeben, dass du dich löst und gehst?“, fragte Leo geradeheraus. An Schürks sich verschließender Mimik erkannte er noch bevor der andere Mann auch nur den Mund aufmachte, dass er keine Antwort erhalten würde. Wie auch seine Vergangenheit zuvor war das ein Thema, was anscheinend einen tiefen Nerv in Schürk traf. 

„Nein“, erwiderte der knapp und kurz und tauschte mit Ross einen kurzen Blick. Leo sah eine Bewegung knapp unter der Tischkante, die ihm verborgen geblieben wäre, wenn er nicht so genau hingesehen hätte. Ross‘ Griff zu Schürks Hand, das kurze, versichernde Drücken der Finger. 

Also ja, es hatte sie gegeben oder ja, Schürk hätte es sich gewünscht oder wünschte sich immer noch, dass es sie gab, gegeben hätte oder geben würde. 

Leo holte Luft, um das Thema Kronzeugenregelung und Zeugenschutz erneut anzubringen, doch ein Blick aus blauen, kajalumrandeten Augen hielt ihn davon ab. Eiserne Strenge brachte ihn zum Schweigen, warnte ihn davor, auch nur einen Ton zu sagen. Ross schützte den Mann an seiner Seite, verfügte über Wissen, das Leo fehlte um die Situation richtig einschätzen zu können. 

Leo schloss die Lippen und senkte den Blick wieder auf seinen Kaffee. Etwas zu trinken fiel ihm einfacher als jetzt das Brötchen mit dem wirklich leckeren Käse hinunter zu würgen. 

Die darauf aufkommende Stille wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer und Leo stellte die Tasse langsam ab. Er sollte gehen. Alles in ihm drängte danach, weil das Schweigen an Leos schlechten Erinnerungen kratzte. Er schob den Stuhl zurück, vor weiteren, dunklen Gedanken quasi fliehend. 

„Ich fahre nach Hause“, verkündete er und erhob sich. Ohne die beiden anderen Männer mit einem Blick zu bedenken, suchte er seinen Vorgang und steuerte auf die Papiere zu. Hinter sich hörte er, wie einer der beiden sich erhob und er hoffte nicht, dass…

Leo wusste gar nicht, was er hoffte, er wollte nur hier raus. Das fragile Gleichgewicht, welches er in sich spürte, geriet ins Wanken und zerbrach beinahe unter seinen Füßen. Die Tatsache, dass er bei jemandem geschlafen hatte, wurde drückender und unerträglicher für ihn. Ebenso wie Tatsache, dass er anscheinend nicht in der Lage war, den Auftrag der Sonderkommission zu erfüllen. Leo krallte seine Hände in den Pappaktendeckel und atmete tief ein. 

Es war Schürk, der neben ihm stand. 

„Ich will, dass du mir was versprichst“, sagte der blonde Mann und Leo war überhaupt nicht in der Stimmung, sich auf ihn einzulassen. Er presste die Lippen aufeinander, löste sie zähneknirschend wieder. 
„Was?“
„Überprüf das Alibi des Kerls. Ohne Scheiß. Ich glaube, der war’s.“
Im ersten Moment wollte Leo hochfahren und Schürk deutlich zu verstehen geben, dass er der Teamleiter war und dass er Schürks Erpressung nicht soweit dulden würde, dass dieser sich so tief in seine Fälle einmischte. 

Einzig und alleine der ernste Blick aus blauen Augen hielt ihn davon ab. Für Sekunden musterten sie sich stumm und wieder sah Leo eine ungewohnte Offenheit in dem kantigen Gesicht. 

„Mach ich“, stimmte er schließlich schlicht zu und trat um den blonden Mann herum. Ross würdigte er keines Blickes und zog sich im Flur die Schuhe an. 

Vielleicht war er der Falsche für diesen Job. Vielleicht schaffte er es nie, Schürk und Ross davon zu überzeugen, gegen das Syndikat auszusagen. Er hatte zwar den direkten Draht zu Schürk Junior, aber seine Erinnerungen machten es ihm schwierig bis unmöglich, sich unverkrampft und ruchlos auf Schürk einzulassen, wenn dieser abblockte. Oder wenn Ross ins Spiel kam.

Dann starrte er lieber in den Sternenhimmel oder ging wandern. Im Vergleich war das…schön gewesen. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 29: Erfolg und Niederlage

Notes:

Einen wunderbaren Samstag euch allen!

Fast eine Woche ist es her, dass der Tatort und mit einer neuen Folge beglückt hat und morgen kommt schon der nächste Polizeiruf. Fast wie Weihnachten hier, sehr toll und kreativitätsfördernd. :D Es sind viele tolle neue Geschichten zu lesen, die sich sehr toll mit dem vierten Tatort beschäftigen. Go read und so! ;) Ansonsten: Seid lieb zueinander, wenn die Herren Hölzer und Schürk sich schon so angehen, wie sie es im aktuellen Tatort getan haben. :'(

Vielen lieben Dank wie immer für all eure Kommentare, Kudos, Klicks, etc.. Ich freue mich sehr und wünsche euch noch viel Spaß beim Lesen.

Es gibt für diesen Teil auch eine Triggerwarnung: Erwähnung körperlicher Gewalt und des darauffolgenden Ergebnisses.

Chapter Text

 

„Müllers Alibi haben wir aber schon überprüft“, merkte Pia stirnrunzelnd an und Leo seufzte innerlich. Ja, hatten sie. Sorgfältig. Und eigentlich war er auch durch damit. Eigentlich. Uneigentlich gab es da die kleine, aber penetrante Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm sagte, dass Schürk vielleicht Recht haben konnte mit dem, was er so flapsig und ohne wirklichen Beleg gesagt hatte. 

Leo hatte es ihm versprechen müssen und eigentlich war das Versprechen gegenüber einem Verbrecher nichts wert. Soweit die Theorie. In der Praxis war es so, dass sein schlechtes Gewissen ihm einflüsterte, sein Misstrauen von Sonntag zumindest insofern wieder gut zu machen, als dass sie das Alibi von Helmut Müller wenigstens noch einmal näher überprüften. Nur damit er Schürk dann unter die Nase reiben konnte, dass er Unrecht hatte.

Eine Seite in Leo hoffte wirklich darauf. 

„Lass es uns nochmal anschauen, mein Bauchgefühl sagt mir, dass es einen zweiten Blick wert ist“, erwiderte er und lächelte knapp. Schürk als sein Bauchgefühl zu bezeichnen, war schon absurd. Ja, Schürk war lange Zeit für seine Bauchschmerzen und seine Übelkeit verantwortlich gewesen. Das war eine Art von Bauchgefühl. Aber mittlerweile lag der andere Mann ihm nicht mehr schwer wie ein Stein im Magen. 
„Dein Bauchgefühl“, echote Esther amüsiert und Leo rümpfte mit der Nase. 
„Soll‘s geben, weißt du?“, schoss er zurück und sie grinste. 
„Dein Bauchgefühl, Hölzerchen, sagt dir, dass es schneit, und draußen ist bester Sonnenschein.“

Empört zeigte Leo ihr den Mittelfinger und Esther schnaubte amüsiert. Sie warf ihm eine Kusshand zu und das machte das Ganze etwas weniger schlimm, was er gerade vor den SoKo-Ermittlerinnen verbarg. Warum genau er das tat, konnte er nicht sagen. Sie hatten es mehr als verdient, dass er ehrlich zu ihnen war. Dennoch kam er sich seltsam vor und komisch. 

„Wir überprüfen nochmal seine Tankquittungen und vergleichen sie mit den Kontoauszügen. Außerdem soll Frau Steinheuer noch einmal genau sagen, was die Beiden an dem Abend gemacht haben und uns Beweise dafür erbringen.“
Esther tippte sich lakonisch an die Schläfe. „Alles klar, Chef.“

Leo grollte pro forma und rief ihren Laufwerksordner auf, auf dem sie alle Dateien archiviert hatten. Er würde noch einmal genauestens über die Daten gehen um Schürk dann nachher sagen zu können, wie sehr er sich mit seinem dummen Instinkt geirrt hatte. 


~~**~~


Konnte er nicht. 

Nach einer Stunde hatten sie die erste Ungereimtheit. Frau Steinheuers Reservierung in dem Restaurant konnte nach einem weiteren Blick nicht bestätigt werden. Nach einem halben Tag hatten sie erste Risse im Alibi, da der Tankwart sich nicht an den großen, bärtigen Mann erinnerte, der an dem Abend bei ihm gewesen sein sollte. Am Ende des zweiten Tages hatten sie einen konkreten Anfangsverdacht, dass Müller tatsächlich der Mörder sein könnte. 

Leo starrte auf seinen Bildschirm, auf dem er gerade den Antrag auf den Haftbefehl geschrieben hatte und legte schließlich den Kopf in den Nacken. Pia und Esther waren nach Hause gegangen und eigentlich hatte er ihnen auch folgen wollen, aber ihn ließ nicht los, was sie finalisiert hatten. Nur herausgefunden hatten, weil Schürk ihm solange auf die Nerven gegangen war, bis er sich das Ganze noch einmal angesehen hatte.  

Er rieb sich über das Gesicht. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Was, wenn Schürk doch mit drinhing? 
Vor Monaten hätte Leo das sofort bejaht. Er hätte es dem anderen Mann unterstellt, weil dieser für ihn das Böse war. Jetzt war er sich nicht sicher. Jetzt zweifelte er an seinen Vermutungen bezüglich Schürk und war sogar bereit, ihm…Besseres zu unterstellen. 

Zum Beispiel, dass er einen Zufallstreffer gelandet hatte. Oder dass er als blindes Huhn auch einmal ein Korn fand. 


~~**~~


Wie hübsch die grünen Augen doch waren, die ihn so mörderisch unerfreut anstarrten, befand Adam. Sie passten so wunderbar zu Hölzers schönen, ebenmäßigen, bärtigem Gesicht und machte es Adam leicht, einfach nur zu starren und den Anblick zu genießen. Und solange Hölzer wütend auf ihn war, war es auch kein Problem, dass Adam sich vorstellte, wie es wäre, wenn der Ausdruck in den Augen ein anderer wäre: lustvoll zum Beispiel. Oder aber – was noch viel verboten schlimmer sein würde – liebevoll. 

Solange Hölzer genervt, wütend oder angepisst von ihm war und ihn so anstarrte wie jetzt, war alles in bester Ordnung und Adam erlaubte sich, den Anblick zu genießen. Und zurück zu starren. Und mit den Lippen zu zucken, weil er nicht anders konnte.

„Halt den Mund“, knurrte der Ermittler dunkel und Adam hob die Augenbrauen.
„Ich habe überhaupt nichts gesagt“, erwiderte er frech, was theoretisch auch stimmte. Seitdem Hölzer seine Schuhe ausgezogen hatte, hatte er ihn angestarrt, kein Wort auf seinen Lippen. Das Riesenvieh war einem augenrollenden Vincent in die Küche hinterhergetrottet und so konnte er seinen hauseigenen Polizisten in Ruhe mustern. 

Hölzer knirschte mit den Zähnen und Adam grinste breit. 

„Toll, dass du den Fall aufgeklärt hast“, forderte er sein Glück schließlich heraus und starb den nonverbalen Tod mit einer Mischung aus Verbrennen und zu Asche zu zerfallen. Die schmalen Lippen teilten sich und Adam wartete voller Vorfreude auf die Beleidigungen, die da kommen würden. 
„Bild dir bloß nichts darauf ein. Das war Zufall. Reiner Zufall. Oder du hängst mit drin, eine andere Erklärung gibt es nicht.“
Natürlich musste das Zweite auch kommen, Adam hatte nichts Anderes erwartet. Er kräuselte die Nase und legte den Kopf schief. Hölzer sah wirklich hübsch aus in seinem dunkelgrünen Shirt.  
„Ne, tut mir leid, mit der Stickwarenmafia habe ich nichts zu tun. Das macht jemand anderes.“
„Name, Adresse, Telefonnummer?“, presste Hölzer hervor, weil er sich sonst die Blöße geben müsste, zuzugeben, dass Adam Recht hatte mit seiner Vermutung. 

Adam zuckte mit den Schultern. „Gib’s zu“, forderte er und Hölzer schnaubte. Er verschränkte die Arme, schwieg aber beharrlich. Auch das Sektglas mit Wasser, das Adam ihm hingestreckt hatte – als Geste der Feier des gelösten Falls – ignorierte er beharrlich. 
„Was?“
„Dass ich Recht hatte.“
„Nein.“
„Hatte ich nicht Recht?“
Die Kröte in Hölzers Hals musste schon sehr groß sein, so wie er aussah und wie er sich versuchte, von Adam abzuwenden, es aber selbst nicht zulassen konnte, weil er dann Zugeständnisse machen müsste, die viel zu groß waren für die vorsichtigen Begegnungen, die sie seit ein paar Wochen hatten. Vermutlich auch insbesondere nach Hölzer ungeplanter Übernachtung. 

Vincent kam aus der Küche und über die Stille hinweg hörte Adam das Klacken von Hundekrallen auf seinem Parkett. Der Köter fühlte sich beinahe so wohl wie bei Hölzer und Adam war immer noch erstaunt, wie wenig seine eigene Angst mittlerweile eine Rolle spielte. Er zuckte nicht mehr zusammen, wenn das riesige Maul an seiner Seite auftauchte. Sein Herz schlug nicht mehr schneller, wenn diese sabbernde Zunge über seine Hand fuhr. Das war…anders als vorher.

Er rollte mit den Augen, als er sah, wie sehr das Tier Vincent anhimmelte und selbst ihn dann mit einer hin und her schlagenden Rute belohnte. 

„Stößt du jetzt mit mir an oder nicht?“, fragte er im Versuch einer Versöhnung und nach einer weiteren Runde Zähneknirschen griff Hölzer tatsächlich zu dem Glas Wasser. Nur um ihn dann zugunsten seines Riesenköters zu ignorieren und Adam stellte sich für einen Moment vor, dass er es war, der von Hölzers versierten Fingern gekrault wurde. 

Ein schöner Gedanke, befand er und sein Blick verirrte sich zu Vincent, der ihn mit einer neuerdings entdeckten Nachdenklichkeit musterte, die Adam wiederum zu denken gab. 

Vincent griff sich sein eigenes Glas solidarisches Wasser und streckte es Hölzer entgegen. „Auf deinen Ermittlungserfolg und darauf, dass deine Augenringe nicht mehr so aussehen, als würdest du Braunkohle abbauen.“ Sein ernster Ton glitt locker flockig an der geplanten Flapsigkeit vorbei und die Überraschung darüber konnte er auf Hölzers ganzem Oberkörper ablesen, der sich zunächst anspannte und sich dann willentlich wieder entspannte. 

Schweigend sah der Ermittler von seinem Vieh hoch, die Augen zu Adams Glas huschend. Immer noch stumm sah er ihm in die Augen und trank mit festem Blick auf Adam das Wasser. 
Wie gebannt starrte Adam auf Hölzers Adamsapfel, der auf und abhüpfte, während er schluckte, und wurde sich bewusst, dass er seit ein paar Sekunden mit Sicherheit nicht mehr die Oberhand hatte.

Was Hölzer wusste. Was natürlich auch Vincent wusste, sein hauseigener Psychologe. 

Hölzer nahm das Glas von seinen Lippen und stellte es mit bestimmten Klirren auf den Tisch. 

„Vorsicht, das macht Kratzer“, tadelte Adam mit nicht ganz so fester Stimme wie gewünscht und Hölzer zog minimal die Lippen hoch.
„Mit Polierpaste gehen die weg“, erwiderte er und widmete seine Aufmerksamkeit leider wieder auf den doofen, winselnden Köter. Adam hob seine Augenbrauen, das Glas Wasser vergessen in seiner Hand.
„Der handwerklich begabte Herr Hölzer, ein do-it-yourself-Ratgeber mit allem außer töpfern.“ 

Empört öffneten sich die Lippen und pressten sich schlussendlich fest aufeinander. Adam zwinkerte, erfreut über den Treffer, den er gelandet hatte und trank sein Wasser leer. 

„Und, wollen wir bauen?“, fragte er vergnügt und Vincents vielsagender Blick begleitete ihn in sein Spielzimmer. Ebenso wie Hölzer und Hölzers Pony. 


~~**~~


„Alles wird gut“, murmelte Pia und haschte besorgt nach Leos klammer Hand. 

Er schluckte und starrte nervös auf den brüchigen Holzfensterrahmen vor sich. Trotz Sommer zog es im Landgericht, oder war es nur Leo, dem es fröstelte vor eingepflanzter Angst? 
Seit gestern hatten seine Familie und er verstärkten Polizeischutz. Heute würde der Prozess gegen Barns beginnen und Weiersberger würde Tangermann in den Zeugenstand rufen. Insofern Schürk noch nichts davon wusste, würde es eine böse Überraschung geben und Leo hatte noch sehr gut vor Augen, was Schürk ihm angetan hatte, als er beim letzten Mal etwas Wichtiges verschwiegen hatte. Unsicher fasste er sich an den Hals und strich über die Haut dort, in der lebhaften Erinnerung an seine Angst, dass Schürk ihn wirklich umbrachte. 

Pia entging diese Geste nicht und sie legte nun auch die Finger der anderen Hand auf seine. Ihre Augen sagten das, was ihre Lippen nicht veräußerten und Leo konnte ihren Blick nicht wirklich lange ertragen. 

„Deine Eltern sind in Sicherheit. Du bist es ebenfalls. Alles wird gut und euch wird nichts passieren“, beruhigte sie ihn nicht zum ersten Mal an diesem Tag mit mäßigem Erfolg. „Er wird dich nicht wieder angehen.“
Er, Schürk Junior, dessen Onkel sie dauerhaft ins Gefängnis bringen würden. 
„Ich glaube nicht, dass er das tun wird“, flüsterte Leo und starrte an Pia vorbei in den Flur hinein. Nicht nach Weihnachten. Nicht nach all dem, was in der Zwischenzeit passiert war. Aber sicher war er sich nicht und das drückte sich nun auch durch Leos Schicht von eisernem Willen, der Gerechtigkeit nach so langer Zeit Genüge zu tun.

Selbst als er bei Schürk eingeschlafen war, hatte dieser die Situation nicht ausgenutzt. Es war Leo gewesen, der das Schlimmste befürchtet hatte. Schürk hatte defacto nichts getan, sondern ihm auch noch Kaffee auf den Tisch gestellt. Er war anders als vorher, Leo war anders als vorher. Die Situation war es. 

Würde das nach diesem Termin immer noch so sein? Nach ihrer aller Aussagen? Nach Tangermanns Befragung? Er würde es erfahren, wenn er sich morgen mit Schürk traf. Am See, in den er den blonden Mann vor Weihnachten hineingeworfen hatte. 
Das hatte Schürk so bestimmt und er hatte jetzt schon Angst vor Morgen. Doch Morgen kam nach heute. Gleich musste er erst einmal seine Aussage und die Tangermanns durchstehen. 

Leo zuckte zusammen, als sie aufgerufen wurden. 

Seine Eltern waren sicher. Das war das Wichtigste. Er würde sich nie verzeihen, wenn etwas passieren würde. 


~~**~~


„Du bist zu dumm zum Scheißen, oder?“

Adam fröstelte innerlich bei dem lauernden Ton der Dreckssau. 
Natürlich hatte er hatte mit dessen Wut gerechnet, insbesondere nach dem katastrophalen gestrigen Auftakt des Prozesses gegen Onkel Boris. Natürlich hatten Hölzer und sein Team ausgesagt. Was aber neu war und er vorher nicht berechnet hatte, war, dass Tangermann überraschend als Zeuge aufgetaucht war und ausgesagt hatte. Der Tangermann, den er auf Nimmerwiedersehen weggeschickt hatte und den die Bullen nun ausfindig gemacht hatten. 

Die Bullen, zu denen auch Hölzer gehörte – dem er vorgestern noch eine Nachricht geschickt hatte, dass sie sich heute am See treffen würden. Vincent hatte überraschend zu seiner Mutter fahren müssen und Adam hatte Laune, sich die laue Sommerzeit an einem mückenverseuchten Gewässer zu vertreiben. 

Wäre da nicht das hier gewesen.

Hölzer hatte nichts gesagt, natürlich nicht. Adam hatte schließlich auch nicht gefragt und das Thema bei ihrem letzten Treffen umschifft, weil er die Stimmung nicht versauen wollte. Das hatte er nun davon. Die Dreckssau würde seine eigene Stimmung trüben und wenn Adam sich die Nuancen in dessen Stimme anhörte, dann konnte er froh sein, wenn er sicher zu Hölzer kam. Schmerzen würde er heute Abend auf jeden Fall haben. Schade. Soviel zum lauen Sommerabend.

„Was an „schaff mir den scheiß Zeugen vom Hals“ hast du nicht verstanden? Hast du Probleme mit den Ohren? Bist du dumm im Hirn?“

Weder noch, doch das verschwieg Adam lieber. 

„Es tut mir leid“, spulte er monoton ab und das Arschloch öffnete mit einem Schnauben den Gürtelschrank. 
„Klar, alles tut dir leid, immer. Dein Verhalten änderst du aber nicht.“ Der Ton des Mannes war lauernd, vorfreudig sogar. „Aber das werde ich dir schon beibringen. Wenn es sein muss, immer wieder.“

Kurz ballte Adam die Hände zu Fäusten. Hölzer hatte es ihm verschwiegen und doch wollte sich keine rechte Wut einstellen. Er hatte nicht gefragt, wie an Weihnachten auch nicht. Der Ermittler war besser als er gewesen. Es war nicht aller Tage Abend, aber für die Dreckssau war es das Schlimmste, was passieren konnte. Schließlich war Onkel Boris seine rechte Hand. Er war noch nicht verurteilt, aber das Arschloch vor ihm hatte sein Urteil bereits gefällt. Polizist, Staatsanwalt, Richter, Henker, alles in einem. Hatte er ja schon mal bewiesen. 

So wie Onkel Boris. 

Er ist ein Mörder, tönte es in Adams Gedanken, in einer Stimme, die verdächtig nach Hölzer klang. Auch wenn er sein Onkel war, der ihn nicht so schlecht behandelt hatte wie die Dreckssau. Adam hatte immer ein gutes Verhältnis zu Onkel Boris gehabt – auch nachdem... 

Ja, auch danach. 

Der Blick aus wässrigen, sadistischen Augen sagte ihm, dass er getrödelt hatte mit dem Ausziehen und Adam knöpfte mit klammen Fingern sein Jackett auf. 


~~**~~


Leo starrte mit klopfendem Herzen und enger Kehle auf den dunkler werdenden See hinaus und zog seine Jacke zu. Die untergehende Sonne ließ den Abend kühler werden und Leo hatte in seiner nervösen Aufregung vergessen, sich eine entsprechend dickere Jacke mitzunehmen. Ein doppelter Fluch, denn nun zerfraßen ihn auch noch die Mücken des Sees, die in ihm eine lohnende Beute sahen. Warum Schürk ihn hierher beordert hatte, wusste Leo nicht und wie auch vor Weihnachten kam Angst in ihm auf, dass Schürk sich an ihm rächen würde. Sein Personenschutz war zwar auch hier, aber half das gegen einen Angriff aus dem Hinterhalt? Und was hatte Weiersberger zu ihm gesagt? 

Bis zu einem gewissen Grad würde er den Schein aufrecht erhalten müssen. Sich Gewalt antun lassen müssen. Angst haben müssen. 

Es schauerte Leo bei dem Gedanken daran, was kommen mochte. 

Schürk wusste seit gestern, dass Tangermann aufgetaucht war und hatte sich nicht gerührt. Das machte Leo Angst, weil es alles bedeuten konnte. Würde er wütend sein? Ihn angehen? Würde das, was für Leo gerade so angenehm war, nun wieder in eine Katastrophe abgleiten?

Die Fragen waren nicht neu und Leo hielt sich vor Augen, dass er sich dem stellen musste. Er hatte sich dafür entschieden, den Weg mit der Sonderkommission zu gehen, also gehörte das auch dazu. 
Wider Willen klammerte Leo sich an die vergangenen Wochenenden. Schürk war anders gewesen, auch wenn er das Ärgern anscheinend mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Hätte Leo Schürk so kennengelernt…

Nein, den Gedanken durfte er so nicht denken. Das war falsch. Wenngleich es einen Hauch Wahrheit hatte. Ein Mann wie Schürk ohne seine Vergangenheit, die Leo mit ihm hatte, und ohne sein kriminelles Dasein wäre ein Mann gewesen, der Leo zum Lachen gebracht hätte. 

Der Mann, der Schürk aber jetzt war, war ein No-Go. Vor allen Dingen ein No-Go, das zu spät kam, was Leo mit einem weiteren, nervösen Blick auf seine Uhr feststellte. Nur er und sein versteckter Personenschutz waren hier am See und Leo starrte auf das ruhige Wasser. Jetzt, wo Schürk nicht hier war und den Mücken wie in Frankreich eine zweifelhaft leckere Mahlzeit bot, war Leo anscheinend das Buffet und fluchend erschlug er das mittlerweile sechste Biest.

Eine halbe Stunde hatte der sonst überpünktliche Schürk bereits Verspätung und bislang sah es nicht so aus, als ob er noch kommen würde. Was Leo zu der Frage brachte, wie lange er hier ausharren sollte, bis er sich in seine Wohnung begeben konnte. Stau gab es auf dem Weg zum See auch nicht, das hatte er bereits auf Google überprüft. Sonst waren auch alle Straßen frei und Leo hatte auch noch einmal die Uhrzeit überprüft. Also gehörte es schon zur Strafe. Ihn warten zu lassen, damit die Angst größer und größer wurde. Psychologische Kriegsführung, der sich Schürk am Anfang immer wieder bedient hatte. 

Leo schauderte und zog die Beine an, bettete sein Kinn auf die Knie. Er würde noch eine Stunde warten und in seinen Gedanken verloren auf das Wasser starren. Dann war es sicherlich in Ordnung zu gehen und Leo konnte noch Hause fahren. Beschloss er. Anrufen und nachfragen kam für Leo aber nicht in Frage, auch wenn er Schürks Nummer hatte. Nicht nach gestern. Eigentlich…gar nicht. 

Es dauerte noch eine weitere, halbe Stunde, bis Leo unregelmäßige Schritte hinter sich hörte und mit einem kurzen Blick erkannte, dass es tatsächlich Schürk war, der kam. Wie gewohnt im schwarzen Anzug, jedoch seltsam schwankend im Gang. 
Leo erhob sich misstrauisch und sah Schürk vorsichtig entgegen. Der blonde Mann hatte also getrunken und war deswegen zu spät gekommen. Wofür hatte er sich betrunken? Um ihm leichter wehtun zu können? 

Anscheinend hatte Schürk nichts dergleichen vor. Er würdigte ihn kaum eines Blickes und ließ sich neben Leo auf den Boden fallen, ungelenk und ohne die übliche Kontrolle über seinen langen Körper. Leo musterte ihn mit einem kaum verhohlenen, vernichtenden Blick. Blass war der andere Mann auch noch, der Blick glasig, die Haare strähnig. 
„Bist du betrunken?“, fragte er kritisch und Schürk winkte fahrig ab. 
„Setz dich hin und streck deine Beine aus. Ich will meinen Kopf auf deine Oberschenkel legen“, erwiderte er anstelle dessen ungnädig, in einem Tonfall, den Leo schon lange nicht mehr gehört hatte. 

Ob es gut war zu gehorchen, wusste er nicht. Ob es besser war, es nicht zu tun, ebenfalls nicht. So entschied sich Leo zögerlich für Ersteres, auch wenn er alles andere lieber gehabt hätte, als dass Schürk sich auf ihn legte und ihn womöglich noch vollkotzte. Oder seine betrunkene Wut an ihm ausließ. Langsam ließ er sich nieder, setzte sich auf den Sandboden und streckte wie befohlen die Beine aus.

Angespannt verharrte er und sah zu, wie Schürk mühevoll seinen Kopf auf seine Jeans bettete. Schwer lag er dort und Leo wurde sich bewusst, dass der blonde Mann noch nie von sich aus diesen engen Kontakt gesucht hatte. Um ihm zu drohen – ja. Aber nicht um… ja, um was? Leo blinzelte ratlos und grollte. 

„Nochmal. Hast du gesoffen?“, fragte er ungeduldig und erhielt erneut keine Antwort von Schürk. Null, nichts, da war noch nicht einmal Bewegung. War der andere Mann etwa eingeschlafen? Auf ihm? Einfach so? Was war mit gestern? Warum sagt Schürk nichts dazu? Warum ließ er Leo erst in seiner Angst schmoren um sich dann vollkommen unvorhersehbar zu verhalten? 

„Ich rede mit dir“, versuchte Leo ein zweites Mal und beugte sich zu Schürk. Die blauen Augen waren geschlossen, seine Atmung war jedoch flach und wenig entspannt. Also doch gesoffen. Wobei er nicht nach Alkohol roch. Gar nicht eigentlich. 
„Unglaublich“, murmelte Leo und lehnte sich kopfschüttelnd zurück, starrte auf den See hinaus, Schürks Kopf ein schweres Gewicht auf seinem Oberschenkel. 

Wäre er doch einfach früher gegangen, dann müsste er hier nicht als Kopfkissen für einen Verbrecher dienen. 

Er sah erneut auf Schürk herab und runzelte die Stirn, als er feststellte, dass das Jackett hochgerutscht war und einen blutigen Striemen entblößte. Irritiert runzelte Leo die Stirn. Er hatte Schürks Hämatome gesehen, als sie wandern gewesen waren, aber das hier? 
„Dir ist klar, dass du blutest, oder?“, fragte er ernst und Schürk schenkte ihm tatsächlich so etwas wie ein Schnauben. 
„Und der Himmel ist blau“, bekam er die nichtssagende, raue Antwort, die den anderen Mann doch nicht als so schlafend enttarnte. 
Dass man diesen Schnitt versorgen sollte, die Anmerkung sparte Leo sich. Zum einen, weil Schürk das sehr wohl selbst wusste. Zum anderen, weil er sich mit Sicherheit keine Sorgen machen sollte. Nicht um Schürk. 

Dass nicht nur der Schnitt blutete, sondern auch Schürks Jackett dunkle Flecken aufwies, erkannte Leo erst nach eben diesem Vorsatz. Das Gleiche galt für seine Jeans, die rote Spuren aufwies, dort, wo Schürk gerade seinen Kopf nach vorne gelegt hatte.

Leo richtete sich alarmiert auf. Das hier war nicht nur ein einfacher Striemen. Das war mehr. Der andere Mann blutete und der schwarze Anzug verbarg das Meiste davon. Aber je intensiver Leo hinsah, desto mehr dunkle, feuchte Flecken erkannte er im aufkommenden Dämmerlicht des Abends. 
Seine Hände schwebten über den ihm nahen Körper und dennoch brachte er es nicht über sich, Schürk anzufassen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Mann anzufassen. Er wollte nicht. Nicht diesen Mann. Und dennoch. 

„Du blutest an mehreren Stellen“, sagte er eindringlicher als vorher und Schürk seufzte. 
„Und der Himmel ist blau“, wiederholte er, die Stimme seltsam verschwommen. Es brauchte etwas, bis Leo verstand, was das bedeuten konnte. 

Es gab Momente, da erkannte Leo sehr schnell, dass er seine Prinzipien über Bord werfen musste. Vorsichtig schob er Schürk von sich hinunter und drehte den anderen Mann auf den Rücken, damit er ihn besser mustern konnte. Das schmerzverzerrte Gesicht teilte ihm mit, was er bereits dunkel geahnt hatte und alarmiert ließ Leo seine Augen über den freigelegten Oberkörper gleiten.

Der insbesondere an den Seiten weitere Schnitte aufwies. Nein…keine Schnitte. Die Haut um die aufgeplatzten Wunden herum war grün, blau und rot. Es waren Schläge. Blutige Stiemen.
„Du bist verletzt“, sagte Leo und Schürk öffnete gerade soweit seine Augen, dass er kurz Leos Blick halten konnte, bevor er sie wieder schloss. 
„Nicht auf den Rücken“, murmelte er und Leo wurde immer unruhiger. Als Schürk sich jetzt unter Aufbietung seiner ganzen Kraft auf die Seite rollte, fasste Leo sich ein Herz und ließ den dringend benötigten Polizisten in sich zum Vorschein treten. Er hob das schwarze Jackett an und zuckte brachial zusammen. Scharf sog er die Luft ein, als er das Schlachtfeld sah, was Schürks Rücken darstellte.
 
Haut, über und über bedeckt mit blutigen Spuren aufgeplatzter Haut, Striemen, Schnitten und Hämatomen. 

„Du musst in ein Krankenhaus“, war das erste Vernünftige, das Leos Lippen verließ. Befand er, befand aber nicht Schürk, der immer widerwilliger seine Augen öffnete. 
„Nein“, hielt er stur dagegen, doch Leo war sturer. 
„Doch. Ich rufe den Notarzt. Du blutest und wirklich kohärent bist du auch nicht. Hast du viel Blut verloren? Hast du andere Verletzungen?“
Mühevoll drehte Schürk sich und mit einer überraschend starken, rechten Hand krallte er sich um Leos Handgelenk. Schon wieder. 
„Keinen. Notarzt. Hast du mich… verstanden?“, erhielt er die dunkle Drohung, die er in diesem Moment so überhaupt nicht zu schätzen wusste. So rein gar nicht. 
„Sonst was? Hältst du mich davon ab, einen zu rufen?“
„Ich…warne…dich…“
Schürk verließ die Kraft und das war kein gutes Zeichen. 
„Wo ist Ross?“ Der würde Schürk mit Sicherheit Vernunft einreden können. Mehr als es Leo jemals können würde und wollte. Der blonde Mann schnaubte jedoch. 
„Kurzurlaub bei Muttern bis Montag Abend.“

Na wunderbar. Leo versuchte, nach seinem Handy zu greifen, ein hoffnungsloses Unterfangen, solange sie so aufeinander und nebeneinander lagen. „Ich rufe ihn trotzdem an.“
Und schon war sein zweites Handgelenk gefangen. „Nein.“ Unwirsch ruckte Leo an seinen Armen und grollte auf Schürk hinunter, für den bereits das zuviel war. 
„Leo…bitte…“, wisperte er und mehr als alles andere zuvor ließ es Leo innehalten. „Keinen Notarzt. Nicht Vincent. Lass mich einfach…liegen. Bleib einfach hier…okay?“

Wie schon beim letzten Mal, als Schürk ihn mit seinem Vornamen angesprochen hatte, brachte es Leo zum Stillstand. Nur dass es dieses Mal nichts Sanftes hatte. Schürk war verzweifelt. Er war gehetzt und verwundet. Er…flehte. 

Leo schluckte. Schürks Ton und seine Worte waren fürchterlich, sie kratzten an seiner bisherigen Vorstellung des anderen Mannes. Sie sprachen etwas in Leo an, von dem er niemals gedacht hatte, dass es auf den blonden Mann reagieren würde. 
Und als wenn er den anderen Mann hier liegen ließe. Das wäre unterlassene Hilfeleistung im besten Fall. Totschlag vielleicht auch noch, wenn der Staatsanwalt gut drauf wäre. Im Leben würde er das nicht tun. Das hier konnte und wollte Leo nicht ignorieren. Soweit ging sein Rachebedürfnis nicht. Und dabei bleiben, wie Schürk im schlimmsten Fall starb…nein, das hatte er hinter sich gelassen, als er es nicht fertig gebracht hatte, Schürk und Ross zu töten. 

Leo runzelte die Stirn und wog seinen Optionen ab. Er konnte warten, bis Schürk das Bewusstsein verlor und dann handeln. Oder aber…
Er grub seine Zähne in die Unterlippe. Das war ein großes Aber. Sehr groß. 

„Dann kommst du mit zu mir, aber ich rufe Caro an“, entschied Leo und das schien etwas zu sein, mit dem Schürk besser umgehen konnte. Wenigstens einer von ihnen… Dass er Schürk nicht in dessen eigene Wohnung verfrachtete, lag einzig und allein daran, dass er Caro nicht dort sehen wollte. 

„Kannst du überhaupt aufstehen?“, fragte Leo kritisch und mit einem Hauch an Sorge. Vielleicht hatte Schürk innere Blutungen? Vielleicht kamen sie gar nicht bis zu seinem Wagen.
Schürk brummte, machte aber keine Anstalten, sich von Leo zu lösen. 
„Wenn du meine Handgelenke nicht loslässt, dann wird das nichts“, sagte Leo und Schürk löste nur widerwillig seine Hände von seiner Beute. Seinem Anker. 

Sich zur Seite rollen, das schaffte er nicht, also schob Leo ihn vorsichtig von sich hinunter. Seine Jeans war an mehr als einer Stelle blutig und Leo schluckte. 
Er streckte ihm stumm seine Hände entgegen und Schürk versuchte ihm seine entgegen zu strecken – mit wenig Erfolg. Sorgenvoll runzelte Leo die Stirn und beugte sich hinunter. 

„Wirklich kein Notarzt?“, fragte er nochmal und wieder war es, als hätte er den schlimmsten Vorschlag seines Lebens gemacht. 
„Keine inneren Blutungen. Zu dir“, murmelte Schürk und versuchte noch einmal seine Arme zu heben. 

Leo umfasste seine klammen, kalten, zittrigen Hände und hievte Schürk unter sichtbaren Schmerzen hoch. 
„Schritt eins“, murmelte er. „Dann geht’s zum Auto.“

Was gar nicht mal so nah stand. 

Schweigend legte Leo seinen Arm um Schürks Torso und spürte selbst noch durch den Anzug die wütende Hitze verletzter Haut. Als seine Hand unter dem Jackett landete, fühlte er die heiße, aufgeplatzte Haut unter seinen Händen. Schürk roch nach Blut und Leo schauderte ob sowohl ob der Bedeutung, dass all dies haben mochte sowie ob des Gefühls der ihn kitzelnden Haare, als Schürk seinen Kopf an ihn lehnte. Das war bei weitem zu viel Körperkontakt für Leo. Das war bei weitem zu nah für ihn und zu…helfend. Aber hatte er eine andere Wahl? Nein. Der Drang in ihm, ein guter Mensch, ein guter Polizist zu sein, war einfach zu stark in diesem Moment. Sein Mitleid war es.

Schritt um Schritt taten sie in Richtung seines Wagens und Leo wusste wirklich nicht, ob es sinnvoll war, dass er Schürk nicht in ein Krankenhaus brachte. Oder ob sie es bis zu seinem Zuhause schaffen würden. Schürk hielt sich mehr schlecht als recht auf den Beinen. Sein Atem ging flach und stoßweise. 

„War er das?“, fragte Leo zähneknirschend, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. Schürks Schnauben sagte ihm nichts Anderes. 
„Du bist doch sonst so schlau, Herr Kommissar“, flüsterte er ätzend und Leo schluckte. 
„Kriminalhauptkommissar, wenn schon. Wegen Barns?“, hakte er nach und Schürk brummte.
„Ist eben meine Schuld, wenn Zeugen wieder auftauchen. Hätte ihn doch umbringen sollen.“

Leo schwieg mit einem dicken Kloß im Hals. Spätestens seit Schürks Eskalation bei Leos Vater wusste er, was der Patriarch der Familie seinem Sohn antat, das nun aber zu sehen und Schürks Leid, seine Wut, sein Elend mitzubekommen, war fürchterlich. Das hatte Schürk nicht verdient. War es daher ein Wunder, dass der blonde Mann aus lauter Schmerz und Qual solche unmöglichen Dinge sagte? Die er sowieso nicht einhielt? Schürk war vieles, wusste Leo, aber ein Mörder…das glaubte er nicht. 

Sie erreichten seinen Wagen und Leo lehnte ihn an die Seite. „Stehenbleiben, verstanden?“, befahl er, während er zum Kofferraum ging um seine Ersatzdecke zu holen. 
„Ich mag es, wenn du streng bist“, ertönte es hinter seinem Rücken und Leo zerrte unwirsch grollend die Fleecedecke aus ihrer Tasche im Kofferraum. Das Letzte, was ihm jetzt noch fehlte, war, dass der blonde Mann seinen Wagen vollblutete oder das Bewusstsein verlor. Und das Letzte, was er jetzt hören wollte, war, dass sein verbindlicher Polizistenton anscheinend ansprechend genug war.

Solange er weiterhin dumme Sprüche brachte, standen die Chancen darauf, dass er umkippte, eher schlecht. Hoffte Leo wirklich intensiv.

„Ist das so? Schien mir in den letzten Monaten eher anders“, entgegnete er daher neutral vorsichtig und öffnete mit einem knappen und vielsagenden Blick auf Schürk die Tür zur Rücksitzbank. Wortlos spannte er die Decke so gut es ging auf die Sitze und deutete dann knapp in den Wagen hinein. 
„Setz dich.“
„Ich will aber nach vorne.“
Leo hielt einen Moment inne, während er sich Schürks Worte durch den Kopf gehen ließ. Waren sie eine Falle? Ein Test? „Und ich will nicht, dass wir beide offensichtlich miteinander gesehen werden. Das wird Fragen aufwerfen“, hielt Leo dagegen. Bisher hatten sie so viel Geheimniskrämerei betrieben, dass es auffällig wäre, nun mit Schürk durch die Gegend zu fahren. 

„Mir wird hinten schlecht.“

Leo wusste nicht genau, was an Schürks Worten es war, das ihn wütend machte. Ob es überhaupt die Worte oder der selbstverständliche, beinahe schon arrogante Ton war. Ob es der Trigger war, den sie für ihn darstellten. Was es auch war, es milderte keine Sekunde lang Leos Zorn über die Bitte um Nachsicht. 

Wortlos fischte er daher eine der Einkaufstüten aus seiner Seitentasche und warf sie mit auf die Rücksitzbank. 

„Da kannst du reinkotzen“, sagte er gnadenlos und zeigte Schürk, dass er es durchaus ernst meinte. Selbst, als dessen Ausdruck von seiner üblichen Arroganz abwich und zu etwas wurde, das Leo definitiv nicht benennen wollte. „Erwarte da kein Mitleid, Schürk, du hast mich dazu gezwungen, Eintopf zu essen, obwohl du wusstest, dass ich mich davor ekle. Nein, gerade weil du wusstest, was es in mir auslöst. Also, rein mit dir. Es ist gefährlich genug, dass ich dich durch die Gegend fahre. Ich will dich nicht vorne sitzen haben.“

Nein, bei allem, was Leo nicht als Sorge klassifizierte, in diesem Punkt hatte er kein Mitleid. Dafür hatte er sich viel zu oft übergeben, weil er Schürks Unterdrückung ihn derart belastet hatte, dass sein ganzer Körper sich gegen ihn gestellt hatte. Viel zu oft hatte er wegen Schürk Magenschmerzen gehabt oder das Gefühl, niemals wieder Land zu sehen. Er würde Schürk helfen, ja. Er würde Caro in seine Nähe bringen um ihn zu versorgen, aber…

Aber er brauchte noch Grenzen. Er brauchte ein Ventil für seine unverarbeitete Wut und den hilflosen Zorn für Schürks Bereitschaft, ihn zu demütigen und ihm Schmerzen zu bereiten, dann aber anderes für sich zu fordern. 

War es Rache? Vielleicht. Und Leo wusste nicht, was er von dieser Facette von sich selbst halten sollte. Befriedigend war sie jedenfalls nicht.

Schürk folgte ihm schweigend und Leo schlug hinter ihm die Tür zu, sobald er seine langen Beine umständlich zu sich gezogen hatte. Er ging um das Auto herum und ließ sich auf den Fahrersitz fallen und warf Schürk einen Blick durch seinen Rückspiegel zu. Finster wurde er angestarrt und Leo starrte für die Dauer von ein paar Sekunden zurück, bevor er den Wagen startete. 

Seltsamerweise fühlte er keine Macht angesichts der Tatsache, dass er so mit Schürk umging oder dass dieser verletzt genug war um Hilfe zu brauchen. Da war nur die seltsame Mischung aus etwas, das sich verdächtig nach Mitleid anfühlte, gepaart mit dem Grundgedanken, dass er helfen musste.

Weil er Polizist war, hielt sich Leo vor Augen. Nur deswegen. Das war der valideste Grund, den er vorzuweisen hatte. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 30: Der kümmernde Herr Hölzer

Notes:

Einen wunderbaren Dienstagmittag euch allen! Den Wochenbeginn haben wir alle geschafft, yaih! Nun noch der Rest der Woche. Sonne für alle, die unter dem Grau in Grau leiden!

Hier nun, eher unsonnig, der neue, der 30. Teil (o_O) meiner Geschichte. Zwei Tage zu spät, dafür habe ich dieses mal 20 Seiten für euch. :)) Ende? Vielleicht in Sicht. Aber sie finden zueinander, stetig, unaufhörlich. Viel Spaß euch beim Lesen und Achtung, es geht immer noch um Verletzungen.

Vielen lieben Dank euch für eure Kommentare, Klicks und Kudos!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 


„Nur noch eine Etage. Das schaffst du.“

So ganz wusste Leo nicht, warum er das dem schwer an ihn gelehnten Mann sagte. Vor allen Dingen, warum er das zum wiederholten Mal sagte. Natürlich nicht das mit der Etage, das war neu, aber dass dieser es schaffte. 

Aus dem Auto auszusteigen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Füße soweit zu heben, dass er Treppenstufe um Treppenstufe nehmen konnte, während ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand. 

Schürk zitterte am ganzen Körper und hatte mittlerweile die Augen zu Schlitzen verengt. Sein Kiefer war derart angespannt, dass Leo die Gelenke bis hierhin knirschen hörte. Seine Lippen waren fest aufeinandergepresst, als wollte er bloß keinen Ton herauslassen und Leo zweifelte jede Sekunde mehr an seiner Bereitschaft, Schürks Dummheit zu unterstützen. 

Der Mann gehörte in ein Krankenhaus, wo sich medizinisches Personal um ihn kümmerte. Der Mann gehörte unter Schmerzmittel gesetzt, in die Waagerechte gebracht, alles, nur nicht das hier. Das war so dumm wie die Menschen in Filmen und so langsam erkannte Leo, woher diese ihre Inspiration hatten.

„Nur noch ein bisschen.“

Der sonst so wortgewandte und sarkastische Mann sagte nichts, sondern lehnte seinen verschwitzten Schopf an Leos Wange. Ob es die Gewohnheit war, die Gewöhnung an etwas Unmögliches oder reine Schicksalsergebenheit, das wusste Leo nicht, aber er akzeptierte, was Schürk anscheinend brauchte und brachte seinen Gast verborgen vor den Augen seiner Nachbarinnen und Nachbarn tatsächlich in seine Wohnung. 

„Wir sind da.“ Alles wird gut, wollte er ergänzen, doch bevor diese unmöglichen Worte ihren Weg nach draußen fanden, verbot Leo sich jedes weitere Wort. Nichts würde hier gut werden. Schürk war so verprügelt worden, dass er nicht mehr laufen konnte. Er blutete und ob Caro nicht schlussendlich doch zu dem Ergebnis kam, dass er ins Krankenhaus musste, stand noch offen. 

Leo hielt inne. Der logischste Ort, Schürk flach hinzulegen, damit Caro ihn untersuchen und versorgen konnte, war definitiv sein Bett. Der Ort, der nur ihm gehörte, der aber bereits schon durch Schürk entweiht worden war. Leo schloss sich dort ein um seine Ruhe zu haben und nun sollte der andere Mann diesen Rückzugsort ganz für sich haben? 

„Komm weiter. Gleich hast du es geschafft.“

Besser nicht weiter drüber nachdenken, sagte Leo sich. Besser einfach den Polizisten in sich machen lassen, der wusste, was zu tun war. Dennoch verspürte er Widerwillen von vorne bis hinten, als er über die Schwelle zu seinem Schlafzimmer trat und Schürk gegen die Wand lehnte. 

„Ich hole kurz Handtücher“, murmelte Leo und das todesbleiche Gesicht zeigte keine Regung. Nichts, bis auf offensichtlichen Schmerz, den Schürk mit seinen Augen in den Boden bohrte.
Unwirsch zog Leo seine Bettdecke weg und suchte in seinem Schrank nach den Strandtüchern. Mit überhasteten Bewegungen breitete er sie auf der Matratze aus und wandte sich erneut zu seinem…Gast, der die Augen soweit aufhatte um sein Tun beobachten zu können. Erschöpft starrte Schürk auf das Bett. 

„Ich bin stubenrein“, murmelte er zynisch, während er sich schwankend und bleich wie der Tod auf den Beinen hielt, seine Schulter an der Wand der einzige Punkt, der ihn noch aufrecht hielt. Leo kam zu ihm und streckte seine Hand aus – falls er helfen musste.  
„Warum blutest du dann?“, hielt er dagegen und deutete auf sein Bett. „Ich helfe dir, dich hinzulegen und rufe Caro an. Sie hat heute frei und…“ Leo seufzte. Er hasste diesen Satz jetzt schon. Er hasste das Gespräch, was sich dem anschließen würde, jetzt schon. 
„…es wäre gut, wenn du dich bis dahin schonmal ausziehst.“

Schürks Ausdruck sagte Leo, wie seine Worte ankamen und dass sie mit Sicherheit falsch verstanden worden waren. Noch nicht einmal das, aber Schürks schwaches Lächeln zeugte durchaus noch von seiner unmöglichen Art, die anscheinend immer noch da war. Oder gerade jetzt? Wie würde er sich in so einer Situation verhalten, fragte Leo sich. Verletzt, unter Schmerzen, dem guten Willen seines erpressten Polizisten ausgeliefert. Schürk hatte schon vorher bewiesen, dass er auf Extremsituationen mit Abwehr reagierte.
 
„Gut wäre das mit Sicherheit, aber könnten wir damit vielleicht warten, bis es mir bessergeht? Ich kann mich kaum bewegen und das ist irgendwie hinderlich.“

Leo atmete tief ein. Zweimal. Fest starrte er Schürk in die Augen, sah dann aufs Bett und wieder zurück zu dem Mann, der ausgerechnet jetzt dazu zurückgefunden hatte, ihm das Leben schwer zu machen. Vorhersehbar, aber schwer. 
 
Er knirschte hörbar mit den Zähnen. „Schaffst du es alleine oder brauchst du Hilfe?“, fragte er und warnte Schürk nonverbal, einen weiteren, dummen Kommentar zu reißen.

Für einen Moment sah es so aus, als würde dieser sein Glück auf die Probe stellen wollen, doch dann fügte er sich und schüttelte knapp den Kopf. Wenigstens knirschte er genauso sehr wie Leo mit seinen Zähnen, als dieser schweigend hinter ihn trat. Natürlich konnte Schürk sich nicht alleine ausziehen. Der Mann konnte noch nicht einmal die Arme heben.

„Ich werde dir gleich das Jackett von den Schultern ziehen“, sagte Leo ruhig, als er erkannte, wie angespannt Schürk war. „Okay für dich?“
Unmerklich bewegte der blonde Schopf sich und sacht löste Leo den schwarzen Stoff. Er zog ihn nach unten, musste aber immer wieder aufhören, weil dieser sich bereits in einer der Wunden verfangen hatte. Schürk hielt besorgniserregend still, als Leo Stück für Stück das Schlachtfeld seines Rückens entblößte, das um Längen schlimmer war, als er es bisher geahnt hatte. 

Es war schlimmer als alles, was er bisher gesehen hatte. Brutale, rohe, beinahe besinnungslose Gewalt hatte ihren Weg auf Schürks Körper gefunden und Leo konnte sich noch nicht einmal in Ansätzen vorstellen, wie es für den anderen Mann währenddessen und jetzt danach gewesen sein musste und war. Die Narben, die Leo vorher gesehen hatte, kamen ihm in den Sinn. Schürks verletzende Worte über seinen Vater taten es und gerade jetzt, in diesem Augenblick, wusste er nicht wohin mit dem Mitleid, das ihn roh und ungefiltert überflutete. 

Wütend auf Schürks Vater, aber auch auf sich, presste Leo die Zähne aufeinander. 

Bedacht legte er die schwarze Jacke beiseite und musste erst einmal durchatmen, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die Hose richtete. Langsam kam er um den zitternden Mann herum. 

„Hat er dich überall so zugerichtet?“, fragte Leo zögerlich und hielt dem arroganten Blick stand, der mit kalter Wut auf ihm lag. Diese Wut galt nicht Leo, das erkannte er. Besser machte es sie nicht, ganz im Gegenteil. 
„Rate“, zischte Schürk bösartig und Leo wollte alles andere lieber als das. Er schluckte schwer und presste seine Lippen aufeinander. Er floh wieder in seine Ermittlerpersona, suchte dort Sicherheit. 

„Alles klar. Dann öffne deine Hose. Ich helfe dir, aus ihr heraus zu steigen.“ Wie Asche staubten die Worte in seinem Mund und Leo zog unwirsch die Stirn zusammen. 
Schürk drückte ihm dieses Mal keinen dummen Spruch, als er mit Herausforderung in den blauen Augen und zittrigen Fingern erst den Knopf, dann den Reißverschluss löste. Er löste die Hose und Leo sah nun doch zur Seite. 

„Du gibst mir das Go“, sagte er neutral und Schürk schnaubte. 
„Für jemanden, der kein Safeword hat, legst du sehr viel Wert auf Zustimmung“, ätzte er rau und Leo konnte ihm da nur beipflichten. Aber das hier war ja auch eine vollkommen andere Situation. Er hatte sich freiwillig dazu entschieden, kein Safeword zu haben. Er wusste, worauf er sich einließ und wurde zu nichts gezwungen. Schürk hingegen hatte mit Sicherheit nicht zugestimmt, blutig geschlagen zu werden. Überhaupt geschlagen zu werden. 

„Du sagst wann, erst dann mache ich“, erwiderte er ruhig und verharrte seitlich neben dem blonden Mann. 
„Mach“, zischte Schürk und Leo atmete bewusst tief ein. Schmerz huschte über das eingefallene Gesicht. Er trat um Schürk herum und griff sich den Bund der nach Blut riechenden Hose. 
„Ich beeile mich, damit du dich hinlegen kannst.“

Leo ging in die Hocke und löste Schürks Schuhe. Socken trug der andere Mann auch nicht und Leo war dankbar für die kleine Gnade. Er kam wieder soweit hoch, dass er die Hose des anderen Mannes hinunterziehen konnte und schluckte. Peinlich darauf bedacht, Schürks Haut nicht zu berühren, löste Leo die Hose von den schmalen Hüften. Wie so oft trug dieser keine Unterwäsche und Leo sah betreten zur Seite, als er erkannte, dass auch der Hintern und die Hinterseiten seiner Oberschenkel blutig waren. Dass er überhaupt noch laufen konnte, war Leo unbegreiflich. 
 
Zum ersten Mal war es nicht schlimm, dass Schürk ihn über ihm thronte und er selbst kniete. Es war nicht mit Demütigung verbunden, auch wenn Leo die Reminiszenzen dessen durchaus noch in seinen Gedanken und Erinnerungen fühlte. 
„Fuß hoch“, murmelte er und tippte den linken Knöchel sacht an. Schürk gehorchte schweigend und Leo tat das Gleiche mit dem rechten Knöchel. Sacht löste der den Stoff von Schürks Haut und warf ihn beiseite. 

Erst dann kam er wieder um Schürk herum und erhob sich, nicht jedoch, ohne vorher einen Blick auf seine seltsam deformierten und ebenfalls wunden Knie zu werfen. 
Schürk schnaubte und Leo sah hoch. Dunkelheit lag in den müden, blauen Augen, die Leo nicht ganz beziffern konnte. Schweigend streckte er Schürk die Hände entgegen und dieser schlug sie unsicher ein, damit Leo ihn zum Bett führen konnte. 

„Langsam“, murmelte er und half Schürk, sich bäuchlings auf die Handtücher zu legen. Dessen Knie knackten schlimm und Leo presste die Zähne zusammen, um nicht nachzufragen. 

„Ich hole dir noch ein Laken zum Zudecken“, sagte er bereits zu seinem Kleiderschrank gewandt und wühlte nach einem Nichtspannbettlaken. Eins hatte er noch und schüttelte das nach Persil riechende Stück Stoff aus, bevor er es vorsichtig über Schürks Unterkörper ausbreitete, der ihn währenddessen mit durchdringenden Augen maß. 

Einen Moment lang stand er ratlos neben dem verwundeten Mann und Leo wünschte sich einmal in seinem Leben, dass Schürk nicht damit aufgehört hätte, irgendeinen Mist von sich zu geben oder ihn zu triezen.

Diese Situation war auf so viele Arten für Leo neu und schlimm, im ersten Moment nicht zu bewältigen. Er wollte nicht, dass Schürk in seinem Bett lag. Er wollte nicht, dass er verletzt war und dass Leo sich um ihn sorgen musste. Er wollte Schürk nicht so sehen. So…hilflos. Misshandelt durch seinen Vater und das nicht da erste Mal. Wieso wehrte Schürk sich nicht? Wieso ließ er das zu?

Weil er ebenso wenig frei war von seinem Vater wie Leo von ihm, das hatte Schürk geantwortet und so langsam ahnte Leo, was es zu bedeuten hatte. 

„Was ist mit deinen Knien?“, fragte Leo, als die Stille unerträglich wurde und er erhielt ein abfälliges Schnauben als Antwort. 
„Was soll mit ihnen sein?“, stellte er die abweisende Gegenfrage und Leo grollte. 
„Sie sehen wund aus. Und als wenn sich etwas in deine Kniescheiben gedrückt hätte. Caro ist keine Orthopädin, sie…“
„Alles Gewohnheitssache. Dagegen kann sie auch nichts mehr tun“, schnitt der andere Mann ihm das Wort ab, zielt auf eine lapidare Antwort und kam bei einer rauen Ausrede heraus, die Leo ihm keine Sekunde glaubte. 
„Aber…“
„Lass es gut sein.“
„Aber das…“

Schürk hob den Blick und zurück waren Arroganz und Bitterkeit. „Für manche ist es schon zuviel, 54 Minuten knien zu müssen. Für andere wiederum sind 54 Minuten die kleinste Einheit, die sie in Kuhlen mit spitzen Dornen knien. Möchtest du noch mehr Details oder reicht dem Herrn Ermittler das? Ansonsten können wir auch gerne unsere Erfahrungen austauschen, so als Knie-Freunde.“

Leo begriff beinahe sofort, was Schürk ihm an den Kopf warf. Seine Gedanken rasten zu ihrem Kennenlernen, zu Schürks Demütigung, den Schmerzen, die Leo danach gehabt hatte. Das in Relation zu Schürks eigenen Knien zu sehen und zu wissen, woher dieses pervertierte Spiel aus Macht und Unterordnung eigentlich stammte, trieb ihm die bittere Galle hoch. 

„Du weißt, wie schlimm es ist und verlangst es selber?“, stellte er die verächtliche Gegenfrage und stieß auf puren Zynismus. 
„Ich weiß, wie erfolgreich es ist“, erwiderte Schürk und Leo konnte in diesem Moment nicht kompensieren, was sich an die Oberfläche seiner Selbstbeherrschung drängte. Er konnte mitnichten den Zwiespalt ausgleichen, der in ihm herrschte. Zu wissen, dass Schürk ebenfalls unter dieser ganz speziellen Art der Demütigung litt, machte das, was dieser ihm angetan hatte, nicht besser – im Gegenteil. Es macht es nur noch bitterer. 

„Ich rufe Caro an“, rettete sich Leo in das, was neutral zwischen ihnen stand und verließ ohne auf eine Antwort zu warten abrupt den Raum. 

Als der Abstand zu Schürk im Wohnzimmer nicht reichte, öffnete er seine Balkontür und schnappte frische Sommerluft. Ließ Normalität durch sich hindurchwaschen, die er so dringend brauchte. Erst nach ein paar Momenten holte er mit zitternden Händen sein Handy heraus und sah, dass Pia ihm eine Nachricht geschickt hatte.

~Alles okay?~, stand knapp und kurz dort und Leo ahnte, dass sein Personenschutz sie bereits kontaktiert und ihr von den neuesten Ereignissen erzählt hatte.
~Alles bestens~, antwortete er knapp. ~Er ist hier und ich kümmere mich. Wir reden, wenn es geht.~

Leo löschte beide Nachrichten aus seinem Verlauf und wählte Caros Nummer. 

„Brüderchen. Was verschafft mir denn die Ehre?“, grinste sie durchs Telefon und Leo schloss die Augen. Er wusste nicht, wie er das Kommende formulieren sollte, ohne dass Caro das Falsche dachte, also schluckte er seine Vorbehalte hinunter und biss die Zähne zusammen. 

„Caro, kannst du vorbeikommen und deinen Arztkoffer mitbringen? Es gibt ein Problem.“
Durchs Telefon hörte er, wie sie sich auf ihrer Couch aufsetzte. Das alte Ding knarzte und knackte doch immer. 
„Bist du verletzt? Ist was passiert?“, fragte sie alarmiert und er schüttelte den Kopf, bevor er sich bewusst wurde, dass sie ihn nicht sehen konnte. 
„Nein, mir nicht, aber…Adam.“ Wie schwer es ihm doch immer noch fiel, den Namen auszusprechen. Wie verboten er immer noch war. „Ihm geht es nicht gut. Er ist zwar bei Bewusstsein und ansprechbar, aber er ist verwundet und blutet.“

Die Stille dauerte zwei Sekunden zu lang, um nicht zu zeigen, dass sie schon jetzt misstrauisch war. „Warum seid ihr dann nicht im Krankenhaus, Leo? Wieso soll ich kommen?“
„Bitte Caro, es…. es geht grad nicht anders. Guck dir bitte seine Verletzungen an.“
„Auch meine Fähigkeiten sind ohne eine sterile Umgebung und ohne entsprechende Instrumente begrenzt, Leo. Ich kann dir nicht versprechen, dass er nicht doch ins Klinikum muss.“
Gepeinigt stöhnte Leo auf. „Das weiß ich doch und ich wollte auch, dass er ins Krankenhaus geht, aber er will nicht. Partout nicht und jetzt liegt er in meinem Bett und ich weiß nicht… Caro, komm bitte“, flehte er, bevor er sich wirklich davon abhalten konnte. Er wollte nicht mit Schürk alleine sein. Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. 

Nicht in seiner Wohnung und nicht in seinem Bett. 

Caro seufzte. „Leo, ich komme so schnell ich kann. Keine Panik, ja? Alles wird gut.“

Sie hatte gut reden, befand Leo und hoffte, dass sie wirklich bald hier war. 


~~**~~ 


Leo hatte sich immer noch nicht in das Schlafzimmer zurückgetraut, als es klingelte. 

Caro war da. Sie würde Fragen stellen, die er nicht beantworten könnte ohne sie in Gefahr zu bringen und in etwas hinein zu ziehen, das er nicht kontrollieren konnte. Aber er brauchte sie hier – auch, um Schürk zur Vernunft und ins Krankenhaus zu bringen. 

Mit klopfendem Herzen öffnete er ihr die Haustür und sie sprintete mit ihrem Notarztrucksack die Treppe hoch. Wann immer es ihr Dienstplan im Krankenhaus erlaubte, fuhr sie und das kam ihm nun zugute. 
„Hallo Brüderchen“, lächelte sie etwas atemlos und Leo nickte angespannt. 
„Hi.“ Selbst seine Stimme klang rau und gepresst, wenig selbstsicher. Er trat beiseite und ließ ihn hinein, hielt ihrer kritischen Musterung nur mit Mühe stand. 
Mit einem knappen Nicken deutete er auf sein Schlafzimmer.

„Ich bin jetzt da, Leo, und schaue ihn mir an. Es wird alles gut werden“, wiederholte sie ihre Worte vom Telefon und drückte ihn fest an sich. Leo ließ sich für ein paar Sekunden auf die schwesterliche Sicherheit ihrer Nähe ein, die ihm soviel Trost spendete. 

„Lass uns zu ihm gehen“, murmelte er schließlich. Eine Seite in ihm sagte, dass Herauszögern nichts brachte. Die andere…wollte nicht, dass Schürk noch länger derartige Schmerzen hatte. Die Seite war neu und sie kumulierte sich zu Eindrücken, die Leo in der letzten Zeit immer mehr von seinem gewohnten Trott wegbrachten.

Caro ging vor und betrat mit ihrem schweren Rucksack sein Schlafzimmer.  

„Hey“, grüßte sie Schürk sanft, doch Leo erkannte bereits ihre Notärztinnenpersona dahinter. Schürk musterte sie mit Vorsicht, während sie ihren Rucksack abstellte und neben ihm in die Hocke ging. 
„Wie ist das passiert?“, fragte sie und deutete auf seinen Rücken. „Das sieht übel aus, Adam. Sehr sehr übel.“

Unwohl verschränkte Leo die Arme, während Schürk keinen Ton hervorbrachte. Sein Kiefer arbeitete und er öffnete mehrmals seine Lippen, um sie danach wieder eisern zu verschließen. Caro saß das aus, vermutlich schlimmeres von ihren Patientinnen und Patienten gewohnt. Oder gerade das. Manche Kinder, von denen sie erzählte, zeigten eine ähnliche Verweigerung wie Schürk jetzt. Wollten nicht sagen, wer ihnen wehgetan hatte, weil das noch eine ganz eigene Art von Schmerz war. 

„Dein Bruder war zu motiviert beim BDSM-Sex“, erwiderte der blonde Mann schließlich und Leo wie auch Caro pressten unisono ein ungläubiges „Was?!“ hervor. 

Leo erwiderte Caros fassungslosen und anklagenden Blick mit einer von Sekunde zu Sekunde größer werdenden Panik und grollte in Richtung Schürk. Er ballte die Hände zu Fäusten. 

„Das ist nicht wahr! Sag ihr die Wahrheit, du Arschloch!“, zischte er gleichermaßen entsetzt wie böse und Schürk lächelte müde. Die Sekunden, die vergingen, bis er seine verfluchte Lüge auflöste, waren mit Sicherheit die längsten in Leos Leben.
„War er nicht, stimmt. Aber ich sag nicht, wer es war. Das ist nicht wichtig. Kannst du was dagegen machen? Ich gehe nicht ins Krankenhaus.“

Caro seufzte und deutete auf das Laken. „Darf ich es wegnehmen?“, fragte sie anstatt einer Antwort und Schürk stimmte mit zusammengebissenen Zähnen zu. Mit zugeschnürter Kehle beobachtete Leo, wie seine Schwester das Tuch anhob und Schürks leicht gespreizte Beine einen schonungslosen und schlimmen Blick auf die brutale Gewalt erlaubten. 

„Mit was wurden dir diese Verletzungen zugefügt?“, fragte Caro und packte bereits den Inhalt ihres Rucksacks aus. Nahtlos akzeptierte sie Schürks Worte, doch ihr vielsagender, ernster Blick in Richtung Leo sagte ihm, dass es noch lange nicht vorbei war. Dass sie Antworten von ihm wollte. 
„Ein Gürtel mit Schnalle, sieben Zentimeter breit, Echtleder, nicht gefettet.“

Übelkeit zog Leos Magen zusammen und er schluckte mühevoll. Die Art, wie Schürk das sagte deutete darauf hin, dass sein Vater ein pervertiertes Strafsystem hatte, mit dem er nur zu gut vertraut war. Leo dachte erneut an den See und die alten Narben. Er dachte an Schürks Worte zu seinem Vater. 
Er dachte nicht zuletzt an Tangermann, der ausgesagt hatte. Das hier war die Rache und wenn der Mann sich schon auf diese Art und Weise an seinem Sohn vergriff, was würde er dann erst mit Leos Familie und ihm selbst anstellen? 

Nichts von dem, was Schürk jemals gesagt hatte, war untertrieben gewesen. Gar nichts. 

Caro lächelte sanft. „Danke für die Information, Adam. Ich schaue mir jetzt die Verletzungen genauer an. Soll Leo hierbleiben oder den Raum verlassen?“
Schürk lächelte wissend und Leo starrte ihm missmutig in die Augen. Natürlich würde er hierbleiben und sich die Behandlung ansehen müssen. War nicht er mit seinen Ermittlungen dafür verantwortlich, dass es Schürk passiert war? Wäre es da nicht sogar seine Pflicht hierzubleiben?
 
Nein, war es nicht. Er war nicht Schuld an dem, was Schürk passiert war. Schuld war einzig und allein Schürks Vater. 
Schürk würde mitnichten Caro angehen, das wusste er mittlerweile. Das Einzige, was passieren könnte, wäre vermutlich, dass er ihr oder sie ihm wieder den Floh einer vermeintlichen, nichtexistenten Beziehung ins Ohr setzte.  

„Wie er es möchte“, sagte Schürk in genau die Gedanken hinein und Leo sah überrascht auf.  
„Ich gehe raus“, erwiderte er, bevor noch irgendjemand auf den Gedanken kommen würde, dass er doch hierzubleiben hatte. „Ich warte im Wohnzimmer. Aber wehe, du erzählst weiterhin Mist!“, schickte er noch als Warnung hinterher und Schürk grinste schwach.  
„Ist er nicht fürsorglich?“, fragte er an Caro gewandt, die Leo schon wieder kritisch musterte. 
„Du kommst schon klar“, grimmte Leo und nun war es Caro, die grollte. 
„Leo! Was soll das denn? Das ist nicht nett“, tadelte sie und Leo verließ kommentarlos sein Schlafzimmer. 

Nicht nett. Er. Ja, das war er nicht, aus…gutem Grund, wollte Leo sich selbst sagen, doch die stummen Worte blieben ihm im Hals stecken. Er war kein Machtmensch. Schürk war verwundet und hatte Schmerzen. Wer war er, dass er das ausnutzte? Auch Schürk verdiente eine sinngerechte Versorgung und nachdem, was sein Vater mit ihm gemacht hatte, verdiente er auch mehr. 

Über sich selbst grollend setzte Leo sich auf den Balkon und fror in der doch recht kühlen Abendluft, vor seinen Augen die unzähligen Verletzungen auf dem schmalen Körper. Schürk wurde regelmäßig misshandelt, war es da ein Wunder, dass er einen gewissen Grad der Gewalt weitergab? 

Sobald der Gedanke aufkam, stürzte sich Leos Ermittlergeist auf die Auswirkungen dessen. Das, was Schürk ihm angetan hatte über die letzten Monate, war das ein Produkt seiner Erziehung gewesen? Kannte er nur die Welt aus Gewalt und Unterdrückung und hatte mit seinen Mitteln gegen das Regime seines Vaters angekämpft? Leo wie auch die SoKo hatten recherchiert und festgestellt, dass die Todesfälle innerhalb der Polizei tatsächlich gegeben hatte. Nichts war dem Syndikat nachzuweisen, bis auf Schürks Aussage, dass es tatsächlich Morde gewesen waren und dass er weitere Morde verhindern wollte.  Also hatte es erst mit Schürk Junior und seinem System aus Bestechungen und Bedrohungen einen Wechsel gegeben. 

Der gute Verbrecher. Ein Unding. Vor mehr als einem Jahr eine Unmöglichkeit. Nun? Eine Wahrscheinlichkeit, die sich mit seinem Mitleid für Schürk zu einer unguten Mischung des Verständnisses zusammenbraute. 

Wenn Schürk sein unausstehliches Selbst sein würde, wäre es einfacher für Leo, das Verständnis beiseite zu schieben. So? 

Unwirsch fuhr sich Leo über sein Gesicht und erkannte, dass es den alten Schürk vermutlich nicht mehr geben würde. Ein Fluch und Segen zugleich. 


~~**~~


In ihrem Job war zartbesaitet sein ein Fluch, hatte Caro schon gleich zu Beginn ihres Studiums festgestellt. Die Dozenten und Professoren an der Uni waren schlimm gewesen, nicht jedoch so schlimm wie die Oberärzte und Stationsärzte in den Krankenhäusern. Die wiederum waren nicht so schlimm gewesen wie das erste, misshandelte Kind, dem sie nicht hatte helfen können, weil ihr System manchmal rundheraus versagte. 

Caro hatte gelernt, ihren Job zu lieben und sie war auch der Meinung, dass sie das Richtige tat, Tag für Tag. Es bedeutete nicht, dass ihr Job sie nicht mitnahm und mühelos erkannte sie, dass heute einer dieser Tage war. 

Der beinahe schon panische Anruf ihres sonst so beherrschten kleinen Bruders hatte etwas eingeläutet, von dem Caro sich nicht sicher war, was sie daraus machen sollte. Wie Leo auch immer den Mann nennen mochte, der nackt auf seinem Bett lag und sich größte Mühe gab, sich seine unmenschlichen Schmerzen nicht anmerken zu lassen, Caro war davon überzeugt, dass ihr Bruder mehr für diesen Mann empfand. 

Dafür war einfach das, was zwischen den Beiden hin und herzischte, einfach zu weit ab von einem gewöhnlichen Umgang miteinander. 

Sie hatte es angesprochen – subtil und weniger subtil – doch noch kam da nur eine Verneinung. Und das, obwohl Leos Augen groß waren vor Sorge und er so nervös war, wie sie ihm schon lange nicht mehr erlebt hatte. Caro vermutete, dass es darauf beruhte, dass er eigentlich keine Männer in seiner Wohnung haben wollte, schon gar nicht im Bett. Mit Adam hatte er gerade beides und für ihren immer auf seine Privatsphäre bedachten Bruder war das ein großer Schritt. 

Mit einem letzten Blick auf Adam, der erschöpft von den Schmerzen und ihrer Wundversorgung die Augen geschlossen hatte, erhob sie sich und verließ leise den Raum. Sie hatten kaum gesprochen währenddessen und Caro hatte sich Adams Wunsch gebeugt und sich strikt an medizinische Themen gehalten. Wie er sich bewegen konnte, was er am Besten essen und trinken konnte – all das. Er hatte es mit müder Resignation zur Kenntnis genommen und gleichwohl mit den Narben deutete es darauf hin, dass es nicht zum ersten Mal geschah. 

Die Frage war, warum. 

Caro lehnte die Schlafzimmertür an und warf die ausgezogenen, blutigen Latexhandschuhe in den Müll. Sie trat zu Leo hinaus auf den Balkon und strich ihm über die angespannte Schulter.  

„Ich habe seine Wunden versorgt und ihm Schmerzmittel gegeben. Er wird heute am Besten liegen bleiben und ob er morgen mehr tun wird als zum Klo zu gehen, steht in den Sternen“, sagte sie in ihrem Ärztinnenton und Leo blickte auf den begrünten Innenhof. Sein Kiefer malte und Caro seufzte. Sacht strich sie ihrem Bruder über die angespannte Schulter und legte ihren Arm um ihn. 

„Leo, es ist fürchterlich, was ihm passiert ist. Aber ich habe ihn versorgt und er schwebt nicht in akuter Lebensgefahr, auch wenn seine Wunden ernst sind. Er kann bei dir bleiben, wenn es das ist, was er will.“

Leo schwieg und die von ihr erhoffte Erleichterung trat nicht ein.   

„Leo, sprich mit mir. Das sind deutliche Misshandlungsspuren, darunter liegen Narben, die vielleicht schon Jahre alt sind. Wer war das? Warum soll er nicht in ein Krankenhaus?“ 

Der große Schwester-Ton, den sie bei ihm anschlug, wirkte meistens, doch jetzt presste er nur noch umso fester die Lippen aufeinander. 

„Er will nicht, dass jemand es weiß“, quetschte er schlussendlich dazwischen hervor und Caro schnaubte. 
„Im Krankenhaus hätten wir die Polizei geholt.“
„Vermutlich genau deswegen. Aber dafür bin ich ja da“, erwiderte er mit einem Hauch an Zynismus und sie seufzte. 
„Du bist beim Mord. Körperverletzung liegt nicht in deiner Zuständigkeit.“
„Sag ihm das…für ihn bin ich sein hauseigener Polizist“, betonte Leo mit Gänsefüßchen. „…der anscheinend alles kann.“
„Aber du bist selbst betroffen, ich sehe doch, wie es dich mitnimmt.“

Leo sah zu ihr hoch. „Tut es das?“, fragte er störrisch und sie schenkte ihm einen Blick, der ganz klar sagte, dass er sie nicht verarschen sollte. 
„Du hast ein Herz für große, schlaksige, ängstliche Wesen.“
„Herbert ist etwas Anderes! Herbert ist…ein Hund“, schloss er lahm, sekündlich unter ihrem Blick zusammenschrumpfend. Caro brummte. 
„Wusstest du davon, dass ihm das passiert?“, fragte sie schließlich kritisch.
Leo verzog das Gesicht. „Ja und nein. Nicht in dem Ausmaß.“

Caros Mimik wurde weicher. So vieles fiel an seinen Platz, seine Reaktionen auf Adam und sein Unwillen, über den anderen Mann zu sprechen. Wahrscheinlich liebte Leo ihn und konnte nur schwer ertragen, was seinem Partner passierte. Das war verständlich. 

Eng zog sie ihn an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Oh Brüderchen, das tut mir so leid für euch beide.“
Leo schmiegte sich in ihre Umarmung. „Danke, dass du geholfen hast“, erwiderte er leise und sie seufzte. 
„Ist doch klar. Ich komme morgen vor meiner Spätschicht wieder. Viele seiner Verletzungen müssen öfter kontrolliert werden. Ich möchte ausschließen, dass sie sich doch noch entzünden.“

„Wie lange wird er sich denn nicht bewegen können?“, fragte Leo zögernd und Caro presste nachdenklich Luft zwischen ihren Lippen hinaus. 
„Er sollte sich mindestens drei Tage schonen. Er braucht Unterstützung beim Waschen und vermutlich wird er auch Hilfe beim Aufstehen und Gehen brauchen. So hast du dir eure Beziehung sicherlich nicht vorgestellt, oder?“, fragte sie sanft und ihr Bruder blinzelte. 

Einmal. Zweimal. Öfter.

Dann weiteten sich entsetzt seine Augen und er fuhr vor dieser beinahe schon schmerzenden Annahme körperlich zurück. 
„Wir…nein, Caro! Nein! Wir haben keine Beziehung! Egal, was er dir erzählt hat, das stimmt nicht! Wir sind nicht zusammen.“ 
Caro lauschte, wie er panisch jeden Verdacht dementierte, dass er etwas mit Adam laufen hatte. Caro lächelte nachsichtig. Da war sie wieder, die Verneinung. Das nicht wahrhaben wollen. Wegen Matthias, wegen allem, was in seiner Vergangenheit passiert war.

Sie hauchte Leo einen Kuss auf die Wange.  
„Adam hat nichts gesagt, keine Sorge. Aber alleine, dass ich ihn nun schon zum zweiten Mal in deiner hochheiligen Wohnung sehe und er in deinem Bett liegt, legt den Verdacht nahe, dass da mehr ist.“
„Nein.“
„Er gehört in dein Beuteschema.“
„Nein!“
„Leo…“
„Caro, wirklich nicht! Bitte.“

Sie lenkte ein, doch sie ließ Leo sehr deutlich sehen, dass sie ihm kein einziges Wort glaubte und dass sie Fragen haben würde, die er ihr irgendwann einmal beantworten würde.  

„Ich bin morgen wieder da und nun geh und kümmere dich um ihn. Er kann deine Unterstützung gut brauchen. Er versucht es zu verstecken, aber es geht ihm ganz und gar nicht gut, auch mental nicht. Und mach ihm was zu essen, wenn er will. Sein Magen knurrt.“
Wie wenig ihm das passte, sah sie an seiner gekräuselten Nase und an dem unerfreuten Zug um die Mundwinkel. 
„Du schaffst das schon, Leo“, beruhigte sie ihn und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. „Und wenigstens muss ich ihm jetzt nicht mehr seinen Autoschlüssel klauen, um ihn zu dir zu locken.“
Caro!
„Bis morgen!“

Riefs und flüchtete durch die Haustür.


~~**~~ 


So wenig, wie Leo wollte, dass Caro in Schürks Nähe war und in den Fokus des Syndikats geriet, so nervös war er nun, als seine ältere Schwester ihn wieder mit dem Mann auf seinem Bett alleine ließ. Den er vermutlich das Wochenende nicht loswurde. 

Leo ging unruhig in seine Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Er hatte heute Nachmittag das letzte Mal etwas getrunken und entsprechend durstig war er nun auch, als vermeintliche Ruhe einkehrte. Es kribbelte in seinem Nacken, während er trank und der Gedanke an Schürk in seinem Schlafzimmer war so präsent, dass er schlussendlich unwohl das Glas absetzte und anstelle dessen eine Karaffe mit Wasser befüllte. Er nahm ein sauberes Glas aus dem Schrank und stellte sich dem Mann in seinem Schlafzimmer, der immer noch auf dem Bauch lag und dessen Rücken nunmehr ein versorgtes Schlachtfeld war. 

Das machte es nicht besser, im Gegenteil. 

Caro hatte alles ab Schürks unterem Rücken wieder mit dem Laken bedeckt, der Rest lag aber frei. Schürk hatte die blauen Augen geschlossen und öffnete sie erst abrupt, als Leo die Karaffe auf dem Nachttisch abstellte. 

„Willst du Wasser?“, fragte Leo rau und kam sich komisch vor in der Rolle des Kümmernden. Ihre Aufgabenverteilung war bisher immer eine andere gewesen, von Gleichwertigkeit insbesondere in den ersten Monaten keine Spur. Erst nach seinem ernsten, ehrlichen Gespräch mit Schürk hatte er die Waagschale zu seinen Gunsten verändert. Und nun hatte er vermeintlich die Macht in der Hand, mit Schürk verletzt und kaum wehrhaft. 

Dennoch half ihm das in diesem Moment so gar nicht, weil hier einen Mann vor sich hatte, der ebenso Opfer des Syndikats war und nicht Täter, deutlich gezeichnet durch Erschöpfung und Menschlichkeit. Es stellte Leos Denken und Misstrauen Schürk gegenüber gehörig auf den Kopf, wenn er es sich ehrlich eingestand. 

Schürk nickte und versuchte, sich Leo zuzudrehen, seinen Brustkorb zumindest soweit anzuheben, dass er das Glas Wasser halten konnte. Es war eine Fehlannahme, wie sie beide entdeckten, als Schürks schlotternden Hände nicht imstande dazu waren, es zu halten und Leo es für ihn an die trockenen, rissigen Lippen führen musste. Mühevoll schluckte Schürk und als Leo das Glas absetzte, schloss er erschöpft die Augen. 

Leo stellte das Glas auf seinen Nachttisch und ließ sich auf dem Sessel neben seinem Bett nieder, den er normalerweise als externes Kleidungslager missbrauchte. Warum er hierblieb, wusste er nicht. Warum er eine Unterhaltung mit Schürk wollte, ebenso wenig. 

„Caro sagt, dass du dich die nächsten Tage vermutlich nicht bewegen können wirst“, merkte Leo an und Schürk stieß frustriert Luft aus.
„Na wunderbar.“
„Macht er das öfter mit dir?“
„Wer?“
„Du weißt, wen ich meine.“
„Nein, keine Ahnung.“
Schürk.
„Hölzer?“
 
Unwillig starrte Leo seinem Gast ins Gesicht, zynisch starrte dieser zurück. 

„Hat dein Vater dich im letzten Jahr schonmal so stark wie jetzt verprügelt?“, präzisierte Leo seine Frage und stieß auf eine Mauer des Schweigens. Schürk starrte durch ihn hindurch und ignorierte ihn rundheraus, verweigerte ihm jegliche Antwort auf seine Frage. Leo schnaubte, als er an der immer unangenehmer werdenden Stille erkannte, dass er keine Antwort mehr erhalten würde. 

Gut genug, damit Schürk seinen Kopf auf seinen Oberschenkel legen konnte, war er. Aber nicht gut genug, um eine ehrliche Antwort zu erhalten. Leo erhob sich, kopfschüttelnd über seinen Versuch, irgendein geartetes Interesse oder ungewohntes Mitleid zu zeigen, das ihm mit einem Mal mehr als unangenehm peinlich war. 

Die Hand, die vorschoss und ihn zitternd festhielt, überraschte Leo daher umso mehr. 

„Nein. Bleib.“
Leo starrte auf Schürk hinunter, auf dessen kühle Worte, die zwischen Befehl und Bitte hin und herschwankten. Als nichts weiter folgte, setzte er sich wieder auf den Sessel, sein Handgelenk im klammen Griff des blonden Mannes, der blicklos durch ihn hindurchstarrte. 

„Die Antwort darauf spielt keine Rolle“, sagte Schürk, als Leo schon lange nicht mehr damit rechnete und sein Handgelenk absonderlich unter der Berührung kribbelte. 
„Tut sie das nicht? Oder hat die Antwort darauf deine Vergangenheit, deine Gegenwart und dein Handeln mir gegenüber bestimmt?“
Schürk runzelte die Stirn und musterte ihn. „Ich habe dich nicht so geschlagen“, hielt er dagegen, als hätte Leo das gemeint. 
„Nein. Aber du hast mich geschlagen und mich gewürgt. Du erpresst mich, du hast mich wortwörtlich und im übertragenen Sinn auf die Knie gezwungen. Du zwingst mich zu Dingen, die ich nicht möchte. Hat er das auch mit dir gemacht und hast du es deswegen als einen guten Weg erachtet, das auch bei mir anzuwenden?“

Da waren sie heraus, die Worte, die Leo auf der Zunge lagen. Die Frage nach dem Warum. Ob er eine Antwort darauf bekommen würde, wusste er nicht. Wie es momentan aussah, würde dies nicht der Fall sein, denn Schürk verfiel wieder in sein arrogantes Lächeln. Der Teufel kam zurück und Leo stählte sich für das, was nun kommen würde. Doch wo er verletzende Worte erwartete, wurde er mit einem tiefen Seufzen belohnt, das den Teufel wieder zurückschickte, wo er hergekommen war. 
 
„Tut mir leid für dich, keine schlimme Kindheit, die Grundlage für mein fürchterliches Handeln ist. Kommt alles aus mir selbst“, schmunzelte er zynisch.
Leo schnaubt. „Wenn du schon lügst, dann mach es unauffälliger“, hielt er dagegen und beugte sich vor. Überraschung kroch über Schürks Gesicht und seine Finger um Leos Handgelenk versteiften sich. 
„Der kluge Herr Hölzer. Schon wieder so ein gutes Buch.“
„War es deine intrinsische Motivation, mich zu demütigen und mir seelische und körperliche Gewalt anzutun?“, nutzte Leo die Redebereitschaft des anderen Mannes und Schürk sah hoch. Aufmerksam hielt er seinen Blick. 
„Es war das, was nötig war.“

Das war eine non-Antwort, wie sie im Buche stand und Leo schnaubte. Ross hatte ihm etwas Ähnliches gesagt und es erinnerte ihn wieder daran, was er für eine lange Zeit gewesen war. Es rief ihm vor Augen, was für ein Mensch Schürk eigentlich sein musste, dass er bereit war, anderen Menschen so etwas anzutun. 

Leo schüttelte den Kopf und wollte sich losmachen, doch Schürk hielt ihn, plötzlich stark und stur. 

„Lass mich los.“
„Nein. Bleib.“
„Lass mich los.“
„Nein.“

Leo ruckte an seinem Handgelenk. „Lass mich los, Schürk“, presste er hervor, doch der andere Mann verneinte nonverbal stur. 

„Vincent bleibt auch immer bei mir“, entgegnete er stur und im ersten Moment war Leo versucht, ihm zu sagen, dass Ross aber nicht hier war. Im zweiten sickerte ein, was genau Schürk gerade gesagt hatte. 
Dass er ihn mit Vincent auf eine Stufe stellte. Der immer bei ihm blieb. Hiernach? Nach der Gewalt durch seinen Vater.

Leo atmete aus und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. „Hast du Ross auch Gewalt angetan, weil es nötig war?“, fragte er in aller bitteren Ehrlichkeit und Schürk verneinte das nonverbal. „Hast du Ross auch gezwungen, dir Informationen zu liefern? Hast du dich über seinen Willen hinweggesetzt und ihn nicht besser behandelt als ein Objekt, mit dem du umspringst, wie du möchtest?“

Die Finger um sein Handgelenk lösten sich und Leo riss sich los, trat erleichtert einen Schritt zurück.

„Ich mach das nicht mehr“, sagte Schürk leise und dem konnte Leo nur mit einem verdächtigen Ziehen in seiner Magengegend beipflichten. Das war eins der Dinge, die sich wirklich geändert hatten. Dennoch hatte Schürk es getan, im vollen Bewusstsein und mit der vollen Absicht, Leo soviel Angst zu machen, dass er gehorchte und sein eigenes Leben aufgab. 

„Es mag sein, dass Ross auch immer geblieben ist. Aber ich bin nicht Ross. Ross ist für dich jemand, den du immer als gleichwertig angesehen hast. Auf den du hörst, wenn es dir passt. Ich bin nur ein Objekt oder ein Lustobjekt, je nachdem.“

Kopfschüttelnd drehte Leo sich um und verließ sein Schlafzimmer. Gerade jetzt war die Gegenwart des anderen Mannes unerträglich und er hielt es nicht mehr mit seinen eigenen, im Raum schwebenden Vorwürfen aus. Dass er es ebenso wenig aushielt, sich der jetzigen Realität zu stellen, die einen so großen Unterschied zu ihrer Vergangenheit abbildete, stand dabei auf einem anderen Blatt. 

Schürk war anders als vorher und er hatte jeden von Leos Versuchen, misstrauisch zu sein, durch seine Handlungen konterkariert. Leo sah das, er erkannte den Fortschritt, doch das, was er dadurch fühlte, war so widerstreitend, so unmöglich, dass er nicht wusste, wie er damit umgehen konnte. 

Unruhig tigerte er in seiner Wohnung auf und ab, immer mit dem Stachel Schürk in seinem Fleisch. Er ging in die Küche und spülte das spärliche Geschirr, das er auf der Anrichte stehen hatte, per Hand anstelle es in die Spülmaschine zu räumen. Er sortierte seine Gewürze und ging im Anschluss wieder zurück ins Wohnzimmer, was sich deutlich näher an seinem Schlafzimmer befand als die Küche. Immer im Bewusstsein, dass der verwundete Mann auf seinem Bett Hunger hatte und er sich um das Problem auch noch kümmern musste. 

So wie Ross. Der auch immer blieb. War er das? Plötzlich gleichwertig?

Leo mied den Blick auf die offene Tür, hinter der Schürk lag. Ein Mann. Auf seinem Bett. Der Erste dort und ausgerechnet war er es. Auch das war kein Gedankengang, dem er weiter folgen sollte. 
Leo rieb sich unwohl über seine Arme und blieb vor seinem Bücherregal stehen, das ihn auch nur unnötig an Schürk erinnerte und dessen Harry Potter Buch. 

Abrupt wurde Leo etwas bewusst und seine Füße trugen ihn schneller, als er wirklich darüber nachdenken konnte, in Richtung Schlafzimmer. Als er um die Ecke bog, musterten ihn bereits Schürks Augen, als hätte dieser nur darauf gewartet, dass jemand im Eingang erschien. Jemand…Leo. Es war ja niemand anderes hier. 

 „Der misshandelte Junge aus dem Buch – Harry. Das bist du. Eingesperrt in einem Schrank unter der Treppe, misshandelt durch Familienmitglieder. Das ist dir passiert“, sagte er und die Worte klangen in seinen Gedanken so schrecklich wie sie ausgesprochen klangen. Er klang wütend und vorwurfsvoll, obwohl Schürk kein Vorwurf zu machen war. Es war eine Feststellung, die nach ihrer Wanderung zum See und nach Schürks Zusammenstoß mit seinem Vater eigentlich obsolet war, aber sie auszusprechen, machte sie wahr. Sie auszusprechen zeigte Leo, wie falsch er damals gelegen hatte und wie sehr Schürk damals schon wollte, dass Leo einen Eindruck seines Lebens gewann.

Alles, was der jetzige Schürk tat, war müde zu lächeln und bestätigte ihm damit mehr, als Leo es jemals für möglich gehalten hatte. Das markante Gesicht des Mannes veränderte sich, wurde älter, aber auch weicher. Es brachte Leo absurderweise zur Ruhe, ließ ihn in sich zusammenfallen und zurück auf den Sessel, seine Hände dieses Mal sorgsam bei sich. Er musterte seinen liegenden Gast und Schürk erwiderte das Starren mit seiner intensiven Leichtigkeit. 

„Das freut dich“, sagte er und Leo schüttelte den Kopf. Er musste keine Sekunde lang überlegen dafür. Nein, das tat es nicht. 
„Es ist Körperverletzung.“
„Das sagtest du bereits.“
„Das macht es nicht unwahrer.“
„Und genauso unabänderlicher.“
Leo schnaubte. „Schwachsinn. Du bist ein erwachsener Mann und kannst nicht gehen? Kannst dich nicht gegen ihn wehren? Ihn nicht anzeigen oder dich der Polizei offenbaren? Hast du dir so ein bequemes Nest gebaut, dass du es nicht verlassen willst?“
„Hast du’s denn?“

Schürks Frage erwischte ihn kalt, das musste Leo zugeben. „Was meinst du?“, fragte er stirnrunzend und Schürk seufzte. 
„Kannst du gehen? Dich gegen mich wehren? Kannst du mich deinen Kollegen ausliefern?“, fragte er, ähnlich ihrem Gespräch am See und Leo knirschte mit den Zähnen um die Wahrheit zu überdecken. Ja, das konnte er und das tat er, jede Woche wieder. Aber das war nichts, was Schürk erfahren durfte – noch nicht. 

„Ich könnte, wenn ich bereit wäre, die Konsequenzen zu tragen“, erwiderte er mit Magenschmerzen bei dem bloßen Gedanken an die vollständigen Auswirkungen und Schürk nickte unmerklich. 
„Und die wären zu schlimm, also tust du es nicht. Das hier…ist nicht so schlimm wie die Alternativen. Also ja, es ist deine hochheilige Körperverletzung. Und ja, er wird so weitermachen.“
„Und was, wenn er dich totschlägt? Das da“, Leo deutete auf Schürks Rücken, „ist doch nur die Vorstufe. Er wird nicht aufhören.“
Schürk wollte mit den nackten Schultern zucken, hielt aber inne, bevor er die Bewegung ausführen konnte.
„Trauerst du dann um mich? Legst du Blumen auf meinem Grab nieder wie bei Matthias?“

Kaum hatte Schürk die bissigen Worte ausgesprochen, war Leo aufgestanden. Ehe er es sich versah, starrte er auf Schürk herunter, dessen dunkles, herausforderndes Lächeln nichts weiter als ekelhafte Provokation war. Wut schäumte in Leo und er unterdrückte sie mit eiserner Disziplin. Er brauchte etwas, doch dann zwang er sich zur Ruhe. Wie so oft in letzter Zeit. Gesund war das nicht, das wusste er. 

„Warum sagst du das?“, fragte er so neutral, wie er konnte. „Du weißt, dass mir Matthias viel bedeutet hat. Du erpresst mich mit dem, was ich für ihn getan habe. Er wurde, genau wie du, von seinem Vater geschlagen. Wieso also sagst du das?“, fragte er ruhiger als er sich wirklich fühlte und es brachte Schürk aus dem Konzept, der ihn wortlos anstarrte, anscheinend nicht in der Lage, seine zurechtgelegte Provokation weiterhin fortzuführen. Seine Lippen öffneten sich, schlossen sich wieder. Öffneten sich erneut und Schürk verzog vor Schmerzen das Gesicht. 

„Dann schlägt er mich halt tot und du kannst froh sein“, wich dieser mit einer Resignation in der Stimme aus, die Leo schlucken ließ. Das war keine Antwort auf seine Frage und Leo ahnte, dass Schürk auswich, weil er tatsächlich keine hatte. Weil er nicht wusste, was er auf Leos Vorwürfe erwidern sollte. Da stürzte er sich lieber in eine destruktive Plattitüde, so es denn eine war. Was Leo zu der Frage brachte, wieso man so etwas sagte? 

Wieso zur Hölle wehrte Schürk sich nicht gegen seinen Vater?

„Es gibt Programme, die Aussteigern helfen“, merkte Leo an, ruhig und verbindlich. „Es gibt eine Kronzeugenregelung. Es gibt das Zeugenschutzprogramm.“
„Und da dachte ich, du würdest dich um mich kümmern, mich pflegen, mir Essen und Getränke ans Bett bringen“, wechselte Schürk erneut sprunghaft und lapidar das Thema. Irritiert runzelte Leo die Stirn. 
„Im Aussteigerprogramm?“
„Nein, hier.“
„Hast du dich nur deswegen hierher verfrachten lassen?“
„Soweit ich mich erinnern kann, hast du mich mitgenommen. Ich habe gesagt, dass du mich dalassen sollst.“
„Klar. Damit ich dann auch noch unterlassene Hilfeleistung auf meinem Straftatenkonto habe.“ Leo schnaubte. 
„Nur deswegen?“
„Sicherlich nicht, weil ich deinen nackten Arsch in meinem Bett haben möchte.“

Anstelle einer bissigen Antwort verstummte Schürk und über sein Gesicht huschte ein Schatten, den Leo nicht ganz identifizieren konnte. Bevor er sich darüber im Klaren war, was es war, machte Schürk schon Anstalten, sich zu erheben.
„Was tust du da?“, fragte Leo eingedenk von Caros warnenden Worten alarmiert und Schürk rollte mit den Augen. 
„Wonach sieht es aus? Ich gehe.“

Das war der Schatten, den er gesehen hatte, befand Leo. Die Erkenntnis des Unerwünschtseins. Doch er würde den Teufel tun und das zulassen. Caro würde ihm die Hölle heiß machen, wenn sie das mitbekam. Einen verletzten Mann einfach vor die Tür zu setzen…

Instinktiv stand er auf und griff zu Schürk, presste ihn zurück auf die Matratze, an dem einzigen unversehrten Flecken Körper, den er auf die Schnelle zu fassen bekam. 

Dem Hinterkopf.

Mit einem gedämpften „Umpf.“ traf der blonde Mann wieder auf die unter ihm ausgebreiteten Handtücher, während Leo wie verbrannt seine Haut losließ und einen Schritt zurück trat. 

„Na sowas, da steckt ja ein richtiger Dom in dir, Hölzer“, grollte Schürk, wenig erfreut über die rüde Behandlung und Leo schluckte. 
„Du sollst liegen bleiben.“
„Ich dachte, ich soll gehen.“
„Wenn du gehen kannst. So wie du aussiehst, klappst du im Flur zusammen. Die Nachbarn werden den Notarzt rufen und dann wird die Polizei Fragen stellen. Habe ich Bock auf diese Fragen? Nein. Also muss ich die Kröte wohl schlucken.“ 

„Du könntest anstelle dessen was Anderes schlucken“, schlug Schürk so beißend und hilfreich wie nichts vor und Leo bereute schon jetzt seine Entscheidung, den anderen Mann hier zu lassen. Sehr. Vielleicht sollte er doch den Notarzt in Kauf nehmen und behaupten, dass er nicht wüsste, aus welcher Wohnung der Mann käme, der nackt und blutend im Treppenhaus läge.

„Mit Sicherheit nicht.“
„Schlucken generell nicht?“
Wieso kamen sie jetzt ausgerechnet auf das Thema? „Das geht dich nichts an.“
„Aber es interessiert mich.“
„Mich interessiert auch so viel.“
„Dann frag doch.“
„Was willst du daraus machen? Ein Ratespiel?“, hakte Leo misstrauisch nach und Schürk lächelte schwach. 
„Eigentlich genieße ich gerade nur deine Gesellschaft und Ablenkung.“

Ob das ein krudes Lob oder bittere Ironie war, wusste Leo nicht. Entsprechend verwirrt suchte er nach Hinweisen auf Schürks kalkweißem Gesicht, das von Erschöpfung zeugte. Seine Augenringe waren tief und die bleichen Wangen eingefallen. Dennoch strengte sich der andere Mann an, wach zu bleiben und Leo fragte sich warum. 

„Wie wäre es, wenn du jetzt einfach den Mund hältst und schläfst?“, rettete er sich nun seinerseits in eine Ablenkung.
„Würde ich ja.“
„Aber?“
„Du bist da und redest.“

Leo atmete tief ein, in der erfolglosen Suche nach etwas mehr Gelassenheit. Das war das komplette Gegenteil von dem, was Schürk vor ein paar Sekunden gesagt hatte. Wieso…? Er schnaufte. Er war sowieso schon angespannt und Schürks Versuche seltsamer Unterhaltungen machten es nicht besser. Dessen Anmerkung, dass er sich gerne mit ihm unterhielt, dass er ihn aber vom Schlafen abhielt, ebenso wenig. So ein Mistkerl. Erst sollte er bleiben, dann war es nicht recht, wenn er in seinem eigenen Schlafzimmer stand. Besser, er verließ den Raum. 

„Dann schlaf auch“, grollte Leo und verließ den Raum, nur um nicht einmal eine Minute später noch einmal hineinzukommen, weil er die Decke und das Kissen vergessen hatte. Ohne Schürk den geringsten Funken an Aufmerksamkeit zu schenken, trug er beides hinaus, bis ihn die hoffnungsvolle Stimme des blonden Mannes zurückhielt. 
„Hast du Schokolade da?“
Leo hielt inne. Wollte Schürk nicht eigentlich schlafen? Oder war das Thema bereits wieder vom Tisch?  „Schokolade?“ 
„Ich habe Hunger.“
Es erinnerte ihn an Caros Worte. Schürks Magengrummeln. Es war gut, wenn Schürk zu Kräften kam. Dann war er schneller wieder auf den Beinen und in seiner eigenen Wohnung. „Ich denke, du wolltest schlafen.“
„Ja, aber vorher will ich Schokolade.“

Leo atmete tief durch. 

Schürk zuckte mit den Schultern und Leo ging in Gedanken seine Vorräte durch. Er hatte in der letzten Zeit wenig gegessen, also sollte noch etwas von Weihnachten übrig sein. Zumal nur Schokolade nicht reichen würde, wenn Schürk wirklich Hunger hatte. Er hatte noch tiefgefrorene Hühnersuppe im Tiefkühler. 

Wortlos drehte Leo sich um und warf seine momentane Last auf die Couch. Er ging in die Küche und nahm um elf Uhr abends die Hühnersuppe aus der Tiefkühltruhe, um sie in der Mikrowelle aufzutauen. Das machte er nur, wenn er von seinen eigenen Stelldichein aus dem Wald zurückkam und noch Hunger hatte. Sonst… 
Das durchdringende Ping seiner Mikrowelle jagte Leo aus seinen trüben Gedanken und er zuckte zusammen. Mit spitzen Fingern füllte er die Suppe in eine Schüssel um und nahm sich einen Löffel. Zusätzlich legte er noch eine Packung Choco Crossies auf das Tablett  - mit Sicherheit würde sich Schürk über den Werbeslogan der alternativen Duplos lustig machen und nein, Leo hatte kein Bedarf, Schürk die längste Praline der Welt zu geben - und trug beides ins Schlafzimmer. 

Schürk beobachtete immer noch den Eingang und als er sah, was Leo ihm ans Bett stellte, wurden seine Augen groß vor Überraschung. Stumm starrte er Leo an und dieser wand sich unwohl unter dem intensiven Blick.  

„Hühnersuppe?“, fragte Schürk gedehnt. 
„Du musst zu Kräften kommen“, rechtfertigte Leo sich beinahe schon defensiv und ignorierte rundheraus das zufrieden werdende Lächeln des anderen Mannes. 
„Fütterst du mich?“
Hättest du wohl gerne, dachte Leo sich im ersten Moment. Im Zweiten begriff er aber, dass er keine andere Wahl hatte. Schürk hatte noch nicht einmal das Wasserglas halten können. Wie sollte er dann eigenständig Suppe essen? 

„Ich nehme an, du kannst dich nicht aufsetzen?“, fragte er und Schürk drehte sich soweit auf die Seite, wie es sein Körper zuließ. Es kostete ihn Kraft und Leo sah den exakten Punkt, wo es nicht mehr weiterging. 

Nein, das würde nicht gut gehen, wenn Schürk es selbst tat, ganz und gar nicht. Innerlich resignierend zog Leo den Sessel zu sich, sodass er bequem darauf sitzen konnte, die Schüssel auf dem Schoß. Er tunkte den Löffel in die Hühnersuppe und stählte sich für das Kommende. 

„Du bist kein Objekt. Und auch kein Lustobjekt“, sagte Schürk aus heiterem Himmel und Leo hielt überrascht inne. Dass Schürk das jetzt aufgriff wunderte ihn. Bewegungslos verharrte er, die Augen auf die heiße Flüssigkeit gerichtet, und fragte sich, ob Schürk schon fertig war oder ob noch etwas kommen würde. „Du bist ein Mensch und als solcher interessierst und faszinierst du mich. Eigentlich schon ziemlich lange.“

Dass Schürks Interesse die Wurzel allen Übels war, hatte Leo bereits begriffen. Besonders am Anfang hatte es Leo in Situationen gebracht, die kaum oder schwer ertragbar gewesen waren. Nun aber verlor das Wissen um diesen Umstand an Schärfe und war heilsam. Es aus Schürks Mund zu hören, dass er ein Mensch war, war so heilsam, dass es Leo die Kehle zuschnürte und einen Monate alten Knoten löste. Die Welt vor seinen Augen verschwamm und er starrte mit Horror auf die Suppe in seinen Händen. Jetzt vor Schürk zu weinen, wäre mit Sicherheit etwas, das Leo gut gebrauchen konnte…nicht. So überhaupt gar nicht. 

Zittrig näherte sich eine der Hände mit den langen Fingern, hielt dann aber kurz vor Erreichen ihres Ziels – Leos Hand – inne.

„Ich mag es wirklich, wenn sie heulen. Aber bitte nur beim Sex und auch bitte nur vor Lust. Es sei denn, du hast das mit dem Würzen wieder nicht hinbekommen und musst jetzt nachsalzen“, sagte Schürk wieder eine seiner Unmöglichkeiten und Leo begriff, was der andere Mann gerade tat. Was er auch ihm zuliebe tat. Mit Unmöglichkeiten ablenken. Weg von den Tränen, hin zur Empörung über Schürks Unmöglichkeit. Nur dass dieses Mal keine Empörung kam. Auch keine Wut.

Leo atmete seine Tränen dorthin zurück, wo sie hingehörten und sah hoch. 

„Und ich mag es, wenn sie brav den Mund halten und schlucken“, sagte Leo, tunkte den Löffel in die Suppe und hielt ihn Schürk hin. Er parierte Schürks Versuch der Ablenkung mit bissigem Humor und sah, wie sehr dieser nach der ersten Schrecksekunde durchaus Gefallen fand. 
Zu sehr, denn Schürk stabilisierte Leos Hand mit seiner eigenen und hielt sie fest, bevor er mit einem viel zu zweideutigen Blick in Leos Augen sich den Löffel in den Mund steckte und so lasziv die Suppe schlürfte, dass Leo innerlich tief aufseufzte. 

Er hatte es herausgefordert, allerdings fragte er sich schon, wie gehorsam und spielerisch devot man eine Suppe essen konnte. Er spürte die Kraft, mit der Schürks Zunge den Löffel umschloss am anderen Ende durchaus körperlich. Den Zug, das kraftvolle Umschließen mit den Lippen, das alles spürte er und der Ausdruck in Schürks Augen sagte ihm, dass er es auch durchaus spüren sollte, mit der Verheißung, dass diese Kiefermuskulatur auch andere Dinge fest umschließen konnte.

Leo schwieg mühevoll aber eisern dazu und rettete sich in den immer gleichen Ablauf aus Löffel in die Suppe tunken, ihn an Schürks Mund führen, Schürk dabei in die blauen Augen sehen und warten, bis dieser den Löffel gehen ließ. Solange, bis die Schale leer war. 

Angesichts der Suppenmenge und ihrem Tempo eine langwierige Aufgabe.
Sie brachte allerdings Wärme in Schürks Körper und Röte auf seine Wangen. Caro wäre stolz auf ihn, befand Leo. Er wäre auch stolz auf sich, wenn Schürk dadurch ein paar Stunden eher gehen würde.

Schweigend stellte Leo die leere Schale samt Löffel weg. Als er nun zu den Choco Crossies griff, hielt er inne. Ja, sie waren gut einzeln zu essen, wenn man genug Kraft in den Fingern hatte, um sie sich an die Lippen zu heben. Hatte Schürk aber nicht und für einen guten Abstand waren die Stücke zu klein. 

Viel zu klein. 

Leo verfluchte sich stumm. Warum genau hatte er sich nochmal gegen Duplos entschieden? Ach ja. Weil er dumm war. 
Wehe, wenn Schürk an seinen Fingern lutschte, während er ihn hier mit Schokolade fütterte. Wehe. Warnend starrte Leo seinem Gast in die Augen, die sich genau diesem Problem auch gerade bewusst geworden waren und die vorfreudig glitzerten. Wie beim See kam der Junge in Schürk zum Vorschein und dominierte das sonst so arrogante Gesicht. 

„Nein“, warnte Leo daher auch pro forma lieber verbal und die Vorfreude in den blauen Augen schmälerte sich etwas. 
„Ich habe nichts gesagt“, schmollte Schürk und verzog seine Lippen. 
Klar. 
„Deine Mimik ist gar nicht so undurchschaubar, wie du denkst“, erwiderte Leo und nahm das erste Choco Crossie zwischen die spitzen Fingerkuppen, führte es langsam in Richtung erwartungsvoll geöffnete Lippen. Er war schnell genug, bevor Schürk die Schokolade samt seinen Fingern in seinem Mund versenken konnte, aber es war knapp. 

„Lass das“, grollte Leo, während er liegende Mann genüsslich und mit Wonne kaute, sich seiner Tat natürlich nicht bewusst. Fehlendes Unrechtsbewusstsein, durch und durch. 
„Dann sei schnell genug“, erwiderte Schürk und Leo hob die Augenbraue. Pointiert sah er auf die Packung auf seinem Schoß. 
„Ich kann sie auch wieder wegbringen“, schlug er hilfreich vor und seine Drohung fand durchaus Gehör. Schürk brauchte ein paar Sekunden dafür, aber er nahm Leos Worte durchaus zur Kenntnis.  

„Das wagst du nicht“, behauptete er dann mit kritisch gerunzelter Stirn und Leo zeigte ihm sehr deutlich nonverbal, was er wagte und was nicht. Es artete in ein stummes Blickduell aus, das er schlussendlich mit einem Schnauben und Wegsehen von Schürk gewann. 
„Brav“, lobte Leo lakonisch, bevor er sich davon abhalten konnte und zog sich damit den stummen Unmut aus blauen Augen zu. 

Dass er das nächste Mal, als er einen Crossie in Richtung schmale Lippen führte, fast gebissen wurde, war vorhersehbar und Leo war schnell genug um seine Finger zu retten. Dass er die Packung nun salomonisch gerecht im Verhältnis 2:1 zwischen sich und Schürk aufteilte, damit musste der schmollende und grollende Mann in seinem Bett wohl leben. 


~~**~~


„Brauchst du noch etwas?“, fragte Leo, nachdem er Schürk unter größter Vorsicht und Behutsamkeit ins Bad geleitet hatte, damit dieser sich jetzt tatsächlich nachtfertig machen konnte. 
Er erhielt keine Antwort. Erschöpft und schwer atmend lag der andere Mann auf den Handtüchern, die Augen fest zusammengepresst, die Lippen eine schmale Linie des Schmerzes. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und Leo drehte sich um, verließ für einen kurzen Moment sein Schlafzimmer. 

Er holte einen Waschlappen und tränkte ihn mit kaltem Wasser, wrang ihn anschließend solange aus, bis er fast nicht mehr tropfte. Mit seiner Beute kam er zurück zu Schürk, der ihn erst dann zu bemerken schien, als Leo ihm mit dem Frotteestoff vorsichtig über die Stirn tupfte. 

Beinahe schon panisch flogen die Augen auf und Schürk entspannte sich erst sichtlich, als er erkannte, dass es Leo war. 

„Danke“, flüsterte er und die beinahe schon verzweifelte Erleichterung in diesem einen Wort begleitete Leo nicht nur auf seinem Weg auf die Couch, sondern auch in seinen unruhigen Halbschlaf hinein, in dem ihm eine Stimme, die verdächtig nach Ross klang, mitteilte, dass Schürk nicht nur der Mann war, den er kennengelernt hatte. 

 

~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Eine kurze Werbung für den von Tea_EarlGrey, Sandwich und Falleraatje gegründeten Tatort Saarbrücken Discord: https://discord.gg/bepazQTx
Wenn ihr Bock habt, rund um das Thema Tatort Saarbrücken zu chatten und euch auszutauschen schaut mal rein.

Chapter 31: Die Unmöglichen

Notes:

Ein wunderbares Bergfest euch allen!

Mit etwas Verspätung, dafür mal wieder doppelt so lang (gewöhnt euch nicht dran! :P) hier nun der neue Teil nach einem wunderbaren Berlinwochenende und noch viel wunderbareren Promobildern der beide Herren, die sehr wohl wissen, was sie uns mit ihrer PR antun. Schämt euch!
Ich wünsche euch viel viel Spaß beim Lesen und vielen herzlichen Dank für all eure Reaktionen. <3

Chapter Text

 

„Guten Morgen, Adam.“

Adam sah mitnichten, was an diesem Morgen gut sein sollte. Die Wirkung der Schmerztabletten hatte nachgelassen und sein ganzer Körper machte ihm mehr als deutlich, dass an Schmerzfreiheit in den nächsten Tagen, wenn nicht sogar in der nächsten Woche, nicht zu denken war. Das Aufstehen gestern Abend war katastrophal gewesen und nur Hölzers Arme hatten Adam wirklich aufrecht gehalten. 

Die Dreckssau war rasend vor Wut gewesen und Adams stummer Widerstand war seiner Situation nicht zuträglich gewesen. Das Arschloch hatte wie ein Besessener auf ihn eingeprügelt und somit dessen Pläne auf ein schönes, abendliches Treffen am See mit Hölzer zunichte gemacht. Nachdem er gehen durfte, hatte Adam mit einem verschwommenen Blick auf sein verfluchtes Handy festgestellt, dass er zu spät war. Er war trotzdem unter Aufbietung seiner letzten Kraftreserven hingefahren, in der Hoffnung, dass Hölzer noch da war und ihm eine Ablenkung bot. Etwas, das ihn davon abhielt, seinen Wagen gegen den nächsten Baum zu setzen oder sich einfach hinzulegen – egal wo. Verletzungen Verletzungen sein lassen, ausbluten, die Infektion riskieren und dran krepieren. Dem Ganzen einfach ein Ende setzen. 

Hölzer war da die Versicherung auf ein Weiterleben gewesen und hatte ihm eine Ablenkung geboten – aber anders, als Adam es sich gedacht hatte.  

Er hätte nie gedacht, dass er sich einmal auf Hölzers Bett wiederfinden würde, quasi eingeladen durch den anderen Mann. Er hätte nicht gedacht, dass seine Wunden durch dessen Schwester mit dem strengen Ärztinnenblick versorgt werden würden, die sich der Schwere und Bedeutung sehr wohl bewusst war. Er hätte nie gedacht, dass Hölzer ihn mit Suppe füttern würde – sich dann aber die Mehrheit der Schokolade nehmen würde, der Sack. 
Und am Wenigsten hätte er gedacht, dass Leo Hölzer soviel Redebedarf haben würde und ihm so viele ehrliche und ungefilterte Dinge an den Kopf werfen würde. 

Wenn er nicht so große Schmerzen gehabt hätte, Adam hätte es noch mehr genossen, den anderen Mann so offen zu erleben. Einzig getrübt durch seinen dummen, schwachen Körper, der anscheinend nicht mehr ertrug, was die Dreckssau ihm antat.

Adam hatte die vergangene Nacht wenig geschlafen und wenn, dann nur leicht. Er wollte nicht, dass seine Alpträume den Ermittler im Nebenraum auf den Plan riefen, der versuchte ihm einzureden, gegen das Arschloch Strafanzeige zu erstatten. Dafür hatte er Hölzers Alpträumen zuhören dürfen, die diesen in der Mitte der Nacht geplagt hatten. Aus dem unverständlichen Gemurmel war der Name dieses Matthias hervorgegangen und wenn Adam es richtig gehört hatte, dann war auch er selbst in den inkohärenten, gepeinigten Sätzen vorgekommen. 

Es fuchste Adam mehr als er zunächst angenommen hatte. 

„Du lebst aber noch, oder?“

Abrupt kehrte zu Caro Hölzer zurück, der Kinderärztin mit dem trockenen Humor. Adam hegte den Verdacht, dass sie und ihr Bruder sich ähnlicher waren als er zunächst vermutet hatte, auch, was den Humor anbetraf. Das, was Hölzer ihm zu Beginn zwangsweise nicht gezeigt hatte und nun erst langsam nach vorne drang, lag bei ihr wie auf dem Präsentierteller und gab Adam einen guten Eindruck, wie ihr Bruder wäre, wenn er offen, ehrlich und glücklich wäre. 

„Aller Wahrscheinlichkeit nach ja“, krächzte er und stellte fest, dass er noch nicht wirklich genug getrunken hatte. 
„Wunderbar. Wenn ich fertig bin trinkst du erst einmal was. Hast du schlafen können?“
Adam schüttelte knapp den Kopf und sie nickte verständnisvoll. „Bei den Schmerzen kein Wunder. Ich habe Schlafmittel dabei, wenn du es für heute möchtest.“

Vincent hatte auch immer welches dabei, wenn es ihm nicht gut ging. Er bewahrte es für ihn auf, damit Adam es nicht wie vor drei Jahren übertrieb und sich damit beinahe ins Krankenhaus brachte. 

„Dann verpasse ich aber die liebevolle Fürsorge deines Bruders.“ Von liebevoll war keine Spur, aber Fürsorge sah Adam schon. Die Hühnersuppe gestern Abend wäre nicht notwendig gewesen. Er wäre auch mit Schokolade vollkommen zufrieden gewesen, doch so? 

„Er und liebevolle Fürsorge? Soso, erzähle mir mehr“, grinste sie verschwörerisch und unbefangen. Adam ging jetzt erst auf, dass sie immer noch nicht wusste, wer er war – ganz im Gegensatz zu Hölzer und ihren Eltern. Für sie war er Adam, ein momentaner Pflegefall, der im Bett ihres Bruders hauste und der dessen Beuteschema entsprach. Ja, er hatte gestern die Diskussion der Hölzergeschwister mitgehört, schwach in sich hineingrinsend. 

Sie hatte ja Recht, in gewisser Weise. Dass Hölzer aus anderen Gründen niemals zustimmen würde, das wusste sie ja nicht. 

Adam stellte sich nicht zum ersten Mal die Frage, wie es wäre, Teil dieser Familie zu sein. Dieser chaotischen Familie mit ihren chaotischen Essen und ihrer Freundlichkeit. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Hölzer ihm seinen Körper angeboten hatte, damit er eben diesen Menschen nicht wehtat und Adam verstand langsam in Ansätzen, was den anderen Mann dazu getrieben hatte. 

Er warf einen Blick in Richtung Zimmertür, so als müsse er sich versichern, dass ihr Bruder nicht hinter der verschlossenen Tür lauerte. Was wahrscheinlich war. 

„Es gab Hühnersuppe“, wisperte er mit diebischer Freude über den Fallout, den das für Caros Bruder haben würde. Ob das wirklich klug war, wenn er mindestens noch einen Tag hier lag ohne sich selbst um etwas zu essen kümmern zu können, war fraglich. So im Nachhinein. Und dass Hölzer durchaus in der Lage dazu war, ihn mit Essen zu strafen, hatte Adam ja mit Unbill gesehen, als dieser sich gestern die Mehrheit der Schokolade zwischen die Lippen geschoben hatte. Aber wer war Adam, dass er nicht im Hier und Jetzt lebte?

„Hühnersuppe“, echote Hölzers Schwester langsam und hob amüsiert die Augenbraue. 
Verwirrt runzelte Adam die Stirn. „Warum betonst du das so?“
Sie schnaubte und beugte sich zu ihm, währenddessen ihre Einmalhandschuhe überstreifend. „Aus zwei Gründen. Weil er für gewöhnlich keinen Herrenbesuch in dieser Wohnung hat. Und nun liegst du sogar in seinem Bett und bekommst Hühnersuppe. DAS Wohlfühlgericht der Familie Hölzer, das unsere Mutter uns immer gemacht hat, wenn wir krank waren und es uns schnell besser gehen sollte.“

Letzteres überraschte Adam nicht im Geringsten. Klar sollte er schnell wieder gesundwerden, Hölzer wollte ihn ja auch loswerden. Der erste Teil ihrer Antwort ließ ihn jedoch überrascht hochsehen. Kein Herrenbesuch? 
„Warum trifft er sich hier nicht mit anderen Männern?“
Sie zuckte mit den Schultern und ihr Gesichtsausdruck war viel zu neutral, um nicht etwas zu verbergen. Ein ungutes Gefühl kroch in Adam hoch und er dachte an seinen Überraschungsbesuch bei Hölzer im letzten Jahr, nachdem dieser sich im Wald hatte verräumen lassen. Er dachte an die Unsicherheit und Hölzers ängstlich-abwehrendes Verhalten ihm gegenüber, an die Panik, die dieser in den Augen stehen hatte. 
 
„Ist nicht sein Ding.“

Das war keine richtige Antwort, befand Adam und haschte mit seiner Hand nach Caros Unterarm. Da war devote Verzweiflung auf Hölzers Gesicht gewesen, als sie sich hier getroffen hatten. Er erinnerte sich an das bedeutungsschwangere „Spontanbesuch“ zu Weihnachten, an das Familiengeheimnis, was es anscheinend war. Er erinnerte sich und ein Verdacht drängte sich ihm auf, der einen bitteren Geschmack in seinem Mund zurückließ. 

„Ist ihm hier etwas passiert?“, hakte er nach und das Erstaunen auf ihrem Gesicht löste seine Beunruhigung zumindest zum Teil. 
„Nein. Oh Gott, nein. Ihm geht es gut. Ist einfach nicht sein Ding, aber das solltest du ihn selber fragen.“ Sie zwinkerte und Adam erkannte, dass er von der sturen weiblichen Hölzervariante diesbezüglich keine Antwort mehr erhalten würde. 
„Ich würde mir gerne deine Verletzungen anschauen. Darf ich?“

Adam nickte und folgte ihren Bewegungen wachsam. Sie würde ihm nichts tun, das wusste er, dennoch hatte er durchaus ein Problem damit, wenn fremde oder sogar auch vertraute Personen ihm nach einem Exzess der Dreckssau so nahe waren. Er hatte außerdem ein viel erheblicheres Problem damit, ihnen seinen ungeschützten Rücken zuzudrehen. 

Die Hand, die über seine Finger strich, kam unerwartet und ruckartig sah Adam hoch, direkt in Caros lächelndes Gesicht. 
„Wenn es dir zu viel wird, dann sag es mir. Wir machen dann eine Pause oder ich höre auf, ganz, wie du es brauchst.“

Die Freiheit der Wahl, die er hatte, ließ Adam schlucken. Sie ließ das Blut in seinen Ohren rauschen, weil die Diskrepanz zu seinem realen Leben so dermaßen hoch war und weil sie ihn so sehr an Vincent erinnerte, dass es wehtat. 
„Mach einfach“, presste er tonlos hervor und grub sein Gesicht in das Kissen unter sich, damit die aufmerksame Frau nicht sah, was sich auf seinem viel zu offenen Gesicht abspielte. 


~~**~~


„Warum willst du keine Männer in deiner Wohnung haben?“

Leo war gerade dabei, sich neue Kleidung aus seinem Kleiderschrank zu fischen, als ihn die ruhige, wissende Frage des anderen Mannes erreichte. Der, so schien es ihm, mit Caro gesprochen hatte. Vielmehr hatte sie mit ihm gesprochen und aus dem Nähkästchen geplaudert. Wie er das hasste, wenn sie das tat, gutmütig und naiv. Gut gemeint, vor allen Dingen, weil sie der festen Überzeugung war, dass Leo etwas von Schürk wollte und umgekehrt.

Er musste mit den Konsequenzen leben und die ereilten ihn in einer viel zu neugierigen und intimen Frage. 

Ohne auf Schürk einzugehen, wühlte er in den Untiefen seines Schrankes und zog sich seinen hellblauen Pullover und seine dunkelblaue Chino hervor. Für fast Sommer war es überraschend kalt und Leo war danach, sich in dem weichen Sweater zu vergraben. Er streifte das weiße Henleyshirt und zog seine Finger wie verbrannt zurück. Nein, das konnte er weder anfassen noch anziehen. Ob es jemals wieder so sein würde, wusste er nicht. 

Eilig suchte Leo sich auch noch die passenden Boxerbriefs und seine Socken dazu heraus. 
Als er alles zusammen hatte, hatte er auch keine Ausrede mehr, sich nicht umzudrehen und stellte sich dem inquisitorischen Blick aus blauen Augen. Schürk sah aus wie der Tod auf zwei Beinen, allerdings nicht mehr so schlimm wie am ersten Abend. 

„Das geht dich nichts an“, erwiderte er neutral, noch nicht einmal verneinend, dass dem so war. Was nützte es auch?
„Das mag sein, aber ich hätte trotzdem gerne eine Antwort.“
Leo lächelte knapp und wenig freudig. „Bekomme ich dann eine Antwort auf die Frage, wer Elias Schiller umgebracht hat?“, hielt er dagegen und stieß auf stumme, von Sekunde zu Sekunde größere und eisigere Ablehnung, die Leo einen Schauer des Unwohlseins über den Rücken schickte.  
„Das ist hier kein Basar“, sagte Schürk mit einem Unterton, den Leo als Warnung interpretieren würde und für einen Moment verharrte er regungslos. Schürks Ton erinnerte ihn an die Anfangszeiten und den psychologischen Druck, den der andere Mann wieder und wieder auf ihn ausgeübt hatte.  

„Dann bleiben wir wohl beide unwissend“, merkte Leo zurückhaltend an und dachte an das Buch, das Henny untersucht hatte. Die Fingerabdrücke auf dem Einband. Er öffnete die Lippen, um Schürk damit zu konfrontieren, hielt sich aber davon ab. Er würde jetzt keine Antwort erhalten, mit Sicherheit nicht. Er würde vermutlich nur noch mehr dieses speziellen Tons bekommen und ein nicht zu kleiner Teil in Leo schreckte davor zurück. 

Schürk gab einen unzufriedenen Laut von sich. „Ich kann raten“, brummte er in einer ganz anderen Intonation und Leo griff den Umschwung beinahe dankbar auf.
„Glückwunsch für diese kognitive Meisterleistung“, rutschte es ihm entsprechend nervös heraus, bevor er sich davon abhalten konnte und es brachte tatsächlich Belustigung auf das kalkweiße Gesicht, vertrieb die aufkommende, dunkle Blockade. Es half um zu vergessen, was Schürk getan hatte. 

„Du bist wie ein territorialer Terrier und willst keine anderen Männer neben dir in der Wohnung.“
Leo schnaubte. Das war absolut absurd. „Ja, genau das ist es. Richtig geraten“, stimmte er dem lakonisch zu und Schürk hob die Lippen zu so etwas wie einem Lächeln. 
„Ich mag es, wenn man dir die Lügen vom Gesicht ablesen kann“, wurde er ironisch darauf hingewiesen und Schürk nutzte die Gelegenheit, sich auf Leos Bett zurecht zu rücken. Er lag immer noch auf dem Bauch und hatte mittlerweile seine Füße verschränkt, strich sich selbst mit den Zehen über die Fußsohlen. Das machte Leo auch… um sich zu beruhigen. Irritiert über diese Gemeinsamkeit blieb Leo stehen, anstelle ins Bad zu gehen. Wie eigentlich geplant. 

„Du hast keine Lust, benutzte Kondome wegzuräumen und willst nicht, dass deine One-Night-Stands wissen, wo du wohnst um dich dann noch einmal heimzusuchen.“
„Fast.“ Warum genau reagierte er eigentlich noch auf Schürks abstruse Theorien? Weil sie ihn von seinen Erinnerungen ablenkten und ein anderes Bild des Mannes vor ihm zeichneten. 

Schürk brummte und es war ein weicher Laut, abseits seiner üblichen, arroganten Intonation. Leo wusste, dass in den nächsten Momenten nichts Vernünftiges herauskommen würde, schon bevor der andere Mann ein weiteres Mal den Mund aufmachte. 

„Du schreist zu laut beim Sex und deine Wände sind zu dünn. Da hast du Angst, dass sich die Nachbarn über den braven Herrn Kriminalhauptkommissar beschweren, der es zu wild mit anderen Männern treibt.“

Hatte er nicht Recht gehabt? Ja, hatte er! Und nein, das war wirklich nichts Vernünftiges. Noch nicht einmal im Ansatz. Leos Ohren wurden warm bei der Vorstellung, die Schürk anscheinend von ihm hatte. 
„Ich habe deinen Harry Potter Band untersuchen lassen“, platzte er entsprechend abrupt mit der Wahrheit heraus und überrascht wie überfahren weiteten sich die blauen Augen. Im ersten Moment wusste Schürk nichts aus seinen Worten zu machen, sicherlich noch gefangen in seinen seltsamen Vorstellungen, die er von Leo hatte, dann fraß sich Anspannung seine Schultern empor. Leo erkannte seinen Fehler und die Hand um seine Kleidung ballte sich zur Faust. 

„Untersuchen…“, echote Schürk langsam und Leo nickte leicht. 
„Auf Fingerabdrücke.“

Schürks lange Finger zuckten, während er Leo durchdringend musterte. Hätte er gekonnt, so wäre er mit Sicherheit aufgestanden und wie vorher auch schon in Leos Intimsphäre eingedrungen. Zumindest versprachen Schürks Augen ihm Selbiges. Das, was Leo eigentlich hatte verhindern wollen – eben dass Schürk wieder zu dem Monster wurde, was er für lange Zeit gewesen war – passierte schon wieder. 

„Mutig von dir“, sagte der blonde Mann schließlich gleichermaßen ruhig und schleppend und die erneute Warnung war deutlich zu hören. Leo schluckte, straffte dann jedoch seine Schultern, sich innerlich dazu zwingend, den Weg weiterzugehen und nicht zurück zu treten. Gegen seine innere Angst anzukämpfen.
„Da waren Elias Schillers Fingerabdrücke auf dem Buch. Warum? Was hast du mit ihm zu tun? Mit ihm und seinem Tod?“

Die spielerische Stimmung war nun definitiv verflogen und Leo konnte sekündlich dabei zusehen, wie Schürk sich abschottete, wie er Maske um Maske aufzog. 

„Warum musste ich dir seine Uhr besorgen? Was hast du damit gemacht? Wofür brauchst du sie?“

Leo wusste, wie seine Fragen klangen: Nach dem nervösen und dadurch kühlen Verhör, das sie auch waren. Er verschränkte die Arme und starrte auf Schürk hinunter, der ihn im Gegensatz zu vorher nun rundheraus ignorierte. Als wäre er Luft. Als hätte er die Fragen niemals gestellt. Als wär die alte Persona nie dagewesen.

Leo brauchte einen Moment um zu erkennen, woran es wirklich lag und schnaufte unterdrückt, während er sich langsam auf den Sessel niederließ. Auf eine Ebene mit dem anderen Mann, der nur aus einem einzigen Grund zu dem Monster zurückgekehrt war, das er für Monate für Leo gewesen war. 

Unsicherheit. Schürk fühlte sich mit den Fragen unwohl. 

Leo wartete schweigend, seine These austestend, aber aufmerksam und schließlich löste Schürk seine angespannten Kiefermuskeln. 

„Ich will nicht darüber reden. Über nichts davon.“

Da war sie, die Bestätigung. 
Tief einatmend suchte Leo nach den richtigen Worten. Das, was ihm in so vielen Verhören gelang, schien bei Schürk eine Unmöglichkeit zu sein. Von klarem Denken konnte nicht die Rede sein und von einer objektiven Herangehensweise erst recht nicht. 
„Warum nicht?“, fragte er ehrlich interessiert mit bewusster Ruhe und über Schürks Gesicht huschte ein Schatten, der Leo nur zu bekannt vorkam. Innerhalb von zwei Sekunden stärkte eben jener Schatten seine Theorie, die er seit ein paar Monaten hatte. 

„Weil.“

Das Weil klang hilflos. Es klang mutlos und als würde ein ganzer Eisberg darunter liegen. Eine ganze Wahrheit, die Leo verborgen blieb. 

Während der Ermittler in Leo danach gierte, weitere Antworten zu erhalten, trat der Mann in ihm einen Schritt zurück. Er hörte auf den Wunsch seines verletzten Gastes und schluckte alle Fragen und Taktiken herunter, die ihm noch auf der Zunge brannten.

„Okay“, lenkte er leise ein und die Erleichterung auf dem müden Gesicht tat ihm beinahe körperlich weh. 
Schweigen trat zwischen sie, einvernehmlich und Stück für Stück wieder leichter. Es lenkte Leos Gedanken in andere, häuslichere Richtungen. Es war seltsam, an einem Samstagmittag nichts zu tun zu haben, befand er. Sei es sich mit Schürk und Ross zu treffen oder sei es, alleine unterwegs zu sein. Nun war er hier und traute sich nicht, seine Wohnung zu verlassen, weil da jemand sein Bett belegte. Wusste aber auch nicht, was er mit demjenigen machen sollte, der vor ihm lag.

Dabei musste er noch einkaufen, damit er Schürk und sich heute was Warmes einflößen konnte. 

„Dann erlasse ich dir auch die Strafe für deine Buchuntersuchung“, versuchte Schürk sich augenscheinlich an einem wirklich schlechten Scherz und Leo schnaubte. Er beugte sich vor, den anderen Mann nicht aus den Augen lassend. 

Schürks Ton machte deutlich, dass er es im Spaß meinte, dass er nicht ernst darauf referenzierte, was über Monate Bedingung für Leos Gehorsam gewesen war. Kruder Humor war es und Leo rollte mit den Augen. Den Sensibel-Preis gewann der andere Mann mit Sicherheit nicht. 

„Wann hätte die stattfinden sollen? Bevor oder nachdem ich dich zum Bad trage oder dich füttere?“, fragte er latent ironisch und es brachte doch tatsächlich so etwas wie Belustigung auf Schürks Gesicht. 
„Während du schläfst. Dann kann ich dich wenigstens aus einem deiner Alpträume reißen.“

Wenn er ehrlich war, hatte Leo nicht mit einer so direkten, frechen und vor allen Dingen wahren Antwort gerechnet. Überrascht starrte er Schürk in das viel zu zufriedene Gesicht und grollte. 
„Hast du nichts Besseres zu tun als mir zuzuhören?“, hakte er unwirsch nach und Schürk startete den erfolglosen Versuch eines Schulterzuckens. 
„Wenn du mir etwas vorliest, muss ich dir nicht beim Schlafen zuhören“, erwiderte er und Leo war sekundenlang nur damit beschäftigt, dem Sinn der Worte nachzuspüren. Ihnen überhaupt erst einmal einen Sinn zu geben. Wie sollte er denn…?

Schürk und seine Unmöglichkeiten, destillierte er alles auf diesen einen Satz zusammen. 

Als wenn.


~~**~~


Adam fragte sich, ob er Hölzer überhaupt jemals unter Kontrolle gehabt hatte. 

Noch während sein hauseigener Polizist wirklich Angst vor ihm gehabt hatte, war er das Risiko eingegangen, das Buch auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen. Unter der Gefahr, hart dafür bestraft zu werden. 
Wenn Vincent das hören würde, würde er wieder seine Lippen zu einem Vortrag öffnen, sie dann wieder schließen und Adam mit seinen strengen Augen zu verstehen geben, dass es nicht in Ordnung war, wie es gelaufen war und wie nachlässig sie beide gewesen waren.

Hätten Vincent und er vorher erfahren, was Hölzer mit dem Buch gemacht hatte, dann hätten sie ihn noch ganz anders zurück auf Spur bringen müssen als so, wie sie es getan hatten. Mutig war er in der Tat gewesen und zum jetzigen Zeitpunkt ein Geständnis, das glücklicherweise folgenlos bleiben würde. 

In doppelter Hinsicht. Hölzer war kein Elias Schiller und würde es auch nie sein. 

Dass Hölzer es getan hatte, wunderte Adam nicht, schließlich war der andere Mann Ermittler durch und durch. Als solcher hatte er Blut geleckt und war nur durch Umstände, die Adam nicht ganz klar waren, davon abgekommen, ihn hier und jetzt zu verhören. 

Und so sehr Adam auf den strengen Herrn Hölzer mit der verbindlichen, gnadenlosen Stimme stand, so wenig hatte er es geschätzt, hier und jetzt über Elias Schiller ausgefragt zu werden. Nicht so kurz nach…

Eigentlich nie. Es war etwas, was nie vergessen werden durfte, woran Adam aber nie wieder denken wollte. Es sich vor Augen zu rufen, war der Garant für sicherlich kommenden Wahnsinn. 

Lieber konzentrierte er sich auf das Hörbuch, das Hölzer ihm angemacht hatte und starrte nachdenklich auf die Anlage, die dieser dazu kommentarlos ins Schlafzimmer geschleppt hatte. Wenn er schon nicht selbst vorlas, gab es eben Hörbücher. Natürlich wusste er, dass Hölzer viele davon hatte – sein ganzes Regal war voller CDs. Vincent hatte ihm auch einen kurzen Abriss gegeben, was für CDs es waren und was Hölzer gerne hörte, aber das war zu dem Zeitpunkt noch nicht wichtig gewesen. 

Jetzt aber stand der kleine Quader mit den Miniboxen neben dem Bett, ebenso wie eine grobe Auswahl aus Hölzers Fundus. Sachhörbücher, Fantasy, Historie, Biographien, all das stapelte sich neben dem Bett. Hölzer hatte ihm in der verkniffenen Art eines unwilligen Menschen, der doch helfenden Dinge freiwillig tat, die Fernbedienung zur Anlage in Griffreichweite gelegt und ihm mitgeteilt, dass er einkaufen gehen musste. 

Adam, noch zu gefangen von der Anlage und dem Entgegenkommen, das dahintersteckte, hatte nichts weiter dazu gesagt und kurze Zeit später die Haustür ins Schloss fallen hören. Das hellhörige Treppenhaus gewährte ihm dabei einen guten Einblick, wie schnell und natürlich angemessen leise Hölzer die Treppen hinunterging. 

Die im Dunkeln lauernden Gedanken hielten sich eben deswegen in Grenzen, weil der andere Mann zurückkommen würde und Adam schaffte es sogar, Vincents ~Ist alles okay? Lebt ihr beide noch?~ mit einem wahrheitsgemäßem ~Ja, wir haben uns noch nicht umgebracht. Bis Montag Abend! Genieß die Zeit.~ zu beantworten. 

Als sein Handy klingelte, war es nicht Vincent samt Kontrollanruf, sondern Hölzer und Adam hob fragend seine Augenbrauen. Seit wann rief dieser ihn freiwillig an, außer um ihm Vorwürfe zu machen? 
Zitternd tippte Adam auf den grünen Hörer. 

„Wie komme ich denn zu der Ehre?“ Er hatte einen Ruf als schlechter Gast zu verteidigen, befand Adam, und der Mann am anderen Ende der Leitung murmelte etwas Undeutliches, das anscheinend im Trubel des samstäglichen Einkaufswahnsinns unterging. 
„Gibt es etwas, das du nicht verträgst oder nicht isst?“

Adam blinzelte. Kaufte Hölzer gerade tatsächlich auch für ihn ein? Machte er sich wirklich Gedanken darüber, was er ihm mitbringen sollte? Ein breites Grinsen zog seine Lippen auseinander. Er verspürte den Drang, Hölzer zu necken, gleichzeitig aber wusste Adam, dass er damit jedwede Chance auf Milde und Entgegenkommen verspielte. Choco Crossies und so.

„Schürk?“

Ah, er hatte zu lange gebraucht. 

„Nein, ich vertrage alles.“
„Auch jetzt? In deinem…Zustand?“

Hölzer lavierte wie so oft um seine Verletzungen drumherum und fühlte sich sichtlich unwohl dabei. Das war beinahe schon herzerwärmend zu hören. Seinen Magen ließ es auf jeden Fall kribbeln. 

„Toastbrot“, erwiderte Adam daher nach einigem Überlegen. „Toastbrot mit Nutella hilft.“
Das stieß nicht auf Gegenliebe und wieder gab Hölzer nonverbal preis, was er von der Essensauswahl hielt. 
„Ich meinte warmes, gesundes Essen.“ 
Brauchte es das? Meist nicht, denn Adam weigerte sich bei Vincent rundheraus, etwas Anderes als den ungesunden Fraß zu sich zu nehmen. Hier…er seufzte innerlich. Mit Sicherheit kam er da bei dem Mann am anderen Ende der Leitung nicht mit durch. Vincent war streng, aber Hölzer war erstaunlich gnadenlos, was das anbetraf. 

„Überrasch mich. Vielleicht nichts Scharfes“, gestand Adam schließlich und das fand anscheinend das Placet des Ermittlers. 
„Blumenkohl mit Hähnchen und Reis?“, hakte dieser nach und es war so derart häuslich, so derart ungewohnt, dass aus dem Kribbeln in seinem Bauch innerhalb von Sekunden ein kurzes, schmerzvolles Stechen in seiner Brust wurde. 

Sehnsucht war es, erkannte Adam. Er wollte mehr davon. Er wollte, dass Hölzer ihn öfter fragte, ob das Essen, was er vorschlug, okay war. 

„Musst du wissen, du musst mich schließlich füttern“, sagte er, die Normalität dieses Gespräches nicht wirklich aushaltend und konnte beinahe schon Hölzers Augenrollen hören. 
„Darum geht es hier gerade nicht.“

Was nur bedeutete, dass Hölzer schon damit rechnete, ihn zu füttern.

„Ja. Ich mag das“, erwiderte Adam wie der zivilisierte Mensch, der er war, und das stieß auf nonverbale Zustimmung. 
„Gut. Und den Toast?“
„Ja.“
„Sonst noch?“
„Wein?“
„Nein.“
Adam blinzelte über Hölzers kategorische Ablehnung. „Nein?“
„Du nimmst Schmerztabletten, du bekommst keinen Alkohol“, grollte der Mann am anderen Ende der Leitung und Adam fühlte sich mit einem Schlag, wie sich vermutlich ein normaler Teenager mit normalen Eltern gefühlt hätte. 
„Ich kann auch deine Vorräte plündern“, entgegnete er fast schmollend und Hölzer schnaubte. 
„Das wirst du lassen. Es gibt keinen Alkohol. Ich will keine unerwünschten Wechselwirkungen.“ 
Adam schwieg, lange genug, damit Hölzers Eindruck, dass er schmollte, sich verfestigen konnte. „Arschloch“, grollte Adam schließlich und Hölzer schnaubte in den Hörer.
„Selber.“ 

Was war das denn für eine Diskussionsart? Adam grollte.

„Noch etwas?“
„Bisschen Koks vielleicht?“, grimmte er, aus seinem tiefen Bedürfnis heraus, Hölzer zu reizen und dieser legte einfach auf. Einfach so. Ohne etwas zu sagen. 

Verdient, gab Adam nach ein paar Sekunden zu.
Es brachte ihn zum Lächeln und der Schmerz in seinem Körper war nicht mehr ganz so ätzend und stark. Als wenn er jemals den Stoff, allem voran die Amphetamine, konsumieren würde, den ihre Dealer vertickten. Nein, das überließ er den Süchtigen und Abhängigen, den Erfolgshungrigen und Zügellosen. Vincent war nie einer von ihnen gewesen und es war das erste Mal gewesen, dass Adam einen ihrer Dealer brutal in seine Schranken gewiesen hatte. 

Er wartete noch ein paar Momente, ließ den Erzähler noch etwas mehr ausführliches, aber amüsantes Worldbuilding der Hörspiel-Fantasywelt betreiben, bevor er Hölzers Nummer aufrief und ihm noch eine Nachricht schrieb.

~Ich mag M&Ms und Bananen~, schrieb er beinahe schon versöhnlich normale Dinge. Hölzer las es, kommentierte es aber nicht und Adam schnaubte amüsiert. Vermutlich würde er die vergleichsweise harmlosen Konsequenzen seines kleinen Exkurses nach Hölzers Rückkehr zu spüren bekommen. Aber das war in Ordnung. 

Jetzt musste er sich aber erst einmal darum kümmern, seine Termine für diese Woche umzuplanen. Mitnichten würde er sich so bewegen können. 


~~**~~


„Wie warst du vorher?“

Verwundert sah Leo von der Gabel hoch, die er mit dem Rest von Schürks Essen beladen hatte. Er hatte die Portion nicht ganz so groß gemacht, was auch gut gewesen war. Schürk hatte zwar Hunger, aber sein schmerzgeplagter Körper reduzierte anscheinend die Menge, die er zu sich nehmen konnte. Leo hatte sich nach einem kurzen Moment dazu entschieden, dem bettlägerigen Mann zu versichern, dass es noch mehr gab, wenn er wollte, und war auf wohlversteckte Dankbarkeit und Erleichterung getroffen. 
Die Erkenntnis, dass Schürk anscheinend früher auch mit Essensentzug bestraft worden waren, hatte für ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen gesorgt.

Vielleicht erklärte das auch Schürks krude Essenswünsche. Bananen, M&Ms und Drogen… dass er nicht lachte. Auch wenn er nicht glaubte, dass der blonde Mann es ernst gemeint hatte. Im vergangenen Jahr hatte Schürk kein einziges Mal unter Drogeneinfluss gestanden. Das passte auch nicht zu der Kontrolle, die er über Leo lange Zeit mittels psychologischem und physiologischem Druck ausgeübt hatte.

Anstelle einer Antwort bot er Schürk die Gabel an und dieser öffnete gehorsam die Lippen. Bedacht kaute er und Leo wartete, bis er fertig war. 
„Möchtest du noch etwas?  Es steht noch einiges auf dem Herd.“
Knapp schüttelte Schürk den Kopf. „Nein…danke.“
Das Danke ließ Leo die Augenbrauen heben. Das war neu und ungewohnt. Es war nicht…unschön. 
„Wenn du später noch etwas haben möchtest, sag Bescheid.“
„Ja, Mama.“

Vielleicht war es doch unschön. Leo wusste nicht, ob er lieber mit den Zähnen knirschen oder grollen sollte. Er entschied sich dafür, den Teller und das Besteck zur Seite zu räumen und die Schale mit den M&Ms in Schürks direkte Reichweite zu stellen. Die bereits geschälte und geschnittene Banane stellte er direkt daneben und steckte das mitgebrachte Essstäbchen in ein Stück. Er würde den Teufel tun und Schürk füttern. Da würden seine Finger doch mit Sicherheit in dessen Mund landen.

„Meine Frage beantwortest du mir noch, oder?“
„Wenn ich eine Ahnung habe, was du damit von mir wissen willst, vielleicht.“
Schürk kräuselte die Nase und rückte sich vorsichtig auf dem Bett zurecht. Er hatte immer noch erhebliche Probleme, sich zu bewegen. An Schmerzfreiheit war anscheinend trotz der Medikamente, die Caro ihm migebracht hatte, nicht zu denken. 

„Wer hätte sich um sich dich gekümmert, wenn ich nicht dagewesen wäre?“, kam Leo einer Erläuterung von Schürks Frage zuvor und überraschte nicht nur sich selbst mit seinem Interesse. 

Was auch immer die Frage für einen Nerv traf, es war kein schöner, erkannte Leo. Schürk schluckte und wich ihm aus, seine bisher eher entspannte Mimik verschloss sich minutiös. Seine langen Finger zuckten in Richtung Süßigkeiten, nur um sich dann wieder zurück zu ziehen. 
„Normalerweise Vincent“, sagte er rau und Leo stolperte über das normalerweise.
Ross war nicht da. „Und wer hätte sich dann gestern um dich gekümmert?“, fragte er und sah das Niemand in Schürks Augen, noch bevor dieser unmerklich den Kopf schüttelte. 
„Ich mich selber“, erwiderte er das Unmögliche, denn das Schürk auch nur in Ansätzen dazu in der Lage gewesen wäre, sich seine Verletzungen selbst zu versorgen, das bezweifelten sie beide. Er wäre vermutlich wirklich einfach am See liegen geblieben, unversorgt, bis irgendjemand vorbeikam. Wenn. Falls.

„Caro weiß, was sie tut“, sagte Leo, aber das es war nicht das, was er eigentlich sagen wollte. Sie war da, sie kümmerte sich, sie versorgte Schürk. Sie sorgte dafür, dass dieser nicht zuletzt noch an einer Blutvergiftung krepierte. 
„Ihr Bruder auch“, entgegnete Schürk mit einem müden Lächeln und auch das spiegelte nicht alles wieder, was zwischen ihnen stand. 
„Geht so“, murrte Leo und erntete ein Schnauben für seine Untertreibung. 
„Noch bin ich nicht tot.“
„Da kann ich mich ja glücklich schätzen.“
„Würdest du mich vermissen, wenn?“

Die Gretchenfrage, befand Leo. Würde er Schürk vermissen? Dessen unmögliche Art, Leo auf die Palme zu treiben? Dessen blatante Gesetzlosigkeit, mit der er schamlos kokettierte? Dessen Art, Leo herauszufordern, wütend zu machen und ihn dann mit seinem Lächeln wieder herunterzukochen? 

Was, wenn Schürk plötzlich aus seinem Leben verschwunden wäre? 

Vor ein paar Monaten wäre das der Himmel für Leo gewesen und auch jetzt wäre er froh darum, wieder in sein eigenes Leben zurück zu kehren, das aus Joggen, Lesen und Wandern bestand. Ab und an etwas mit seinem Team zu unternehmen. Rauszugehen und mit Männern zu ficken. Eigentlich all das, was er auch jetzt machte, eben nur begleitet durch das wöchentliche Treffen mit Schürk, bei dem er andere Dinge tat. Töpfern. Lego und Gesellschaftsspiele spielen. Filme sehen. Eigentlich alles Dinge, die Leo auch alleine machen könnte. 

„Ist das eine Fangfrage?“, rettete er sich mehr schlecht als recht vor einer Antwort und Schürk wiegte den Kopf hin und her. 
„Kommt drauf an.“  
„Worauf?“
„Wie du vorher warst“, wiederholte Schürk seine Eingangsfrage und Leo hielt überrascht inne.
„Wie ich vorher war? Wie meinst du das?“
„Bevor wir uns kennengelernt haben.“

Abfällig schnaubte Leo. „Kennengelernt? Ernsthaft, Schürk?“, hakte er warnend nach und der Mann auf seinem Bett presste die Lippen aufeinander. „Sprich es aus, was du getan hast und immer noch tust, Schürk. Steh dazu und verharmlose es nicht.“ 
Das war seine Warnung an Schürk. Leo hatte gedanklich akzeptiert, dass es ihm passiert war, aber er würde mitnichten erlauben, dass sich auch nur eine Sekunde darauf ausruhte, dass sein Vorgehen harmlos war. 

Die blauen Augen sagten ihm, wieviel Schürk damit kämpfte und Leo fragte sich warum. Wenn er dazu bereit war, Gewalt anzuwenden, dann musste er ebenso bereit sein, dazu zu stehen. „Bevor ich dich erpresst habe“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor und Leo nickte grimmig.
„Danke.“
„Für die Erpressung?“
Unmöglich. Der Mann war einfach unmöglich. „Schürk!“, grollte Leo und eine der Hände hob sich. Das Schnipsen gegen seine Kniescheibe spürte Leo kaum, aber es war da und es war eine Art Entschuldigung. Vielleicht. So ganz sicher war sich Leo da nicht, aber er hatte eine Vermutung. Zumindest war es eine Kontaktaufnahme.

„Du weichst mir aus.“

Noch nicht einmal bewusst, aber jetzt, wo Schürk es sagte, konnte es durchaus so sein, dass sich Leo unterbewusst vor der Antwort auf die Frage drückte. 
Dass er sich verändert hatte, stand außer Frage, dass Schürk ihn zwangsweise ebenso verändert hatte, ebenso. Leo musste sich bewusst daran erinnern, wie er vor Schürk gewesen war, wie er Dinge gehandhabt und naiv auf die Welt gesehen hatte. 

„Anders“, gab er die Nichtantwort des Jahrhunderts und Schürks Gesichtsausdruck teilte ihm unerfreut mit, dass er schon mit etwas Konkreterem gerechnet hatte. „Glücklicher. Freier. Ich habe Dinge anders gesehen…naiver als jetzt. Ich musste mein Leben nicht in andere Hände legen und konnte selbst entscheiden, was ich mache. Ich war unbeschwerter.“

Seine ehrliche und ausführliche Antwort überraschte Schürk deutlich und für eine lange Zeit starrte er Leo durchdringend in die Augen. Leo selbst sah es nicht ein, den Blick abzuwenden, also ließ er den anderen Mann sehen, was dieser ihm genommen hatte. 

„Du willst dahin wieder zurück“, erwiderte er und es war keine Frage. Leo schnaubte. 
„Will ich freier und glücklicher sein? Ja. Will ich genauso naiv auf die Welt in Saarbrücken sehen wie vorher? Nein. Ich will die Zusammenhänge der OK kennen, ich will wissen, wer wie tief drin hängt.“
„Neugier ist…“, begann Schürk mit knirschenden Zähnen.
„…der Katze tot“, vollendete Leo und nickte knapp in Richtung seiner Wohnung. „Auch hier gibt es keine Katzen, ebenso wenig wie bei dir. Ich stehe nun einmal auf der anderen Seite des Gesetzes.“
„Sexy. Fast wie Romeo und Julia.“
Leo hob zweifelnd die Augenbrauen. „Genau so.“

Schweigen trat zwischen sie und Leo rechnete schon nicht mehr mit einer Antwort, als Schürk ein seltsam zustimmendes Geräusch von sich gab. 

„Irgendwann wirst du wieder frei sein. Und auch glücklich“, versprach er und Leo mochte das bestreiten. Wenn alles schief ging, würde er ins Gefängnis wandern und dann wäre er weder noch. 
„Das ist ein schwacher Trost für das, was geschehen ist“, gestand Leo ein und Schürk stimmte ihm zögernd zu. 

„Wie würdest du sein, wenn du nicht so wärst wie jetzt?“, stellte Leo die Gegenfrage, eigentlich um sich für Schürks intime Frage zu rächen, aber auch, weil es ihn wirklich interessierte. Wie sah der andere Mann sich? 
„Wie bin ich denn jetzt?“
„Ein Miststück“, grollte Leo und brachte Schürk damit tatsächlich zum Lachen. 
„Wo ist der Psychopath geblieben, der ich mal war?“

Das war eine gute Frage. Der Psychopath war schon lange nicht mehr aufgetaucht in Leos Wortschatz und war durch andere Begriffe ersetzt worden, die harmloser waren. Arschloch. Miststück. Oder einfach Schürk – in beinahe allen emotionalen Varianten des Namens. In den negativen. Zumindest. 

„Du bist keiner“, gab Leo zähneknirschend zu und Schürk lachte. 
„Na so etwas.“
„Ruh dich bloß nicht darauf aus.“
„Würde ich nie wagen.“
Dass er auf den Arm genommen wurde, wusste Leo. War er erfreut darüber? Nicht wirklich. Wollte er deswegen das Gespräch abbrechen? Nein. Er wollte eine Antwort, genauso wie Schürk eine gewollt hatte.

„Also?“
Es dauerte etwas, bis Schürk Worte dafür fand. „Ich habe keinen Vergleich“, sagte er ohne Selbstmitleid und was war die Antwort, wenn nicht vollkommen bitter? Schürk war in einem System großgeworden, das ihm nie einen Weg ohne Kriminalität aufgezeigt hatte? Und selbst als er versucht hatte, dieser zu entkommen, hatte das Jugendamt ihn anscheinend wieder hineingestoßen. 

Leo schluckte. „Was würdest du machen, wenn du nichts davon hättest? Weder das Syndikat noch…“ Leo deutete vage auf den Rücken und Schürk schnaubte. 

„Frei und glücklich sein“, spielte er Leos Antwort zurück und die verlorene Hoffnung darin tat wirklich weh. 


~~**~


Adam versuchte, seinen Drang, Hölzers Bad zu nutzen, so lange es ging zu unterdrücken. Den anderen Mann um Hilfe bitten, würde sich zwar anbieten, allerdings hatte dieser sich nach ihrem ehrlichen Gespräch zurückgezogen und sich seitdem auch nicht mehr blicken lassen. Es war bis auf das leise Hintergrundgedudel des Hörspiels still in der Wohnung geworden und Adam war sich noch nicht einmal sicher, ob sein Gastgeber überhaupt noch da war. 

Er ächzte leise, als er sich mühevoll auf die Seite drehte und versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen. Sich alleine auf die Bettkante zu setzen, war eine Herausforderung der besonderen Art und Schwindel ließ das Blut in seinen Ohren rauschen. Adam schloss kurz die Augen, als die damit einhergehende Übelkeit für seinen gut gefüllten Magen zu viel wurde. Vielleicht schlug der Alte in letzter Zeit auch stärker zu, zumindest konnte Adam sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so hilflos gewesen war. 

Doch es half nichts und er hatte sich aktiv dagegen entschieden, Vincent aus seinem freien Wochenende zu holen. Hölzer hatte zwar nicht Vincents sanfte, kümmernde Art an sich, aber die offenen, ehrlichen Gespräche lockten Adams Interesse unter seiner Schicht an Schmerz und Dunkelheit hervor. Ihre Diskussionen fütterten seinen Geist und hielten ihn immer noch beschäftigt. 

Mit einem Akt roher Gewalt gegen sich selbst stemmte Adam sich hoch und griff sich mit zitternden Händen die dünne Decke. Hölzer mochte es anständig und Adam hatte dann doch noch genug Hirnzellen, die ihm mitteilten, dass er die ihm eingeräumte Gastfreundschaft nicht überstrapazieren sollte. 
Langsam kämpfte sich Adam vorwärts, einen Schritt nach dem anderen. Er erreichte die Tür, aber der Preis dafür waren viele bunte Flecken, die munter vor seinen Augen tanzten und ein Rauschen in seinen Ohren, das Adam latent an seinen letzten Ausflug ans Meer erinnerte.

Als er mühevoll in den Flur trat, versuchte er sich daran zu erinnern, wo Hölzer ihn heute Morgen hingeführt hatte. Nach links – meinte er und strauchelte an der Wand in die Richtung, die ihm noch zwei Türen offenbarte. 

Fast…fast hätte er es geschafft. Aber fast war eben nicht ganz und Zweiter sein galt im Schürkschen Universum nichts. Fast bedeutete, dass er auf seinen Knien landete und Schmerz seinen Rücken emporschoss, der Adam aufstöhnen und sich krümmen ließ. Soviel zum Thema Bad. Das würde nichts werden. So zumindest nicht.  

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn zusammenzucken und im ersten Moment glaubte Adam, dass die Dreckssau hinter ihm stehen und ihn erneut schlagen würde. Seine Schultern taten instinktiv das Richtige und krümmte sich nach vorne, um sich möglichst klein zu machen und möglichst viel Rückenfläche anzubieten, bloß aber nicht den Kopf. Doch da war keine Hand, die ihn an den Haaren packte und auch kein Gürtel, der auf seine Haut traf. 

„Schürk?“ Da war eine Stimme, die sich am komplett anderen Spektrumende der Stimmfärbung befand, nah genug, dass sie sich intim an sein Ohr schlängelte. Verbindlich, weich, fragend. Irritiert. Ein bisschen verunsichert. „Ich bin’s.“
„Weiß ich. Riech ich“, presste Adam hervor um irgendetwas über den Schwindel hinweg zu sagen. „Geht gleich“, krächzte er und stemmte bereits seine Finger gegen den rauen Wandputz. 
„Unsinn.“ Hölzer tauchte an seiner Seite auf und hielt ihm die Hände entgegen, sein omnipräsentes Stirnrunzeln natürlich mit im Gepäck. Zumindest glaubte Adam das mit dem immer wieder verschwindenden Sichtfeld zu sehen. 

Er musste die Augen schließen, auch wenn er es lieber nicht getan hätte, denn die ihm entgegengestreckten Hände waren immer noch ein Anblick wert. Eine Geste des guten Willens, obwohl der andere Mann genug Grund hatte, wütend auf ihn zu sein. 

„Badezimmer?“, fragte Hölzer und Adam nickte schwach. Ihm lag ein zynischer Kommentar auf den Lippen, den er wohlweislich schluckte, teilweise aus unbegründeter Angst, das Hölzer ging und ihn dann einfach hier knien ließ. 
Die Hände, die die seinen umfassten und ihn hochzogen, taten ihm weh, doch Adam schluckte das schmerzerfüllte Stöhnen hinunter. Lieber lehnte er sich an Hölzers Körper, als der Schwindel zu übermächtig wurde und bemerkte nebenher, dass das Tuch, was er bisher locker um die Hüften geschlungen hatte, sich nun in Richtung Boden verabschiedete. 

Hölzer, der schon nicht mehr ganz so scheu zusammenzuckte bei ihrem Körperkontakt, bemerkte es natürlich auch und seufzte tief. „Wäre ja nicht so, als hätte ich nicht schon alles von dir gesehen“, murmelte er beinahe unhörbar schicksalsergeben und Adam schnaubte.
„Soll ich es wieder drumwickeln?“, fragte er Adam, dieses Mal lauter und er schüttelte den Kopf. 

„Schamgefühl ist etwas für andere“, erwiderte Adam beißend und anscheinend war seine Antwort so bitter und so zynisch, dass dieser Weltverbesserer an seiner Seite nun doch viel zu umständlich zu dem doofen Tuch griff und es mit spitzen Fingern um seine Hüften wickelte, bloß wenig Haut berührend. 
„Jetzt kannst du mir gar nicht mehr auf den Arsch starren“, murrte Adam und Hölzer grollte. 
„Kannst du vorsichtig weitergehen?“, wechselte er nahtlos das Thema und Adam setzte einen Fuß vor den anderen. Im Schneckentempo kamen sie zum Bad und Adam war mehr als erleichtert, als er seinen wunden Hintern auf dem Badewannenrand platzieren konnte. 

Als Leo nicht ging, sondern fragend neben ihm verharrte, schüttelte Adam den Kopf. „Wenn du mir beim Pinkeln zusehen oder helfen willst, dann bleib gerne. Ansonsten wäre ich um etwas Privatsphäre durchaus froh.“
„Kein Bedarf, danke. Aber wenn du umkippst, komme ich dich holen“, murmelte Hölzer und schneller, als Adam reagieren konnte, war er aus dem Raum verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen.  

Das gab Adam die Möglichkeit, sich in aller Ruhe vom Badewannenrand zum Klo zu hangeln und den damit kommenden, tiefsinnigen Gedanken zu folgen. 
Der Hölzer, der gnadenlos und offen mit ihm umging und in unbedachten Momenten wenig Zurückhaltung bei seinen Kommentaren zeigte, war ein Mann, der Adam mehr und mehr in seinen Bann zog. Es ließ in Adam wieder einmal und verstärkt die Frage aufkommen, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie sich nicht so kennengelernt hätten, wie es nun einmal gelaufen war. 

Hier präsentierte sich ein Leo Hölzer, der nicht schwieg oder den Blick senkte, wenn ihm etwas nicht passte. Hier war trotz erzwungener Änderungen der eigentliche Mensch und Adam fragte sich, ob es mit seiner Wohnung oder mit Adams Zustand zusammenhing. Das, was Hölzer vorher schon in Ansätzen gezeigt hatte, kam hier um ein Vielfaches deutlicher hervor und Adam fragte sich, wie er diese Offenheit auch weiterhin bekam und wie groß Vincents Missfallen darüber sein würde. 

Nicht nur ihn babysitten, sondern auch Hölzer und Hölzers Widerstand, der eine unwiderstehliche Kombination für Adam darstellte. 

Es war zu Beginn Vincent und Adam schon mal gar nicht aufgefallen, dass Hölzer einer der Menschen war, die Widerstand wie Luft zum Atmen brauchten. Die folgten, aber dennoch ihre eigenen Gedanken hatten, ihren Widerspruch, ihren Einspruch. Hölzer hatte versucht, all das zu kompensieren und sich an das geklammert, was ihm Sicherheit brachte. Vincent und er hatten das zum Anlass genommen, härter und härter zu reagieren, bis es dann vor Weihnachten zum GAU gekommen war. 

Ab dann war Hölzers Leine länger und länger geworden, bis Adam sich sicher war, dass diese gar nicht mehr existierte und Hölzer nur noch aus Gewohnheit neben ihm herlief. Oder sogar, dass es andersherum war und er Adam an die Kette gelegt hatte. So sehr, dass Hölzer nach Vincent nun derjenige war, zu dem Adam gekrochen kam, wenn die Dreckssau ihn schlug. 

Adams Gedanken übertünchten das Gefühl, dass Hölzer ihn eigentlich gar nicht hier haben wollte. Eigentlich gar nicht in seinem Leben haben wollte. Dass er sich egoistisch motiviert hineingezwungen und geschoben hatte. Dass er es aber auch so weit gebracht hatte, Hölzer in seiner Gegenwart lachen zu sehen. Nach fast einem Jahr an negativen Emotionen. 

„Erinnerst du dich, was ich über das Umkippen gesagt habe?“, fragte der Mann seiner Überlegungen durch die Tür und Adam rollte mit den Augen. Dessen seltsame Art sich zu kümmern schwankte immer zwischen Sorge mit Abneigung und Abneigung mit Sorge, so schien es. Er half Adam, das nur widerwillig, floh vor ihm, aber kam immer wieder zu ihm zurück und führte Gespräche mit ihm. Fütterte ihn, sprach mit ihm. Zeigte Interesse. Wollte ihn dann doch hierhaben, damit er nicht im Treppenhaus zusammenklappte. 

„Ich lebe noch“, gab Adam zurück und machte es sich auf seiner momentanen Sitzgelegenheit bequem. Hölzer wartete also tatsächlich vor der Tür und machte sich Sorgen. Nicht so sehr wie Vincent, aber wie der Polizist auch schon festgestellt hatte, war er nicht wie Vincent. Auf so viele Arten und Weisen nicht. 

Vincent war sein Kompass, er war sein Vertrauter, gleichwertig und manchmal auch überlegen. Moralisch in jedem Fall überlegen. Adam liebte Vincent auf eine platonische Art und Weise, auch wenn er ihm das nie sagen würde, alleine schon, um ihn nicht in Gefahr zu bringen. Vincent und er hatten ein einziges Mal miteinander geschlafen und es dann lachend sein gelassen. 

Hölzer war anders. Er war Vincent in unfreundlich, direkt, voller Reibungsfläche. Hölzer war attraktiv und herausfordernd. Er weckte Instinkte und Wünsche in Adam, die er in den letzten Jahren tot geglaubt hatte. Hatte tot glauben müssen. 

„Immer noch?“

Eines hatten Vincent und Hölzer aber gemein. Sie konnten durchaus lästig sein. 

„Ja, immer noch“, gab er zurück. „Dauert auch noch ein bisschen, kannst dir ruhig noch einen Kaffee holen.“

Selbst durch die Tür hörte Adam das Grollen. Es dauerte keine zwei Minuten, dann mahlte das laute Ding von einer Kaffeemaschine Hölzer den besagten Kaffee und Adam grinste so breit, dass es ihm auf den Wangen wehtat. Daraufhin herrschte Stille und Adam wurde es warm in der Brust bei dem Gedanken daran, dass der andere Mann tatsächlich seinen üblichen Becher Kaffee trank. Mit viel Milch und wenig Zucker. 

Aber wer war Adam, dass er es ließ, Hölzer zu triezen und so kämpfte er sich schließlich hoch. Wieder machte ihm sein Kreislauf einen Strich durch die Rechnung und fast musste Adam erneut auf die Knie, damit ihm nicht schwarz vor Augen wurde. Doch er schaffte es, sein eiserner Willen vor Augen, Hölzer wieder einmal zu necken. Er kämpfte sich zur Tür, den Schmerz hinunterschluckend, das Laken brav um seine Hüften geschlungen. Er lehnte sich schwer gegen den Türrahmen und wartete, bis er die Aufmerksamkeit seines widerwilligen Gastgebers hatte, dessen Stirn sich alleine bei seinem Anblick unwirsch verzog. 

Adam konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und es war voller Vorfreude über die Reaktion, die er gleich erhalten würde.

„Ich will baden“, blies er in den Raum hinein und die grünen Augen seines hauseigenen Polizisten weiteten sich. Eine Sekunde lang fiel dem kaffeetrinkenden Mann alles aus dem Gesicht, offen und fassungslos. Adam liebte den Ausdruck, er liebte ihn wirklich. Dass Hölzer sich schneller beherrschte, als es Adam lieb war, stank ihm da ein wenig. 

„Baden“, echote Leo langsam und Adam nickte.
„Baden. In deiner Badewanne.“
Die stürmisch gerunzelte Stirn spiegelte Leos ebenso stürmische Gedanken. „Bist du irre?“, destillierte er alles, was auf seinem Gesicht stand zu einer Frage und Adam unterdrückte das Zucken seiner Mundwinkel. Schließlich sollte es ja auch in Ansätzen ernst sein. Wenn er an den Schmerz dachte, der wie Feuer in seinem Körper brannte, war das quasi ein Kinderspiel.

„Ich möchte mich reinigen.“
„…in der Badewanne? Mit heißem Wasser?“
„Mit kaltem sicherlich nicht.“

Hölzer senkte langsam die Tasse Kaffee, die er in der Hand gehalten hatte und verschränkte die Arme, als könne er Adam so davon abhalten, seinen irrsinnigen und aberwitzigen Plan auszuführen. 

„Und du hilfst mir dabei“, beschloss er, dem Ganzen die Krone aufzusetzen und wünschte sich, dass er sein Handy gehabt hätte um diesen Moment einzufangen. Hölzers Fassungslosigkeit war köstlich, sein Unglauben ein wunderbarer Quell für Adams Belustigung. 

Die Verneinung, die sich auf dem Gesicht ausbreitete, saß Adam aus, bevor er sich auf die Lippen biss und seine Belustigung auch offen zeigte. 

Er lächelte gegen den Schmerz an, der in dem Augenblick in den Hintergrund trat, in dem Hölzer begriff, dass Adam sich einen Scherz erlaubt hatte. Wie sich sein Mund öffnete und hilflos wieder schloss und sein Wangen ich latent rot einfärbten. 

„Du…“, begann Hölzer und Adam sonnte sich in der Empörung, selbst über den stärker werdenden Schmerz und den Schwindel hinaus. 
„Ich?“, fragte er scheinheilig und der Ermittler grollte. 
„Du bist unmöglich“, presste er hervor und Adam zuckte vorsichtig mit der rechten Schulter, was nicht gut war für seinen Kreislauf und seinen Körper. 
„Soll das eine neue Information sein?“, schaffte er es noch, in seinem typisch ironischen Ton hervorzubringen. Ein letzter Schlagabtausch wusste Adam, bevor das Ganze hier den Bach runtergehen und er die Stimmung mit seinem unzureichend gestärkten Körper zerstören würde.

Stürmisch zog sich Hölzers Stirn zusammen und Adam genoss den Schub an Endorphinen, den dieser kleine Schlagabtausch auslöste. Mehr als es für ihn gut war. 

Auch jetzt, als sein Kreislauf ihm einen Strich durch die Rechnung machte und er ohne viel Vorbereitung am Türrahmen hinunterrutschen ließ, Hölzers Fluchen und das hastige Abstellen der Kaffeetasse im Hintergrund. 

 

~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 32: Leo und Adam

Notes:

Guten Abend euch allen!

Hier nun der neue Teil, nicht mehr ganz so lang wie die beiden davor. :) Er gibt einen Fortschritt, aber welcher das ist... lest selbst.

Für diesen Teil gibt es eine Triggerwarnungen: Erzählerische Erwähnung von Kindesmisshandlung, Verletzungen, Schmerzen, Trauma

Dennoch, viel Spaß euch beim Lesen!

Chapter Text

 

„Leo, endlich!“

Pia zog den Mann vor sich in eine enge, innige Umarmung.  Sie wollte spüren, dass er noch da war, dass es ihm gut ging trotz des verletzten Monsters in seiner Wohnung. Sie wollte ihm versichern, dass sie da war für ihn – jederzeit – und dass er sich keine Sorgen machen musste, dass er das alleine durchstand. Er würde jederzeit die Hilfe bekommen, die er brauchte. 

Leo schmiegte sich in ihre Arme und sie fühlte körperlich, wie eine Last von ihm abfiel, die ihn vorher angespannt und verkniffen hatte wirken lassen. Er sackte schier in sich zusammen und sie hielt ihn, bestärkte ihn, gab ihm Schutz und Sicherheit. 

„Ich bin da, Leo. Ich bin da und dir kann nichts passieren. Alles wird gut“, murmelte sie beruhigend und er brummte leise. Er sah nicht halb so schlecht aus wie noch vor Monaten. Seitdem sie ihn enttarnt hatten und zusammenarbeiteten, gewann er anscheinend an Lebenslust und Entschlossenheit, die sich auch in seiner Freizeit und seinen Essgewohnheiten äußerten, die ihm wieder mehr auf die Rippen und die Wangen brachten. 

Aus dem Geist wurde wieder der Mann, den Pia kennengelernt hatte.

Der Mann, der auch lachen konnte, der einen trockenen, manchmal auch bissigen Humor besaß, der gerne etwas mit Esther und ihr unternahm. Wie Leo das alles trotz Schürks Anwesenheit n seinem Leben erreichte, war Pia schleierhaft. Sie hatte ihre Vermutungen, ja, aber genau wollte sie diesen nicht nachspüren. Schon gar nicht denjenigen, die ihr eine unwohle Gänsehaut verursachten. 

Nun war es aber erst einmal wichtig, Leo sicher zu wissen. Nach dem, was Leos Personenschutz ihr mitgeteilt hatte, war Schürk nicht nur leicht verletzt und befand sich nun seit anderthalb Tagen in Leos Wohnung. Eine Belastung für den Mann in ihren Armen, wie sie wusste. 

„Danke, Pia“, flüsterte er, als hätte er Angst, dass jemand hörte. Schürk? Vermutlich. Doch dafür war er zu weit weg, unter dem Deckmantel des Joggens hatte er sich mit ihr getroffen, sein Handy im Wagen, nur sie beide in der abgeschiedenen Natur. 

„Wie geht es dir?“
Er seufzte und löste sich von ihr. Augenrollend sah er zur Seite und seine Kieferknochen malten aufeinander. 
„Ich weiß nicht. Er ist da und liegt in meinem Bett. Er ist so schwer verletzt, dass er sich nicht bewegen kann. Sein Vater hat ihn so zugerichtet und er hält immer noch zu diesem Menschen. Ich verstehe das nicht. Wie kann er das nach all den Jahren noch tun, obwohl der ihn krankenhausreif geschlagen hat. Und eigentlich hätte er genau dahin gemusst, ins Krankenhaus, aber er hat sich geweigert. Und nun versorgt Caro ihn, die denkt, wir wären ein Paar.“ 

Leo gestikulierte beinahe hilflos und Pia, setzte an, etwas zu sagen, doch er ließ sie nicht, fuhr aufgebracht fort. 

„Er ist ein Arschloch. Er provoziert mich und…“ Leo grollte und hob energisch die Hände. „…Er ist da, bei mir und er fragt Dinge. Er hat Angst vor mir, wenn ich ihn anfasse. Und ich habe Mitleid, sobald ich seinen Rücken sehe. Oder jedes Mal, wenn ich ihn ins Bad bringe und er versucht, seine Schmerzen vor mir zu verbergen oder sie mit beißendem Humor und Zynismus zu überspielen.“

Pia blinzelte. Sie setzte erneut an, aber es schien, als wäre Leo noch nicht fertig. 

„Und ich sorge mich. Pia, ich sorge mich. Ich koche ihm Hühnersuppe. Ich koche ihm Essen. Ich füttere ihn mit Choco Crossies und er zeigt mir, dass er wundersame Dinge mit seiner Zunge und einem Löffel und meinen Fingern tun kann. Ich…“ Leo verstummte und sah sie hilfesuchend an. 

Nicht, dass Pia aus den wirren Worten ihres Teamleiters wirklich schlau geworden wäre, musste sie gestehen. Und die wundersamen Dinge mit seiner Zunge klangen nicht so, als würde Leo davon sonderlich beunruhigt sein. Was Pia noch mehr verunsicherte. 

„Sollen wir ihn aus deiner Wohnung herausholen?“, fragte sie zögerlich, auch wenn es das Letzte war, was sie wollte. Schürk jetzt darauf aufmerksam zu machen, dass es sie gab, war ein Fehler. Es war zu früh und würde aller Wahrscheinlichkeit nach zum Scheitern ihrer Ermittlungen führen. 

Leo schüttelte frustriert den Kopf. „Nein. Er wird noch nichts verraten. Er wird weiterhin zu seinem Vater halten, der ihm das antut. Außerdem ist mein langes Wochenende Montag Abend vorbei und dann ist seine rechte Hand mit Sicherheit wieder da und kann ihn übernehmen. Dann bin ich ihn los.“

„Tut er dir weh? Ist er grausam zu dir?“, fragte Pia sanft und Leos Augen weiteten sich überrascht. Pia hatte Ähnliches bereits vermutet. 
„Nein! Er…nein. Nicht mehr. Er ist eher…ein Ärgernis. Ein stures, provokantes Ärgernis.“ Leo nickte, anscheinend um sich selbst zu bestätigen. Er sah zur Seite und dachte über seine Worte nach, stürmisches Missfallen auf seinem Gesicht. 

„Er ist nicht mehr das, was er vorher war“, kam er schließlich zu einem Schluss, der nicht nur Pia erstaunte und ihr ein ungutes Gefühl machte. Natürlich kannte sie die, die umgefallen waren. Die die Seiten gewechselt hatten. Leo schien ihm nicht wie einer derjenigen zu sein, doch seine Sprachgebrauch Schürk gegenüber war schon mehr als deutlich. Der Mann, den er vorher noch verteufelt hatte, wegen dem er geweint hatte, war nun nur noch ein Ärgernis. 

Das war bezeichnend. 

Sie haschte nach seinem Unterarm und drückte ihn sanft. „Leo. Ist er nett zu dir? Fühlst du dich ihm verpflichtet, weil er dich nicht mehr wie Dreck behandelt?“, fragte Pia sanft und sein offenes Gesicht sagte ihr viele Dinge, die sie wissen musste, aber gar niemals wissen wollte.

Leo öffnete seine Lippen, schloss sie wieder, unternahm noch einen Versuch, ihr zu antworten und schnaufte dann. 

„Ich fühle mich ihm nicht verpflichtet, aber ich sehe den Menschen hinter dem Monster“, gab er zu und war ihm dankbar für seine Ehrlichkeit. Das milderte jedoch ihr schlechtes Gefühl kein My weit.
„Er hat immer noch Straftaten begangen“, mahnte sie und Leo nickte. 
„Ich auch.“
Pia blinzelte ungläubig. „Vergleichst du dich gerade mit ihm?“
„Nein, aber vor dem Gesetz…“, begann er und sie brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. 
„Leo. Du hast in Nothilfe jemanden einen Spaten über den Schädel geschlagen. Er ist verantwortlich für den Handel mit Amphetaminen in Saarbrücken, für Geldwäsche, Bestechung, Nötigung…soll ich weitermachen? Du bist der Gute. Er nicht. Er hat Entscheidungen getroffen, die ihn hierhin geführt haben. Die hat er freiwillig getroffen, er ist erwachsen und mündig.“

Leo verbalisierte seinen Widerspruch nicht, aber er stand offen auf seinem Gesicht. 

„Er ist ein erwachsener Mann, der immer noch von seinem Vater geschlagen wird und der sich nicht dagegen wehrt. Wie freiwillig sind seine Entscheidungen dann?“, hielt er dagegen und Pia seufzte. 
„Jetzt ist eine gute Gelegenheit, das herauszufinden und Schürk auf unsere Seite zu ziehen.“ 
„Ich versuche es, aber er sagt immer wieder, dass das nicht geht und dass es viel zu gefährlich ist“, grimmte Leo.

Anstelle einer direkten Antwort strich Pia Leo über den Arm. „Siehst du es als erfolglos an?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Er weicht zwar aus, aber er ist nicht ablehnend.“

Ob das ein Fortschritt war? Pia hoffte es. Sie hatten noch Zeit, die brauchten sie immer als SoKo. Wenn ihre Ermittlungen Jahre dauerten, dann war das normal. Aber dafür musste auch ein messbarer Fortschritt zu erkennen sein. 

Leo mit ins Team zu holen, war die richtige Entscheidung gewesen, dazu stand Pia immer noch. Ihr Teamleiter war gradlinig und darauf bedacht, Recht und Gesetz durchzusetzen. Ob der Mann, der über Monate von Schürk unterdrückt worden war, der Richtige war, dessen war sie sich nicht mehr so sicher. Er war von ihnen allen am Nächsten dran, aber nichtsdestotrotz hatte er mit Schürk eine Vergangenheit, die es dem anderen Mann möglich machen würde, ihn emotional zu manipulieren. 

„Ich schaff das, Pia!“ Sie sah hoch und Angst stand in seinen Augen, korrespondierte zur Angst in seiner Stimme. Beruhigend lächelte sie, sich stumm dafür verfluchend, dass man ihr ihr Zögern so deutlich ansah. 
„Leo, deine Freiheit ist nicht daran geknüpft, dass du auf Biegen und Brechen Erfolg mit Schürk hast. Wir sehen sehr wohl, wie sehr du dich kümmerst und bemühst. Manchmal führt es eben nicht zum Erfolg.“

Ihre Worte schmerzten ihn, das sah Pia zu deutlich. Es tat ihr leid, dass er mehrfach schlucken musste, bevor er antwortete. 

„Aber ich will ihn da rauslösen“, gestand er schließlich ein, zögerlich wie ein Teenager, der gerade sein Coming Out vor seinen Eltern hatte. Unsicher, was sie dazu sagen würden. Unsicher, ob sie es gutheißen würden. 

„Du bist ein guter Mensch“, murmelte Pia, während sie Leo in eine neue, enge Umarmung zog. „Mach das. Versuch es. Aber pass auf dich auf, ja? Und ich bin da, wenn du mich brauchst. Und wenn du auch nur den leisesten Verdacht hast, dass er dich durchschaut, dann meldest du dich. Ich will dich nicht verlieren, hörst du?“

Leo nickte zögerlich.


~~**~~


Lachend versuchte Caro, der riesigen, nassen Zunge zu entkommen, die sich ekstatisch ihren Weg über ihr ganzes Gesicht suchte, ungeachtet der Tatsache, dass der Hund gerade einen seiner geliebten Äpfel gegessen hatte. 
Apfelsabber war nicht das Beste auf der Welt, befand sie und schmatzte ihm einen letzten Kuss auf den Schädel, bevor sie sich aufrichtete, seiner feucht-nassen Zuneigung entkommend. 

„Wo ist denn die Mama?“, fragte sie und Herbert tollte ihr voran durch das Wohnzimmer in den Garten, hin zu ihrer Mutter, die sich gerade an ihrem Gemüsebeet zu schaffen macht, das ihr durch Papa zugeteilt worden war. Sie versuchte, relativ erfolglos, Tomaten davon zu überzeugen an Sträuchern zu wachsen und Caro ahnte, dass das Problem tiefschichtiger war, wenn schon ihre Mama daran scheiterte.

Da machte es dann auch nichts, dass der dritte Herr im Haus durch den Garten tollte und ihrer Mutter die Gartenkralle entwendete. Caro warf lachend den Kopf zurück und schmatzte der Gärtnerin einen Kuss auf die Wange. 

„Macht das überhaupt noch Sinn?“, deutete sie auf die kläglichen Reste der Tomatenpflanzen und erntete ein amüsiertes Schnauben. 
„Ich gebe nicht auf und habe auch noch nicht alle Tricks ausgepackt. Es besteht also noch Hoffnung.“

Für Caro sah es nicht so aus, aber sie war schließlich auch keine Gärtnermeisterin wie ihre Mama. 
„Geht’s dir gut, Kind?“
Sie nickte lächelnd. „Die Woche war anstrengend und der Wochenenddienst macht es nicht besser, aber dafür genieße ich die freie Zeit umso mehr.“ Insbesondere, wenn es so sonnig war wie jetzt. „Wie geht es dir?“
„Das Geschäft läuft gut, aber das weißt du ja. Wir kommen nicht hinterher mit den Aufträgen. Anscheinend möchte jeder seinen Garten neu gemacht haben.“

Caro strahlte. „Das ist doch super!“
Ihre Mama brummte und tauschte ihre besabberte Gartenharke gegen einen Grashalm, der viel zu klein war für Herberts Maul, aber dennoch Gefallen fand. Mit seiner Beute legte er sich zwischen sie und begeistert kaute er auf dem hellgrünen Halm, knurrte dabei freudig.
„Er vermisst Leo“, merkte Babsi nachdenklich an und Caro erkannte, dass nicht nur Herbert Leo gerne sehen würde. 
Sie nickte. „Leo ist grad mit Adam beschäftigt. Der ist seit Freitag bei ihm in der Wohnung.“ 

Was genau an ihren Worten so schlimm war, dass Babsi ruckartig zu ihr sah, wusste Caro nicht und entsprechend überrascht runzelte sie die Stirn. Ihre erdigen Finger zuckten, als wollten sie nach etwas greifen. 
„Adam ist bei ihm…“, echote sie schließlich und der Stimmungsumschwung im Gesicht ihrer Mutter wurde von Sekunde zu Sekunde besorgniserregender. „Warst du da?“
Caro nickte. „Ja, Leo hat mich darum gebeten. Adam geht es nicht gut. Er ist verletzt und ich kümmere mich um seine Wunden.“

Anscheinend war das Gemüsebeet vergessen, ebenso Herbert, der seinen Kopf auf Babsis Schoß schob. 

„Wieso ist er verletzt? Und wie geht es Leo? Geht es ihm gut?“
„Leo geht es gut, er macht sich nur große Sorgen um Adam. Adam aber…seine ganze Rückseite ist blutig, Mama. Ich musste die Wunden dort stellenweise kleben. Irgendjemand hat ihn so sehr mit einem Gürtel und einer Schnalle zugerichtet, dass er nicht gehen oder stehen kann.“

Ihre Mutter senkte den Blick und kraulte Herbert nachdenklich hinter den Ohren. Der erwartete Schock und das erwartete Mitleid blieben aus. Es reihte sich damit nahtlos in eine Perlenschnur an komischen Verhaltensweisen ihrer Eltern ein, die Caro noch nicht richtig interpretieren konnte.
„Und dann kümmert sich Leo um ihn?“, fragte ihre Mutter noch einmal nach und Caro nickte. 
„Ja. Er hat ihm sogar Hühnersuppe gekocht, so wie er es von dir gelernt hat.“ 
Auch das konnte ihre Mama nicht aus ihrer nachdenklichen Stimmung holen und Caro legte eine Hand über ihre. 
„Was ist los?“, hakte sie besorgt wie misstrauisch nach und erhielt doch nur ein schwaches Lächeln als Antwort.
„Nichts, mein Kind. Alles gut.“

Das war es nicht. Da war es auch schon seit ein paar Wochen nicht, wann immer das Thema auf Leo kam. Wenn ihre Eltern dachten, dass Caro das nicht mitbekommen würde, hatten sie sich getäuscht. Doch bisher war sie auf eisernes Schweigen und noch viel eisernere Lächeln gestoßen. Alles gut. Alles bestens. Alles in Ordnung. Das waren die Worte, die sie oft hörte und die sie jedes Mal weniger glaubte.

„Du weichst mir schon wieder aus, Mama. Und es geht schon wieder um Leo. Was ist los?“
„Ich mache mir nur Sorgen um ihn, das ist alles.“
„Warum? Weil er gerade Sorge um Adam hat?“
Das minimale Innehalten sah Caro. Sie konnte es sich nur nicht erklären. 
„Auch, aber manchmal auch, weil er Leo ist. Mein Jüngster. Mein Kleiner.“
„Dein Polizistensohn, meinst du“, zwinkerte Caro versöhnlich, aber auch sie erinnerte sich an damals. An den jungen Leo, der am Rand der Verzweiflung stand, weil ihm in der Schule wehgetan wurde. 

Caro wusste, was danach geschehen war und wie die Gewalt der Idioten in der Schule Leos Leben auch heute noch bestimmte. Ihr kleiner Bruder war traumatisiert worden und schlug sich auch heute noch mit zweifelhaften und ungesunden Copingstrategien durchs Leben. Eine der gesünderen davon hieß Adam, war genauso blond und schlaksig wie Detlef damals und trug nun Spuren offensichtlicher Gewalt auf seinem Körper, die Leo mit Sicherheit an damals erinnerten. 

Kein Wunder, dass sich ihr kleiner Bruder da um seinen Gast kümmern wollte. Und Caro würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit es beiden schlussendlich gut gehen würde. Adam mit seinem bissigen Humor und seiner Frechheit war der perfekte Gegensatz zu Leos manchmal sehr steifem Verhalten. Er würde ihren Bruder aus dem Schneckenhaus locken, das dieser mit sich herumschleppte. Alleine schon, dass Adam über einen Zeitraum von Monaten immer mal wieder aufgetaucht war…

Caro hatte dafür einen Riecher. Mittlerweile schon. 


~~**~~ 


Dass Adam Hölzer mit einem seiner Alpträume aus dem Bett holen würde, war logisch.

Dass der andere Mann ihn weckte, das bärtige Gesicht voller ängstlicher Sorge, die Haare schlafzerzaust, seine Hand im Schein der Nachttischlampe auf seinem Oberarm, damit hatte Adam aber nicht wirklich gerechnet. Er hatte die überquellende Sorge nicht erwartet, die in den grünen Augen stand. Selbst nach seinem Zusammenbruch war Hölzer nicht so sorgenvoll gewesen wie jetzt. 

„Schürk?“, fragte Hölzer zögernd und Adam schluckte den bitteren Geschmack der klaustrophobischen Angst hinunter, die dem Traum nachhing. Er schluckte mühevoll und erfolglos den Schmerz hinunter, der wild an der Haut seines Rückens riss. 
Adam wusste, was er geträumt hatte, aber nicht, was er gerufen oder geschrien hatte. Laut Vincent waren das fürchterliche Dinge und Laute, aber Vincent war auch ein sanfter Mensch. 

Hölzer wäre da nicht so, ihm fehlte Vincents freundschaftliche Grundlage für Mitleid. Er hatte Mitleid, ja, das sah Adam, aber er hatte sich bisher auch größte Mühe gegeben, das klein zu halten. Aus Gründen. 

„Du bist wach.“ Es war mehr zittrige Versicherung als Frage und Adam stimmte dem vollen Herzens zu. Er war wach und der Horror seiner Kindheit war vorbei. Der Horror seiner Gegenwart weniger schlimm. Er war erwachsen, er hatte seine eigene Wohnung, er hatte Vincent. Er musste nicht mehr jede Minute des Tages die enge, sargartige Dunkelheit fürchten.
 
„Was auch immer du gehört hast, vergiss es am Besten wieder“, versuchte Adam rau und zittrig abzuwiegeln und drehte sich Hölzer zu. Den Gedanken, dem anderen Mann seinen ungeschützten Rücken zu präsentieren, ertrug er mitnichten. Selbst seine Anwesenheit ertrug er beinahe nicht. 
 
Stille trat zwischen sie und Hölzer wartete, seine Lippen unwirsch verzogen, bevor sie sich glätteten und die Angst in den grünen Augen etwas viel Schlimmerem Platz machte. Mitleid. „Wie alt warst du in deinem Traum?“, fragte Hölzer schließlich leise.

Die Frage war richtungsweisend und Adam verfluchte sich und sein lautes Mundwerk für den Traum, den er gehabt hatte. Er sollte er nicht antworten. Hölzer war nicht Vincent, was würde es Adam bringen, wenn er zusammenbrach? Nichts. Hölzer würde dasitzen und ihm beim Zittern und Verzweifeln zusehen. Es würde Adam nichts bringen außer dem Wissen, gesehen worden zu sein. Vollständig, als der schwache Mann, der er war. Nie genug gewesen für niemanden außer Vincent. Unfähig gewesen, genug zu sein und ein Leben zu führen, das etwas Anderes kannte als das hier. 

Sein Schmerz und die Gegenwart des anderen Mannes machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Sie machten ihn weich.  

„Jung genug“, murmelte er beinahe lautlos und Hölzer erstarrte in seinen Bewegungen. Stumm hielt er inne und musterte anscheinend jeden Quadratmillimeter seines Gesichts und seiner viel zu offenen Mimik. 

„Das Jugendamt hätte dir helfen müssen“, sagte dieser mit der Vorsicht von Menschen, die wussten, dass sie in einem Minenfeld standen. Zurückhaltend, zögerlich. Weicher. Adam mochte den Ton. Prinzipiell. Nur in Bezug auf sich, seine Vergangenheit und seinen blutig geschlagenen Körper mochte er ihn nicht. 

So gar nicht.

Wäre er nicht so hilflos wie gerade, hätte er diesem Ton schon längst etwas entgegengesetzt. Er hätte ihm Zynismus, böse Worte, spottende Worte entgegengesetzt. Doch jetzt konnte er einfach nur in Hölzers Bett liegen und musste diesen Ton über sich ergehen lassen, mit Übelkeit vor Schmerz. 
Adam schloss für einen Moment seine Augen und lauschte dem Brennen seines Rückens. 

Der Finger auf seiner Wange überraschte ihn so sehr, dass er ungewollt zusammenzuckte. Adam öffnete ruckartig die Augen und grollte unerfreut. Von allen Gelegenheiten, die Hölzer sich hatte aussuchen können, ihn anzufassen, musste er sich ausgerechnet jetzt und heute aussuchen. Perfekt. Nicht. 

„Lass das, Arschloch“, knurrte Adam abweisend, doch das perlte an Hölzer anscheinend ab wie Wasser an Öl. Im Gegenteil. Dieser setzte sich nun auch noch auf den Sessel und beugte sich nach vorne, seine kritischen, grünen Augen ausschließlich auf Adam gerichtet. 

„Das hätte niemals geschehen dürfen.“ Da versuchte sich Hölzer an Mitleid und, was Adam noch mehr fuchste, war auch noch erfolgreich damit. Die junge Seite in Adam, diejenige, die den Schmerz leid war, reagierte auf ihn und wollte all das loswerden, was in seinem Inneren tobte. 

Adam wandte noch einmal den Blick ab um Widerstand zu leisten und spürte schon anhand des Luftzuges, dass da gleich eine Hand kommen würde. Er fing sie unter aufflammenden Schmerzen ab und hielt sie unter noch größeren fest unter seiner gepresst. Es hatte zumindest den Anschein, als würden sie Händchen halten und Adam nahm diesen billigen Abklatsch von Beistand mit armseliger Dankbarkeit hin. 

Hölzer ließ ihn und entzog ihm auch nicht seine Hand. Vermutlich war es das, ihre Verbindung, die Adam schließlich redselig machte. 

„Wie du weißt, war ich beim Jugendamt“, raspelte er, bevor Hölzer auf noch dümmere Gedanken kam und befand für sich, dass die Erinnerung an die Zeit weniger schmerzhaft war als ein hyperaktiver Polizist, der vielleicht auch noch mit seiner anderen Hand auf seinem Körper Einfinger-Klavier spielte. Außerdem musste er der Dreckssau jedes Weihnachten wieder davon berichten, wie sein Widerstand gelaufen war. Eigentlich sollten ihm die Worte also nichts ausmachen. 

Eigentlich.

„Einmal. Mit neun bin ich weggelaufen, direkt dahin.“ Adam lächelte sein freudloses, dunkles Lächeln. „Nein…eigentlich zur Pforte der Stadtverwaltung. Dein Vater hat mich gefunden und sich meine Geschichte angehört. Er hat mir irgendwelche Schokoriegel zu essen gegeben, sich gekümmert und ich habe wirklich gedacht, dass ich in Sicherheit bin. Dann hat er den zuständigen Sachbearbeiter im Jugendamt informiert. Das Arschloch hat sich meine Geschichte angehört, sich meine Verletzungen angesehen und dann die Dreckssau angerufen. Und die nächsten fünf Tage habe ich im Sarg oder auf der Schlachtbank verbracht. Als ich wieder rauskam, konnte ich nicht mehr richtig laufen und habe lange danach nur noch zugezogene Vorhänge ertragen. Das hat mir meine Flucht zum Jugendamt gebracht. Ach…und dass ich es jedes Weihnachten noch einmal erzählen darf. Nur um sicher zu gehen, dass ich die Botschaft verstanden habe.“

Adam lächelte immer noch, obwohl es eigentlich unpassend war. Er lächelte, obwohl in Hölzers Augen Tränen standen. In den Augen des Mannes, den er die ersten Monate ihres Kennenlernens zu unbedingtem Gehorsam gezwungen hatte und dem er so viele schlimme Dinge angetan hatte. Hölzer, der Gute, der Polizist. Der Tränen für ihn vergoss, die Adam schon lange nicht mehr übrig hatte. Es löste derart widerstreitende Emotionen in Adam aus, dass er unsicher grollte.

„Hör auf zu heulen, so traurig ist das nun auch wieder nicht“, versuchte er sich an rabiatem Gehabe, in der Hoffnung, Hölzer durch Wut wieder von diesem Weg herunter zu bringen, doch nichts passierte. Da waren immer noch Tränen und anstelle weniger zu werden, wurden sie mehr.

„Was für ein Sarg? Was für eine Schlachtbank?“, flüsterte er und Adam sah auf ihrer beider Hände. Seine auf Hölzers. Ganz ruhig lag sie unter seiner, entzog sich ihm nicht. Vincent hatte damals ähnlich schockiert gefragt und ihn bei den Händen gehalten, ihn schlussendlich in den Arm genommen. 

„Dunkelheit…er ist Dunkelheit, im Boden“, antwortete Adam. „Eine Kiste unter den Kacheln, früher groß genug für einen Teenager, mittlerweile doch recht klein und beengend. Und…sie ist ein weiß gefliester Raum, damit das Blut leichter abwaschbar ist. Ich habe viele Stunden darin verbracht und kenne jede Fliese mit Namen.“

Adam lachte unpassend, während Hölzers Augen überquollen vor Tränen. Er war hübsch, wenn er weinte, befand Adam, sein ebenmäßiges Gesicht gezeichnet von ehrlichen Emotionen. Leid, das Mitleid war, Leid, das Hölzer für ihn empfand. 

„Er ist ein Monster“, wisperte sein hauseigener Polizist und dieses Mal kam kein Versuch, ihn davon zu überzeugen, seinen Vater zu verraten. Nichts kam, außer Unverständnis und Mitgefühl und Adam wusste nicht so wirklich, mit welchem dummen Kommentar er Hölzer jetzt noch aus seinen Emotionen holen sollte. 

„Er ist ein Monster“, wiederholte der sitzende Mann leise und Adam brummte, während Hölzer sich die Tränen von den Wangen wischte.
„War er schon immer.“
Gepeinigt zog der Ermittler seine Stirn zusammen. „Es ist Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, es ist Missbrauch.“

Da war er doch wieder, der polizeiliche Weg, den Hölzer einschlug um das einsortieren zu können, was er auf Adams Körper sah und was er durch Adams Lippen gehört hatte. Es war die Sicherheit, die er brauchte, um damit umgehen zu können.  

„Es ist, was es ist“, versuchte Adam es abzutun und scheiterte. Spätestens jetzt, als Hölzer sanft seine zweite Hand auf Adams legte und damit eine Verbindung schuf, die viel schlimmer war als jeder Überredungsversuch. 

„Nein, das akzeptiere ich nicht.“
Adam lächelte müde. „Und was willst du dagegen machen?“ Normalerweise wäre es eine Provokation gewesen, aber nun war Adam sich nicht sicher, ob es nicht vielleicht doch auch ein Hilferuf war. 
„Ich überführe ihn“, sagte Hölzer mit unsicherer Überzeugung und nichts wäre schöner als das für Adams junges, schmerzerfülltes Ich, das sich schon so lange sehnte, dass das Alles ein Ende hätte. 

Er lächelte und sah auf ihre Hände, er spürte die Wärme von Hölzers rauer Handinnenfläche.  „Schöner Gedanke, Superman.“

Es war noch nicht einmal spöttisch, sondern so hoffnungsvoll, dass Adam seinen Blick senken musste. Besser noch, er schloss die Augen.
 
„Soll ich dir etwas vorlesen?“, fragte sein hauseigener Superheld nach langem Schweigen zögernd und Adam nickte in die selbstgewählte Dunkelheit hinein. Die obere Hand löste sich, doch der Rest blieb. Sie blieben verbunden, während Hölzers sanfte, immer noch tränenschwere Stimme an Adams Ohr und in Adams Herz drang, mit Worten, die jemand anderer erdacht hatte und die eine Welt konstruierten, in die Adam sich problemlos flüchten konnte.  


~~**~~


„Bahee tat so, als hätte er die Frage gar nicht gehört, was mit Sicherheit das Beste war, was er tun konnte.“

Leo verstummte langsam, ließ den Satz zwischen ihnen ausklingen. Vierunddreißig Seiten Hummdeldumm war er weit gekommen, bevor Schürk sicher wieder schlief. Er hatte sich das aus seiner Onlinebibliothek auf dem Handy das Harmloseste und Leichteste herausgesucht, was er finden konnte. Leichte, humorvolle Lektüre um Schürk auf andere Gedanken zu bringen als die an seine eigene Vergangenheit. 

Immer noch steckte ihm Schürks Alptraum in den Knochen. Die unzusammenhängenden Worte, das Flehen, die Schreie. Sein Wimmern nach Gnade, immer wieder unterbrochen durch verzweifelte Versuche, seinen eigenen Vater davon abzuhalten, ihm wehzutun.

Leo hatte keine fünf Minuten gebraucht um zu beschließen, Schürk aus diesem Alptraum zu holen. In den ersten Moment war er noch der Hoffnung gewesen, dass die Angst und die Worte sich legen würden, war aber schnell eines Besseren belehrt worden. Dann hatte ihm sein eigenes Entsetzen einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die schlimme Wahrheit, die dahintersteckte, hatte nahtlos ihren Weg in Leos Herz gefunden. Die Narben und Verletzungen, die Leo gesehen hatte und die der visuelle Beweis von systematischem, jahrelangen Missbrauch gewesen waren, hatte eine Stimme erhalten. Hinterlegte Worte, Ereignisse, Erinnerungen. 

In der letzten Stunde hatte Leo verstanden. Den Mann, der Schürk war. Die Ereignisse, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war. Er hatte verstanden, dass Schürk ein traumatisierter Mensch war, der immer noch überlebte und sich in eine Welt gefügt hatte, die ihn zum Opfer und Täter gleichzeitig machte. Er hatte verstanden, warum Schürk derartig seinen Vater angegangen war, als sie zum Kaffee trinken dagewesen waren.

Superman, so hatte Schürk ihn genannt und es war noch nicht einmal ironisch gewesen. Da schimmerte Hoffnung in den Worten und Leo fragte sich, ob das der Grund war, warum Schürk sich so sehr zu ihm hingezogen fühlte. War er mit seinem Widerstand das, was Schürk brauchte, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich von seinem Vater zu lösen? Kam Schürk deswegen immer wieder zu ihm? 

Ross hatte gesagt, dass er attraktiv für Schürk war und das fand Leo auch im Verhalten des blonden Mannes wieder. Aber war das, was gerade geschehen war, auch ein Hilferuf an ihn als Polizisten, weil Leo derjenige war, der Schürks Geschichte kannte und dennoch nicht bereit war, von seiner Maxime als Exekutive abzuweichen?

Und wie weit würde Leo gehen, um das Syndikat zu Fall zu bringen? Wie weit würde er für Schürk gehen, dem er nichts zu verdanken, aber vieles zu vergelten hatte? Konnte er es überhaupt noch, nach gerade, nach dem richtungsweisenden Alptraum und dem sich anschließenden Gespräch?

Ja, Leo wollte die Strafe für Schürk, aber noch viel mehr wollte er, dass dessen Vater für das verurteilt wurde, was er getan hatte. Und er wollte…helfen. Er wollte helfen, das Unrecht zu beenden, was Schürk geschah.

Diese Erkenntnis war neu und sie schmerzte. Nicht, weil es Schürk war, sondern weil sie sich in die Riege der widerstreitenden Emotionen einfügte, die in Leo tobten, jetzt mehr denn je. 

Die Finger auf seiner Hand zuckten und Schürk runzelte die Stirn. 
„Nicht aufhören“, murmelte er leise, aber anscheinend wach genug, um mit Leo zu kommunizieren. 
Irritiert hob er die Augenbrauen. „Ich dachte, du schläfst?“
„Du hast aufgehört zu lesen.“
Und damit kommen die Alpträume wieder?, fragte Leo stumm verbalisierte aber nichts davon. 

Schürk dachte nicht daran, seine Hand wegzunehmen und Leo dachte ebenso wenig daran, sie zurück zu ziehen. Kurz öffneten sich die blauen Augen und maßen ihn erschöpft, dann schloss Schürk sie wieder. Leo nahm sein Handy auf und suchte sich den Abschnitt, bei dem er Jaud zurückgelassen hatte. Schürk entspannte sich sichtlich und Leo konnte den exakten Moment spüren, in dem der blonde Mann wieder einschlief, auf Leo vertrauend, dass dieser ihm keinen Schaden zufügte.

Körperlich hatte er Recht, aber zum ersten Mal erzeugte Leos Entscheidung, verdeckt für die Sondermission zu ermitteln, einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. 
 

~~**~~


Hölzer war anders. 

Er verhielt sich anders, er bewegte sich anders, er sah Adam anders an. 

Und Adam ging an Hölzers freiem Montag auf dem Zahnfleisch. 

Seine durch den Zusammenbruch und den Alptraum bedingte Ehrlichkeit brachte ihm seit seinem Aufwachen nur Sorge und Mitleid ein, wohlversteckt hinter einer nachdenklichen, bemüht neutralen Stirn und Worten, die viel zu nachgiebig und sanft aus dem sonst so strengen und unerfreuten Mund kamen. 

Es war Mittag und Adam hatte wirklich genug von Hölzers Tanz um ihn herum, von seinen stetigen Besuchen im Zimmer und seinem durch die Tür gesteckten Kopf. Hölzer versicherte sich, dass es ihm gut ging, dass er nicht wieder träumte und Hölzers Wohnung zusammenschrie, dass er ihm nicht wieder irgendwelche Dinge erzählte, die seinen hauseigenen Polizisten-Superman zum Weinen brachten. 

Hatte er Fürsorge gewollt? Ja. Hatte er diese Art der Fürsorge gewollt? Nein! Er wollte Hölzers Aufmerksamkeit, aber das hier war schon ein bisschen neurotisch viel und Adam wusste, wovon er sprach. 
Nur zu gut. 
Das hier war… er war doch kein rohes Ei und Hölzer keine Glucke, die sich gleich mit ihrem gefiederten Arsch auf ihn setzte um ihn auszubrüten.

Als Hölzer seine neueste Runde beendet hatte, hatte Adam genug. Mühevoll und mit fest zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich hoch. Nach seiner morgendlichen Runde ins Bad fühlte sich die zweite Runde sitzen gar nicht mal so gut an. Aber das wollte er ja auch gar nicht…stehen war angesagt, was nach seinem Badezimmerzusammenbruch strengstens verboten worden war – es sei denn Hölzer war dabei. 

War er ja auch. In einem anderen Raum irgendwo in der Wohnung. Und wenn sein Gastgeber wütend wurde, verschwand zumindest dieser verfluchte, nachgiebige, sorgenvolle Ausdruck. Hoffte Adam. 

Langsam stemmte er sich hoch und kämpfte gegen den schmerzinduzierten Schwindel an. 

„Wände, meine besten Freunde“, murmelte Adam und lehnte sich schwer gegen seine neugefundene Clique. Mit dem Laken fest im Griff seiner linken Hand hangelte er sich Schritt für Schritt in Richtung Wohnzimmer. Wenn er sich nackt auf Hölzers Couch gesetzt hätte, wäre das mit Sicherheit ein Garant für noch mehr Wut gewesen und eine Sekunde lang erwog Adam, den dünnen weißen, weichen Stoff einfach fallen zu lassen. 

Seine rationale Seite entschied sich dagegen – wohl auch, weil sie doch noch an seinem Leben hing. 

Adam ging vorbei an den mittlerweile neu aufgehängten Bildern in den neuen Bilderrahmen. Hölzer befand sich in der Küche und Adam schlich sich an ihm vorbei zur Couch mit der ordentlich gefalteten Bettwäsche und ließ sich vorsichtig und erschöpft darauf nieder. 

Soweit, so kreislauferschlagend. An eine Rückkehr ins Schlafzimmer war erstmal nicht mehr zu denken und Adam hievte seine schweren Beine auf die Polster. Er hatte das Gefühl, dass er wie eine dieser weißen, griechischen Statuen auf Hölzers Couch drapiert lag – nur nicht ganz so elegant. Und nicht ganz so wohlgeformt. Vielleicht auch nicht ganz so makellos und unversehrt. Und nicht…

Er lag. Das musste reichen. 

Ein leises Summen trug sich aus der Küche zu ihm und Adam drehte seinen Kopf in die Richtung des ungewohnten Geräusches. Das Radio dudelte im Hintergrund und anscheinend war Hölzer einer, der mitsang. Leise vermutlich auch nur, weil er Besuch hatte und Adam es nicht hören durfte. Spannend. 

Wenn Adam in der Lage gewesen wäre, sich außerhalb der Schneckengeschwindigkeit zu bewegen, hätte er wirkliche Freude daran gefunden, sich lautlos anzuschleichen und Hölzer zu überraschen. Mit seiner Anwesenheit und einem dummen Spruch. Doch so blieb ihm nichts Anderes übrig als zu warten. Eine von Adams besten Eigenschaften.  

Hölzers Herdendrang, seine Runde zu drehen, übernahm wieder und Adam grollte stumm, als der andere Mann tatsächlich wieder in Richtung Schlafzimmer ging um mit Sicherheit einen unauffällig auffälligen Blick hineinzuwerfen und dann hektisch weiterzugehen. Er würde feststellen, dass die Tür zum Bad auf war und tatsächlich brauchte Hölzer weniger als zehn Sekunden um im Wohnzimmer zu stehen. 

Adam winkte, zumindest konnte man mit viel Liebe das schwache Handheben als solches bezeichnen. Hölzer war davon ganz und gar nicht angetan und Adam stellte fest, dass Wut und Empörung endlich zurückkehrten. 

„Was machst du hier?“, fragte Hölzer, als wäre Adam gerade erst durch die Haustür reingekommen und Adam lächelte. Es zuckte in ihm, als da schon wieder Sorge durchblitzte. Nein, nicht schon wieder. 

„Mich drapieren“, erwiderte Adam nonchalant. „Außerdem hast du mich so besser im Blick und musst nicht immer wieder eine Runde zum Schlafzimmer drehen und gucken, ob ich noch da bin.“
Empört öffnete Hölzer den Mund und klappte ihn wieder zu. „Ich drehe keine Runden um zu gucken, ob es dir gut geht!“, behauptete er und Adam hob bedeutungsschwanger seine Augenbrauen. 
„Doch, tust du.“
„Nein!“
„Doch.“
„Im Leben nicht, Schürk.“
„Du hast da eine bestimmte Sorgenfalte auf der Stirn und die ist in den letzten Stunden sehr ausgeprägt gewesen.“

Hölzer verschränkte die Arme und war nun sorgenvoll bockig. Adam wurde wahnsinnig. 

„Los, spiel mit mir“, forderte er, teils um Hölzer aus seiner gedanklichen Schiene zuholen, teils, weil er sich wirklich langweilte. Und wenn Hölzer sich konzentrieren musste, nicht zu verlieren, dann konnte er wenigstens nicht so gucken wie er den Tag über geguckt hatte. 

„Lass uns um unsere Vornamen spielen“, platzte Adam auch noch mit seiner just in dem Moment durch sein Hirn fließenden Idee heraus und sah vollkommenes Unverständnis auf Hölzers Gesicht. 
„Um unsere Vornamen?“, echote der andere Mann und Adam nickte. 
„Gewinnst du, nennen wir uns weiterhin liebevoll bei unseren Nachnamen und gewinne ich, nennst du mich Adam und ich dich Leo.“

Hölzer schnaubte. „Du hast mir deinen Vornamen schon aufgezwungen, du erinnerst dich?“, fragte er mit alter Wut in der Stimme und Adam winkte ab, bedacht darauf, sich nicht Hals über Kopf in das sensible Thema zu stürzen. Das hatte er und er erinnerte sich noch gut daran. An den Moment, Hölzers Angst und seine raue Nachfrage, ob Adam sich ihm aufzwingen würde. 

„Als wenn du ihn jemals als das eine von mir geforderte Mal benutzt hättest“, legte Adam eben jene Erinnerung ad acta.  
Herausfordernd reckte Hölzer das Kinn. „Stimmt“, sagte er nicht ohne Genugtuung und Adam rollte mit den Augen über so viel Widerstand. Er hatte es nie wieder verlangt – das stimmte. Sein Problem und wieder einmal das Testament des Widerstandes, den Hölzer geleistet hatte – gegen all das, was Adam ihm aufgezwungen hatte. 

„Also?“
Hölzer knirschte mit den Zähnen, dachte nach, knirschte weiter, dachte noch einmal nach, sah zum Balkon hinaus als könne ihm der Sommer da draußen eine Antwort darauf geben, was zu tun war. 

„Okay. Aber wir spielen Qwirkle.“

Ah, da wollte jemand unter allen Umständen gewinnen. 

„Wenn du willst.“


~~**~~


Eine halbe Stunde später hatte Adam keinen Stein mehr auf dem provisorisch zwischen ihnen beiden aufgestellten Beistelltisch und mit einem knappen, hart und sogar fair ohne Bescheißen erkämpften Vorsprung von ganzen zwei Punkten gewonnen. Hölzer hatte ihm einen unerbittlichen Kampf geliefert und doch verloren, was den anderen Mann in all seiner Würde wirklich fuchste. Sehr fuchste. Adam mochte wetten, dass er sich verfluchte und die Wahl seines Spiels bis auf den Sankt Nimmerleinstag verfluchte. 

Wer war Adam, dass er da nicht noch ein bisschen nachhalf? 
„Also ich hätte schon gedacht, dass du besser darin sein würdest, mich abzuziehen…“, forderte er sein Glück mit wehenden Fahnen heraus und lächelte so breit, dass es beinahe wehtat. „…Leo.“

Könnte der Ermittler Feuer aus seinen Augen schießen, wäre Adam ein kleines, bedauerliches Häufchen Asche. 

„Halt den Mund“, grollte er zurück und Adam wartete in aller Unschuld auf das, was kommen würde. Er hielt tatsächlich still und vorsorglich den Mund geschlossen, nicht, dass da noch etwas Unpassendes herauskam, schließlich sollte Hölzer… Leo…alleine auf den Gedanken kommen. Und es auch wirklich wollen. Dass der andere Mann vorschnell eine Entscheidung getroffen hatte und diese nun bereute, davon ging Adam fast aus, aber wie er es nun sah, irrte er sich. 

Leo straffte die Schultern und der entschlossene Zug verstärkte sich. 

„…Adam“, presste er so schnell hervor, dass es beinahe nur eine hingehauchte, mit Grollen unterlegte, weiche, melodische Silbe war, die sich diametral von dem damaligen, ängstlichen und widerwilligen Adam aus Hö...Leos Mund anhörte. 

Es klang trotzdem schön, aber Adam hütete sich, das jetzt zu sagen. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 33: Das Wir-Gefühl

Notes:

Einen wunderbaren, verregneten Freitag euch allen! Mit etwas Verspätung hier nun der neue Teil. Vielen lieben Dank euch allen für eure Clicks, Kudos, eure Kommentare <3

Es geht wie versprochen weiter (aufwärts) mit den Herren. Viel Spaß euch beim Lesen und haltet die Ohren steif!

Chapter Text

 

~Ich bin im Übrigen bei meinem hauseigenen Polizisten~, war keine Nachricht, die Vincent an einem Montagnachmittag beruhigend fand, kurz bevor er auf die Autobahn nach Saarbrücken abbog. Adam hatte sich doch schon am Samstag mit Leo Hölzer getroffen, wieso war er heute schon wieder dort? 

Ein ungutes Gefühl wuchs in seiner Magengegend.  

~Ist etwas passiert?~, diktierte er seiner Spracheingabe und wartete sorgenvoll auf eine Antwort. Die Verhandlung hatte letzte Woche begonnen und eigentlich war alles gut gegangen, zumindest hatte Adam ihm diesen kurzen Abriss geben. Alles nach Plan, ihre Verteidigerin gnadenlos wie immer. 

~Im Gegensatz zu gestern? Nein. Er hat nur Sehnsucht nach mir~, erwiderte Adam und Vincent spürte das vertraute Adampochen hinter seiner Stirn. Das war dieser eine, bestimmte Kopfschmerz, der sich immer dann ausbreitete, wenn Adam einen seiner unmöglichen Momente hatte. So wie jetzt. 

Leo Hölzer würde viel haben, aber keine Sehnsucht nach Adam, insbesondere nicht nach dem Start der Verhandlung. Also war etwas passiert und Adam verschwieg es ihm. Seit letzter Woche schon.
~Ich komme~, diktierte Vincent. Zwanzig Minuten noch, dann war er da und konnte sich selbst ein Bild von der Lage machen. 

Zwanzig Minuten waren allerdings auch eine lange Zeit um sich auszumalen, was zwischen den beiden Männern während seiner Abwesenheit alles vorgefallen sein könnte und Vincents Hoffnung auf vernünftige Kommunikation zwischen Adam und Leo reichte nicht aus um seine Ängste vollständig zunichte zu machen. 

Als er schließlich vor Leos Tür stand, klingelte und hereingelassen wurde, ging Vincent zügiger als sonst die Treppe hoch. Er nahm zwei Treppen auf einmal und schulte sein Gesicht auf neutrale Ausdruckslosigkeit. Aufmerksam sah er zu Leo Hölzer, der nun seine Wohnungstür öffnete und ihn überrascht maß. 

Der, so wie es schien, nicht mit seinem Kommen gerechnet hatte. 

„Hallo Leo“, grüßte Vincent ruhig, auch wenn er sich nicht so fühlte und die stumme Erleichterung auf dem Gesicht des Ermittlers sprach Bände. Also war Adam hier und Leo brauchte einen Vermittler. Er hatte keine Angst vor ihm in diesem Moment, was gleichzeitig bedeutete, dass Adam Leo nicht zugesetzt hatte. 

Wie so oft trat Leo ohne Gruß beiseite und Vincent nahm die unausgesprochene Einladung an. Er gestattete sich ein minimales Lächeln und streifte seine Schuhe ab. 

„Adam hat mir Bescheid gesagt, dass er bei dir ist“, erklärte Vincent sich und Leo nickte knapp in Richtung seines kleinen Flurs. 
„Er ist im Schlafzimmer und dann vermutlich wach.“

Was…?

Da waren Worte, die aus Leos Mund kamen und grammatikalisch Sinn ergaben. Vincent hörte sie, er verstand sie, sie machten aber keinen Sinn.
In keiner Welt machte es Sinn, dass Adam sich bei Leo im Schlafzimmer befand, dort schlief – oder eben auch nicht – und dass Leo ihm das mit etwas Anderem als berechtigter Wut mitteilte. 
Vincent blinzelte, in einem seltenen Moment sprachlos und damit einhergehend reglos. Er neigte den Kopf und runzelte die Stirn und sah, wie Leo begriff, was er vorher anscheinend nicht gewusst hatte. 

„Du weißt es gar nicht“, konkludierte der Ermittler vor ihm und hob gar nicht amüsiert die Augenbrauen. Tief atmete er ein und viel zu langsam wieder aus, als dass es Vincent nicht ein ungutes Brennen in der Magengegend verursachte. Was wusste er nicht? 
„Leo, was ist passiert?“
Der andere Mann schnaubte. „Komm mit und sieh selbst.“

Unwohl folgte Vincent ihm und Leo öffnete die angelehnte Tür zu seinem Schlafzimmer. Auf seinem Bett lag Adam, ihnen seitlich zugewandt und anscheinend halb nackt. Seine Wangen hatten einen leichten, rosafarbenen Schimmer und hilfesuchend irrte Vincents Aufmerksamkeit zu Leo, der ihn mit fest zusammengepressten Lippen und verschränkten Armen ansah. 

„Hallo Vince“, grüßte sein bester Freund und Auftraggeber ihn und Vincent sah zu ihm zurück. Er war nur ein paar Tage weggewesen und so sehr er auch Fortschritte zwischen den beiden Männern wollte. DAS hier war viel zu schnell und viel zu verboten. Was dachte Adam sich? 

„Ihr hattet Sex?“, platzte er heraus – direkt und ungewohnt unsensibel. Adam schnaubte und rollte mit den Augen. 
„Schön wär’s“, sagte er, ganz zu Leos Missfallen und Vincent atmete innerlich auf. Wenigstens das hatte sich nicht geändert und Leo Hölzers Abneigung gegen jedwede Form von Körperkontakt zu Adam war weiterhin eine stetige Konstante in diesem ganzen Chaos. Solange dem der Fall war, waren Adam und sein Bedürfnis, sich Leo zu nähern, sicher.
 
Bedeutungsschwanger hob Leo eine Augenbraue und starrte Adam stumm nieder, der beinahe schon trotzig zurückstarrte. Was auch immer sie sich sagten – und seit wann kommunizierten die Beiden derart nonverbal? – Leo Hölzer gewann und Adam drehte sich auf den Bauch. 

Die sanfte Nachfrage blieb Vincent im Hals stecken, als er die großflächigen, brutalen Verletzungen sah, die verschorften und geklebten Wunden. Sie zogen sich den ganzen Rücken entlang, bis unter das Tuch. Er sah das Zeugnis der brutalen Wut von Adams Vater und fragte sich, wieso der Drang seinen Sohn zu züchtigen, in absoluten Hass umgeschlagen war.  

Sie waren allerdings auch ein Testament an all das, was Adam ihm die letzten Tage verschwiegen hatte. Er hatte ihm geschrieben, das alles in Ordnung sei.

Anscheinend war es das nicht und Adam hatte sich lieber an Leo Hölzer gewandt als an ihn. Ihn hatte er angelogen.

Vincent stand wie erstarrt, unfähig etwas zu sagen und zumindest die Haltung zu bewahren oder die unangenehme Stille zu durchbrechen. So etwas war noch nie dagewesen, nicht in den Jahren, in denen er nun bei Adam war und es tat weh. Wieso hatte Adam ihn nicht angerufen? Wieso hatte er keinen Ton gesagt oder geschrieben? Vincent hätte doch für ihn da sein müssen. Dass er Leo Hölzer ihm vorzog war so bitter, wie Vincent sich schon lange nicht mehr gefühlt hatte. 

„Ich lasse euch mal alleine“, sagte Leo Hölzer ruhig, doch Vincent hatte Probleme, die Worte durch das Rauschen in seinen Ohren zu verstehen. Er nickte betäubt.


~~**~~


So gut Adam es auch gemeint hatte, dass er Vincent nicht mit dem direkten Fallout konfrontierte, so klar erkannte er jetzt auch, dass er Mist gebaut hatte. Großen, dummen Mist. Auf Vincents Gesicht stand deutlich der Vertrauensbruch und die damit einhergehenden, schlimmen Emotionen für seinen besten Freund. Damit hatte Adam offen gestanden nicht gerechnet und spürte nun ein derart schlechtes Gewissen, das es ihm den Hals zuschnürte. 

Erstmal drehte er sich unwohl wieder auf die Seite und hob seine Hand. Das ging mittlerweile besser – dank der Hölzerschen Pflege und den Schmerztabletten, die er bekam. Er winkte Vincent heran. 
„Komm her“, lockte er sanft und das Zögern auf dem Gesicht des vor ihm stehenden Mannes sprach Bände. Adam winkte nochmal. „Na los, lass mich erklären.“ Und vielleicht entschuldigen, wenn er es über die Lippen brachte. Es wäre gut, wenn er es täte, allerdings wusste Adam noch nicht, ob er auch die Kraft dazu aufbringen würde.

Vincent kam tatsächlich zu ihm und setzte sich auf das Bett, seine Augen wie gebannt auf das Schlachtfeld von Adams Rücken gerichtet. Als gäbe es nicht Wichtigeres und als wäre Adam nur darauf beschränkt. 

„Mir geht es gut, Vince. Es ist nicht mehr so schlimm wie Freitag“, versuchte er ihn zu beruhigen und erreichte damit das Gegenteil. Die steile Schmerzfalte kehrte zurück auf Vincents Gesicht. 
„Warum hast du nichts gesagt? Ich wäre sofort zurückgekommen um mich um dich zu kümmern“, fragte er mit rauer Stimme und Adam seufzte.
„Weil du bei deiner Mutter warst und sie deine Hilfe brauchte, deswegen. Außerdem habe ich mich mit Leo am See getroffen und er hat geholfen.“
Vincents Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. „Leo?“
Vorsichtig zuckte Adam mit den Schultern. Auch das ging mittlerweile wieder einfacher, aber eben noch nicht schmerzfrei. Überhaupt war an sitzen nicht zu denken, danke für das Engagement, den verhassten Arsch seines verhassten Sohnes mit besonderer Aufmerksamkeit zu bedenken. „Das ist eine Geschichte für gleich.“

„Noch eine.“ Ein sanfter Vorwurf an Adam, der nur zu wahr war. 

„Die Dreckssau hat auf mich eingeprügelt, weil Tangermann wieder aufgetaucht ist und ausgesagt hat. Er hat mir die Schuld gegeben und irgendwie stimmt das auch, weil ich Leo nicht gefragt habe. De facto haben wir das Thema das Wochenende über ignoriert und ich habe keine Ahnung, ob er es vorher gewusst hat oder nicht. Aber er hat sich gut gekümmert und seine Schwester hat meine Verletzungen versorgt. Und ich wollte dich nicht stören, deine Mutter ist wichtiger.“

Vincent kämpfte mit seinen Worten und ihrer Bedeutung. Stürmisch runzelte er seine Stirn, der Zug um seine Lippen so streng wie bei Leo am Anfang und so sorgenvoll wie immer, wenn es um Adam ging. Vincent ließ ihn nicht aus den Augen und unwohl wand sich Adam unter der Musterung und den Emotionen, die er hervorgerufen hatte. 

„Es war nicht böse gemeint“, schob er nach, ganz der stumm Gescholtene. „Ich wollte nur, dass du ein schönes Wochenende hast und ich wollte Leo sehen, deswegen bin ich zum See gefahren. Aber dann konnte ich nicht mehr und er wollte mich ins Krankenhaus bringen. Ich habe es ihm verboten und dann hat er mich mit hierhin genommen.“

Vincent seufzte und ließ sie Schultern hängen. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. 

„Warum hast du mir nichts von Tangermann erzählt, Adam? Das muss ich wissen.“
„Weil sich die Dreckssau dafür schon ausgetobt hat.“
„Das meine ich nicht. Was ist mit der Polizei und Staatsanwaltschaft? Woher wussten sie, wo er war? Er wird sich nicht selbst gestellt haben, Adam.“

Das hatte er davon, dass er das Thema in die hinterletzte Ecke seiner Gedanken geschoben hatte. Das war eine sehr gute Frage, auf die Adam keine Antwort hatte. Nur die, dass Leo womöglich davon gewusst hatte. Sie würden ihn fragen müssen, wenn Adam wieder auf den Beinen wäre und nicht unterschwellig nach Leos Gegenwart verlangte. 

„Keine Ahnung, Vince. Wir werden ihn fragen.“
„Nicht nur ihn. Ich muss telefonieren und mit den anderen Verknüpfungen sprechen. Wenn uns das Netzwerk entgleitet, dann wird dein Vater wieder zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehren und wir haben uns geschworen, das nie wieder zuzulassen.“

Adam presste seine Lippen fest aufeinander und rückte sich unwohl auf dem Bett zurecht. Er haschte nach Vincents Fingern und verschränkte ihrer beider Hände ineinander. 
„Ich wollte dir nicht wehtun damit. Ich wollte dich nur schützen. Ich wollte nur…Gesellschaft.“
„Seine.“
Seufzend nickte Adam, sah zur Seite. „Ja, seine.“
„Reicht dir meine nicht mehr?“

Adam wusste, welches schwere Gewicht hinter der rauen Frage steckt und es tat ihm weh, das zu hören. Vincent war damals desillusioniert und verletzt nach Saarbrücken gekommen und in die Fänge seiner Leute geraten, die ihm ohne Zustimmung Stoff verabreicht hatten. Adam hatte, selbstlos wie er nun einmal war, Vincent aus dem Club mit nach Hause genommen und festgestellt, dass der zurückhaltende Mann mit den traurigen Augen mit ihm auf einer Wellenlänge lag. Im Lauf der Zeit hatte er festgestellt, dass er sowohl Vincents Leben rettete als auch, dass dieser seins rettete. Sie waren eine verschworene Einheit, zwischen die nichts kam. Das war auch jetzt so. 

„Du weißt, dass du mir die Welt bedeutest, Vincent“, sagte Adam leise. „Wir beiden, wir gehören zusammen, immer und ewig. Ich würde niemals deine Gegenwart gegen die eines anderen tauschen wollen. Niemals.“

Adam zog Vincents Hand zu sich und presste einen sanften Kuss darauf. Die Unsicherheit aus den blauen Augen verschwand Stück für Stück und machte der Zuneigung Platz, die sie beide füreinander empfanden. Adam rieb seine Wange an Vincents Hand, sah hoch zu ihm, während seine Freund nachdenklich schwieg.

„Warum nennst du ihn Leo?“, fragte er und ein kurzes Lächeln huschte über Adams Lippen.
„Ich habe im Qwirkle gewonnen und der Wetteinsatz waren unsere Vornamen.“
Zweifelnd hob Vincent die Augenbrauen. „Du hast geschummelt beim Spielen“, sagte er und Adam fuchste, dass es noch nicht einmal eine Frage war. 
„Nein!“, grollte er. „Das war ehrlich gewonnen.“
„Hmmh.“
„Vince! Das stimmt!“
„Hmmh.“

Adam biss Vincent in die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und nun war es an dem anderen Mann zu protestieren.
„Aua! Hör auf, Dracula!“ Eher erfolglos versuchte Vincent, Adam seine Hand zu entziehen und er grinste.
„Wohl eher Zombie-Adam“, nuschelte er und saugte an der geschundenen Stelle. Vincent schauderte und die Erbostheit trat etwas in den Hintergrund.
„Dir ist klar, wie verletzlich du dich ihm gegenüber gezeigt hast, oder? Er, der mal eine Verknüpfung gewesen ist und eigentlich immer noch eine sein sollte, Adam.“

Adam hatte keine Antwort auf Vincents mahnende Worte, nicht wirklich. Nun gut, hatte er schon, allerdings würde die weder Vincent noch ihm selbst gefallen. Und alles würde sowieso enden, wenn die Dreckssau endlich den Löffel abgab und sie auswandern konnten. Nur er und Vincent…und vermutlich sein Adam auch noch, denn ohne den konnte Vincent auch nicht. 

Mit einem letzten bespeichelnden Schmatzen ließ Adam Vincents Hand gehen. „Ist er nicht mehr so“, gab er leise zu und Vincent schüttelte den Kopf. 
„Für mich schon, Adam. So sehr ich ihn schätze, er ist ein Rädchen in unserem Getriebe und wir brauchen die Informationen, die er uns liefert. Auch und gerade zum Linz-Fall. Fällt er aus der Reihe, wird dein Vater sich ihn greifen und das wollen wir nicht. Das wird immer zwischen euch stehen, egal, wie viel Verständnis wir für ihn haben werden und wie sehr wir ihn schützen wollen. Und dass wir ihn schützen wollen, darin sind wir uns einig.“

Zerknirscht sah Adam zur Seite und drückte seinen Kopf in das Kissen, das mittlerweile eigentlich nur noch nach ihm und nicht mehr nach Leo roch. Eine Schande, das. 
„Ja, das wollen wir“, stimmte er zu und Vincent strich ihm nach ein paar Sekunden liebevoll die Strähnen hinters Ohr. 
„Wie geht es dir denn?“, hakte er sacht nach und Adam knirschte mit den Zähnen. 
„Ich kann mich nicht richtig bewegen und alles tut weh. An aufstehen ist immer noch nicht wirklich zu denken und mittlerweile fängt es schon an zu jucken. Ich könnte kotzen. So kotzen.“
„Dir ist klar, dass du so nicht in seine Nähe kannst?“
„In Leos?“
„Nein. Die deines Vaters.“

Adam schnaubte. „Ja, ist es.“

Aus dem Augenwinkel heraus sah Adam, wie Vincents Hand über seinem Rücken schwebte. 
„Darf ich?“, fragte seine rechte Hand und Adam brummte. Wenn jemand durfte, dann Vincent und Momente später spürte er dessen sanfte Finger, wie sie an einer der wenigen unverletzten Stellen kratzten. Adam stöhnte auf, tief und vermutlich auch viel zu laut. Aber das tat gut. 

Es. Tat. So. Gut. 

„Du bist der Beste“, schauderte er und Vincent hauchte ihm einen Kuss auf den Haarschopf. 
„Wenn du mich noch einmal nicht darüber informierst, was dir passiert und mir gegenüber Informationen auslässt oder mich anlügst, kratze ich dir nie wieder über den Rücken. Verstanden?“

Die Drohung, so neutral und sachlich sie ausgesprochen, hatte Vincents ganz bestimmten Unterton, der vor Dominanz nur so strotzte. Adam schluckte schwer. 
„Ja, Herr, verstanden“, erwiderte er, nur so halb zum Spaß. 
„Gut“, bestätigte ihm Vincents sehr sanfte Bestätigung seinen Eindruck.


~~**~~


Akribisch spülte Leo das Geschirr ihres nachmittäglichen Kuchenessens, darauf bedacht, auch alle Speisereste davon abzulösen. Das war eigentlich der Job seiner Spülmaschine, aber er brauchte einfach etwas zu tun, während Ross mit Adam sprach. Und dieser laut durch seine Wohnung stöhnte, die nicht einmal im Ansatz so schallisoliert war wie vermutet. 

Natürlich hatte sein Wochenendgast nichts, aber auch gar nichts gesagt und nun hatte Leo die beiden Männer samt ihres Konfliktes in seiner Wohnung. Er hätte Ross also doch Bescheid sagen sollen, damit dieser zurückkam und ihm Adam abnahm. Schürk…Adam…Leo grollte innerlich. Er gewöhnte sich sonst doch nicht so schnell an Vornamen, wieso also jetzt?

Weil die letzte Nacht etwas bedeutet hat, antwortete er sich innerlich. Weil du zu weich bist, schon immer gewesen. Weil du Gerechtigkeitsfanatiker bist und der blonde, unmögliche Mann sowohl Täter als auch Opfer war. 

Aber wenigstens würde Ross Adam heute wieder mitnehmen und er hätte seine Wohnung und sein Bett für sich alleine. Da müsste er nur Caro Bescheid sagen, die in einer Stunde ebenfalls kommen und sich noch einmal von Adams Genesung überzeugen wollte.

Einen kurzen Moment lang huschte die Vorstellung durch seine Gedanken, wie es wohl wäre, wenn sie alle vier hier wären: Caro, Ross, Adam und er. Es würde chaotisch sein, aber er würde keine Angst mehr haben. Nicht so wie vor Weihnachten, wo er auf jede von Caros Bewegungen und jedes ihrer Worte gelauert hatte, damit sie dem blonden Mann bloß keine Angriffsfläche bot. 

Leo stellte fest, dass die Beiden sich in punkto Bissigkeit nichts schenken würden und er eigentlich gespannt wäre, wer den Schlagabtausch gewinnen würde. 

Er hörte, wie sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete und schloss. Wenig später kam Ross zu ihm in die Küche und deutete auf seine Kaffeemaschine.
„Dürfte ich mir einen machen?“, fragte er höflich und Leo öffnete seinen Tassenschrank. Kommentarlos nahm er eine Tasse heraus und stellte sie unter die Kaffeeausgabe, drückte den Knopf. Er lauschte dem Mahlen der Bohnen und sah, wie das schwarze Gold den Boden der Tasse bedeckte. Schwarz, ohne Milch und Zucker trank Ross seinen Kaffee, wie Leo mittlerweile wusste. Immer noch schweigend trat er von der Maschine zurück und der andere Mann nahm sich die Tasse dampfenden Gebräus. 

Sie schwiegen einvernehmlich die ersten Schlucke, bevor Ross tief durchatmete und die Tasse in beiden Händen barg.
„Er ist seit Freitag bei dir“, sagte er und Leo nickte. Aufmerksam musterte er Vincent, der mit seiner Aussage anscheinend auf etwas Anderes hinauswollte. „Und du kümmerst dich seitdem um ihn?“
„Caro übernimmt die medizinische Versorgung.“ Das war eine partielle Antwort und der Analyst in Vincent ließ Leo das auch sehen. Leo presste die Lippen aufeinander. 
„Ich kümmere mich um die anderen Sachen.“ Das Essen. Die Spiele. Die Alpträume. 
„Hast du Fragen dazu?“

Da war er wieder, Vincent, der Übersetzer, ohne den er kurz vor Weihnachten und danach vermutlich heute nicht hier so stünde. Aber nein, Leo hatte dazu keine Fragen mehr, nicht nach drei Tagen, in denen die Anwesenheit des Mannes in seinem Bett von einem Stachel zu einem Rauschen geworden war, das stetig im Hintergrund präsent war, aber seine schmerzhafte Ungewohntheit verloren hatte. Außerdem war das Sofa überraschend bequem.
Er schüttelte den Kopf und wich der ausgiebigen Musterung des anderen Mannes aus, der viel zu aufmerksam war. 

„Hat er sich gut benommen?“, wollte Ross und Leo seufzte. 
„Worauf willst du hinaus?“, stellte nun seinerseits die kritische Gegenfrage und ein verlegenes Lächeln huschte über das herzförmige Gesicht. 
„Er ist manchmal nicht einfach, wenn er Schmerzen hat.“ Vorsichtige Worte, die mehr andeuteten, als Leo jemals wissen wollte. Die letzten Tage jedoch waren…nicht schlimm gewesen. Sie waren ehrlich und schmerzhaft und augenöffnend. Aber schlimm? 

„Gemessen an dem, was er mir am Anfang angetan hat, war das okay“, erwiderte er entsprechend abwiegelnd und Vincents Mimik wurde weicher. 
„Wenn es etwas war, über das ich mit ihm sprechen soll, dann sag mir das.“

Leo schüttelte den Kopf und drehte sich der Anrichte zu. Es gab nichts, über das Ross mit Adam sprechen musste. Nein…das hatten sie über das Wochenende selbst geschafft ohne sich dabei umzubringen. Sein Blick glitt über den Kühlschrank. Für heute hatte er Resteessen geplant, alleine an seinem Esszimmertisch oder vor dem Fernseher. Er musste heute nicht mehr frisch für zwei kochen. Da war gut, oder nicht?

Ross nutzte die Gelegenheit seiner Unaufmerksamkeit und berührte ihn am Oberarm. Leo riss sich aus seinen Gedanken los und sah fragend hoch.

„Es ist nicht einfach, dass er hier in deiner Wohnung ist, oder? Du magst deine Räume für dich.“
Stimmt, Leo hatte den Fehler gemacht Ross auf einem ihrer Spaziergänge auf Nachfrage von seinen Gewohnheiten zu erzählen und dass es für ihn schlimm gewesen war, dass Adam einfach so hier aufgetaucht war. Den wahren Grund hatte er ausgelassen. Falls Ross es noch nicht wusste, würde er es nicht von ihm erfahren.  

„Ich habe ihn am See eingesammelt und mitgebracht“, grollte Leo entsprechend unerfreut über sich selbst und zuckte mit den Schultern. „Er wollte nicht ins Krankenhaus, da blieb mir keine Wahl.“
„Du hättest mich anrufen können. Trotz seiner Worte.“

Dunkel maß Leo Ross, der ihn beinahe entschuldigend anlächelte. „Kann ich ahnen, dass er mich belügt oder mir partiell die Wahrheit sagt?“, fragte und noch während die Worte seinen Mund verließen, schmunzelten sowohl er als auch Adams rechte Hand. Wobei lügen war nicht das richtige Wort für den blonden Mann. Auslassen von ganzen Wahrheitssträngen, traf es wohl eher.
 
„Wann brecht ihr auf?“, fragte Leo und konnte die geteilte Hoffnung auf ein baldiges Aufbrechen nicht ganz aus seiner Stimme tilgen. Ross, der Feinfühlige, hörte das und der Ausdruck in seinen Augen nahm etwas Sanftes an. Etwas Bittendes. Etwas, das Leo nicht genau identifizieren konnte, das aber sämtliche innere Alarmglocken schrillen ließ. 

Aufgescheucht blinzelte er. „Ihr brecht doch auf… oder?“, fragte er und das Schweigen des Mannes ließ seinen Puls schneller schlagen. „Ross?“, grollte er unsicher, als immer noch nichts kam und der andere Mann anscheinend mit seinen Worten rang. „Vincent?!
„Leo, ich habe eine Bitte“, formulierte dieser das, was kam, möglichst sanft und Leo war für einen Moment versucht, ihm seinen Kaffee ins Gesicht zu schütten. Als wenn das eine Bitte werden würde, was jetzt kam. Klar…es war eine, aber die Frage war, ob Leo wirklich ablehnen können würde. 

Was wollte er? Einen Tag mehr? Weil was? Ross konnte Adam doch wieder mitnehmen. Er war doch hier, Schürk hatte seine eigene Wohnung. Jetzt war jemand da, der aufpasste. 

„Welche?“, knurrte Leo und Ross strich sich verlegen die lockigen Haare zurück hinter die Ohren.
„Du weißt, von wem Adam verletzt wurde?“
„Ja“, erwiderte Leo knapp und verschränkte seine Arme.

Ross zögerte und haderte sichtlich mit sich. Als er zu einem Schluss kam, straffte er die Schultern und stellte den Kaffee ab. „Sein Vater wird immer gewalttätiger. Das dort…auf seinem Körper…“ Er schluckte. „Das ist noch nie so vorgekommen. Er hat ihn noch nie derart geschlagen, dass er nicht aufstehen konnte.“
Zähneknirschend hörte Leo den Worten zu. Das wusste er nur zu gut, Adam hatte es ihm gesagt. Er hatte es gehört in Adams fürchterlichen Alptraum. 

„Ich wüsste ihn gerne in Sicherheit“, fuhr Ross fort und Leo blinzelte. Blinzelte erneut, als ihm Stück für Stück die Bedeutung dessen bewusst wurde, was ihm gerade gesagt worden war. In Sicherheit. Bei ihm. Nicht in seiner eigenen Wohnung oder bei Ross. Bei ihm. 
„Nicht dein Ernst.“
„Doch.“
„Bei mir in Sicherheit?“
„Na du wirst ihn kaum schlagen, oder?“

Leo wandte den Blick ab. Genaugenommen hatte er das bereits getan und er stand immer noch dazu, dass er Schürk bei ihrem widerlichen ersten Zusammentreffen ins Gesicht geschlagen hatte für das, was der andere Mann ihm angetan hatte. Auch wenn es falsch war und eine kleine, innere Stimme ihm sagte, dass der Mann, der in seinem Bett lag, viel zu viel Schläge für ein ganzes Leben erhalten hatte. 

„Du wirst nicht mit einem Gürtel auf ihn losgehen und ihn solange schlagen, bis er sich nicht mehr rühren kann“, präzisierte Ross und die Wut, die bei den Worten in seiner Stimme lag, bezog sich nicht auf Leo, das spürte er. Er spürte und sah Ross‘ Sorge um Adam und einen Moment lang hatte er ein komisches Gefühl in der Magengrube angesichts der Freundschaft der Beiden. 

„Das würde ich nicht“, bestätigte er und kam sich komisch dabei vor. Als würde er etwas Geheimes von sich preisgeben. Nichts davon war geheim, sowohl Schürk als auch Vincent wussten sehr gut, dass er zu destruktiver Gewalt gegen andere nicht fähig war. 
„Er kann noch nicht wirklich aufstehen“, fuhr Ross fort. „Er ist seinem Vater schutzlos ausgeliefert, wenn dieser vorbeikommen sollte. Bei dir…ist er in Sicherheit. Du passt auf ihn auf.“ Sanft waren Ross‘ Worte und Leo blinzelte. Ein ungutes Gefühl manifestierte sich in seiner Magengrube bei dem Gedanken daran. 

In Sicherheit. Er passte auf ihn auf. Ja, das tat er, hatte er getan, aber nur, weil sonst niemand geholfen hätte. Es war doch nicht seine Zuständigkeit, dafür war Ross doch da. 

„Ich will das nicht“, sagte er leise und drehte sich weg von Vincent, weg von diesen blauen Augen. Kopfschüttelnd ging er zu seiner Terrassentür, sah hinaus in den grünen Innenhof. „Ich will das nicht“, wiederholte er. „Ich…“ Er verstummte, als Vincent neben ihn trat. 
„Ich weiß, dass du das nicht willst und ich würde dir nicht aufbürden, dich um Adam zu kümmern, wenn ich einen anderen Weg wüsste. Bitte Leo, er ist hier in Sicherheit. Bei dir. Hier können seine Wunden in Ruhe verheilen, bis er wieder genug Kraft hat zu gehen und sich seinem Vater zu stellen.“

Leo schnaubte verächtlich. „Und dann?“, fragte er grollend, wandte sich abrupt Ross zu. „Geht er wieder zurück, wird wieder verprügelt. Ist das der Plan? Am Freitag war er halb tot, als er am See angekommen ist. Sein Anzug ist voller Blut. Er kann sich nicht rühren und das Einzige, was dir dazu einfällt, ist, ihn solange zu verstecken, bis er wieder laufen kann, damit es dann wieder von vorne losgeht. Was ist euer Plan, wenn es das nächste Mal wieder passiert? Wieder zu mir? Darf Caro dann wieder jeden Tag kommen und gucken, ob sich von den offenen Wunden keine entzündet hat? Oder von den geklebten?“ Seine Stimme war laut geworden vor Wut und Ross stand ratlos vor ihm, hatte keine Antwort darauf. 

Eine Bewegung in seinem Augenwinkel ließ Leo herumfahren und der in Rede stehende Mann stand am Durchgang zwischen Wohnzimmer und Flur. Er lehnte bleich und mit dem leichten Laken um seine Hüften herum am Türrahmen, stützte sich schwer auf das Holz. Feiner Schweiß stand auf seiner Stirn, deutete darauf hin, dass er schon länger dort war und gelauscht hatte. 

„Vincent, lass es“, versuchte Adam sich an einem strengen Ton, der durch die Anstrengung des Aufstehens zunichte gemacht wurde. Durch die Erschöpfung der Verletzungen und des Heilungsschmerzes. „Ich zieh mir was an und dann gehen wir.“

Ross schüttelte ungewöhnlich ungnädig den Kopf. „Du bist nicht in der Verfassung, um ihm gegenüber zu treten, wenn er dich sehen will. Du kannst noch nicht einmal richtig stehen. Was, wenn er wieder zuschlägt?“
„Du hast ihn doch gehört. Er will das nicht“, erwiderte Adam mit einem seltsamen Unterton in der Stimme und Leo musterte ihn dunkel. „Ich nutze ihn seit Freitag als billigen Essens- und Medizingeber, das muss reichen.“ 

Spöttische und verletzende Worte, die, so erkannte Leo, herabspielen sollten, was Adam wirklich dachte. Er spielte herunter, wie sehr er eigentlich das Gegenteil wollte, damit Ross aufhörte zu diskutieren. Leo war mitnichten ein billiger Essens- und Medizingeber, genauso wenig wie er Adam einfach so sinnlos wieder loswerden wollte. Aber er wollte auch wissen, wie es danach weitergehen sollte. Das lag noch nicht einmal daran, dass die Gelegenheit nie günstiger als jetzt gewesen war, Adam davon zu überzeugen, das Syndikat zu verraten. Nein. Daran dachte er jetzt nur marginal. Es ging ihm wirklich um…dessen Wohlergehen.

Leo schnaubte, als er sah, wie leicht auch Ross diese Taktik durchschaute und doch hilflos war, weil er nicht so diskutieren konnte wie er wollte mit ihm im gleichen Raum. 
„Adam, du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Du…“
„Ich habe gesagt, wir gehen“, erwiderte Adam abrupt so schneidend kalt, dass es Leo schauderte, erinnerte ihn dieser Ton doch nahtlos an den Schürk von vor einem Jahr. Instinktiv senkte er den Blick, richtete ihn gen Boden, automatisch ausharrend, was kommen mochte. 

Für die ersten Momente war es nur Stille und das schwere Gefühl der Aufmerksamkeit beider Männer. Es gab Leo die Zeit, sich bewusst zu werden, dass es nicht mehr so war wie vor ein paar Monaten. Er hatte keine Todesangst mehr, auch wenn das Gefühl dessen immer wieder aufflammte, wenn die über Monate antrainierten Verhaltensweisen wieder im Vordergrund standen. 

„Willst du das, was du tust, wirklich gehen nennen? Du hältst dich kaum aufrecht und bist kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren“, hielt Ross gnadenlos dagegen, seinerseits so streng, wie Leo ihn am Anfang oft erlebt hatte. Es machte das Gefühl der Unsicherheit nicht besser und Leo fühlte sich so fürchterlich wie schon lange nicht mehr. Mit jeder Sekunde wurde es unerträglicher in dem Raum, näher an den schrecklichen, ersten Monaten als am jetzigen Zustand. 

Rational wusste er, dass sich die Wut beider Männer nicht gegen ihn richtete, doch das tat seiner irrationalen Seite keinen Abbruch. Er fürchtete mit einem Mal irrational wieder um die Konsequenzen, die das für seine Familie haben würde, für Caro, die bald kam. 

„Das lass ruhig meine…“, begann Schürk und ließ seine Worte dann verklingen ohne seinen Satz beendet zu haben. Anscheinend kommunizierte er nonverbal mit Ross, der Leo schließlich sacht am Oberarm berührte. 
„Hey. Leo? Ist alles in Ordnung?“, fragte er sanft, in dem gleichen Tonfall wie nach Leos Versuch, sie alle umzubringen. „Leo, bist du noch bei uns?“

War er das? Er wusste es nicht. Wieso kam das jetzt auf? Er war doch so stark gewesen in der letzten Zeit und es hatte sich doch alles gebessert. Einschließlich des Verhaltens beider Männer. Einschließlich seiner Gedanken zu Schürk und Ross. 
„Ja“, log Leo und drehte sich um, öffnete mit zittrigen Fingern die Balkontür. Frische Luft wäre gut. Abstand wäre gut. Klare Gedanken wären gut. 

Die warme Frühsommerluft half ihm dabei, es gut werden zu lassen. 

Nach und nach klang seine Angst ab und er konnte seine Erinnerungen wieder dorthin zurück verbannen, wo sie herkamen. Nachdenklich starrte Leo auf den Innenhof und biss sich an dem gewohnten, harmlosen Anblick fest. Er klammerte sich an seiner Normalität fest. Es war nicht mehr wie früher, Schürk war nun Adam und er war…anders. Ross war anders. Sie würden nicht so sein wie vorher. Leo war nicht mehr hilflos. 

Leo drehte sich zurück und sah, wie Adam an der Wand zu Boden rutschte, gerade noch aufgefangen durch Ross. Als wenn er sich bewegen könnte oder er seinem sadistischen Vater etwas entgegenzusetzen hätte, wenn dieser erneut zuschlug. Als wenn Adam dem Monster jemals etwas entgegen zu setzen gehabt hätte. 

Natürlich war es Mitleid, das Leo empfand. Und mit dem Mitleid kam der Zorn. Darüber, dass er seine Ideale mit Füßen treten musste. Er war Polizist, verdammt nochmal. Er war niemand, der Straftaten einfach so akzeptierte. Schürk Senior gehörte hinter Gittern. Weit weg von seinem Sohn. 

Ruckartig riss Leo die Balkontür hinter sich auf und kam zurück in sein Wohnzimmer. Er schloss sie hinter sich, sperrte damit neugierige Nachbarn aus, die die ihm auf der Zunge liegende Tirade nicht mitbekommen sollten. 

„In Sicherheit? Bei mir?“, fragte er grollend. „Für wie lange bleibt das dann so, bis er das nächste Mal zuschlägt? Und ihr akzeptiert das, ihr fügt euch diesem Monster und lasst ihn gewähren, anstelle euch an die Polizei zu wenden und dem Ganzen ein Ende zu bereiten!“
„Hab ich doch“, murmelte Schürk mit latenter Ironie, doch die machte Leo nur noch unerfreuter. 
„Ja, an mich. Kann ich zu den Kolleginnen und Kollegen gehen und sagen, warum du hier bist? Warum ich dich duze und dich beim Vornamen nenne? Nein. Kann ich nicht. Er schlägt dich. Seit deiner Kindheit. Er verprügelt dich so stark, dass du nicht mehr laufen kannst. Immer noch nicht, seit Freitag. Und ich muss darüber schweigen, obwohl dein Vater ins Gefängnis gehört dafür! Oder soll ich die Kollegen anrufen, damit sie deine Aussage aufnehmen?“

Vincent hatte wenigstens den Anstand, alarmiert auszusehen, während Schürk ihn nur finster anstarrte. 
„Untersteh dich“, murrte er und Leo hob seine Augenbraue. 
„Sonst was? Stehst du auf und hältst mich davon ab? Wie gut das geht, habe ich gerade gesehen.“
Vincent blinzelte. „Leo, du…“
Leo wandte sich abrupt an den gelockten Mann. „Ich habe mich um ihn gekümmert. Seit Freitag. Ich habe erfahren, was sein eigener Vater ihm antut. Und jetzt? Du bittest mich, dass er hierbleibt. Was passiert, wenn ich nein sage und dann sein Vater heute oder morgen wieder zuschlägt? Dann bin ich schuld.“ Leo grollte. „In meinen Augen wäre das dann Beihilfe. Kann ich mir das verzeihen? Ich denke nicht. Also hört auf, rumzudiskutieren und du bewegst seinen Arsch“, er deutete mit seinem Zeigefinger energisch auf Schürk, „…zurück ins Bett. Ich will ihn hier heute nicht mehr sehen.“

Nach seinen wütenden Worten kehrte schwere Stille ein und Ross konnte anscheinend gar nicht aufhören, ihn mit großen Augen anzustarren. Adam war es, der seinen Handlanger schließlich mit dem Ellbogen anstieß.  

„Ich mag es, wenn er streng ist. So ist er schon seit Freitag“, murmelte er laut genug für Leo und Leo knirschte unerfreut mit den Zähnen. Wenigstens Ross hatte genug Verstand um zu begreifen, dass Leo dieses Angebot nur einmal machen würde und nickte mit einem ungewohnt scheuen, dankbaren Lächeln. Er erhob sich und hievte Adam vorsichtig auf die Beine, zog den blonden Mann mit sich zurück ins Schlafzimmer und gab Leo damit Raum, sich seiner Entscheidung bewusst zu werden. 

Mit ihr klarzukommen. 

Er hatte gar nicht gefragt, für wie lange, fiel ihm jetzt auf.


~~**~~


Neugierig sah Caro von Leo zu Vincent und von Vincent zu Adam. 
Sie balancierte den Teller Nudeln mit Bolognese vorsichtig auf ihrem Oberschenkel, um ja keine roten Flecken auf Leos penibel sauberen Schlafzimmerboden zu machen, aus Angst vor dem Zorn ihres Bruders. Den anderen beiden Männern schien das ähnlich zu gehen, was auch vielleicht daran liegen mochte, dass Leo zwischenzeitlich wie ein Hütehund den Teppich und in Adams Fall das Bett begutachtete. 

Selbst Schuld, mochte Caro meinen, er hätte ja auch Nudeln mit Sahnesauce kochen können – die hätten weniger auffällige Flecken gegeben.

Dass sie hier saßen, war im Übrigen einzig und alleine dem Umstand geschuldet, dass Adam anscheinend durch Leo ins Bett verwiesen wurde und sich nun weigerte, es zu verlassen, weil er Angst vor der drakonischen Strafe ihres Bruders hatte. Caro glaubte ihm das ebenso wenig wie Leo, dennoch hatten sie sich dazu entschlossen, der Sturheit des blonden Mannes nachzugeben. Aus medizinischem Blick waren die Fortschritte, die er trotz dessen machte, gut und so konnte er auch vorsichtig an seine Seite gelehnt sitzen, vor ihm ein Holztablett mit seiner Portion. Seine Gesichtsfarbe hatte ein deutlich weniger gräuliches Weiß und in seinen Augen fand Caro den alten Widerspruchsgeist, den sie auch schon an Weihnachten gesehen hatte.

Neben ihm auf dem Sessel saß Vincent, der sympathische, außergewöhnliche Mann, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, der aber anscheinend zu Adam gehörte und dessen Dasein Leo ihr schlichtweg verschwiegen hatte. 

Das nahm sie ihm immer noch ein bisschen übel. Schon wieder hatte ihr Leo einen Freund unterschlagen. Schon wieder hatte er nichts über so einen schönen Mann in seinem Umfeld erwähnt. Vincents lockige Haare umrahmten sanft sein weiches Gesicht und von den blauen, kajalumrandeten Augen brauchte sie gar nicht erst anfangen zu schwärmen. 

Er hatte sie gleich von der ersten Minute an verzaubert und mit seinem Charme eingefangen, wenn sie es sich ehrlich eingestand. Dass Leo hingegen am Liebsten eine Trennwand zwischen ihr und Vincent aufbauen würde, sah sie und es amüsierte sie. 

Ihr geheimniskramender Bruder.

„Und ihr beiden kennt euch?“, fragte sie um die momentane Stille zu überbrücken und deutete auf Adam und Vincent. Beide nickten unisono. „Hast du Leo über Adam kennengelernt oder hat Adam ihn über dich kennengelernt?“
Neben ihr hörte Leo auf zu essen und starrte für den Bruchteil eines Augenblicks blind auf seinen Teller. Verwundert runzelte Caro die Stirn. Da war keine Freude in Leos Gesicht darüber, sondern nur Nachdenklichkeit gemischt mit Schmerz. 

Sie erinnerte sich an seinen panischen Anruf vor Weihnachten und an sein Dementi, dass seine Verzweiflung nichts mit Adam zu tun hatte. Sie erinnerte sich an das erste Zusammentreffen mit Adam hier in Leos Wohnung. Er war angespannt gewesen, schlimmer als jetzt, aber da war die gleiche, steile Falte auf seiner Stirn wie damals. 

Caro streckte ihre Hand aus und strich Leo über den Oberschenkel. Zärtlich lächelte sie und wurde mit einem kleinen Lächeln belohnt, als ihr kleiner Bruder sich aus anscheinend unguten Erinnerungen löste. 

„Ich habe beide gleichzeitig kennengelernt, im Rahmen einer Ermittlung“, sagte er und die ersten Silben verließen mit Mühe seinen Mund. Er fing sich noch im Satz und wurde neutraler, aber wahre Freude war etwas Anderes. 

Caro wurde bewusst, dass es kein schönes Kennenlernen gewesen sein musste, eben auch, weil sowohl Vincent als auch Adam verdächtig still und angespannt waren.

„Unglaublich, dass dein Essen mal nicht nachgesalzen werden muss“, sagte Adam und irritiert sah Caro von Leo zu ihm. Klar, Leos Essen war notorisch ungewürzt, aber dass er das so todesmutig auch noch direkt in Leos Gesicht sagte, war…dumm. 
„Gut für dich, sonst hättest du aufstehen und in die Küche gehen müssen“, erwiderte Leo und lächelte so gemein, wie nur sie beide manchmal miteinander umgingen. Caro atmete auf. Ein Leo, der so bissig dagegenhielt, war ein entspannter Leo und einer, der sich in seiner Haut gerade wohlfühlte. Caro verschloss demonstrativ die Lippen und sah Vincent schulterzuckend an.

„Sind sie immer so?“, fragte Caro und Vincent nickte mit verzweifelt gekräuselter Nase.
„Schlimmer. Sie benehmen sich gerade noch.“ 
Sie zwinkerte. „Wenn du mal Ruhe brauchst, kannst du Leo fragen, wo du mich findest. Ich habe den besseren Kaffee und bin auch nicht ganz so gemein wie mein Bruder.“
„Caro!“, schnaufte Leo von der Seite empört, wurde aber sowohl von Vincent als auch von ihr rundheraus ignoriert.
 „Das klingt hervorragend. Die Beiden alleine zu lassen, birgt allerdings auch Gefahren.“ Vincents Stimme war so weich, dass Caro beinahe versucht war, ihn dazu zu zwingen, ihr Dinge vorzulesen. Selbst Hausarztberichte würden damit eine ganz neue Stufe der Sexyness bekommen.
„Ist das so?“
„Hmh.“ Oha, da schwang viel mit. 
„Und lässt du die Beiden öfter alleine?“
„Nicht, wenn ich es vermeiden kann.“

„Wir sind auch mit im Raum…ich sag’s ja nur“, grollte Adam und tauschte einen Blick mit Leo aus, den Caro nur schwer deuten konnte. Leo selbst widmete sich scheinbar doppelt so hungrig wie vorher seinen Nudeln.
„Ja, sind wir“, bestätigte er um eine Rigatoni herum nuschelnd.

Wir. Lange Zeit hatte es das für Leo nicht gegeben, nicht im partnerschaftlichen Sinn. Dass Wir nun zu hören, ließ Caro glücklich lächeln und insgeheim auch etwas stolz sein auf den Testballon, den sie gestartet hatte. Und um Adams beinahe schon rücksichtslos freche Art, mit der er Leo wieder und wieder herausforderte. Leo, der sich herausfordern ließ und selbst wenig Scheu zeigte, mit frechen Sprüchen dagegen zu halten.  

Sie hoffte nur, dass alles gut werden würde für die Beiden. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 34: Die Gewissheit, erkannt worden zu sein

Notes:

Einen wunderbaren Sonntagmittag euch allen!

Hier nun der neue Teil, ich wünsche ich wie immer viel Freude beim Lesen. :)

Vielen lieben Dank euch allen für euer vielfältiges Interesse :3

Und wer Lust hat auf einen netten Plausch über das Tatort-Fandom, hier geht's zum Tatort Saarbrücken Discord-Server: https://discord.gg/nzSHH93Y

Chapter Text

Nach Hause zu kommen und zu wissen, dass jemand da war, war ein Gefühl, das Leo schon lange nicht mehr gehabt hatte. Früher, in der Schule, als seine Mama schon zuhause war, als er nach dem Unterricht nach Hause kam. Sein Kommilitone während des Studiums in der Polizeikaserne. 

Danach nicht mehr. 

Jetzt vor der Tür zu stehen und zu wissen, dass jemand dort sein würde, brachte Leos Welt nicht ins Schwanken, aber schon etwas durcheinander. 

Pia und Esther hatten ihn nahezu inquisitorisch zu seinem Wochenende befragt und er hatte brav Rede und Antwort gestanden. Wie Adam sich verhalten hatte. Was er gesagt hatte. Welche Möglichkeiten sich ihnen dadurch boten, dass es ausgerechnet Leo war, der Adam nun vor seinem Vater schützen sollte. 

Beide Ermittlerinnen waren sich darin einig, dass der Zeitpunkt jetzt am Besten war um Schürks Sohn davon zu überzeugen, dass er seinen Vater verriet. Leo sah das genauso, doch der Grund dafür war…anders. 

Er wollte Gerechtigkeit. Für sich selbst und für Adam. Er wollte, dass dessen Vater bestraft würde, ebenso sehr wie er Adam für das drankriegen wollte, was dieser getan hatte. Rache…wollte er keine. Nicht mehr. Nicht an dem gequälten Menschen hinter dem Monster. Nein. 

Sie hatten heute den Cold Case von Elias Schiller offiziell aufgenommen. Momentan stand dem kein weiterer Mordfall entgegen und Weiersberger sah eine eindeutige Synergie zwischen der Aufklärung des Falls und möglichen Auswirkungen, die das auf das Syndikat hatte.  

Wenn sie Roland Schürk oder jemand anderen für den Mord dranbekamen, dann konnte das der Durchbruch sein, den sie benötigten. Alleine im Rahmen der Durchsuchungen konnten sie Unterlagen finden, die mit Sicherheit auf Schürks kriminelle Geschäfte hindeuteten. Leo persönlich glaubte nicht wie Esther, dass es Schürk Junior gewesen war, der Schiller umgebracht hatte, aber das würde sich herausstellen. 

Schürk…Adam. Immer noch stolperten seine Gedanken über den Vornamen, aber Leo hielt sich an seinen Wetteinsatz. Es war auch nicht schlimm, befand er, ihn so zu nennen. Wieviel sich doch ändern konnte in ein paar Monaten. 

Leo seufzte und betrat seine Wohnung und streifte sich die Schuhe ab. Er hängte seine Jacke ordentlich an die Garderobe. Ross war anscheinend nicht hier um seinem Auftraggeber Gesellschaft zu leisten, dafür hatte Adam es aber zu seiner Couch geschafft. Er lag auf der Seite, eine der Decken über sich ausgebreitet, vor sich eins von Leos Büchern. 

Als Leo sein Wohnzimmer betrat, sah er hoch und verzog seine Lippen zu einem breiten, vielsagenden Lächeln.

„Hallo, berufstätiger Mann und Alleinverdiener im Haus, wie schön, dass du zuhause bist. Ich habe in der Zwischenzeit die Wohnung geputzt und dir Essen gemacht. Nach dem Essen  gibt’s dann die Fußmassage und dann bekommt der Mann im Haus noch das wohlverdiente Fernsehprogramm in seinem Ohrensessel“, grinste dieser in fürchterlicher Imitation einer Werbung aus den Fünfzigern und Leo schauderte angewidert. 

Vielleicht sollte er einfach wieder fahren. Zu Caro oder Pia oder Esther. Seine Eltern. Rainer. Vielleicht sogar Weiersberger. Vielleicht war es doch nicht so aufregend, jemand in der Wohnung zu haben, wenn er nach Hause kam.

„Hat Ross dir Gras mitgebracht oder warum gibst du so einen Stuss von dir?“, hakte er entsprechend zweifelnd nach und das Fünfzigerjahre-Hausmütterchen auf seinem Sofa rollte die blauen Augen. 
„Ich langweile mich.“
„Ruf Ross an?“
„Nein.“
„Weil?“
„Du da bist.“
Leo schnaubte. „Ich bin nicht dein persönliches Entertainmentprogramm.“
„Doch schon.“

Das Schlimme war, dass das tatsächlich stimmte. Über die letzten Monate war Leo das gewesen und so sehr er sich auch damit abgefunden hatte, Schürk jedes Wochenende zu sehen, es hatte schon was von persönlicher Bespaßung. 

Leo seufzte. 

„Hast du etwas gegessen?“, lenkte er auf ein anderes Thema um und hörte prompt die Stimme seiner Mutter in seinen Gedanken, die ihn genau das auch immer wieder gefragt hatte. 
„Ein bisschen.“
„Genug getrunken?“
„Ein bisschen.“

Leo sollte einfach aufhören zu fragen und sich dabei wie eine Glucke anzuhören, beschloss er und drehte sich zur Küche um. Er hatte in jedem Fall Hunger und würde sich jetzt Abendessen machen. Wie das der Mensch auf seiner Couch handhabte, würde er ihm mit Sicherheit mitteilen. 

„Brot mit Salami und Käse nehme ich! Ich verhungere!“

Leo hielt inne und zog sein Handy hervor. Er rief Ross‘ Kontakt auf und tippte ~Gibt es für meine Entscheidung eine Widerrufsfrist?~, ein. 
Bevor er es abschickte, zögerte Leo aber. So locker seine Stimmung und spielerisch seine Empörung über das Verhalten des anderen Mannes auch war, so wenig zutraulich sollte er Ross gegenüber sein. 
Durfte er nicht.  

Aber schadete es? Leo war sich nicht sicher und schickte es ab, bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte. Kopfschüttelnd legte er sein Handy beiseite. Es war schon in Ordnung, wenn Ross auch mitlitt, schließlich hatte er ihn hierum gebeten. Klar, Leo hatte ja gesagt, aber dennoch.

Sein Handy pingte und zähneknirschend rief er Ross‘ Antwort auf. 

~Um diese Uhrzeit ist er immer leicht unterzuckert und damit nicht ganz der, der er sonst ist. Er mag Brot mit Käse und Salami. ~

„Ihr wollt mich doch verarschen“, presste Leo zwischen den Zähnen hervor und warf sein Handy auf den Küchentisch. Er machte sich jetzt erstmal sein eigenes Brot. Und wenn er dann schonmal dabei war, konnte er bei dem unterzuckerten Syndikatsspross weitermachen. 

Und nicht ganz der, der er sonst war? Naja. Leo konnte keinen signifikanten Unterschied in der Unmöglichkeitsskala des Menschen Adam Schürk festmachen. 

Er machte ihnen beiden Abendessen und sah, dass Adam es heute Mittag anscheinend auch in die Küche geschafft hatte, um sich die Reste vom Wochenende warm zu machen. Dass er dabei nicht umgefallen war, war ein gutes Zeichen.

Mit den zwei Scheiben Brot mit jeweils Käse und Salami kam er zurück zu seiner Couch und stellte Adam seinen Teller in Griffreichweite. Betont fürsorglich schüttete er dem anderen Mann noch sein Wasser ein und stellte es in seiner unmittelbaren Griffreichweite. 

„Damit du groß und stark wirst“, schob er ironisch nach, als er sah, dass Adam ihn viel zu aufmerksam und viel zu erfreut darüber beobachtete. 
„Was bist du, der böse Wolf, der das Rotkäppchen fressen möchte?“ 

Leo enthielt sich einer Antwort, zumindest versuchte er es. Nach einem ganzen Tag mit Esther und Pia zusammen und einer Besprechung mit Weiersberger und Rainer am Nachmittag war es nicht ganz so weit her mit seiner Beherrschung oder seinem Bedürfnis, das unkommentiert zu lassen. 

„Ist denn genug dran am Rotkäppchen?“, fragte er, bevor er sich selbst den Mund verbieten konnte und Adam lachte. Es war ein schöner Laut, offen und überrascht, der zum Ende hin in etwas kindlich Spielerisches abglitt. 
„Willst du sehen? Dann kann sich der Herr Kriminalhauptkommissar selbst ein Bild von der Lage machen.“

Er hatte er selbst herausgefordert, machte sich Leo bewusst. Das ging auf sein Konto. Er war schuld. 

„Nein danke“, erwiderte er zwischen zwei Bissen seines Teewurstbrotes. „Ich kenne schon alles, was ich wissen muss.“
„Stimmt nicht, ich habe noch Körperteile, die du nicht kennst.“

Leo starrte zweifelnd in die blauen Augen, auf seinen Lippen, die Verneinung. Er hatte so ziemlich alles bereits gesehen, was Adam mit sich trug. Er…
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass diese blauen Augen viel zu unschuldig für den gerade geäußerten Kommentar waren. Viel zu groß und im Zusammenspiel mit den Lippen zu verschwiegen. 

Leo starrte, erst verständnislos, dann mit jeder Sekunde mehr in der eigentlichen Bedeutung der Antwort aufgehend. Hitze breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er grollend den Kopf schüttelte. 
„Du bist unmöglich!“ 
„Und der Himmel ist blau. Hat mein hauseigener Ermittler noch irgendwelche bahnbrechend neuen Erkenntnisse?“
„Ich bin nicht dein…“
„Welches Motiv hatte Müller eigentlich?“, unterbrach Adam in einem so derben Themenumschwung seine empörte Beschwerde, dass Leo im ersten Moment nicht wusste, wer denn der Müller war, von dem er sprach. 

Dann dämmerte es ihm und beinahe dankbar stürzte er sich auf das Thema, was ihn von Schürks Körperteilen, die er noch nicht kannte, wegbrachte. Weit weg

„Neid, Missgunst und der Wunsch des eigenen Profits. Er wollte der Einzige sein, der eine bestimmte Marke im Umkreis vertreibt. Er wollte seine Konkurrenz nicht.“
Adam brummte. „Sehr menschlich.“
„Diese Verharmlosung trage ich nicht mit“, knirschte Leo zwischen den Zähnen hervor, sein Blick dunkel und wenig erfreut. Adam schüttelte den Kopf. 
„Ist es nicht.“
„Sondern?“
„Mord gehört wie Sex zur Menschheitsgeschichte und ist so alt wie die Zeit. Der Drang, besser zu sein als andere steckt in uns, in manchen weniger in manchen ausgeprägter. Und manche Menschen haben keine Hemmungen oder soziale Grenzen.“

Für Leo hatte Adam die lange Zeit auch nicht. Ein Psychopath, ein Monster, das sich daran ergötzte, andere zu unterdrücken und in die Verzweiflung zu treiben. Der Adam, der in den letzten Monaten zum Vorschein getreten war, widersprach dem Bild, was Leo gleich zu Beginn gehabt hatte.  

Hätten sie sich anders kennengelernt… Leo schnaubte innerlich. 

Hatten sie aber nicht. 


~~**~~


Adam wachte abrupt aus seinem unruhigen Schlummer auf. Im ersten Moment versuchte er desorientiert zu begreifen, was ihn aus seinem Schlaf gerissen hatte und langte nach der Nachttischlampe, von der er mittlerweile wusste, wo sie stand und wie er sie am schnellsten anbekam. 

Mit dem Licht kam auch ein zweites, verzweifeltes Stöhnen und Adam begriff, dass es Leo war, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hatte einen seiner anscheinend regelmäßig wiederkehrenden Alpträume, die Adam in ihrer Anzahl langsam Sorgen bereiteten. Meist waren es nur Laute und unzusammenhängende Sätze und ein gepeinigtes Aufstöhnen, doch heute…wurde es anders. 

Die menschlichen Laute, die an Adams Ohren drangen, waren fürchterlich und unerträglich. Mühevoll kämpfte er sich hoch, kämpfte gegen seinen dummen, schmerzenden Körper an. Leo träumte anscheinend Dinge, die schrecklich sein mussten, und mit jeder Sekunde, die verstrich, fand Adam es unerträglicher, Leo nicht schnell genug aus diesem Zustand herauslösen zu können.
 
Adam kämpfte sich zur Couch ins Wohnzimmer. Jeder Schritt schmerzte und sein Kreislauf war auch immer noch nicht das, was man wirklich einen Kreislauf nennen konnte. Verbissen kämpfte Adam sich vorwärts und als er Leo erreichte, sah er, dass dieser sich schweigebadet auf der Couch hin und her wälzte, das Gesicht vor Angst verzogen. 

„Nein…nein…bitte hör auf…Detlef…nein. Tu das nicht…nein…bitte nicht…“, wimmerte Leo, seine Stimme jung und verzweifelt. Es schmeckte Adam ganz und gar nicht, Leo so zu sehen und er runzelte besorgt die Stirn, als Leos Körper sich aufbäumte, nur um sich einen Moment später zusammen zu krümmen. 
„Nein!“, schrie Leo leise auf und Tränen lösten sich hinter seinen geschlossenen Lidern. „Nein nein nein…nicht…nein…“

Adam erstarrte in seinem Versuch, sich umständlich neben Leo auf den Boden gleiten zu lassen. Er war kein Idiot, auch wenn die Dreckssau ihn als solchen sah. Er hatte Ohren und einen durchaus passablen Verstand. Niemand flehte einfach so. Niemand hatte derartige Angst vor einem Traumgegner, ohne dass etwas wirklich Schlimmes vorgefallen war. 

Leo war ein Mann, dem Gewalt angetan worden war, und das machte Adam so wütend wie schon lange nicht mehr. Wer auch immer Detlef war, Adam würde ihn finden und ihn vernichten für das, was er Leo angetan hatte, soviel war sicher. 
Doch zunächst galt es, den anderen Mann aufzuwecken und dafür kämpfte sich Adam auf den Boden, in dem Wissen, dass er vermutlich alleine nicht mehr hochkommen würde. Aber über Leo zu stehen, wenn dieser aufwachte, war ebenso undenkbar. 

„Wach auf, Leo“, sagte Adam mit mäßiger Stärke streng. „Du träumst. Das ist nicht real. Du träumst.“ Seine Hand schwebt über Leos Oberarm und fasste zu, als dieser keine Anstalten machte, wach zu werden. Sein fester Händedruck war beinahe schon schmerzhaft und das brachte Adam den gewünschten Erfolg.

Mit einem gepeinigten Keuchen schoss Leo hoch und krümmte sich, kauerte sich schwer atmend an die Couchlehne. Im Schein des indirekten Lichts krallten Leos Finger sich in die Couchlehne und er presste seine Stirn gegen die Polster. Sein Brustkorb hob und senkte sich beinahe panisch. 

Adam beobachtete sein Verhalten minutiös und sorgenvoll. Leo war wach, das war soweit gut. Dass er langsam aus dem Alptraum in die Realität finden würde, ebenso. Dennoch konnte Adam den bitteren Geschmack in seinem Mund nicht verneinen. Es passte alles zusammen. Leos panische Verzweiflung, als Adam damals in seiner Wohnung aufgetaucht war. Seine wiederholten Ängste, Vermutungen und Vorwürfe, Adam würde ihn vergewaltigen. Die Überraschung seiner Familie, dass Leo Spontanbesuch erhielt. Das alles passte zusammen und fügte sich zu einem hässlichen Bild zusammen, das Hass in Adam hochkochen ließ.

Hass, der ihm einflüsterte, Leo hier und jetzt dazu aufzufordern, ihm den Nachnamen des Mannes zu liefern, der ihm das angetan hatte. Hass, der Leo dazu zwingen wollte, falls er sich weigerte. Doch Adam war stärker als dieser Hass und hielt ihn in einem eisernen Griff, während er behutsam Leos Rücken berührte. 

Ein Fehler, wie sich herausstellte, als der Ermittler herumfuhr und ihn mit großen, erschrockenen Augen ansah, vollkommen überrascht, dass Adam hier war. Es stand so viel auf dem Gesicht, dass Adam Mühe hatte, mit dem Chaos mitzuhalten, das sich ihm entgegenwarf. 

„Es ist vorbei, du bist wach“, sagte er deswegen so sanft er konnte, seine Stimme rau vom Schlaf, und da war noch nicht einmal eine Reaktion in Leos Gesicht zu sehen. Als wäre der andere Mann vollkommen verstummt und erstarrt. 

„Wer ist Detlef?“, fragte Adam, alleine schon, um diese gespenstische Stille zu überbrücken. Er räusperte sich und sah, wie sich die offene Gefühlswelt auf Leos Gesicht graduell verschloss. 
„Du hast ihn angefleht, etwas nicht zu tun. Du hast geschrien und dich im Schlaf verkrampft.“
Wieder verschwand ein Stück Offenheit, während Leo ihn stumm anstarrte. Adam wusste, dass sein Zeitfenster um den anderen Mann zum Reden zu bringen, immer und immer schmaler wurde. 

„Er hat dir Gewalt angetan“, schockte er ihn daher mit Worten und das Zusammenzucken des Mannes vor ihm war so gewaltig, dass es eine alleinige Antwort auf Adams ungestellte Fragen war. 

„Lass mich in Ruhe“, presste Leo schließlich hervor und es klang beinahe so panisch wie damals, als er aus dem Wald gekommen war und Adam nicht in seiner Wohnung haben wollte.
„Wer ist er und was ist passiert?“, wiederholte Adam leise seine Fragen, als er sich daran erinnerte, wie gut Leo darauf ansprach und auch jetzt hatte es mehr Erfolg, als jeder Zwang und jede Drohung. Leo öffnete seine Lippen um etwas zu sagen, doch bevor auch nur ein Ton entkommen konnte, presste er sie aufeinander, verschloss sich Adam.

„Ich will nicht drüber sprechen.“ Leise Worte, ungewohnt zurückhaltend in Adams Ohren. Er schnaufte. 

„Seitdem ich hier bin, hast du jede Nacht Alpträume. Entweder von ihm, von mir oder von deinem Spatenschlag. Jeder dieser Träume ist schlimm und jedes Mal wachst du abrupt auf. Ich weiß, was ich dir angetan habe, ich ahne, wie sehr dich der Spatenangriff mitgenommen haben muss. Aber was er getan hat…Du hast dich vor ihm gefürchtet. Du hast ihn angefleht, es nicht mehr zu tun. Hat er dich vergewaltigt? Hattest du deswegen Angst, dass ich es dir antue?“

Das ungläubige Entsetzen auf Leos Gesicht war ehrlich, wie alles an dem anderen Mann. Die Verneinung war es ebenso, die bereits vor dem Kopfschütteln begann. 
„Er hat nicht…nein. Er hat das nicht getan…nein!“ Adam kam es wie eine Rechtfertigung vor und er sah ernst zu Leo hoch. 
„Du musst ihn nicht decken.“
„Ich decke ihn nicht!“
„Was dann? Was hat er dann getan?“
„Nichts.“
„Lügner.“

Es schien, als hätte Leo die Grenze seiner Offenheit erreicht, wenn nicht sogar überschritten. Abrupt wandte er den Kopf ab und schob sich auf der Couch nach vorne, weg von Adam. Seiner Reichweite entkam er jedoch nicht, denn Adam fasste ihn an der Hand und hielt den anderen Mann daran eisern bei sich. Fassungslos ruckte Leos Kopf zu ihm herum. 

„Lass mich los“, ruckte er an seinem Handgelenk, doch Adam gab nicht nach. Entschlossen schüttelte er den Kopf.
„Ich möchte Antworten, Leo.“
„Ich will sie dir aber nicht geben.“ Störrische Verneinung…zu welchem Zweck? Seinen Peiniger zu schützen? Aus falsch verstandenem Schuldgefühl? Adam war hier um zu helfen, nicht um es dem Arschloch gleich zu tun. 
„Was hat er getan?“
„Nichts“, presste Leo hervor, zwischen seinen Zähnen, ein kaum hörbares, bedeutungsschwangeres Wort. 
„Was?“
Nichts!“
„Hat er dich geschlagen?“

Leos intrinsische Ehrlichkeit schrie ja, auch wenn sein Gesicht versuchte, mit aller Macht nichts zu sagen. Er war noch nie ein guter Lügner gewesen, das wusste Adam nun schon seit über einem Jahr.
„Warst du mit ihm zusammen? Ungewollter Sex in einer Beziehung ist auch eine Vergewaltigung.“

Abrupt und beinahe schon gewalttätig machte Leo sich von ihm los, zornig und unbeherrscht. Wütend starrte er auf ihn hinunter, sein Körper angespannt. „Komm von deiner scheiß Vergewaltigung runter! Niemand hat mir das angetan und nein, er und ich hatten niemals eine Beziehung! Okay? Niemals! Und was zwischen ihm und mir war, geht dich nichts an! Es ist nicht dein Leben, sondern meins und ich muss damit klarkommen, nicht du! Und jetzt tu nicht so, als würde dir das irgendetwas bedeuten, denn du bist genau wie er! Genau. So. Ihr labt euch doch alle daran, mich leiden zu sehen und Macht auszuüben. Ihr geilt euch daran auf, eure ekelhaften Ansichten auf wehrlose Opfer zu projizieren, sie zu unterdrücken und euch dadurch groß zu fühlen, weil ihr nichts Anderes habt! Weil ihr armselig seid, ihr Detlefs und Adams der Welt!“ 

Leo brüllte seine letzten Worte nur so hinaus, wütend und verzweifelt. Überrascht verharrte Adam. Vor Monaten hätte er die Wut und die Verzweiflung verstanden, mit der Leo ihm diese berechtigten Vorwürfe an den Kopf schleuderte, aber mittlerweile war es anders…hatte Adam zumindest bis gerade eben gedacht. Anscheinend war der Leo, der vor ihm saß, da anderer Meinung oder verzweifelt genug, das, was immer noch in ihm schlummerte, Adam ins Gesicht zu spucken.

Adam saß da und wusste nicht, was er sagen sollte. Er war vollkommen überfahren von Leos zum großen Teil wahren Vorwürfen, die er noch nie mit solchen Worten in den Raum geschleudert hatte. Selbst bei ihrem Gespräch im Wald nicht. 

Adam atmete tief ein. Er entspannte sich im Angesicht der hilflosen Aggression, in der Hoffnung, dass Leo sich zumindest unterbewusst davon beruhigen ließ. „Ich habe mich nicht…“, begann Adam seinen Widerspruch, erkannte jedoch schnell, dass dieser ihn nirgendwohin führen würde. Er schluckte schwer, wappnete sich für das Kommende. Er stählte sich innerlich für die Gefühle, die das in ihm auslösen würde. 

„Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass du so unter mir gelitten hast und dass ich dir solche Schmerzen zugefügt habe. Es tut mir leid, dass ich dich damit verletzt habe“, sagte er langsam, Wort für Wort aus sich herauspressend. Die Erinnerungen an seinen Vater hielten sich dabei in Grenzen und Adam war überrascht, wie wenig er sich von seinen eigenen Worten gedemütigt fühlte. „Es bedeutet mir etwas. Dein Wohlergehen bedeutet mir etwas.“

Leo starrte ihn an, bleich und verzweifelt. Er presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Ich…ich weiß. Ich…du warst die letzten Monate anders. Ich weiß, aber ich…“ Weiter kam er nicht, als seine ganze Anspannung wie ein Ballon in sich zusammenfiel und er ungläubig den Kopf schüttelte.  

„Ich weiß, dass du nicht Detlef bist“, sagte er und die Erkenntnis war anscheinend ein Novum für ihn. „Du warst so sehr wie er und jetzt…bist du es nicht. Und das tut gut.“ Leo schnaubte und barg sein Gesicht in seinen Händen. „Meine Güte, das ist so kaputt. Ich bin so kaputt.“
Adam beugte sich nach vorne und stöhnte hinter zusammengebissenen Zähnen auf. Er spürte, wie der Schorf an mehreren Stellen riss und es war kein schönes Gefühl. 

Stur kämpfte er sich zu Leo und setzte sich auf die Couch, insgeheim froh über die leichte Seidenboxershorts, die Vincent ihm mitgebracht hatte. So war ihm zwar kalt, aber er saß nicht vollkommen nackt vor dem anderen Mann. 

„Du bist viel, aber kaputt bist du nicht. Und wenn doch, dann bist du der resilienteste, heilste, kaputteste Mensch, dem ich begegnet bin. Du bist so stark und stur wie eine Eisenbahnschiene.“ Er wagte es, Leo erneut anzufassen und wurde dieses Mal mit einer nicht ganz so großen Abwehrreaktion belohnt. Leo zuckte nur und schnaubte.
„Du hast doch keine Ahnung.“
„Aber ich kann‘s rausfinden. Mit einem Vornamen kann man ziemlich viel tun.“

Nun sah Leo doch hoch. „Nein, das wirst du nicht“, sagte er und Adam lächelte schwach. 
„Ich habe doch sowieso schon ein paar Straftaten auf meinem Konto, was macht da ein bisschen Körperverletzung, Nötigung, Freiheitsberaubung mehr?“
Ungläubig sah Leo ihn an und Adam musste dem Drang, durch die schweißnassen, unordentlichen Haare zu streichen, widerstehen. Ein bisschen Ordnung in den Mann hineinzubringen, der gerade vermutlich nur Chaos in sich fühlte. 

„War das ein Geständnis?“, fragte der Polizist und Adam rollte mit den Augen.
„Boah du Streber. Nein, war es nicht. Und auch nein, schriftlich wirst du es nicht bekommen.“

Das zauberte tatsächlich so etwas wie ein kleines Lächeln auf Leos Gesicht und Adam war ein bisschen stolz auf sich. Er schmunzelte und legte den Kopf schief.
„Ich verspreche dir, ich werde ihm keinen dauerhaften Schaden zufügen“, sagte er und kreuzte die Finger. 
„Es ist Vergangenheit.“
„Nein, ist es nicht. War es nicht, als ich dich vor Monaten nach deinem Stelldichein im Wald überrascht habe. Ist es heute auch nicht.“

Beinahe schon panisch weiteten sich Leos Augen. „Das war nicht…“
Vielsagend hob Adam seine Augenbraue. „Ich bin nicht dumm und ich glaube an Zusammenhänge.“
„Nein, ich…“ Leo verstummte. 
„Sag mir, was war“, forderte Adam sanft und der Widerstand in Leo brach sichtbar, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wieder einmal aufgrund seines eigenen Tons, der anscheinend Saiten in dem Ermittler zum Klingen brachte, die Adam vorher grundlegend übersehen hatte. 

Leo atmete langsam und zittrig aus. „Er und andere haben mich in der Schule gemobbt. Sie haben mich geschlagen und getreten, das volle Programm eben was man mit Opfern eben macht. Ich hatte die ganzen Jahre über Angst und…“ Leo verstummte und presste die Lippen aufeinander. Er sah zur Seite und Adam erkannte Scham. Die Scham des Opfers, dass es nicht stark genug gewesen war, sich gegen den Täter durchzusetzen. Nicht stark genug war, die Tat zu verhindern. 

Er hatte die gleiche Scham früher gefühlt, bevor sein Vater auch diese aus ihm herausgeprügelt hatte. 

„Du bist nicht Schuld, Leo. Er ist es. Du nicht“, bestärkte Adam ihn und anscheinend löste das den nächsten Knoten. 

„Das weiß ich, aber das hat die Erinnerungen nicht ausgelöscht und in den Jahren danach habe ich Bewältigungsstrategien entwickelt, die nicht gesund sind.“
„Welche?“, hakte Adam nach, leise genug, dass Leo es überhören könnte, wenn er es wollte. 
„Die Männer, mit denen ich mich treffe…ohne Safeword…“, Leo schnaubte selbstironisch. „…die ähneln alle Detlef. Groß, blond, schlaksig. Ich lasse mich von ihnen ficken und mir Schmerzen zufügen, weil ich weiß, dass am Ende Lust steht und es überhaupt ein Ende hat. Ich bestimme den Hergang. Nicht sie. Ich habe die Macht.“

Oh. Oh.  

Adam schluckte. Die Männer, die er damals auf Leos Grindr-Profil gesehen hatte, waren alle so gewesen wie er. Und anscheinend auch Detlef. Und dann kam er und machte Leo das Leben zur Hölle. Das, was Vincent ihm als schlechtes Gewissen klassifiziert hatte, brannte nun schmerzhaft in seiner Magengegend. Dass Leo diesen Bewältigungsmechanismus brauchte, war ungesund. Mehr als das. Sich mit Fremden im Wald zu treffen und sich derartige Schmerzen zufügen zu lassen, konnte nicht gut enden. 

„Ich will es nur nicht hier…nicht in meiner Wohnung.“

Auch dafür gab es einen Grund, erkannte Adam, bohrte aber nicht weiter nach. Das schamhafte Wegsehen seines Gegenübers sagte ihm genug, was er darüber wissen musste. Leo würde nichts darüber sagen. Weil es zu intim war. 

„Und hier bin ja auch ich“, versuchte Adam entsprechend Leos Stimmung auf etwas Anderes, Unmögliches zu lenken und wurde mit einem Schnauben belohnt. 
„Oft genug, ja.“
„Ich bin Egoist, was soll ich sagen.“
„Hätte ich nie gemerkt.“

Adam schnippte Leo gegen die Nase und überrascht zuckte der andere Mann zurück. In den vormals panischen, verzweifelten Augen war so etwas wie Ruhe eingekehrt, erkannte Adam beruhigt. Das machte den Schmerz, den ihm sein Körper entgegenschrie, doch etwas besser. 

Leo seufzte und fuhr sich selbst durch die Haare. Eine Schande, befand Adam, aber er blieb brav und stumm. 
„Ich gehe duschen und danach laufen. Nach solchen Träumen kann ich nicht wieder einschlafen.“

Wenig erfreut über die Aussicht, dass sein hauseigener Ermittler um drei Uhr nachts joggen ging, weil er nicht schlafen konnte und weil das, was dieses Arschloch mit ihm angestellt hatte, nicht aus seinem System wollte, schüttelte Adam den Kopf. 
„Wie wäre es, wenn du duschen gehst und wir dann was spielen?“, machte er ein Gegenangebot und überrascht blinzelte Leo. 
„Nein. Du brauchst deinen Schlaf um gesund zu werden“, lehnte er das Gegenangebot ab – kategorisch wie so oft, in bester Polizistenmanier.
„Ich schlafe morgen, während du brav die Bösen jagst“, winkte Adam ab und Leo setzte zum Widerspruch an. 

„Nein“, unterbrach Adam daher jeden aufkommenden Protest streng und sah, dass das, was er eigentlich nicht mehr an Leo sehen wollte, immer noch in dessen Erinnerungen gebrannt war: der anerzwungene Gehorsam ihm gegenüber. Adam seufzte und nickte sacht in Richtung Bad. 
„Du gehst duschen und ich mach den Rest. Wenn du Lust hast zu spielen, heißt das.“

Die hatte Leo, das erkannte Adam ohne Mühe. Der Süchtige.


~~**~~


Leo beäugte nachdenklich ihr Spielfeld auf dem improvisierten Tisch vor seiner Couch. Der Alptraum steckte ihm noch mit seinen letzten Resten in den Knochen und selbst die Dusche hatte die Erinnerungen nicht ganz vertreiben können.

Laufen zu gehen hatte sich nach solchen Alpträumen etabliert, aber wirklich schön war es für Leo nicht, so hatte er, wenn auch zögerlich, Adams Angebot angenommen. Nachdem er nicht hatte an sich halten können um dem anderen Mann sein Herz auszuschütten. 
Undenkbar wäre es noch vor Wochen gewesen. Oder jedem anderen gegenüber. Caro und Rainer wussten es, seine Eltern, aber sonst niemand. Sein Team nicht. 

Und nun? 

Adam wusste schon so viel von ihm und hatte die Gunst der schwachen Stunde genutzt um noch mehr Informationen zu erhalten. Nur dass Leo dieses Mal keine Angst hatte, dass er sie gegen ihn verwenden würde. Wie trügerisch die Hoffnung war, würde er in der Zukunft sehen, dafür war es jetzt zu spät. 

Während er duschen war, hatte Schürk das Spiel geholt und es sich auf der Couch bequem gemacht. Er schien erleichtert darüber zu sein zu liegen und Leo konnte sich sehr gut vorstellen, wie sehr die Bewegung seinen Rücken und seine Kehrseite beeinträchtigt haben musste. 

Leo kam langsam zu ihm und setzte sich auf den Sessel. Er wischte sich die Müdigkeit aus dem Gesicht und zog sich sechs Steine aus dem Beutel, stellte sie vor sich auf. Adam hatte schon gezogen und Leo mochte wetten, dass er dabei wieder betuppt hatte. Natürlich fing er deswegen auch an, aber das war in Ordnung. 

Schweigend spielten sie Zug um Zug, erweiterten das Spielfeld, notierten sich die Punkte. Leo brauchte wie immer länger, um die perfekten Züge zu finden und seine Steine gewinnbringend zu positionieren. Es lenkte ihn auch von den Erinnerungen an Detlef und der durchlebten Gewalt ab.

So auch jetzt. Nachdenklich runzelte Leo die Stirn, als er seine Möglichkeiten durchging, die er mit seinen Steinen hatte. Er liebte das Spiel und wenn er nicht grundlegend falsch lag, dann mochte Schürk es auch. 

Ihr Sieg-Niederlage-Balance war ausgewogen. 

Leo beugte sich nach vorne, um einen besseren Überblick aus dem Winkel zu haben und spürte mehr, als dass er sah, dass der andere Mann sich näherte. Es raschelte leise und Adam ächzte und noch während Leo überlegte, was noch kommen mochte, spürte er dessen Lippen hauchzart an seiner Stirn.

Zumindest bevor sie in ein lautes Schmatzen übergingen, das Leo an seine Großtante Elfriede erinnerte. Er schauderte und grollte, ohne in die, wie er wusste, viel zu nahen, blauen Augen zu sehen. 
„Lass das“, sagte er ohne wirkliche Wut oder Groll dahinter, sondern eher mit dem Wissen, dass Adam wieder einmal versuchte zu bescheißen. Aber nicht mit ihm. Er war vorbereitet, seine Hand schützend über seine Steine gehalten.   

„Ich tu dir nicht mehr weh. Nie wieder“, sagte Adam und Leo vergaß für einen Moment seine Steine und deren Schutz. Sein Blick schnellte nach oben und da waren sie, die ernsten, blauen Augen, in dem Gesicht, das Leo so lange gehasst hatte. 
Das beinahe schon kindlich anmutende Versprechen brannte sich in sein Innerstes, schnellte von seinem Hirn aus zu seinem Magen und kroch dann in sein Herz. 

Leo schluckte. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und wenn er ehrlich war…gab es auch nichts, was dieses sanfte Versprechen entwerten konnte. Also nickte er, seine Seele ein Stück leichter.


~~**~~


„Ich weiß wirklich nichts, versprochen. Ich lüge nicht, das wissen Sie doch.“

Vincent hatte locker die Beine übereinander geschlagen und beobachtete die nervöse Frau, die neben ihm auf der Bank im Wald saß. Birgit Ostheim, Postbotin bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Sie war eine ihrer langjährigsten Verknüpfungen und hatte immer noch Angst vor Vincent oder vor Adam, wenn dieser für ihn übernahm. Ihr kleines, aber sehr schmutziges Geheimnis, das ihre Familie und ihre Ehe zerstören würde, war bei Vincent sicher – solange sie tat, was sie von ihr wollten. 

Dabei war die Frau durch ihre neugierigen Ohren und durch ihre Verbindungen in der gesamten Dienststelle ein Quell ewiger Information, die sie nur zu bereitwillig teilte um weiterhin ihr kleines Einfamilienhaus am Stadtrand behalten zu können. 

Manchmal war es einfach. 

„Sie wollen mir sagen, dass Herr Weiersberger einen Zeugen geladen hat, ohne, dass ein Schriftstück Ihr Haus verlassen hat? Nichts zur Polizei, keine Mail, kein offizielles Schreiben? Nichts?“, wiederholte Vincent mit kühler Ruhe und die Mittfünfzigerin knetete nervös ihre Finger mit den rot lackierten Nägeln. Sie knibbelte aufgeregt an dem Lack und am Liebsten hätte Vincent sie angefahren, dass sie es lassen sollte. Er beherrschte sich und ließ sein Schweigen sie unter Druck setzen.

Wohl dosiert, denn Frau Ostheim war eine sensible Frau, bei der keine ausladenden Drohungen vonnöten waren. 

„Ja! Ja, das will ich. Ich habe es nicht gesehen, ich schwöre es Ihnen! Ich war auch nicht im Urlaub und krank, das wissen Sie doch. Ich frage Sie doch immer, wann ich gehen darf…“

Das tat sie und Vincent sorgte jedes Mal dafür, dass sie – wenn es die Lage zuließ – den Urlaub bekam, den sie wollte. Er wollte ihr Leben nicht über alle Maßen beeinträchtigen, aber manchmal ging es nicht anders. 

„Das glaube ich Ihnen, Frau Ostheim. Aber sind Sie sich sicher, dass nichts Ihr Haus verlassen hat? Gehen Sie noch einmal ganz genau in sich und überlegen Sie.“
Verzweifelt suchte die Frau in ihren Gedanken nach etwas, was sie ihm geben konnte, das ihn zufrieden stellen konnte. Sie fand nichts.

„Nichts, da war wirklich nichts, ich schwöre!“ 
  
Das Schlimme war, dass sie die Wahrheit sagte. Das ebenso Schlimme war, dass Anforderungen anderer Polizeidienststellen in anderen Bundesländern immer auch schriftlich das Haus verließen, damit man den Entwurf aktenkundig hatte. Dass Weiersberger nichts dergleichen bezüglich Tangermann gemacht hatte, war besorgniserregend.

„Vielen Dank trotzdem für Ihre Informationen. Sie dürfen nun gehen.“ Vincent nickte knapp in Richtung Parkplatz und ohne sich zu verabschieden griff sie ihre Handtasche und floh vor ihm. Vincent blieb noch eine Weile sitzen, nachdenklich auf sein Handy starrend. 

Tangermann war plötzlich wieder aufgetaucht, als Zeuge von Weiersberger. Weiersberger hatte weder das LKA Schleswig-Holstein noch die örtlich zuständige Polizeidienststelle kontaktiert. Oder er hatte es an allen Strukturen und allen Dienstanweisungen der Staatsanwaltschaft vorbei getan, entgegen jeder üblichen Verfahrensweise.  

Die Frage nach dem Warum stellte sich und Vincent hatte darauf eine erste, offensichtliche Antwort: 

Leo Hölzer. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 35: Über die Notwendigkeit, auf Nachrichten zu reagieren

Notes:

Guten Abend euch allen! :)

Einen wunderbaren Start in die Woche euch. Kurze Woche dieses Mal und die Feiertage warten schon für ein langes Wochenende. Mit etwas Verzögerung hier nun der neue Teil. Dafür ist er etwas länger geworden als geplant und Adam hat Schlussendlich auch aufgehört, zumindest mich zu zanken. Ich wünsche aber trotzdem viel Spaß beim Lesen! ;)

Chapter Text

 

Ohne Leo auf der Couch zu liegen, war langweilig. 

Selbst, nachdem Vincent ihm den ganzen Morgen Gesellschaft geleistet und ihn auf den neuesten Sachstand bezüglich ihrer legalen Geschäfte gebracht hatte. Adam hatte danach der Schädel gebrummt, aber sie hatten gute Lösungen gefunden und er freute sich schon darauf, wieder nach Frankreich zu fahren um sich um neue Kunstwerke zu kümmern. 

Der frühe Nachmittag war geprägt durch Stille und entsprechend überrascht war Adam, als er nun hörte, wie der Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt und gedreht wurde. 

„Jetzt schon Feierabend? Was ist das denn für eine Arbeitsmoral, du Streb-“ Die letzte Silbe blieb Adam nahtlos im Hals hängen, als er wohlbekanntes Klacken auf dem Holzboden hörte und keine Sekunde später dieses Riesenvieh schwanzwedelnd in der Tür stand und auf ihn zukam. Was zur Hölle? Adam schraubte sich abrupt hoch, die Bewegung noch in der Sekunde bereuend. Mit dem Hund im gleichen Zimmer zu sein. Okay. Größer als er zu sein – auch in Ordnung. Unverletzt dabei zu sein. Auch okay. Aber zu liegen, während…

Nicht. In. Ordnung.

„Und warum bringst du diesen Köter mit? Der sabbert doch nur und…“  

Erneut kam jedes Wort in ihm zum Erliegen, als er den als Leo angenommenen Schemen in der Tür und genauer in Augenschein nahm und erkannte, dass es mitnichten Leo Hölzer war. 

Wohl aber seine Mutter.

Adam erstarrte und glotzte der Frau tumb in das aufmerksame, ernste Gesicht. Sie hielt die Leine des Hundes in der Hand, der neben Adam den Kopf auf die Polster legte und ihn irritiert ob der fehlenden Aufmerksamkeit anwinselte. Adam ignorierte ihn zunächst, traute sich nicht, ihn zu streicheln…das würde er nie machen ohne hinzusehen, aber er wollte unter keinen Umständen den Blick von der Frau abwenden, die gerade im gleichen Raum mit ihm stand und auf ihn, seinen nackten Oberkörper und seine Anwesenheit in Leos Wohnung nieder starrte. 

Das sabbernde, große Vieh war mit einem Mal sein geringstes Problem und Adam war überhaupt nicht glücklich darüber. 

„Hallo Herr Schürk“, sagte die eigentlich warmherzige Frau kühl und viel zu neutral um nicht den Eindruck zu machen, dass sie auch nur in Ansätzen überrascht davon war, ihn hier zu sehen. Ganz im Gegenteil. Er meinte zu erkennen, dass sie bewusst mit dem Köter hier war. Dass sie vorbereitet war, ihn zu sehen. Vorbei war es mit ihrem weichen „Adam“ und dem dazugehörigen, freudigen Lächeln. Vorbei war es mit der vorsichtigen Nachsicht, die sie mit ihm und seinen Marotten gehabt hatte. 

Adam schluckte. 

„Frau Hölzer“, grüßte er zurückhaltend und fragte sich, ob es Sinn machte, aufzustehen und nach einer Decke zu fischen. Er hatte zwar kein richtiges Elternhaus genossen und seine Mutter sah ihn dank der Dreckssau auch jetzt noch regelmäßig nackt, aber das hieß ja nicht, dass er sich anderen Müttern gegenüber so verhalten musste. 

Die nächste Decke lag auf dem Sessel unweit neben ihm, den Frau Hölzer nun ansteuerte und Adam verwarf den Gedanken sofort. Umständlich folgte er ihrem Weg und wagte nun doch einen Blick auf das schwanzwedelnde Monstrum, legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Kopf. Der Köter fand das so toll, dass er ihm das Handgelenk ableckte und Adam grollte innerlich. Mit eiskalter Gewissheit erkannte er, wie sehr er bisher darauf vertraut hatte, dass Leo eingriff, falls das Vieh vor ihm doch beschloss, ihn anzufallen. Und wie sehr er der Frau vor ihm zutraute, dass sie es eben nicht tat. 

Stumm richtete Adam sich so aus, dass sein Rücken nicht zu sehen war, wenngleich es an der Verletzlichkeit, die er spürte, nichts minderte. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, hatte er ihren Mann mit Wahrheiten überschüttet, die niemals seinen Mund hätten verlassen sollen. 
Dank Adam wusste sie nun, dass er ihren Sohn erpresste und ihm so wehgetan hatte die letzten Monate über, dass dieser versucht hatte sich umzubringen. Dass er ihn in ihren Augen immer noch erpresste – denn dass dem nur noch marginal so war, wusste sie vermutlich nicht. Dank ihm wusste sie, dass sie nicht der Freund ihres Sohnes war, wie sie wohl gehofft hatte.   

„Wie ich sehe, haben Sie es sich in der Wohnung meines Sohnes gemütlich gemacht.“ Mit Sicherheit hatte Leo seinen Eltern nichts erzählt, aber vermutlich Caro. Die olle Tratschtante. 
Ihre Worte waren eine Warnung und was gäbe Adam darum, dass er die Möglichkeit hatte, seinen hauseigenen Polizisten herzuholen. Dann konnte der sich um seine Mutter kümmern und Adam war nicht gezwungen, Smalltalk oder Schlimmeres mit der Frau zu führen, die ihn nicht aus ihren Adleraugen ließ.

Was aber vermutlich gar nicht der Sinn des nachmittäglichen Besuches war. 

Adam verharrte stumm, darauf wartend, dass sie noch etwas sagte oder ihn mit Vorwürfen überschüttete. Zurecht, erklärte ihm die Stimme in seinem Inneren und Adam nutzte die Ablenkung des Hundes vor ihm, der anscheinend gar nicht genug von seinem blöden Kopfgekraule bekommen konnte. 
Die Sabberflecken auf Leos Couch gingen dieses Mal nicht auf sein Konto. 

„Er hat mich temporär bei sich aufgenommen“, antwortete Adam, als ihr Schweigen zu drückend wurde und ihm eine Antwort abnötigte. Wie er das doch hasste, dass er Frauen diesen Alters nichts abschlagen konnte, weil sie ihn allesamt an seine Mutter erinnerten. Wie er in ihnen allen unbewusst schützenswerte Menschen sah, während ihn Männer diesen Alters unsicher machten. Verfluchter Dreck, den ihm seine Kindheit da eingepflanzt hatte. 

„Oder haben Sie sich ihm aufgezwungen?“ Die Löwin der Hölzer-Familie war gnadenlos, wenn jemand ihren Sohn bedrohte, stellte Adam fest und Leos Verhörtaktik war ein Scheiß gegen ihre ruhige Art, ihm die schmerzenden Dinge an den Kopf zu werfen. 
„Nein, er hat mich zu sich geholt“, widersprach Adam und der Hund vor ihm setzte sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Richtete sich häuslich vor Adam ein als wären sie beste Freunde. Wo war Vincent, wenn er ihn mal brauchte? Der hätte sich schon längst mit seinem unpassenden Gegurre um den Flohzirkus gekümmert.
„Aus welchem Grund sollte er das tun?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wäre es nach mir gegangen, hätte er mich dagelassen. Vermutlich war es sein gutes Herz.“

Wenn sie spöttisch schnauben würde, wäre es gut. Wenn sie ihn wütend mustern würde, auch. Irgendetwas, nur nicht diese verdammte, ruhige Neutralität, mit der Adam nichts anfangen, an der er sich nicht reiben konnte. So ließ sie nur seine Nackenhaare stehen, weil er nicht wusste, was die Frau von ihm wollte.

„Leo hat ein gutes Herz, schon immer gehabt.“ Worte wie eine Warnung, die Adam gerne als solche wahrnahm. Er schwieg dazu, denn er wusste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Es widerstrebte ihm, ihr gegenüber zynisch oder bissig zu sein. Zu sagen, dass er ihren Sohn doch nicht mehr erpresste und dieser ihm jüngst den Rücken gekrault hatte und ihn für die gute Seite – was auch immer das hieß – begeistern wollte, schloss sich auch aus. 

Beinahe schon erleichtert sah Adam auf den Hund, der sich träge erhob, anscheinend seiner Nähe überdrüssig und in Richtung Küche ging. Verfressenes Vieh, grollte Adam innerlich und sah ihm hinterher. Alles, nur um nicht Mutter Hölzers aufmerksamen Blick ausgesetzt zu sein. 

Schweigend erhob sie sich und ging Herbert nach, was Adam zum hastigen Anlass nahm, zu seinem Handy zu greifen und Leos Kontakt aufzurufen. 
~Komm sofort nach Hause!~, tippte er und schaffte es gerade so, sich auch noch die eigentlich viel zu warme Decke zu angeln, bevor Hund und Frauchen zurückkamen, das Stück Gurke, das der Hund sich anscheinend geangelt hatte, wie eine Trophäe zwischen seinen sabbernden Lefzen. Gut, war Leos Teppich und damit nicht sein Problem.  

Adam ruckelte sich zurecht. Das Aufrechtsitzen war zwar nicht angenehm, aber es machte ihn nicht ganz so hilflos. Zumindest im Grundsatz. 

„Warum sind Sie hier?“, traute er sich vielleicht auch deshalb zu fragen und Frau Hölzer sah zunächst nachdenklich aus dem Fenster. 
„Weil meine Tochter mir erzählt hat, dass mein Sohn sich große Sorgen um seinen Freund Adam macht, der nicht unerheblich verletzt bei ihm zuhause ist. Meine Tochter, die glücklicherweise keine Ahnung von Ihren fürchterlichen Worten hat, mit denen Sie meinen Mann und damit auch mich gequält haben.“

Entschlossen drehte sie sich um und schob die Hände in die Taschen ihrer hellen Jeans, atmete tief ein. 

„Ich will wissen, wie und warum. Ich will wissen, was Sie getan haben und was Sie ihm weiterhin antun.“

Sich von der Dreckssau nochmal verprügeln zu lassen, wäre angenehmer als dieses Gespräch. Adams anfängliches Das geht Sie nichts an starb auf seinen Lippen, noch bevor auch nur eines der Worte Gestalt annehmen konnte. Das Problem war, dass er ansonsten keine Antwort auf ihre Forderungen hatte. Keine, die er zu geben bereit war. 

„Da müssen Sie Leo fragen“, sagte er entsprechend zurückhaltend und beobachtete misstrauisch, wie der Hund - mittlerweile ohne Gurke - das Sofa anpeilte. Und ihn. Adam ruckelte sich zurecht und versuchte das Tier nieder zu starren – mit mäßigem Erfolg. Erst kam eine Pfote, dann die andere. Dann wuchtete sich dieser massige Hund auf die Polster und drückte ihm fast seinen Arsch ins Gesicht. 

Adam schützte sich grollend und sah unwohl mit an, wie Herbert sich neben ihm hinlegte, brummte und seinen Kopf unweit von Adams Oberschenkel ablegte. Er winselte leise und Adam verstand, was er zu tun hatte, damit dieser Möchtegernschoßhund ihm nicht zu nahe kam. Wieder legte er seine Hand auf Herberts Kopf. Wieder war der Hund alleine dadurch zufrieden. 

„Leo ist nicht hier.“
Adam sah auf. „Was auch der Grund ist, warum Sie hier sind“, erwiderte er offen und ehrlich und das traf auf ihre grimmige Zustimmung. 
„Richtig. Ich will es aus Ihrem Mund hören, ohne seine Anwesenheit.“
„Dass ich ein böser Mensch bin?“
„Wenn es das ist, was Sie mir sagen wollen.“
„Ist es das, was Sie hören wollen?“

Ihr Gesichtsausdruck sagte Adam sehr deutlich, was sie von seiner Art der Gesprächsführung hielt. Das gepaart mit ihrem Überraschungsbesuch und vermutlich Leos baldiger Ankunft ließ Adam deutlich mit den Zähnen knirschen. 

„Sagen Sie mir, was Sie für ein Mensch sind“, forderte sie und Adam sah an ihr vorbei aus dem Fenster. 
„Der Mensch, der Ihren Sohn erpresst und ihm über Monate sehr wehgetan hat“, sagte er selbstkritisch, auch wenn es nicht alles abdeckte, was er getan hatte. Es war ehrlich, aber nicht das, was Adam wirklich glücklich machte. Nicht mehr. Der Leo, der ihm jetzt gegenüberstand, der machte ihn glücklich. Nicht der, der das tun musste, was Adam wollte.

Ein Trugbild an Gemeinsamkeit, das durch Leos Beruf und sein Versprechen, Adam zu Fall zu bringen, immer wieder getrübt wurde. 

Frau Hölzer schwieg und die von ihr ausgehende Stille war mehr als unangenehm. Sie wartete, erkannte Adam. Darauf, dass er ausführte, was er gerade eben in den Raum geworfen hatte. Dass er ihr erklärte, warum er dann hier war, warum er verletzt war, warum ihr Sohn trotz allem immer noch an seiner Seite war. Und warum der verfluchte Köter sein Sabbermaul auf Adams Oberschenkel legte, leise winselte und ihm über die Hand leckte, als wäre er sein bester Freund. 

Wo verflucht war Vincent, wenn man ihn mal brauchte?

„Herbert mag Menschen nicht so gerne. Er hat für gewöhnlich Angst vor ihnen.“ Das war ein Testballon, auf den Adam mit Sicherheit nicht eingehen würde. 
„Sie mag er, das ist offensichtlich. Seltsam finde ich das, denn jemand, der so fürchterlich zu Menschen ist, ist sicherlich auch fürchterlich zu Tieren.“
Adam schnaubte. „Ich habe Leo dazu gezwungen, Herbert ins Schlafzimmer zu sperren“, erwiderte er – mit latentem Selbsthass. Er wusste, wie die Frau darauf reagieren würde und in welch schlechtem Licht er dastehen würde. Aber besser so, als dass sie noch auf den Gedanken kam, dass er ein guter Mensch sei.

„Warum?“, fragte sie und Adam verfluchte sich für das Hölzersche Bedürfnis, alles und jede Motivation zu hinterfragen. Er hatte schlimme Dinge getan. Punkt. Wozu brauchte es da eine Begründung?
Mitnichten würde er sagen, dass er Angst vor Herbert hatte. Gehabt hatte. Immer noch hatte, irgendwie. 
„Ich mag den Köter nicht“, erwiderte er anstelledessen und beide Augenbrauen der Frau wanderten nach oben. Sie sagte nichts, musste sie auch gar nicht, denn ihre Augen ruhten betont auf seiner Hand, die besagten Hund sanft kraulte und das nun schon, seit sie das Gespräch begonnen hatten. 

„Sieht man“, erwiderte Frau Hölzer knochentrocken und bierernst, ohne einen Funken Humor. Sie glaubte ihm nicht und dadurch hatte er auch seine vorherigen Worte mehr als entwertet. 

„An mir ist nichts Gutes, Frau Hölzer“, grollte Adam. „Ihr Sohn hat ein Herz für mich, weil ich zufälligerweise nicht selbst nach Hause gehen konnte und verletzt war. Wie ein Straßenköter, der ihn vorher gebissen hat.“

„Mein Sohn, den Sie beinahe in den Selbstmord getrieben haben, hat ein Herz für Sie?“, wiederholte Frau Hölzer eisern und jetzt Adam sie, die hilflose Wut auf ihn und auf alles, was er verkörperte. Ja, er war das Böse. Richtig so. 
„Stockholm Syndrom, weil ich ihn jetzt besser behandle als vorher und er nicht vor mir knien muss?“, fragte Adam in seiner typischen, provokanten Art um sie zu schocken, sie durch Wut von seiner Fährte abzubringen. Und von dem Gedanken, dass er auch nur in Ansätzen rettenswert wäre. Oder nett. Oder etwas anderes als ein Arschloch. Es reichte, wenn Vincent seine nette Seite kannte… und Leo auch irgendwie. 

Aber auch das brachte keinen nennenswerten Erfolg und Adam fühlte sich sekündlich unwohler in seiner juckenden, kratzenden Haut. 

„Hatten Sie in Ihrem Leben einen Moment, in dem Sie gut waren?“, fragte Frau Hölzer und warf Adam erst einmal aus der Bahn damit. Was war das für eine Frage? Wo war der Zorn?
„Kann mich nicht mehr dran erinnern“, murrte Adam. „Wobei doch…einen gab es. Oder wird es geben. Wer ist Detlef?”, wechselte er abrupt das Thema und sah, wie sehr er Leos Mutter damit überraschte. Für Momente war sie sprachlos und aus dem Konzept gebracht. Augenblicke lang wusste sie nichts aus seiner Frage zu machen und zog dann misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
„Welcher Detlef?”, log sie und Adam schnaubte.
„Der, der Ihrem Sohn das Leben so zur Hölle gemacht hat, dass er auch jetzt noch Alpträume davon hat.”

Sie schwieg, versuchte etwas aus seinen Worten zu machen, was in ihren Augen anscheinend mehr Sinn ergab als seine Sorge um ihren Sohn. Den er erpresste. Unterdrückte. Zum Knien zwang. 

„Wieso wollen Sie das wissen?”, hakte Frau Hölzer nach und Adam gestattete sich einen Blick auf den Hund, der ihn nicht aus den treudoofen Augen ließ. Dass er auch als Gefängniswächter fungierte, wurde Adam erst jetzt bewusst.
„Um ein eindringliches Gespräch über die unglücklichen Entscheidungen des jungen Detlefs zu führen und ihm zu verdeutlichen, dass er sich besser nicht an Leo vergriffen hätte.”

So sehr, wie ihn die grünen Augen durchdrangen und analysierten, kam Adam sich wie in einem Röntgengerät oder schlimmer, einem MRT, vor. Ähnlich unangenehm war es, die Stille laut und dröhnend, um ihn herumwummernd. 

„Sich an Leo zu vergreifen, dürfen nur Sie?”
„Nein, auch ich nicht. Nicht mehr.”

Sein Ernst überraschte sie und es dauerte wieder lange Sekunden, bis sie ihm antwortete. „Die Erkenntnis kommt reichlich zu spät. Mein Sohn hat versucht, sich wegen Ihnen umzubringen.” 

Gnadenlos war sie, die Matriarchin. Gnadenlos ehrlich vor allen Dingen. Aber sie hatte Recht, auch wenn es dem Schmerz in Adams Inneren keinen Abbruch tat. Im Gegenteil.  
„Es gibt Dinge, die bereue ich. Das gehört dazu”, erwiderte er schlicht. „Ich wollte das nie und werde alles daran setzen, dass es nicht wieder vorkommt.”

Frau Hölzer sah nicht so aus, als würde sie es ihm glauben, doch unterm Strich war das Adam egal. Er hatte für sich eine Entscheidung getroffen und nach dieser würde er leben. Was er aber unterschätzt hatte, war die Erleichterung, die er in sich selbst fühlte, dass er diese Worte offen und ehrlich ausgesprochen hatte. Jemandem gesagt hatte, der nicht Vincent war. Oder Leo. 

Frau Hölzer sah aus dem Fenster und Adam erkannte Schmerz und Wut auf ihren Zügen. 

„Hofmann”, sagte sie, nicht an ihn und dann doch. Detlef Hofmann. Oh wie Adam sich auf das Gespräch freute. 

Wieder trat Stille zwischen sie und entsprechend überrascht zuckte Adam zusammen, als es mit einem Mal klingelte. 

Sanft hallte der unaufdringliche Laut durch die Wohnung und Adam war nach dem ersten Schreck erleichtert, dass sich nun Leo mit seiner Mutter und deren Fragen herumschlagen durfte. Begründen durfte, was für ein Monster er war. 

Frau Hölzer erhob sich, bevor Adam auch nur den Versuch starten konnte, dem Mann, der anscheinend seinen Schlüssel vergessen hatte, die Tür zu öffnen. Sie ging in den Flur und Adam sah auf Herbert hinunter, der ihr aufmerksam nachstarrte. 
„Da kommt dein Lieblingsherrchen“, murmelte Adam und wackelte todesmutig an dem ihm zugewandten Ohr. Es zuckte und Herbert brummelte, legte seinen Kopf aber wieder auf die Couch. Was war das denn jetzt? Begrüßte man so seinen persönlichen Helden? 
„Vincent?“, fragte Adam probeweise und der Köter drehte sich abrupt zu ihm. 
„Nicht hier“, erläuterte Adam und erst seine Hand auf dem Kopf des Hundes ließ diesen wieder zur Ruhe kommen. 

„Opportunist“, grollte er leise und lauschte ebenso in Richtung Tür. 

Anscheinend war es aber nicht Leo, sondern eine der Nachbarinnen, denn Adam hörte zwei Frauenstimmen, die sich leise unterhielten.
„Natürlich, kommen Sie rein“, lud Frau Hölzer die Unbekannte ein und Adam grub sich tiefer in die Decke. Ganz hervorragend. Super. Er war begeistert. Er kam hier nicht weg und war wirklich begeistert. Noch mehr Frauen in seiner Nähe. Wo zum Teufel war sein verfluchter, hauseigener Polizist mit frisch gelöstem Mordfall? 

„Folgen Sie mir, wir sind im Wohnzimmer.“

Während Adam seine Zähne so fest zusammenpresste, dass sein Kiefer schmerzte, kam Frau Hölzer zurück.. Hinter ihr befand sich zu seinem vollständigen, bodenlosen Entsetzen, seine eigene Mutter. 

„Hallo mein Schatz“, sagte sie sanft mit traurigen Augen, die nichts über die Natur von Leos und seiner Beziehung wusste. Oder über die Worte, die er noch vor wenigen Minuten zu Frau Hölzer gesagt hatte. 
„Mama…?“, stotterte er unwürdig und verkrampfte sich so sehr, dass der riesige Hund neben ihm sich dazu genötigt sah, ihm nun seine volle Aufmerksamkeit zu widmen. Er schob seinen riesigen Schädel halb auf Adams Schoß und leckte ihm über den Unterarm. Das machte nichts besser, befand Adam. Aber die Geste zählte. Oder so. 

„Vincent hat mir verraten, wo du bist. Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte sie und warf einen schüchternen Seitenblick auf Frau Hölzer, die viel zu aufmerksam beobachtete, was hier vor sich ging. 

„Du sollst doch nicht…“, begann Adam und die Verzweiflung in seiner eigenen Stimme ließ ihn verstummen. So sollte niemand klingen, der einen erwachsenen Mann in die Knie zwang, erpresste und sonst das Böse war.

„Ich mache uns dann mal Kaffee.“ 
Tumb starrte Adam Leos Mutter nach, die sich in Richtung Küche begab und ein Horrorszenario sondergleichen für Adam einleitete. Als wäre die Mutter seines hauseigenen Polizisten nicht schon genug. Nein. Es musste ja noch seine eigene auftauchen. Und reden wollen. 

Langsam kam sie auf ihn zu, ihre schmalgliedrigen Finger schon nach ihm ausgestreckt, bevor sie ihn erreichte. Herbert, der sie bisher misstrauisch beäugt hatte, zuckte zurück und erhob sich strampelnd, durch die Gegenwart eines fremden Menschens mehr als aufgeschreckt. Aus sicherer Entfernung weit neben der Couch sah er mit hängenden Ohren und hängendem Schwanz zu, wie Adam von seiner Mutter in eine seichte Umarmung gezogen wurde. Adam wünschte sich fast, er könnte das Gleiche tun und vor beiden Frauen fliehen, doch ihm stand tierisches Gehabe nicht ganz so gut zu Gesicht wie dem riesigen Köter. 

„Vincent hat mir erzählt, was er getan hat“, murmelte sie leise und Adam schloss seine Augen. Verfluchter Vincent. Es war sowieso schon zu spät. Alles, was er versucht hatte, bei Frau Hölzer zu erreichen, konnte er jetzt in den Wind schlagen. 
„Es tut mir so leid, mein Junge. So leid.“ Ihre Stimme klang tränenschwer und Adam sah hoch. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, dass sie sich Sorgen machte und das auch noch vor Leos Mutter. 

„Ist okay, Mama. Es geht schon wieder. Wirklich.“

Sie glaubte ihm nicht und hatte damit etwas mit Frau Hölzer gemein. Wundervoll. 

„Ich habe versucht, ihn zu beschwichtigen. Ich habe…er lässt sich momentan nicht mehr davon abbringen, in allem das Böse zu sehen. Er schimpft in einer Tour und ich habe Angst, dass er dich totschlägt, wenn das so weiter geht.“

Adam wäre es lieber gewesen, wenn sie das nicht in Anwesenheit einer anderen Person mit guten Ohren gesagt hätte. 

„Mama, nicht hier“, murmelte er und sie verstummte. Verwirrt sah sie sich um, als würde sie die Wohnung zum ersten Mal sehen. 
„Wo bist du hier eigentlich untergekommen? Wessen Wohnung ist das?“, fragte sie und Adam seufzte. 
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte er in dem Moment, in dem Leos Mutter den Raum betrat, Kaffee, Tassen, Milch und Zucker auf dem Tablett, das sie mit Bedacht auf dem Couchtisch vor Adam abstellte.. 

„Ich habe Zeit“, erwiderte Frau Hölzer und Adam hatte sich noch nie so sehr in seinem Leben gewünscht, dass sich der Boden unter ihm auftat und ihn verschluckte, während sie ihnen allen mit einem vielsagenden Blick Kaffee einschenkte. 


~~**~~


„Der ist aber ganz schön hartnäckig.“

Leo seufzte tief in Esthers Richtung und starrte auf sein Handy, das weit weg auf seinem Schreibtisch lag und vor ein paar Sekunden mit Adams eigenem Ton gepingt hatte. Er selbst stand vor ihrer Erkenntniswand, wie sie alle liebevoll das hart erkämpfte Whiteboard getauft hatten. Die Idee mit dem Beamer war keine gute gewesen, viel zu anstrengend zum Schauen. Also hatte Leo wieder Kärtchen geschrieben, auf denen die Informationen über Elias Schiller prangten, die sie hatten. 

Die erste Nachricht hatte er ebenfalls in Esthers Beisein bekommen und sie zu ihrer Zufriedenheit ignoriert. Als würde er springen, wenn der andere Mann rief. Das konnte sich dieser abschminken. Aber sowas von. 

„Moment“, entschuldigte er sich mit einem Lächeln bei Pia und ging zu seinem Telefon. Er entsperrte es und hob die Augenbrauen, als ihm ein ~KOMM SOFORT NACH HAUSE ODER ICH FACKEL DEINE WOHNUNG AB~ entgegensprang. 

Leo blinzelte. „Ich glaube, es ist etwas Ernstes“, mutmaßte er und ging zu Esther, zeigte ihr die Nachricht. 
Schweigend hob sie die Augenbrauen und musterte ihn dunkel. „Gibt’s einen Grund, warum er deine Wohnung als Zuhause bezeichnet?“, fragte sie und Leo zuckte mit den Schultern. 
„Faktisch ist sie ja mein Zuhause.“ War sie wieder…nachdem sie es lange Zeit nicht war.
„Aber seins nicht.“
„Der Mann lebt vermutlich nach dem Prinzip „Habe ich angeleckt, gehört mir.““

Wie seine Antwort ankam, erkannte Leo erst nach ein paar Sekunden und nun war es nicht nur Esther, die ihn viel zu aufmerksam musterte. Der volle Fokus der beiden Frauen lag auf ihm und Leo holte Luft, wollte verneinen, was er gerade von sich gegeben hatte.
„Hat er…?“, fragte Pia und Leo schüttelte vehement den Kopf. Seine Wangen wurden rot bei der Bedeutung, die das gerade haben könnte.
„Das wüsste ich zu verhindern!“

Dass dem nicht so wahr, sah er auf ihren Gesichtern und war für einen Moment versucht, all seine Gründe für genau das darzulegen. 
„Ihr seid doof, alle beide“, destillierte er seine Gefühle und Pia schnaubte liebevoll. 
„Wir sind nur besorgt um dich, Leo“, erwiderte sie halb im Spaß, halb im Ernst und es brauchte einen Moment, bis Leo dieses sachte Geständnis verdaut hatte. Er lächelte und sah auf ihre Wand. 
„Kommt ihr ohne mich klar?“

Esther hob einen Daumen. „Klar, Chef!“

Ihre Erwiderung, so knapp und halb bissig sie auch sein mochte, wärmte sein Herz.


~~**~~


Im Hausflur brannte zumindest schon einmal nichts, stellte Leo beruhigt fest, als er den Schlüssel in seine Wohnungstür steckte und sich beinahe augenblicklich des Kaffeeduftes gewahr wurde, der sich ihm entgegenschlängelte. 

Er rollte mit den Augen und streifte seine Schuhe von den Füßen, als er das bekannte Geräusch von Krallen auf dem Parkett seines Bodens hörte. Irritiert sah Leo hoch, rechtzeitig genug, um Herberts Freude zu entkommen, die sich in Form einer schlabbrigen Zunge über sein Gesicht ziehen wollte. 
„Hallo Großer“, murmelte er überrascht und kuschelte die vor Freude schier ekstatische Dogge, die anscheinend gar nicht fassen konnte, dass er in seiner eigenen Wohnung auch anwesend war. „Hat Caro dich von zuhause mitgenommen, hm? Bist du der Grund, warum ich kommen sollte?“, brummte er und schmatzte Herbert einen Kuss auf die Nase, bevor er sich von ihm löste und in Richtung Wohnzimmer ging.  

„Wenn du genug Zeit zum Kaffeetrinken hast, dann brauchst du auch nicht so tun, als würde die Welt unter…“, murrte Leo und kam um die Ecke. Keine Sekunde später blieb er jedoch wie angewurzelt stehen und starrte auf die vermeintliche Nervensäge. Und seine Mutter, die auf einem der Esszimmerstühle gegenüber der Couch saß. Nicht zuletzt aber auch die fremde Frau, die Leo nicht kannte. 

Sie alle hielten Kaffeetassen in der Hand…die guten, die er jüngst als Set gekauft hatte.  

„…gehen…“, vollendete Leo seinen eigenen Satz zögernd und bettete seine Hand auf Herberts Schopf, der sich schwanzwedelnd an ihn presste und anscheinend durchaus glücklich mit der anwesenden Konstellation war. Da war er anscheinend der Einzige, wenn er sich Adams angespannten Gesichtsausdruck ansah. Oder seinen eigenen Horror fühlte. Was machte seine Mutter hier, alleine mit Adam? Das sollte sie nicht. Und wer war die andere Frau? 

„Hallo Leo, schön, dass du da bist“, sagte seine Mama mit einem versichernden Lächeln und er schluckte. Sie war schon länger hier und hatte gleich auch noch Herbert mitgebracht. Was bedeutete, dass sie bereits seit…
Sein Kopf ruckte zu Adam, der ihn finster anstarrte und so unwohl aussah, wie er ihn selten erlebt hatte. 

„Da bist du ja“, grimmte der blonde Mann und Leo schnaubte, als er das Endlich nur zu deutlich zwischen den Zeilen hörte. Irritiert wandte er sich an die bisher stumme, fremde Frau. 
„Und Sie sind?“ Er wusste nicht, wie er es höflich formulieren sollte, dass sich jemand in seiner Wohnung befand, den er nicht kannte und nicht eingeladen hatte. Das war in den vergangenen Monaten viel zu oft passiert, als dass er jetzt gnädig drüber hinwegsehen würde. 

Die ältere Frau lächelte schüchtern und machte den Eindruck, als würde sie Angst vor ihm haben, alleine hervorgerufen durch seine Frage. Leo runzelte die Stirn. „Mein Name ist Heide Schürk. Ich bin Adams Mutter.“

Leo starrte – unhöflich und nicht in der Lage, aus ihren Worten einen sinnvollen Zusammenhang zu bilden. Seine Augen ruckten zu Adam, der ihn mit fest zusammengebissenen Zähnen musterte. Komm das nächste Mal, wenn ich dir schreibe, du Idiot, stand in den eisblauen Orben. Hätte Leo das ahnen können? Nein. Und nun stand er auf einer dünnen Eisfläche, die bereits verdächtig knackte und knarzte. Eine spiegelglatte Oberfläche wäre trittsicherer gewesen als die Situation, die sich plötzlich, unerwartet und ungewollt vor ihm ausbreitete. Leo schluckte und sein Blick huschte von Adam zu dessen Mutter. 

„Leo Hölzer. Ihr Sohn“, erwiderte er, deutete auf seine Mama und verspürte in der Sekunde, in der die Worte seinen Mund verlassen hatten, das Bedürfnis, sich selbst in den Nacken zu klatschen. Wollte er gleich auch noch seinen Familienstammbaum vor der fremden Frau ausbreiten?
„Was ist hier los?“, fragte er mit deutlich mehr Sinn und Verstand und Adam schnaubte. 
„Möchtest du vielleicht erst einmal eine Tasse Kaffee, Leo?“, fragte seine Mutter und Leo nickte. Besser war das. 

Mit ruhiger Hand machte seine Mutter ihm eine Tasse fertig und reichte sie ihm mit einem vielsagenden Blick. Dankbar nahm er sie entgegen und setzte sich vorsichtig…auf den einzigen, freien Platz in seinem Wohnzimmer: neben Adam auf die Couch, getrennt durch das mittige Polster seines Dreisitzers. Genug Abstand zu Adam, dass Herbert sich voller Freude, dass nun zwei bekannte Personen dort saßen, zwischen sie quetschen konnte. 

In seiner unnachahmlichen Art, seinen ganzen, massigen Körper auf die Couch zu hieven, sich zu drehen, sich noch einmal zu drehen und dann eine Position zu finden, in der er seinen Kopf auf Leos Schoß legen konnte, während er seine Beine bequem über Adams Oberschenkel schob. Mit hochgezogenen Augenbrauen und gerümpfter Nase beobachtete Adam das, traute sich aber nicht, die über ihn ausgebreiteten Beine von sich hinunter zu schieben. 

Unangenehme Stille kroch zwischen ihnen durch den Raum und und Leo starrte auf seinen Kaffee, als wäre er die Antwort auf alles. Vielleicht stimmte das sogar. Eine bessere Antwort auf die Frage, was hier passierte und vor seiner Ankunft alles passiert war, war er auf jeden Fall. 

Verstohlen musterte er Frau Schürk. Adams Mutter also. Sie war…anders, als Leo es angenommen hatte – wurde ihm bewusst. Auch wenn er nie konkret über seine Mutter nachgedacht hatte, so war sie doch anders als seine unterbewusste Vorstellung. Undenkbar noch vor Monaten, dass das Monster eine Mutter hatte und noch dazu eine so zierliche, schüchterne Frau. Und jetzt war da kein Monster, aber ein Familientreffen, nicht zu vergessen seine eigene Mutter, deren brennenden Blick er auf seinem Gesicht spürte. 

„Sie sind also derjenige, der meinen Sohn aufgenommen hat“, sagte Frau Schürk schließlich leise und Leo nickte. 
„Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar“, lächelte sie. „Es ist sicherlich nicht leicht für Sie, die Verletzungen zu sehen.“

Leo schluckte schwer. Nicht leicht war noch untertrieben, aus verschiedenen Gründen. Die Wunden, die Adam auf seinem Rücken trug, waren da nur ein Aspekt des Ganzen. Aber er bekam ihren Sohn gehändelt. Mittlerweile schon, denn mittlerweile war es anders als vorher. 
„Kein Problem“, sagte er und seine Mama brummte nachdenklich von der Seite aus. Er kannte den Ton und wären sie alleine gewesen, hätte er schon jetzt eine Lektion über schlechte Lügen erhalten. 
„Sie sind ein Freund von Adam?“

Sie wusste nicht, wer er war. Adam hatte ihr keinen Ton gesagt, hielt sie vermutlich darüber hinaus auch noch aus seinen schmutzigen Geschäften heraus. Und sie hatte keine Ahnung, was Adam ihm in den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft angetan hatte. Sie war so ahnungslos wie seine eigene Mama es gewesen war, bevor Adam mit seiner brachialen Ehrlichkeit soviel sichtbar gemacht hatte, was Leo vor seinen Eltern hatte verbergen wollen.

„Wir kennen uns“, erwiderte Leo ausweichend und neben ihm bewegte sich besagter, blonder Mann abrupt. Aus dem Augenwinkel sah Leo, wie Adam die Decke um seinen Oberkörper enger zog.  
„Oh.“
Das Oh klang so enttäuscht, dass es Leo aufsehen ließ. Adams Augen waren starr auf die Tischplatte gerichtet und seine Mama musterte Frau Schürk nachdenklich. 

„Es ist gut, Mama“, sagte Adam leise und so sanft, wie Leo ihn selten gehört hatte. Ähnliche Stimmfärbungen kannte er von dem blonden Mann, aber so liebevoll hatte er es noch nicht gehört. Dass ihm eben jener Ton durch Mark und Bein ging und sich irgendwo in seiner Brust festsetzte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Darüber wollte und sollte Leo jetzt nicht nachdenken.
„Natürlich, entschuldige“, stimmte Frau Schürk zu und lächelte. Zögerlich nahm sie einen weiteren Schluck Kaffee. Abgezirkelte Bewegungen, die Leo schon oft gesehen hatte. Bewegungen, die keine Aufmerksamkeit erregen sollten, Bewegungen, die dazu gedacht waren, vermeintliche Provokationen zu vermeiden. Gesten eines Opfers.

„Wie lange sind Sie schon hier, Herr Schürk?“, fragte Leos Mama in die eintretende Stille hinein und Adam presste seinen Kiefer so eisern aufeinander, dass sein Gesicht beinahe schon verhärmt wirkte. 
„Seit Freitag.“
„Was haben Sie seitdem gemacht?“ 
Seine Mutter war wütend, das erkannte Leo an ihrer Stimmfärbung mehr als deutlich. Verdenken konnte er es ihr nicht und er erkannte, dass Adams erste Nachricht zu dem Zeitpunkt gewesen sein musste, als sie mit Herbert hier angekommen war. In dem Wissen, dass er arbeiten war. In dem Wissen, dass sie dadurch mit Adam alleine war. Er hatte nicht dabei sein sollen, erkannte Leo. Eigentlich hatte seine Mutter sich Adam alleine vorknöpfen wollen. 

Die Frage nach dem Warum stellte sich Leo nicht. Caro hatte gequatscht und seine Mama machte sich Sorgen. Um ihn. 

„Wir haben gespielt“, antwortete Adam für ihn mit knappen Worten und glücklicherweise mit der harmlosesten Information, mit der er aufwarten konnte.
„Gespielt?“, echote seine Mutter und knapp nickte Adam.
„Qwirkle.“
„Ach?“

Leo hörte dem Gespräch genauso aufmerksam zu wie Frau Schürk, nur aus anderen Gründen. Adam war durch die Anwesenheit beider Frauen angespannt genug, dass er sich dabei nicht im Ton vergreifen würde – hoffte Leo zumindest. 

„Er spielt es gerne.“ Der auf ihn gerichtete Daumen ließ Leo dann aber innerlich doch nahtlos grollen. 
„Er aber auch“, entkam es ihm entsprechend ungnädig und zog die volle Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf sich. 
„Wir spielen es gerne“, stellte Adam klar und Leo wusste nicht, was schlimmer war. Die Augenbraue seiner Mama zuckte jedenfalls vielsagend. „Auch wenn Leo viel zu lange braucht, um sich die Steine zurecht zu legen und damit jedes Spiel zu einer Geduldsprobe für seine Umgebung macht. Um dann aber doch zu verlieren.“

Leo blinzelte und überlegte, ob es ein probates Mittel wäre, Adam einfach hier und jetzt den Hals umzudrehen. Jetzt plötzlich entdeckte der andere Mann seine gesprächige Ader. Um dann was zu tun? Ihn gegenüber seiner Mutter…ihren Müttern… in die Pfanne zu hauen? Danke auch. Für nichts.
„Sagt der, der immer bescheißt“, schoss Leo entsprechend angesäuert zurück und Adam lächelte latent selbstzufrieden. 
„Nicht immer. Als es draufankam, war ich ehrlich.“

Grollend schnaubte Leo und wich den Augen seiner Mutter aus, die viel zu viele Fragen beinhalteten. 
„Als es darauf ankam?“, hakte sie nach und Leo verweigerte sich sekundenlang einer Antwort. Dann…konnte er es nicht mehr.
„Wir haben um unsere Vornamen gespielt“, erläuterte er. „Bisher war es für uns gangbar, uns bei unseren Nachnamen zu nennen.“
„Für dich war das gangbar“, korrigierte Adam ihn, ihm nahtlos in den Rücken fallend. „Ich fand deinen Vornamen immer schon schön.“ 

Dass dem so war, konnte Leo schwerlich abstreiten. Damals hatte er es nur wie die Pest vermieden, Adam bei seinem zu nennen, aus guten Gründen. Damals…vor einem Jahr. „Adam ist dann auf die Idee gekommen, dass wir um unsere Vornamen spielen und hat gewonnen.“
„Ohne zu bescheißen.“
„Das erste Mal, ja.“

Leo sah hoch und fing durch Zufall das wohlversteckte Lächeln von Adams Mutter ein.
„Das klingt nach einem wundervollen Zeitvertreib“, sagte sie zärtlich, den Grund des Spiels völlig ignorierend und Leo fragte sich unwillkürlich, ob sie nicht Seltsames von ihrem Sohn gewohnt war. Widerwillig musste er ihr allerdings zustimmen. Der Zeitvertreib war gut.
 
„War das bevor, nachdem oder währenddessen Sie meinen Sohn dazu gezwungen haben, vor Ihnen zu knien?“, fragte seine Mama und Leo glaubte im ersten Moment, dass er sich verhört hatte. So unwahrscheinlich war es, was ihren Mund verließ, so unmöglich. 

So unsäglich unerträglich nach all der langen Zeit. 

Die Frage, woher sie das wusste, erübrigte sich, denn er hatte keinen Ton darüber verloren. Also musste es Adam gewesen sein, der wieder einmal seinen Mund nicht hatte halten können. Wütend wandte sich Leo ihm zu und traf auf eisiges Schweigen, noch viel eisigere, zu Boden gerichtete Augen und eine aschfahle Gesichtsfarbe.

„Was hast du gesagt?“, fragte Leo mit unverhohlener Wut. Gerade eben in diesem Moment blendete er ihre beiden Mütter und die Konsequenzen, die es vielleicht für sie haben könnte, vollkommen aus. er wollte eine Antwort auf die Frage, ob Adam erneut seine Abwesenheit dazu genutzt hatte, seiner Familie Schaden zuzufügen. 
„Nichts“, presste Adam hervor und Leo glaubte ihm nicht. Zwischen ihnen wurde Herbert ob des deutlichen Stimmungsumschwungs unruhig und winselte leise. Beschwichtigend leckte er Leo über die Hand und Leo sah auf ihn hinunter. Seufzend beugte er sich zu dem Riesen und strich ihm über den Schädel. 
„Alles ist gut“, murmelte er sanft, auch wenn es ihm wie die dreisteste Lüge überhaupt vorkam.

„Also?“, wiederholte Leo Herbert zuliebe in gemessenerem Ton.
„Das, was deine Mutter gerade gefragt hat.“
„Wieso? Was daran schien dir ein gutes Thema für einen nachmittäglichen Kaffeeklatsch zu sein?“
„Weil es so passiert ist. Was soll ich es verleugnen? Hast du mir nicht noch gesagt, ich soll nichts verleugnen und dazu stehen, was ich dir angetan habe?“
„Ernsthaft, damit begründest du das? Reicht es nicht, was du meinem Vater in deiner Wut gesagt hast?“

„Adam, was meint er damit?“, fragte Frau Schürk leise, die Stimme alarmiert. „Was hast du getan? Was meint Leos Mutter mit knien?“

So gepeinigt, wie Adam seine Augen zusammenpresste, hatte Leo ihn noch nie gesehen. So schmerzerfüllt. Seine Hände waren zu starren Fäusten geballt und er atmete flach. Beinahe kam es Leo so vor, als würde Adam in eine Panikattacke abgleiten, doch der andere Mann beruhigte sich mit reiner Willenskraft nach ein paar Augenblicken wieder. Mit einem bedachten, ruhigen Atemzug wurde er ruhig. Langsam öffnete Adam seine Augen und sah von Leo zu seiner eigenen Mutter.
„Leo ist eine meiner Verknüpfungen, Mama“, sagte er schlicht, resigniert gar und über Frau Schürks Gesicht kroch so etwas wie Einsetzen und Mitleid. Weswegen, das konnte Leo sich nicht erklären, ebenso wenig, warum sie nun mit Schmerz verzogenem Gesicht nach seiner Hand griff. 

Adam entzog sich ihr. 

„Lass es gut sein, Mama. Der Polizist neben mir und ich haben das geklärt.“ 
„Ist das so?“, fragte Leos Mutter lauernd und nun war es an ihm, Rede und Antwort zu stehen. 
„Ja, Mama, das haben wir. Ich…knie nicht mehr vor ihm“, presste er hervor und die Erinnerungen waren immer noch mit Scham behaftet. Mit den erlittenen Demütigungen und Schmerzen. Leo musste tief einatmen um sie gehen zu lassen. „Es ist zweimal passiert und danach nie wieder. Und nachdem das Gespräch zwischen Papa und Adam stattgefunden hat, habe ich Adam deutlich zu verstehen gegeben, wie es nun weiterlaufen wird. Wir haben eine Abmachung getroffen, was das hier angeht.“ 

Er machte eine allumfassende Handbewegung, die seine Wohnung, den blonden Mann, Herbert und seine Mutter einschloss. Leos Wangen brannten und er bohrte seine Augen in Adams. Das, was er dort sah, konnte Leo als schlechtes Gewissen identifizieren und es verschaffte dem Tumult in seinem Inneren etwas Ruhe. 

Leo wandte sich an Frau Schürk, musterte sie durchdringend. „Und ja, ich weiß um die Machenschaften Ihres Mannes und Ihres Sohnes. Genauso weiß  ich, was Ihr Mann Ihrem Sohn antut. Ich habe ihn schließlich halb bewusstlos am Freitag in meine Wohnung gebracht, damit meine Schwester seine komplette Rückseite versorgen kann. Teile der Wunden mussten geklebt werden und sich lange aufrecht halten, kann ihr Sohn immer noch nicht. Und nein, ich verstehe nicht, warum Adam immer noch zu ihm hält und das Syndikat deckt, obwohl sein eigener Vater ihn fast tot prügelt. Damals wie heute. Warum er ihn deckt, auch wenn er Alpträume davon hat, was ihm angetan wird.“

Frau Schürk schluckte schwer, ihre Augen tränenfeucht.

„Hör auf zu reden“, sagte Adam leise, die Stimme gleichermaßen wütend und tonlos. „Hör auf, sie traurig zu machen. Damit hat sie nichts zu tun. Wenn du dich für deine eltern rächen willst, dann mach das mit mir aus.“

Leo öffnete den Mund, um dagegen zu halten, zu diskutieren, Schürk zu sagen, dass es nur die Wahrheit war, dass er keine Rache wollte, doch keine Silbe verließ seinen Mund. Eine gehässige Stimme in ihm wollte den anderen Mann darauf hinweisen, dass dieser sich zwar an seiner Familie vergriff, aber seine eigene schützen wollte und dass Leo das nicht zulassen würde. Doch auch das stimmte nicht. Leo verstand, nur zu gut. Adam schützte seine Mutter, er liebte sie, wollte Schmerz von ihr fernhalten. Auch wenn er nichts Gutes über Adams Vater und nur bedingt Gutes über Adam selbst zu sagen hatte, so wusste er doch nichts über seine Mutter. Sie schien aber nicht involviert zu sein - im Gegenteil.

„Es ist in Ordnung, Adam“, mischte sich die zierliche Frau ein und lächelte. Adam schnaubte und schüttelte den Kopf. Sie alle ignorierend starrte er aus dem Fenster, die Hände zu Fäusten geballt. 
„Und selbst wenn, was ändert es?“, fragte er schließlich. Leo wandte sich ihm zu. 
„Alles kann sich ändern. Ich habe dir bereits gesagt, dass Möglichkeiten bestehen, dich da rauszuholen, aber du glaubst es mir nicht. Wenn du als Kronzeuge fungieren würdest, könnte dir sogar das Wohlwollen des Staatsanwalts und der Richterschaft sicher sein. Aber du willst es nicht, du sperrst dich und gibst dich lieber der Illusion hin, dass du es wieder und wieder überlebst, was er dir antut. Was denkst du, passiert, wenn dem nicht der Fall sein sollte? Was denkst du, fühle ich darüber?“

„Du tanzt auf meinem Grab?“ Ungeheuerliche Worte, ausgesprochen mit latenter Hoffnungslosigkeit. Sie machten Leo wütender als zuvor.
„Bullshit. Ich lebe dann mit der Gewissheit, die Möglichkeit gehabt zu haben, all das zu verhindern, sie aber nicht genutzt zu haben, weil du es nicht wolltest. Ich lebe mit dem Wissen, dass ich es war, der deinen Tod nicht verhindert hat.“
„Also geht es dir um dein eigenes, reines Gewissen.“
„Mir geht es darum, einen Menschen zu retten, du Idiot.“
„Scheiß Weltverbesserer!“
„Blöder Straftäter!“

Überrascht ruckte Adams Kopf hoch und unwirsch starrten sie beide sich an. 

„Idiot“, grollte Adam und Leo schnaubte. 
„Arschloch.“

„Könnten wir die Beleidigungen sein lassen, wir sind hier nicht in der Gosse“, mischte sich seine Mama in einem derartigen strengen Mutter-Ton ein, dass Leo sich wie zwölf und gescholten fühlte. Unweigerlich zog er den Kopf ein und auch Adam ging es nicht besser. Herbert ebenso wenig, nur dass dieser den direkten Weg zu seiner Mutter suchte und versuchte, mithilfe seiner Zunge und seinem Winseln Gnade zu erwirken.

Sacht fing seine Mutter ihn ab und streichelte ihn, drückte ihn liebevoll an sich. Ihre Nähe beruhigte den Hund und gab Leo die Möglichkeit aufzuatmen. 

„Es wäre schön zu wissen, dass es meinem Sohn gut geht und er in Sicherheit ist“, sagte Frau Schürk leise und in Leo kam die Frage auf, warum sie nicht schon früher für eben jene gesorgt hatte. Als Adam bei seinem Vater in der Stadtverwaltung aufgetaucht war. 
Er verwarf den Gedanken wieder, denn es war nicht auszuschließen, dass sie genauso wie ihr Sohn auch geschlagen und misshandelt wurde und einfach Angst hatte. 

„Schön, aber utopisch“, erwiderte Adam mit latenter Resignation in der Stimme und es gefiel Leo gar nicht, wieviel Entschlossenheit er auf dem Gesicht seiner eigenen Mutter sah.  


~~**~~


Die Finger seiner Mutter strichen vorsichtig über Adams Rücken. Sie  tasteten sich durch das Labyrinth der Verletzungen und spendeten der unversehrten Haut Trost. Er schauderte ob ihrer Berührung und schloss die Augen, für einen Moment die Ablenkung von dem ewig juckenden Gefühl dort, genießend. Sie hatten sich in das Schlafzimmer zurückgezogen, als seine Mama um einen Moment der Zweisamkeit gebeten hatte. Das Laufen klappte mit jedem Tag besser und so konnte sich Adam eigenständig lang genug auf den Beinen halten, um seine Mutter in Leos Schlafzimmer zu führen. Das war es allerdings schon und nun saß Adam auf dem Bett. 

Dafür, dass der Ermittler keine anderen Menschen in seiner Wohnung haben wollte… Wenn Adam ehrlich war, machte er sich ein wenig Sorgen vor dem Fallout, der dem Besuch beider Frauen folgen würde und plante geistig schon damit, Vincent anzurufen, damit dieser ihn abholen käme. 

„Er verliert mehr und mehr die Kontrolle”, murmelte seine Mutter in eben diese Gedanken hinein und Adam hörte nur zu gut die Traurigkeit in ihren Worten. „Seitdem Boris weg ist, ist er ständig wütend und trifft keine klaren Entscheidungen mehr. Dich so zuzurichten, ist…”
„Wir werden ihn nicht mehr ändern, Mama”, hielt Adam ebenso leise dagegen. „Er hasst mich, schon immer. Ich bin das, was er niemals sehen will. Er hasst das, was ich bin. Er hasst die, die ich mag.”

Seine Mutter schwieg eine lange Zeit und kam dann mit einem versichernden Streichen über seine Schulter nach vorne und setzte sich ihm gegenüber auf die Bettkante.
„Leo Hölzer erinnert mich an ihn”, sagte sie und Adam musste nicht fragen, an wen.
„Nein, er ist nicht wie er.”
„Er ist eine Verknüpfung und ihr spielt um eure Vornamen. Er ist eine Verknüpfung und hat dich zu sich geholt. Ich sehe doch, wie du ihn ansiehst. Du magst ihn. Und er ist dir auch nicht abgeneigt. Zumindest, wenn er nicht gerade wütend auf dich ist.”
„Ich darf ihn nicht mögen, Mama, schon vergessen?”, fragte Adam mit erstickter Stimme. Nicht wegen Leo, nein, sondern wegen dem, dem er anscheinend ähnelte. Dem er mitnichten ähnlich war. „Du warst auch im Haus. Du hast es gehört. Er hat dich gezwungen, ihn zu sehen, nachdem…”

Adam versagte die Stimme und seine Mutter schloss ihn zart in ihre Arme. „Ich weiß, mein Spatz, ich weiß. Ich erinnere mich. An alles. Aber er hier…er ist nicht wehrlos, oder? Kann er dir wirklich helfen, so wie er es gesagt hat? Dich in Sicherheit zu wissen, wäre der Himmel für mich.”

Er schnaubte. „Ich bin nie in Sicherheit, Mama. Ich werde trotzdem ins Gefängnis gehen, alleine schon für die Nötigung und Erpressung Leo Hölzer gegenüber. Er wird gegen mich aussagen und sie werden schlussendlich genug Beweise finden um mich dingfest zu machen. Und dann wird die Dreckssau mich im Gefängnis heimsuchen und mich umbringen. So wird es gehen. Oder er wird sich an dir vergreifen. Das hat er vor Jahren bewiesen, dass er alle diejenigen auslöscht, die…” Adam hielt inne, verbot sich weiter zu sprechen. 

„Leo will Gerechtigkeit, für sich selbst und neuerdings auch für mich. Aber der Weg, den er einschlagen will, ist nicht der Weg, der zum Ziel führt. Ich liebe dich und ich liebe Vincent. Ihr beide werdet am Meisten darunter leiden, sollte ich seinem Wunsch nachgeben.”

Seine Mutter antwortete nicht darauf, sondern strich ihm sanft lächelnd über sein Gesicht. 

„Ach Adam”, sagte sie schlicht und Adam wusste, was sie von seinen Ausführungen hielt. „Es wird Zeit, dass jemand kommt und dir hilft, der besser und mutiger und stärker ist als ich.”
Adam schüttelte den Kopf. „Du bist mutig und stark und gut.”
„Aber nicht genug, um ihm Widerstand zu leisten und dich aus seinen Klauen zu befreien.”
„Er wird irgendwann sterben”, winkte Adam zynischer ab, als er sich wirklich fühlte, und seine Mama schüttelte traurig den Kopf. 
„Soviel Zeit hast du vielleicht nicht mehr.” 

Wohl wahr. 

„Ich mag ihn wirklich”, murmelte Adam anstelle dessen und zauberte damit ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen. 


~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 36: Das Jahrmarktschwein auf Ausgang

Notes:

Einen wunderbaren Sonntagabend euch allen!

Hier nun der 36. (o.O) Teil zur Anatomie. Die Ruhe nach dem Sturm oder so. Vielen lieben Dank euch allen für eure Kommentare, Kudos, Klicks... <3 Fürs Mitlesen, Mitleiden, fürs Reinschauen oder Abwarten, dass diese Geschichte endlich ein "completed work" wird.

Ich wünsche euch allen viel Vergnügen mit dem neuen Teil und sage bis bald!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Frau Schürk?“

Babsis gemäßigte, aber verbindliche Stimme ließ die angesprochene Frau augenblicklich auf dem Bürgersteig unweit von Leos Wohnung innehalten. Sie drehte sich langsam um und umfasste den Henkel ihrer schwarzen Handtasche enger, als sie vorsichtig neutral zu Babsi hochsah. Kurz wechselte ihre Aufmerksamkeit zu Herbert, der sich an Babsis Seite presste und die immer noch fremde Frau mit gebührendem Abstand begutachtete.  

Ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn, den er verzweifelt versuchte, als Freund zu gewinnen, was dieser aber aus Gründen der Angst nur bedingt zuließ. Herbert hatte eine gute Menschenkenntnis, wenn er seine Furcht vor Zweibeinern erst einmal überwunden hatte und dass er eine Vorliebe für den blonden Mann besaß, war unübersehbar. Sie reichte zwar nicht an seine Liebe für Leo heran, aber dennoch.

Babsi hatte sich ihr eigenes Bild machen wollen und war auf alles vorbereitet gewesen. Auf einen Mann, der ihren Sohn beinahe in den Selbstmord und ihren Mann in die Verzweiflung getrieben hatte. Sie war auf einen gefährlichen, destruktiven Mann vorbereitet gewesen. Auf einen potenziell gewaltbereiten Mann. 

Der, der ihr gegenübergesessen hatte, war nichts davon gewesen. In Bezug auf sich selbst destruktiv, ja. Babsi hatte sehr wohl gesehen, wie schnell er sich die Decke geholt hatte, als sie ihm den Raum dazu gegeben hatte. Wie vorsichtig er gegenüber Herbert gewesen war.

Sie war auf einen in Körper und Seele verletzten Mann getroffen, der Angriff auch als Verteidigung kannte. Sie stellte nicht in Frage, wie sehr er ihrem Sohn wehgetan hatte, aber was Babsi auch jetzt noch in Frage stellte, war, wie viel ihm davon wirklich egal war. 

So wie er sich Leo gegenüber verhalten hatte, war ihm nichts egal. Die Beiden hatten bewusst Abstand gehalten, aber wenn Leo ihr damit Glauben machen wollte, dass er sich Adam Schürk auch sonst so gegenüber verhielt, dann täuschte er sich. 
Nicht nur der Schlagabtausch hatte das bewiesen. 

Leo verhielt sich nicht so wie an Weihnachten und beim Kaffeetrinken. Er hatte keine Angst vor dem blonden Mann, im Gegenteil. Seine Körpersprache war anders – subtiler dem blonden Mann zugewandt. 

„Frau Hölzer?“, fragte Schürks Mutter mehr als dass sie antwortete und Babsi schloss zu ihr auf. 
„Was lieben Sie am Meisten an Ihrem Sohn?“, fragte sie unverblümt und überfahren starrte ihr Frau Schürk in die Augen. 
„Was ich… wieso fragen Sie das?“
Babsi lächelte verbindlich. „Ihr Sohn hat meinem Sohn sehr wehgetan. Über alle Maßen hinaus. Nur mein eigener Sohn hält mich davon ab, zur Polizei zu gehen und gegen Ihren Sohn auszusagen. Helfen Sie mir, etwas Gutes in ihm zu sehen.“

Frau Schürks Augen huschten nach rechts und links, als müsste sie sich davon überzeugen, dass sie wirklich alleine auf dem Bürgersteig am Rande des Parks standen. Sie schein gehetzt zu sein und dabei keinen Moment zu zögern, ihr eine Antwort auf ihre Forderung zu geben. 
„Mein Sohn ist…er…er ist kein schlechter Mensch, Frau Hölzer. Mein Mann hat ihn von klein auf erzogen. Er hat ihn geprägt. Aber nicht durch und durch. Er ist kein schlechter Mensch.“ Traurig verzog sie ihre Lippen. „Er bemüht sich, aber er weiß vieles nicht.“
„Zum Beispiel, wie man einen Menschen wie einen Menschen behandelt und ihn nicht vor sich knien lässt?“

Babsi erkannte, wie sehr ihre Worte die ältere Frau belasteten. Niedergeschlagen senkte Frau Schürk ihren Blick und verschränkte die Arme vor ihrem Körper. Sie sah auf Herbert, der ihre Aufmerksamkeit vorsichtig erwiderte und mit der Rute schlug. 

„Mein Mann… er zwingt ihn zum Knien. Wann immer er denkt, dass Adam einen Fehler gemacht hat, muss er sich hinknien. Stundenlang, je nach Fehler. Seine Knie sind schon ganz kaputt von den Metalldornen, die in den Kuhlen stecken. Aber er erträgt es, auch wenn er ihn schlägt. Weil er es nicht anders kennt und es ihm von klein auf so anerzogen wurde.“

Babsi konnte die Tränen der Frau, der Mutter, nur zu deutlich sehen. Der Mutter eines Sohnes, der schon seit seiner Kindheit von ihrem Ehemann verprügelt wurde. Immer noch. Mit Mitte 30. 

„Gab es nie eine Möglichkeit, Ihren Sohn und sich selbst zu retten?“, fragte Babsi sanfter, als sie es zunächst geplant hatte. Aus ihrer Sicht war es einfach zu verurteilen, dass eine Frau mit ihrem Kind nicht weglief und beide schützte. Welche Gründe Frau Schürk allerdings dafür gehabt hatte, bei ihrem Mann zu bleiben, entzog sich ihrem Wissen und alleine die möglichen Umstände waren so mannigfaltig, dass sie nicht wagte, darüber zu urteilen. 

„Ich habe Gelegenheiten verpasst, als ich noch mutig genug dazu war. Heute gibt es diese Gelegenheiten nicht mehr und ich kann nur hoffen, dass Adam irgendwann stark genug sein wird, zu gehen und sich nicht aufhalten zu lassen.“

Sie lächelte kurz und straffte dann ihre Schultern. 

„Ich bin mir sicher, dass er irgendwann Reue empfinden wird, wenn er die Zeit hat, sich bewusst zu werden, dass Reue und Trauer über das eigene Handeln nicht dazu gebraucht werden, zu demütigen und zu erniedrigen.“

Frau Schürk drehte sich zur Seite und musterte die Straße vor sich. Sie schulterte ihre Handtasche neu und warf Babsi einen kurzen Blick zu. 
„Ich hoffe, dass es Ihnen und Ihrer Familie gut ergehen wird und dass Sie niemals in den Fokus meines Mannes kommen. Ich bete für Sie, dass Sie sicher bleiben.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und eilte die Straße hinunter, als hätte sie keine Zeit mehr. Ihre Schritte waren ängstlich und mühten sich um Unauffälligkeit. 

Herbert maulte ihr hinterher und Babsi sah an ihm hinunter. 
„Was meinst du, hat sie Recht?“, fragte sie gedankenverloren und die großen, blauen Hundeaugen sahen zu ihr hoch. Herbert bellte leise und drückte sich an sie, sah dann zurück zu Leos Wohnung. Er winselte und Babsi seufzte. 
„Am Wochenende wieder, versprochen.“

Und wenn sie dazu erneut zur Wohnung ihres Jüngsten kommen musste, dann war das so.


~~**~~


„Jetzt können wir eigentlich heiraten.“

Leo blinzelte und hielt abrupt inne im Spülen der Tassen und Gläser ihrer Mütter inne. Der Überbleibsel des unmöglichen Zusammentreffens. Er blinzelte nochmal und befand, dass Adam weiterhin dem Rücken zuzudrehen keine Lösung war. Langsam drehte er sich um und starrte Adam unerfreut in die Augen, gerade so, als hätte der andere Mann den Verstand verloren. 

„Was hast du gerade gesagt?“, hakte er grollend nach, nicht dazu geneigt, auch nur ein My an Nachsicht mit dem Mann zu zeigen, der seiner Mutter wieder einmal Informationen aufgetischt hatte, die Leo liebend gerne für sich behalten hätte. Der aber gleichzeitig einforderte, dass seine Familie geschont wurde. Erst im Nachhinein war ihm die Tragweite wirklich bewusst geworden und hatte ihn entsprechend wütend gemacht. 

„Naja. Jetzt haben sich unsere Mütter kennengelernt, ich kenne deine Familie, du meine. Da steht dem trauten Hochzeitsglück doch nichts mehr im Weg.“ 

Adams lapidare, wegwerfende Handbewegung machte das alles nicht besser, ganz im Gegenteil. Sie brachte Leo nur noch mehr auf die Palme. Wütend stakste er auf Adam zu, die Spülbürste noch in der Hand, die er nun drohend zwischen ihnen Beiden hochhob. 

„Dich darüber lustig zu machen, was du heute getan hast, ist das Letzte, was ich brauche“, zischte er. „Was glaubst du, wie gut ich es finde, dass du meiner Mutter unter die Nase reibst, dass du mich erniedrigst? Was glaubst du, wieviel Scham ich darüber empfinde? Was glaubst du, denkt sie nun über mich? Hm?“

Adams Mimik verfinsterte sich und unwirsch schürzte er die Lippen. „Was sie über dich denkt? Was glaubst du denn? Dass sie denkt „Oh mein Sohn wurde dazu gezwungen, auf die Knie zu gehen, jetzt enterbe ich ihn, den Schwächling!“?“, spottete er und Leo zuckte instinktiv nach vorne, wollte den anderen Mann in einem Akt der frustrierten Aggression zurückstoßen, ihn aus seiner selbstgewählten Nähe bekommen, doch er hielt sich davon ab. Der Mann vor ihm war verletzt, trotz allem noch. Der Mann vor ihm wurde von seinem Vater so sehr verprügelt, dass er nicht richtig laufen konnte. Er würde mitnichten tun, was ihm sein aufflammendes Temperament einflüsterte. 

Leo nahm sich bewusst zurück und ungläubig schüttelte er den Kopf. „Denkst du, Spott ist die richtige Reaktion darauf? Allen Ernstes?“

Adam musterte ihn ruhig und seufzte schließlich. „Spoiler: du hattest keine Wahl und das weiß sie auch. Du warst nicht schwach, du hattest nur nicht das richtige Werkzeug, um dich gegen mich zu wehren. Auch das weiß sie. Und sie weiß, dass ich ein böser Junge bin und du zu den Guten gehörst.“ Trotz seiner kalten Worte lächelte Adam kurz schmerzvoll. „Das, was passiert ist, macht dich nicht zu einem Menschen, der weniger wert ist.“

„Und trotzdem schäme ich mich, verstehst du das nicht?“, grollte Leo und sah, dass dem tatsächlich nicht so war. Da war keinen Funken an Erkenntnis in den blauen, stechenden Augen. 
„Wieso? Ich habe das doch getan. Du hast doch…“
„Am See in Frankreich. Da hast du dich abgewandt vor Scham. Du hast dich geschämt für etwas, das dir angetan wurde. Warum soll ich darin anders sein als du?“

Gnadenlos führte Leo seinen Argumentationsstrang an und verschränkte die Arme samt seiner tropfenden Spülbürste. Genug Zeit dafür hatte er, denn Adam war verstummt, schier eingefroren in seiner Bewegung. Ungläubig, vorsichtig, auf dem Weg der arroganten Ablehnung. 
„Das war was Anderes“, behauptete er dann dreist, aber Leo hörte bereits die Unsicherheit aus seiner Stimme. 

„War und ist es nicht. Du empfindest Scham, dass dein Vater dir diese Narben und Hämatome zugefügt hat und du wolltest nicht, dass ich sie ab einem gewissen Zeitpunkt sehe. Und so geht es mir mit meiner Mutter. Ich will nicht, dass sie weiß, was du mir alles angetan hast.“ Leo verstummte. „Ich wollte es nicht, bevor du mir die Entscheidung abgenommen hast“, berichtigte er sich und schüttelte den Kopf. 

Adam wiederum verharrte stumm. Wenigstens konnte er sich mittlerweile wieder über einen längeren Zeitraum aufrecht halten, was Leo als Fortschritt wertete. Blass war er immer noch, aber nicht mehr ganz so totenbleich.

Knapp deutete Adam auf Leos Gürtel und irritiert folgte dieser dem Fingerzeig. „Wenn du Rache willst, dann schlag mich“, sagte er, als wäre es das Normalste der Welt und Leo brauchte einen Moment, um auch nur den Denkansatz der Worte zu begreifen, die er ihm hier entgegen getragen wurden. 

Das Ausmaß der schlimmen Erziehung destillierte sich in diesem einen Satz. Das Ausmaß, in dem Leo erkannte, welche Maßstäbe Adam an sich und andere anlegte, ebenfalls. 
Nicht die, die Leo anerzogen wurden und die ihn der Gesellschaft integer sein ließen. 

„Du bist für dein Leben oft genug geschlagen worden. Selbst wenn nicht – nein. Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde dich nicht schlagen.“
„Aber du hast es schon einmal getan und es hat sich gut für dich angefühlt“, hielt Adam dagegen und Leo schüttelte den Kopf.
„Ich war entsetzt und verzweifelt in dem Moment. Es hat sich nicht gut angefühlt“, widersprach er und erneut brachte er Adam damit zum Schweigen. 

„Und was willst du dann als Wiedergutmachung? Ich werde der Polizei keine Informationen über das Syndikat geben nur um Abbitte zu leisten“, schloss er und Leo schüttelte energisch den Kopf. 
„Ich will dein ehrliches Bedauern. Ich will, dass du verstehst, was du getan hast und dass du es anders machst.“

Das, was er wollte, warf Fragen wie auch Emotionen in Adam auf. Es beschäftigte den blonden Mann sichtbar und verwirrte ihn gleichermaßen. Die Unkenntnis über die eigenen Möglichkeiten verschwand schneller, als Leo hinschauen konnte, hinter einer arroganten Maske und Adam zog sich in sich selbst zurück. Bevor Leo ihn zurückhalten konnte, wurde seine Mimik aber wieder offener und damit ratloser. 

„Anders machen kann ich es“, sagte Adam schließlich und Leo seufzte ehrlich. 
„Weißt du auch, warum?“
„Weil du es nicht geil findest, wie es gelaufen ist.“
 
Fürchterlich euphemistisch ausgedrückt stimmte das. 

„Was hast du meiner Mutter sonst noch gesagt?“, fragte Leo ruhiger als vorher und Adam schnaubte. 
„Nicht viel, was wohl auch so beabsichtigt war.“
„Wieso?“

Die Antwort darauf ließ den blonden Mann zögern. Unwillig verzog er das Gesicht und zuckte dann vorsichtig mit seinen Schultern, die zur Feier des Tages in einer von Leos leichten Trainingsjacken steckten. Sie war ihm etwas zu weit, was Leo jetzt erst auffiel.

„Sie war halt mit dem Köter da.“

Irritiert runzelte Leo die Stirn und warf die Spülbürste zurück in das Becken – versuchte es zumindest, denn sie landete mit einem lauten Klappern auf der Abtropffläche und räumte die dort gelagerten Plastikdosen in das Spülwasser. Geschickt wie immer, tönte Esthers Stimme in seinem Inneren und Leo rollte über sich selbst die Augen. Adam fand es eher witzig, auch wenn der amüsierte Zug schnell verschwand, als Leo ihm in die Augen starrte. 

„Das habe ich gesehen. Und?“
„Alleine.“
„Okay. Und?“
Adam sah aus, als wäre er überall anders lieber als hier in dem Moment. Er sah sogar zurück ins Wohnzimmer und Leo fragte sich einen Moment lang allen Ernstes, ob er Adam würde abfangen müssen um eine Antwort zu bekommen. 
„Wo warst du, um den Köter davon abzuhalten, mir nahe zu kommen?“, grollte Adam plötzlich unerfreut und wütend und Leos Augenbrauen schossen in die Höhe. 

Wo er…auf der Dienststelle, wollte er ebenso empört antworten, wurde sich dann aber bewusst, was eigentlich hinter der Wut und der ungehaltenen Empörung steckte. Was Adam eigentlich gerade gesagt hatte. 

Es zog Leo schon ein wenig den Boden unter den Füßen weg, wenn er es sich ehrlich eingestand. Der vor ihm stehende Mann hatte Angst vor Hunden, das wusste Leo. Dass er ihm genug vertraute, dass Leo ihn vor dem vermeintlich bösen Herbert schützte, war neu und es fühlte sich komisch an. Schlimm. Nein…ungewohnt. Es kribbelte in Leo. 
Dass Leos Gegenwart Sicherheit für den Syndikatsspross bedeutete, war unbegreiflich und es füllte eine Lücke in Leos Innerem, von der er nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt da war. Selbst wenn es nur in Bezug auf Herbert war. 

Superman, nicht wahr?, fragte eine leise Stimme in ihm, die Leo nach Möglichkeit schnell erstickte. 

„Das nächste Mal bin ich dabei. Auch wenn Herbert dich mag.“ Leo lächelte versöhnlich, bevor er sich bewusst wurde, was er da tat und sich so schnell wegdrehte, dass es in keinem Fall mehr unauffällig war. Was tat er hier? Schürk war niemand, der beruhigt werden musste. Nicht durch ihn, es sei denn, der andere Mann hatte einen Alptraum. Aber das war etwas Anderes gewesen. Das war notwendige Hilfe. 

Schürk ist nicht Adam und vielleicht ist Adam derjenige, der Hilfe benötigt, murmelte die verräterische Stimme in ihm und Leo schluckte. Besser er ging spülen. Das war...

Weit kam er nicht, als Adam seine Hand auf Leos Unterarm legte und ihn überraschend stark zu sich umdrehte. Leo starrte erstaunt in die großen, blauen Augen.
„Mach das nochmal“, befahl Adam und Leo wollte nicht recht zu seinem Missfallen finden, das die logische Antwort auf den Befehl des vor ihm stehenden Mannes gewesen wäre. 
„Was?“ Sie beide wussten, dass Leo genau wusste, was gemeint war. 
„Das da.“
„Was da?“
Adams Finger näherte sich seinen Lippen und Leo schlug das vorwitzige Körperteil nun doch ehrlich grollend weg. „Vergiss es“, erwiderte er körperlich viel zu nah an Adam. 
„Also weißt du doch, was gemeint ist.“
„Vielleicht.“

Adam lächelte nun selber und es war ein unmögliches, ein verbotenes Lächeln, das Leo nicht abstieß wie vorher, sondern das das Kribbeln in seinem Magen nur noch intensivierte. 


~~**~~


Vincent hatte das Gefühl, dass sich jedes Mal, wenn er auf Adam und Leo traf, sich die Dynamik zwischen den beiden Männern geändert hatte. Zum Guten…aber auch zum Unberechenbaren, denn weder Adam noch Leo hielten sich noch an die eigentlich festgelegten Spielregeln und zwangen Vincent, sich stetig umzugewöhnen und anzupassen. An ihr Verhalten zueinander und an das, was sie gegenseitig in dem jeweils anderen auslösten. 

Alles erschwert dadurch, dass er immer noch nicht sicher war, wie Tangermann hatte zurückkommen können. Seine eigenen Quellen im Landesinnenministerium wussten nichts, wunderten sich aber auch über Weiersbergers Eigenmächtigkeit. Vincent hatte ein ungutes Bauchgefühl, konnte das aber nicht wirklich an etwas festmachen und das machte ihn nervös. 

Obwohl ihm Leo Hölzer keinerlei Grund gab, etwas Derartiges zu denken. Wenngleich er auffällig zurückhaltend war, seit Vincent bei ihm geklingelt hatte. Auffallend wenig auf Blickkontakt aus dieses Mal. Leo scheute die Konfrontation und hatte sich in die Küche zurückgezogen, während Adam Vincent nicht aus den Augen ließ. 

Vincent war hochgradig irritiert von der Kombination der Beiden. Entsprechend neugierig folgte er Adam in das Schlafzimmer, als dieser mit ihm sprechen wollte – unter vier Augen, vermutlich aber sechs Ohren. 
Das Laufen klappte von Mal zu Mal besser und Vincent vermutete, dass er Adam am Wochenende mit nach Hause nehmen konnte – wenn dieser sich denn von Leo Hölzer loseiste. 

Die Chancen darauf standen schlecht, wobei Vincent das nicht so nennen wollte, Er kannte Adam in schlimmen Phasen seines gewaltdurchtränkten Lebens. Er wusste, wie verzweifelt sein Freund oftmals war. Am Ende. Kurz davor, aufzugeben in schlechten Momenten. Natürlich gab es auch gute, doch Vincent hatte das Gefühl, dass das Fass langsam überlief. 

Ausgelöst und initiiert durch Leo Hölzer. 

Wenn er sein ungutes Bauchgefühl außen vor ließ, wäre Vincent froh um die Anwesenheit des Polizisten, eben weil er Adam aus der Verzweiflung holte und ihm ein Gegengewicht zu seiner Welt aus Gewalt und Demütigung gab. Temporär, denn Leo Hölzer war immer noch ein Polizist und immer noch auf Vergeltung aus. 

Wobei sich Vincent da nicht mehr so sicher war. Leo Hölzer hatte sich verändert, er war Adam zugewandter als vorher, insbesondere jetzt, da er ihn verletzt und verwundbar gesehen hatte. Die menschliche Seite in Leo sprach und Vincent würde in nächster Zukunft mit dem anderen Mann genau darüber noch einmal sprechen müssen. 

„In welcher Welt war es eigentlich eine gute Idee, meiner Mutter zu sagen, wo ich bin?“, fragte Adam ungnädig in diese Gedanken hinein und Vincent blinzelte. Einmal, zweimal. 
„Was meinst du?“, fragte er irritiert und Adam grollte leise. 
„Sie war hier. Hat brav geklingelt und wurde brav von Leos Mutter hereingelassen, die vor ihr gekommen ist, weil Leos geschwätzige Schwester ihren Mund nicht halten konnte und mich angepriesen hat wie ein Jahrmarktschwein auf Ausgang.“

Vincent hatte keine Ahnung, was ein Jahrmarktschwein auf Ausgang war, aber er verstand die mehr oder minder aufgeregte Botschaft. Er schluckte schwer. 
„Ich sage ihr häufiger, wo du bist. Sie fragt mich, wenn sie sich Sorgen um dich macht, ich teile es ihr mit, sie behält es für sich und ist beruhigt. Mit den Worten, und da zitiere ich sie: „Adam sagt mir nie, wo er ist.“.“ Bedeutungsschwanger hob Vincent seine Augenbrauen und schob die Hände in seine Rocktaschen. Trotz aller Normalität, die Frau Schürk und er an Adam vorbei geführt hatten, war ihr Hiersein eine beinahe unberechenbare Variabel. Insbesondere in Verbindung mit Leo Hölzers Mutter. Als wenn die beiden Männer nicht schon schlimm genug waren, musste Vincent sich jetzt auch noch um die Mütter kümmern. Das war…Vincent hatte das Gefühl, dass seine Stränge, die er in der Hand hielt, nur noch an einem seidenen Faden hingen und jederzeit reißen konnten. 

„Was ist passiert?“, hakte er entsprechend vorsichtig nach und Adam schnaubte.
„Sie hat mir ihren scheiß Köter auf den Hals gehetzt.“
„Frau Hölzer?“
„Meine Mutter wohl kaum.“
„Und dann?“
„Haben wir alle, nachdem mein hauseigener Polizist seinen Polizistenarsch hierherbewegt hat, in trauter Viersamkeit Kaffee getrunken, während dieses Vieh mir auf den Schoß gesabbert hat.“

Vincent blinzelte, als er versuchte zu verstehen, was dahinterstecken konnte. 

„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt und Adam wandte unerfreut den Kopf ab. Vincent würde es fast schon als Schmollen bezeichnen. Stumm, für sich, wohl versteckt hinter einer sanften Neutralität. 
„Bestens.“
„Worüber habt ihr gesprochen?“

Vincent warnte Adam nonverbal, aber sehr eindringlich davor, ihm nicht die vollständige Wahrheit zu sagen. Adam sah seinen Hinweis und erläuterte ihm minutiös, was er gemacht hatte und worüber sie gesprochen hatten. Nicht nur einmal seufzte Vincent und fuhr sich mindestens genauso oft durch die regenfeuchten Haare.

Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass Leo Hölzer sich trotz allem, was passierte, ebenfalls langsam Adam öffnete und sich ihm annäherte. Aus rein psychologischer Sicht hielt Vincent das für gar nicht mal so unwahrscheinlich. Durch die jüngst weggefallene, monatelange Unterdrückung war Leos Gefühlswelt so in Aufruhr, dass er ihm zugewandte Emotionen möglicherweise stärker wahrnahm und sie auch stärker beantwortete. 

Nichtsdestotrotz hatte der Ermittler immer noch einen Auftrag und eine Berufung, die Vincent beide nicht unterschätzen durfte – egal, wie sehr er sich für Adam wünschte, dass dieser endlich Ruhe und vor allen Dingen jemanden fand, den er lieben durfte ohne Angst haben zu müssen. Vincent gab sein Bestes um Adam ein guter Freund, eine Stütze und ein Mensch zu sein, auf den er sich verlassen konnte, allerdings würde er niemals den Stellenwert eines Partners haben. 

Adam brauchte beides und eines hatte er schon gefunden. Für das andere bahnte sich eine Katastrophe an, von der Vincent nicht wusste, wie er sie aufhalten konnte. 


~~**~~


Adam verschränkte bockig die Arme; eine Bewegung, die nach endlosen Stunden an Schmerzen seit einem Tag wieder mit nur geringem Unwohlsein möglich war. Er machte Fortschritte und das nicht zu knapp, was auch seine Zeit bei Leo zu einem Ende führen würde. Die Dreckssau würde ihn bald wiedersehen wollen und ihn auf seine Aufgaben in ihren Firmengeflechten hinweisen. Mit Leo hatte er noch nicht darüber gesprochen, weil er keine Lust hatte, die Erleichterung darüber in den grünen Augen zu sehen. Weil er auch keine Lust hatte, sich seinen eigenen Gefühlen diesbezüglich zu stellen. 

Das hatte aber mit seiner Bockigkeit nichts zu tun. Die beruhte darauf, dass er auch keine Schmerzmittel mehr nahm und damit durchaus Alkohol trinken konnte. Was immer noch auf Ablehnung traf. 

„Ich will aber“, murrte er und da war absolut kein Erweichen zu sehen. „Ich habe Lust auf Rotwein und einen guten Film“, präzisierte er, was er zwei Tage nach dem seligen Kaffeetrinken von seinem hauseigenen Polizisten wollte, der heute angespannt und erschöpft von der Arbeit gekommen war. Die Anspannung hatte sich erst graduell abgebaut und auch nur, nachdem Adam Leo dazu bekommen hatte, das Nötigste zu erzählen. 

Sie halfen gerade dem LKA 3 bei einer politisch brisanten Auswertung und hatten entsprechend viel zu tun mit Aktenstudium und Analyst’s Notebook-Befüllungen. Adams Versuch, seine Hände an Leos Rücken zu bekommen, war an der kategorischen Ablehnung des Massageangebots gescheitert und Adam hatte das tief seufzend hingenommen. Leos Nachteil, nicht seiner. Nun gut, vielleicht doch auch. 

Ebenso wie er Leos Beschwerden über die katastrophale Aktenführung über sich hatte wegwaschen lassen, als dieser sich nach anfänglichem Schweigen in Rage geredet hatte.

Da seine Antwort sowieso nicht erforderlich war, hatte er einfach zugehört und Leo schließlich ein Eis aus seinem Eisfach geholt, es ihm in die Hand gedrückt und war eine rauchen gegangen. Die perplexe Stille hinter sich wurde schließlich durch das vielsagende Knacken der Magnumschokolade zwischen Leos Zähnen unterbrochen und Adam hatte zufrieden gelächelt.

Im Gegensatz zu jetzt. 

„Ich nehme keine Schmerzmittel mehr“, schob er nach und Leo setzte zum Widerspruch an. Holte Luft, atmete ein, schluckte anscheinend, was er sagen wollte und starrte an Adam vorbei aus dem Fenster. 

Boah. 

„Du holst das Glas“, stimmte Leo schließlich überraschend seinem Plan zu und Adam grinste ob des Sieges. Er ging zu Leos Glasschank – natürlich hatte der Mann einen eben solchen, der natürlich auch noch ordentlich befüllt war – und zog eins heraus. Nachdenklich verharrte er und musterte die großen, bauchigen Gläser, gefangen in der Frage, ob er es versuchen sollte oder nicht. Leos bisherige Ablehnungen waren ihm immer noch gut präsent, aber vielleicht hatte sich jetzt ja etwas geändert? 

Wein in Adams Gegenwart war für Leo kein Genuss, das hatte dieser ihm gesagt. Ein Zwang, nichts, das er mit Freunden oder der Familie tat. Aber nun war es anders als vorher. Leo war anders. Er war anders. 

Unwirsch zog Adam auch das zweite Glas heraus und drehte sich zur Couch um. Wer nicht wagte… Nicht mehr ganz so langsam wie vorgestern bewegte er sich durch den Raum und setzte sich, vor sich die beiden Gläser. 
Leo kam aus der Küche, die angefangene Flasche Rotwein, die Adam schon längst gefunden hatte, in der Hand. Als er beide Gläser sah, hielt er für einen Moment inne, stockte regelrecht. Seine Augen fanden Adams und auf seinem Gesicht standen keine Fragen, sondern Erinnerungen. 

So unruhig es Adam auch machte – er saß es aus. Hielt still, blieb eine Konstante mit zwei Gläsern auf dem Sofa, die Fernbedienung bereits neben sich.

Rotwein und Film, das war Adams Prämisse, der Leo sich langsam näherte. Er kam zu ihm und setzte sich unweit von ihm auf das freie Polster, die Flasche Wein in den Händen. Er starrte auf das Etikett, als sähe er es zum ersten Mal und Adam lag ein Spruch auf den Lippen, als Leo ihm tatsächlich etwas einschenkte. Es waren keine 200 Milliliter, aber immerhin mehr als die letzten Tage. Zu hundert Prozent mehr. 

Der dumme Spruch erstarb, als Leo sich selbst ebenfalls etwas einschenkte und die Flasche auf den Tisch stellte. Er nahm das Glas zu sich und zog die Beine mit auf die Couch, als wäre es das Normalste der Welt.

Als hätte das nicht eine Bedeutung, die weder ihm noch Adam verborgen blieb. 

Bedeutungsschwangere Nonchalanz, na das konnte Adam doch auch, befand er und holte sein eigenes Weinglas. Seine Beine konnte er noch nicht zu sich ziehen, dafür aber machte er nun den Fernseher an und sah fragend zu Leo. 

„Wünsche?“ Der andere Mann schüttelte den Kopf. 
„Such aus, was dir gefällt.“ 
 
Schon wieder war da eine ganze Kladde voller dummer Sprüche, die Adam allesamt nicht äußerte. 

Lieber fand er für sie beide einen spannenden Film über einen sich zum Guten wendenden Kriminellen. 


~~**~~ 


Je mehr Pia, Esther und Leo nach Elias Schiller und dem Mann, der er mal gewesen sein musste, gruben, auf desto mehr Fragen stießen sie. Eigentlich brannte es Leo unter der Nägeln, Adam danach zu fragen, doch er hatte bisher das Thema und selbstverständlich auch das Thema Boris Barns umschifft, wo es nur ging. 

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder darüber sprechen müssten und würden.

Die letzte Zeit aber nicht und Leo genoss das. So war es auch nicht mehr ganz so schlimm, nach Hause zu kommen und jemanden vorzufinden, der seine Wohnung okkupierte. Der da war, mit ihm sprach, der die Wohnung irgendwie ausfüllte durch seine unmögliche Präsenz. 

Entsprechend entspannt schloss er nun auch seine Tür auf, in der rechten Hand den Einkauf, den er getätigt hatte um noch etwas zu kochen. Er war am Verhungern, sehr sogar, und Adam wusste es besser, als sich über sein Essen zu beschweren, das er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachsalzte, sonst aber anstandslos samt Nachschlag in sich hineinstopfte. 

Es war heiß gewesen heute und Leo war froh, dass mit dem Abend nun auch die kühlere Luft kam. In seiner Wohnung war es angenehm und er streifte sich mit einem Seufzen die Sneaker von den Füßen. Wenn es legitim wäre, wie die Vorzimmerdame ihrer Abteilungsleiterin Birkenstock zu tragen, Leo würde es tun. Aber war es nicht. Selbst an Bürotagen in ihrem verfluchten, verspiegelten Glaskasten nicht, der sich viel zu sehr aufheizte. Irgendwann einmal würde er einfach im weißen Tanktop zur Arbeit kommen und Esthers und Pias entsetzte Blicke per Handykamera aufnehmen. 
  
Anstelle des sonstigen, dummen Spruchs, begrüßte Leo nur Stille und stirnrunzelnd sah er ins Wohnzimmer. Das leer war, die Couch aufgeräumt, von seinem Bettzeug weit und breit keine Spur. Leo stellte die Einkaufstasche ab und ging ins Schlafzimmer, dessen Tür weit offen stand. Das Bett war ordentlich gemacht, seine Bettwäsche wieder darauf, während sein Wäschekorb mit den anscheinend abgezogenen Bettbezügen und -tüchern überquoll. 

„Adam?“, rief er und erhielt keine Antwort. Totenstill war es und Leo ging langsam zurück ins Wohnzimmer, während ihm dämmerte, was passiert war. 
Adam war gegangen, von jetzt auf gleich, ohne Vorwarnung. Ihm war es die letzten Tage stetig besser gegangen, das hatte Leo deutlich sehen können. Seine Bewegungen wurden flüssiger, weniger die eines alten Mannes. Natürlich musste er irgendwann gehen, das war Leo auch klar gewesen, aber was es für ihn jetzt, in diesem Moment bedeutete, das hatte er noch nicht einmal in Ansätzen geahnt. 

Auf dem Tisch lag eine kleine Schachtel, sorgsam eingepackt in Geschenkpapier. Darunter befand sich ein Zettel mit Schürks unverkennbarer Handschrift. Die Packung Hanfschokolade musterte Leo mit kritisch gerunzelter Stirn, während er nach dem Blatt Papier fischte.

 

Da du das Geschenk nicht für die Ausübung deines Dienstes bekommst, darfst du das ruhig annehmen. Es wird dir im Übrigen gefallen. 

Ich erwarte auch, dass du es beim nächsten Mal mitbringst und dass wir es dann gemeinsam ausprobieren.

Vincent freut sich schon, von daher kannst du deine zweideutigen Gedanken, was das Geschenk sein könnte, gleich mal streichen. Sei dankbar, wäre es nach mir gegangen, würde da Twister liegen. 

  

Leo zuckte und merkte, wie die verdächtige Adam-Ader in seinem Schädel kurz aufpochte. 

 

So sehr mir auch gefallen hat, deine bescheidene Wohnung zu bewohnen, die Pflicht ruft. Du weißt ja, Immobilien verwalten sich nicht von selbst auf legalem Weg.

Bleib schön brav und freu dich, dass du dein Bett wieder für dich hast. Dein Duschgel habe ich mitgehen lassen, um der guten, alten Zeiten Willen.

P.S.: Die Hanf-Schokolade dient der Beruhigung. Im Drogentest wird sie nicht nachweisbar sein. Vielleicht. Falls doch. Ich bezahle sowieso besser. 
  
P.P.S.: Ich freue mich auf die Intensivkontrolle. 

 

Die…was?

Irritiert und zum guten Teil auch seltsam unerfreut über die abrupte Beendigung seiner Zwangs-WG ließ Leo den Zettel sinken. Wie gut, dass Caro schon vor vier Tagen gesagt hatte, dass sie ab dann nur noch kommen würde, um sie beide wie Tiere im Zoo zu beobachten, aber nicht, damit es Adam durch ihren medizinischen Ansatz bessergehen würde. Sonst würde sie heute umsonst kommen. 

Naja, nicht ganz, Leo hatte schließlich Essen für zwei gekauft. 

Er ließ sich auf einen der Stühle nieder und zog die kleine Schachtel zu sich. Sorgsam packte er sie aus und hielt schlussendlich ein Kartenspiel in der Hand. „Halt mal kurz“, murmelte er den Titel und starrte auf die orangene Packung. 

Ein Geschenk zu einem Abschied, den er vorher nicht hatte kommen sehen und der ihm nun mehr zu schaffen machte als gedacht. 

Sein fast zweiwöchiger Gast war der Stachel in seinem Fleisch gewesen, zu Beginn weniger als geduldet. Und nun? Nun war Leo einsam, die Leere seiner Wohnung im ersten Moment ein fürchterlicher Graus. 

Vorsichtig strich er über die Packung des Kartenspiels und atmete langsam aus. Das war…antiklimatisch. Das war, als würde man sich ein Pflaster abziehen, das gerade begonnen hatte, sich gut anzufühlen und die Wunde darunter noch nicht verheilt war. 
Leo wusste nicht wohin mit sich und seinen Einkäufen in dem Moment. Natürlich könnte er auch alleine Fernsehen oder ein Buch lesen, das hatte er vorher auch schon getan. 

Jetzt? Heute?

Eher schwierig und schmerzhaft.

 


~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Das Kartenspiel, was Leo bekommt, heißt Halt mal kurz. Drauf gekommen bin nicht ich, sondern der brainstormende Tatort Saarbrücken-Discord. Vielen lieben, herzlichen Dank euch, dass ihr mir da unter die Arme gegriffen habt! Und vielen lieben Dank, Tea, für den Link!

Much love. <3

Chapter 37: Alles scheiße

Notes:

Einen wunderbaren Mittwoch Abend wünsche ich euch!

Hier nun der neue Teil der Telenovela des Psychothrillers der hoffnungsvollen Liebesgeschichte zwischen zwei sturen Männern :D ;) Habt viel Spaß beim Lesen und vielen Dank euch allen für euer Interesse, eure Kommentare und Kudos.

Carmenta war so lieb und freundlich, mir nochmal einen wunderbaren Link für den Nachrichtengenerator zu posten, mit dem ich gearbeitet habe!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Na, Schwächling?“, grinste die Dreckssau und schlug ihm kumpelhaft auf den Rücken. Adam presste die Zähne aufeinander, als heißer Schmerz durch seinen Körper tobte. Eisern riss er sich zusammen um nicht nach vorne zu stolpern, weil sein dummer, sich in der Heilung befindlicher Rücken gegen die Berührung protestierte und er nach fast zwei Wochen sanfter Behandlung ohne Gewalt das hier anscheinend nicht mehr gewohnt war.

Adam atmete lautlos gegen den Schmerz an und schloss eine Sekunde lang die Augen. 

„Was kann ich für dich tun, Vater?“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor, als er wieder atmen konnte, und die Dreckssau lachte geifernd. 
„Deine Arbeit, für die ich dich bezahle und die du lange genug hast liegen lassen.“

Der Unterton in der Stimme seines Vaters deutete darauf hin, dass er als Strafe für sein Versagen, sich so lange nicht blicken zu lassen, die Drecksarbeit machen würde. Die Drecksarbeit der Dreckssau, Adam war versucht zu lachen. Er war versucht zu schreien und den Alten zu schlagen und ihn zu würgen, solange, bis diese wässrigen Augen aus dem Kopf quollen… 

Leos Worte wirkten in ihm und machten ihn rebellisch, stellte er fest. So sehr er die Hoffnung auch verneinte, die sie ihm gegeben hatten, so sehr hatte die sich wie ein dicker, fetter, nimmersatter grünäugiger Parasit in ihm festgesetzt. 
Wärst du mal vor 20 Jahren gekommen, keifte Adam innerlich das positive Gefühl an und knirschte in der Jetztzeit mit den Zähnen. 

„Was genau?“, fragte Adam zwangsweise neutral und die Dreckssau deutete auf den Tisch, auf dem sich die Akten stapelten. Immobilienhandel also und die Überprüfung der Drogendealer. Wie Adam das liebte. Nicht. Den ganzen Tag auf den Beinen sein und Geld eintreiben war nicht das, was Adam sich für die nächsten Tage unter Heilung vorstellte. 

Er griff zu dem Aktenstapel und fixierte die Wand. „Brauchst du noch was?“
„Ja, schick mir Rahel.“
Adam nickte und drehte sich erleichtert um, floh regelrecht aus dem Büro der Dreckssau.


~~**~~


Leo spürte, wie seine Hose langsam feucht wurde, während er mit einem von Elias Schiller alten Studienkollegen telefonierte. Das Gefühl war wirklich nicht angenehm, aber unabwendbar, denn Herbert ließ es sich nicht nehmen, sich zu ihm unter seinen Schreibtisch zu quetschen, es sich auf seinem Oberschenkel gemütlich zu machen und ihn vollzusabbern. 

Hier war der Riese sicher – vor allen Besuchern und Besucherinnen ihres Büros und vor Esther, die wider Erwarten beharrlich versuchte, seine Freundschaft zu gewinnen. Herbert war bisher misstrauisch und hatte Leo als Schutzschild zwischen sich und der neuen, trubeligen Welt gewählt. Von Zeit zu Zeit maulte er, wenn Leo aufhörte, ihn zu streicheln, ansonsten beobachtete er das Kommen und Gehen der Beamtinnen und Beamten aus der Sicherheit seiner kleinen Höhle. 

„Wissen Sie etwas über sein Privatleben? Über Freunde, Verwandte, Partnerinnen?“, fragte Leo nicht zum ersten Mal ihren Fragenkatalog ab, der bisher mit spärlichen Antworten bestückt worden war. Mutter und Vater, der Vater verstorben, die Mutter im Rollstuhl. Perfektes Leben, netter, junger Mann, plötzlich tot. Sie alle waren geschockt, hatten ihn aber nicht mehr gut genug im Gedächtnis, um sich an Details zu erinnern. 

Gut, nach fünfzehn Jahren war das auch durchaus schwer, das gab Leo zu. 

Henry Laibinger schnaubte. „Ist ein bisschen spießig, Ihre Annahme, dass er hetero war, oder?“, bekam er postwendend die Quittung für seine Überprüfungsfrage, ob der potenzielle Zeuge das Opfer wirklich gut kannte. Leo schmunzelte. Sehr spießig, ja.
„Verzeihung mein Fehler. Partner also. Hatte er da jemanden?“
„Klar. Aber das war sowas Geheimes, was niemand wissen durfte. Einer dieser Schattenfreunde, da und auch nicht.“
„Aha?“
„Sein rotziges Stück hat er den immer genannt.“

Wie auf der Uhr. Leo war erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der Rechtsanwalt das sagte. So als wäre es ein offenes Geheimnis gewesen. 

„Haben sie den Schattenfreund mal gesehen?“
Laibinger brummte zustimmend. „Ja, einmal. Wir wollten uns zum Lernen treffen und mir kam aus seiner Wohnung so ein großer, schlaksiger Blonde entgegen. Stechende Augen, scharfe Wangenknochen. Sah ziemlich unterernährt aus, hatte dafür einen Blick drauf, als würde er mich ermorden wollen. Dafür war Elias gut durchgevögelt, wenn ich das so sagen darf. Strubbelige Haare, weite Pupillen, gerötete Wangen und Lippen und all das. Konnte sich kaum aufs Lernen konzentrieren.“

„Wissen Sie auch, wie dieser Mann hieß?“
„Nein, das hat Elias nie verraten. Wie gesagt, einer dieser Schattenfreunde. Vermutlich einer, von dem man nicht wissen darf, dass er auf Kerle steht.“ 
„Haben Sie ihn jemals wiedergesehen?“
„Nein.“
„Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn ich Ihnen ein Foto zeige?“
„Versprechen will ich nichts, aber versuchen können wir es.“
„Alles klar, dann komme ich mit meiner Kollegin vorbei.“
„Gerne. Aber wenn, dann am Besten heute. Ich fliege morgen früh für fünf Wochen nach Amerika.“

Heute? Leo sah an sich herunter und begegnete großen, blauen Augen, für die er das Zentrum der Welt war. 

„Haben Sie Angst vor Hunden?“, fragte er zur Sicherheit. Denn Herbert hier oder im Auto zu lassen, bot sich noch nicht an. Noch nicht. Sein Papa und seine Mama gingen zum Hundetraining mit ihm und seine Verlustängste wurden langsam besser. Es war aber noch ein langer Weg und so hatte Leo konstant einen vierbeinigen Schatten gegen seine Einsamkeit. 

Wie seine Mama es ihm mit einem verständnisvollen Lächeln mitgeteilt hatte, als er ihr gestanden hatte, dass Adam nun weg war. Auf einmal, ohne es vorher anzukündigen. Mit keinem Wort hatte sie erwähnt, dass er doch froh sein musste darüber. Sie hatte nur auf Herbert gedeutet, der es sich auf Leos Schoß gemütlich gemacht hatte und gesagt, dass der Hund sich sicherlich freuen würde, auch einmal wieder Zeit bei ihm zu verbringen. 

Leo hatte den Hinweis verstanden und den Hund samt Spielzeug-, Futter- und Hundbetttasche mitgenommen. Seitdem schlief er wieder in seinem Bett und nicht auf der Couch. Seitdem hatte er eine 80 Kilogramm schwere Dogge neben oder halb auf sich, die schnarchte und sabberte, im Schlaf bellte und mit seinen vier Beinen um sich strampelte und Leo ins Gesicht trat.

Aber seitdem war die Einsamkeit nicht mehr ganz so schlimm und er hatte sich darauf zurückgezogen, Adam einfach mit einem Haustier zur Pflege zu vergleichen, das nun weg war. Das war einfacher als sich der Realität zu stellen, dass ein Mann in seiner Wohnung gewesen war, den Leo jetzt obendrein auch noch vermisste. 

Und den er dieses Wochenende nicht sehen würde. Zumindest hatte er noch keine Nachricht erhalten, nichts, was darauf hindeuten würde, dass sie sich sehen würden. 


~~**~~


„Der ist ein bisschen älter und verbrauchter, aber ja, das ist er“, bestätigte Laibinger keine anderthalb Stunden später das Bild von Adam, das sie ihm hingelegt hatten und nickte bekräftigend. „Die gleichen, stechenden Augen. Das gleiche, markante Gesicht. Ja, das ist er.“

Pia erwiderte Leos vielsagenden Blick und nickte. 
„Vielen Dank, Herr Laibinger. Das hilft uns schon sehr weiter. Wissen Sie, wie lange Herr Schiller mit diesem Mann zusammen war?“, fragte sie, während ihr Teamleiter neben ihr stand und Herbert eng bei sich hielt. Nicht, dass er viel Kraftaufwand da hineinlegen musste, da der Hund sich quasi hinter ihm versteckte und nur die Hälfte seines Kopfes hinter Leos Hüfte hervorlugte. 

Sie standen im Garten des Rechtsanwalts und Pia war beeindruckt über die opulente Weitläufigkeit des top gepflegten Grundstücks. Laibinger musste gut verdienen, wenn er sich dieses Haus leisten konnte, befand sie. 

„Lange. Zwei oder drei Jahre wohl. Er hat kurz vor seinem Tod noch von ihm gesprochen und ich glaube nicht, dass es verschiedene Männer waren.“

Pia machte sich Notizen. Frau Schillers Aussage diesbezüglich widersprach der Darstellung des Mannes vor ihr. Laut ihr hatten die Beiden sich nur kurz gekannt. Die Frage war, ob sie absichtlich gelogen hatte oder ob ihr Sohn nicht ehrlich zu ihr gewesen war. 
„Wissen Sie, wie Herrn Schillers Verhältnis zu seiner Mutter war?“, hakte sie daher nach und Laibinger nickte knapp. 
„Ein Herz und eine Seele. Sehr vertraut miteinander. Die Mutter war aber auch nett und hat uns auch beim Lernen öfter mal bekocht. Sie wusste davon und hat ihn immer damit aufgezogen, dass sein Freund ein rotziges Miststück ist.“

Pia nickte, während sie sich weiterhin Notizen machte. 

Leo räusperte sich und kraulte Herbert scheinbar gedankenverloren hinter den Ohren. „Wissen Sie, ob Herr Schiller sich vor seinem Tod verändert hat? Hatte er Spuren von Gewalt am Körper? War er ängstlich oder in sich gekehrt? Hat er davon gesprochen, dass sein Freund ihn schlägt oder ihn misshandelt?“, fragte er.

Pia hielt inne und bemühte sich, eine neutrale Miene zu behalten. Leo war vor Weihnachten körperlich misshandelt worden, von dem Mann, der ihn erpresste und der ihn monatelang zu schlimmen Dingen gezwungen hatte. Von eben jenem Mann auf dem Foto. Dass er die Frage so ruhig und gleichmäßig in Bezug auf Schürk Junior stellen konnte, war ein Wunder und sie bewunderte Leo dafür, dass er nichts davon durchscheinen ließ. 

Laibinger schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Ganz im Gegenteil. Er hat davon gesprochen, mit dem Unbekannten ins Ausland zu gehen. Irgendwohin in die Welt hinein, weg von Deutschland. Und ein paar Wochen später war er tot.“ Laibingers Lächeln erlosch und Pia sah ehrliches Bedauern auf den ebenmäßigen Gesichtszügen des Mittdreißigers. 

„Es gibt Menschen, die sich nichts zu Schulden kommen lassen und dennoch bestraft werden von der Welt.“ Sehr philosophisch, aber auch sehr wahr.
„Dafür sind wir da und bemühen uns, auch alte Morde aufzuklären“, bestätigte Pia versichernd und Laibinger sah ihr zweifelnd ins Gesicht. 
„Es wäre schön, wenn Sie seinen Mörder fangen. Ich mochte ihn sehr, er war ein toller Mensch, der es nicht verdient hatte, so aus dem Leben gerissen zu werden.“ Er schüttelte den Kopf und nickte schließlich zum Haus. „Wenn Sie mich jetzt aber entschuldigen würden, ich muss für morgen noch packen. Falls Sie noch Fragen haben, machen Sie bitte einen Termin mit meinem Assistenten aus.“

„Vielen Dank, das werden wir. Und danke für Ihre Auskunft“, sagte Leo. Er strich Herbert über den Kopf und verabschiedete sich mit einem verbindlichen Händeschütteln. Pia tat es ihm gleich und sie kehrten über den Seitenweg zu ihrem Wagen zurück. 

„Wer von beiden lügt… Elias Schillers Mutter oder er?“, fragte Pia, als sie außer Hörweite waren und Leo schloss Herbert die Tür auf. Mit etwas Überredungskunst und Nachschieben kletterte der Rüde auf die Rücksitzbank und machte es sich halbwegs bequem. Dass er trotzdem das halbe Auto ausfüllte, stand auf einem anderen Blatt und als Leo und sie sich hinsetzten, atmete er ihnen auch schon begeistert in die Nacken. Natürlich erst, nachdem er Leo vor Freude erst einmal seine große, feuchte Zunge über die rechte Gesichtshälfte gezogen hatte. 

„Ihgitt, hör auf“, wehrte Leo sich lachend und Pia war insgeheim glücklich darüber, ihren Teamleiter wieder froh zu sehen. Gelöster als vorher. Sie schmunzelte mit und brachte sich in Sicherheit, als Herbert sie anvisierte und sich vermutlich überlegte, ob er sie mittels Zungenkuss in sein Rudel aufnehmen sollte. 

„Ich glaube, seine Mutter lügt“, erwiderte Leo. „Aber ich weiß nicht, warum. Laibinger hat uns zudem mehr Information gegeben als Frau Schiller und das, obwohl sie ebenfalls von den Auslandsplänen ihres Sohnes gewusst haben musste, wenn sie so eng miteinander waren. Die Frage ist also, warum sie uns die Verbindung ihres Sohnes zu Adam Schürk verschweigt.“

Pia brummte und sah auf ihren Notizblock, während Leo die Stichworte ihrer Befragung in sein kleines, schwarzes Notizbuch nachtrug. 

„Wenn er mit ihm weggehen wollte, dann scheint es mir unwahrscheinlich, dass Schürk Junior der Mörder ist“, sagte Pia und ließ Leo nicht aus ihren Augen. Das war auch gut so, denn so konnte sie jede Nuance von Leos Gesichtsausdruck aufnehmen, der sich bei der Nennung von Schürks Namen verzog. Über die Monate hinweg hatte sich eben jenes Mimikspiel verändert. Retrospektiv waren da Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit gewesen. Dann hatte Leo nur Missfallen gespürt.

Jetzt war es…Traurigkeit. Einsamkeit. Bedauern. 

„Was ist los?“, hakte sie sanft nach und Leo sah ertappt hoch. Seine Hände waren stumme Zeugen von seiner Nervösität, so wie sie gar nicht stillhalten wollten und sein Buch immer auf und zuklappten. Da half es auch nichts, das Leo einen Blick auf seine Notizen warf, eine Sekunde später wie verbrannt zusammenzuckte und dann das Buch vehement zuklappte. 

„Leo?“

Er zuckte zusammen und presste seine Lippen aufeinander, fuhr sich unwirsch durch die Haare.

„Ich glaube das auch nicht“, antwortete er auf nichts, was sie gerade von ihm hatte wissen wollen. Pia wartete, denn Leo kämpfte noch mit sich und seinen Worten. Vermutlich auch mit der Frage, ob er mit ihr darüber sprechen sollte, was ihn bedrückte. 
Schürk, wenn sie raten musste. Warum, da er doch seit Beginn der Woche nicht mehr bei Leo war, war ihr dennoch ein Rätsel.

„Ich glaube nicht, dass Adam einen Menschen umgebracht hat“, murmelte er schließlich und Pia runzelte die Stirn über die fehlende Wut in Leos Worten. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ihr Teamleiter und Freund seinen Erpresser beim Vornamen nannte. Auch hier, wo er es nicht musste, weil Schürk ihr Spiel um die Vornamen gewonnen hatte.

„Ich glaube, er wollte wirklich weg mit Elias Schiller und dann ist etwas passiert.“  
„Der Mord ist passiert, Leo und du weißt nicht, aus welchem Grund er umgebracht wurde. Vielleicht aber hat er sich doch kurzfristig umentschieden und Schürk Junior hat ihn dann aus Wut umgebracht“, widersprach Pia sich selbst, testete beide Thesen samt dazugehörigen Bauchgefühlen.
„Mein Instinkt sagt mir, dass es nicht so gewesen ist“, beharrte Leo und Pia seufzte. Sacht legte sie ihm ihre Hand auf den Arm und spürte die Wärme der Muskeln unter ihren Fingern. Sie drückte sanft zu. 
„Was sagt dein Bauchgefühl dir sonst noch zu ihm?“

Das war die weitaus schwierigere Frage und Leo war zunächst damit beschäftigt, Herberts Versuch, nach vorne zu klettern zu unterbinden. Es brauchte etwas, bis sich der Riese davon überzeugen ließ, dass Leos Schoß in einem Auto kein guter Sitzplatz sein würde. 

„Dass er nicht nur Täter ist, sondern zum guten Teil auch Opfer. Und dass er kein Unmensch ist, sondern in der Lage dazu, auch Kritik an sich anzunehmen und Reue zu empfinden. Auch wenn seine Reue zunächst darin bestanden hat, dass er mir angeboten hat, ihn mit meinem Gürtel zu schlagen.“

Pia schluckte gegen den plötzlichen Kloß in ihrem Hals an. Leos Worte waren schwer zu begreifen und noch schwerer zu fassen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken bei dem Gedanken daran, was Schürk Leo angeboten hatte. 
„Dir geht es nicht gut, seitdem er weg ist“, konkludierte sie und erkannte an seiner bewussten Nichtbewegung, wie sehr sie damit ins Schwarze getroffen hatte.

Quälend lange Sekunden wurde die Stille in ihrem Wagen unaushaltbar, dann nickte Leo elendig. 
„Ja, schon“, gab er zu. „Er ist so plötzlich verschwunden.“
„Und das schmerzt dich?“
Wieder nickte Leo zögerlich. „Irgendwie schon. Das sollte es nicht, schließlich gehört er nicht dorthin…also in meine Wohnung. Aber jetzt ist er weg und es ist so leer. Deswegen habe ich auch Herbert bei mir. Damit ich nicht so einsam bin.“

Der die Chance nutzte und Leo einmal über das Gesicht leckte, als er seinen Namen hörte. Leo hob halbherzig die Hand um ihn abzuwehren, war aber nicht sonderlich erfolgreich damit. 

„Ach Leo, warum sagst du denn nichts?“ Entschlossen schürzte Pia die Lippen und zog umständlich ihr Handy aus ihrer Hosentasche. „Wenn du einsam bist, kommen wir natürlich vorbei um dir Gesellschaft zu leisten. Das ist doch klar.“

Leo blinzelte und lächelte dann scheu. „Aber das ist doch doof.“
„Dass wir vorbeikommen?“, fragte Pia gespielt empört und er schnaufte. 
„Nein, dass ich ihn…vermisse.“

Wieviel Schmerz ihm dieses Wort bereitete, war offensichtlich. 

Pia legte ihre Hand auf seine und drückte verbindlich zu. „Natürlich ist es das, aber das liegt einzig und alleine daran, dass er fast zwei Wochen bei dir war. Du hattest ihn immer um dich. Natürlich ist da jetzt eine Lücke.“

Leo stimmte ihr seufzend zu, aber schon an seinem Gesichtsausdruck erkannte Pia, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das ihrem Instinkt zu denken gab.

„Ich würde mich freuen, wenn ihr vorbeikämt.“
„Filmeabend?“
„Gerne.“
„Bestellen wir Pizza? Die Labbrige von Don Beppone?“
„Auch die.“
„Können wir dann auch bei dir schlafen?“
„Das musst du Herbert fragen.“

Pia sah zurück auf den Hund hinter ihnen, dessen Zunge aus seinem Mund hing, während er leise hechelte und probeweise mit der Rute schlug. 
„Okay für dich?“, fragte sie und eines seiner riesigen Ohren hob sich. Er maulte leise, was Pia als Zustimmung sah. 
„Alles klar, dann ist das ausgemacht“, sagte sie und schrieb Esther eine kurze Nachricht. 


~~**~~


Nervös drückte sich der hagere Mittzwanziger in eine Ecke seines versifften, dreckigen, nach Pisse stinkenden Wohnzimmers und glaubte allen Ernstes, dass er alleine durch die Entfernung zwischen ihm und Adam seiner Strafe entgehen konnte. 

Ernsthaft… 

Adam seufzte, teilweise auch gegen seinen Schmerz an, der ihm das Stehen unerträglich machte. Aber Steven, oder wie der Idiot vor ihm auch immer heißen mochte, war noch nicht mal in der ersten Hälfte der Leute, die er zu besuchen hatte. Vielleicht im ersten Drittel. Es hörte und hörte und hörte nicht auf und solche Problem-Steven hier hasste Adam. Mit jeder Minute mehr. Da machte es auch nicht besser, dass er sich in seinem heruntergekommenen Wohnzimmer mit den brachialen Wohnwänden aus Eichenholz umsah und die kitschige, verstaubte Inneneinrichtung der verstorbenen Vormieterin genauer in Augenschein nahm. Irgendwo im Haus schrie ein Kind und Adam hatte das Gefühl, bereits jetzt schon Blut auf seiner Zunge zu schmecken. 

Toller Tag, wirklich. 

„Gib mir die scheiß Kohle und zwar jetzt“, grollte er böse und ungeduldig, nicht eine Sekunde bereit, sich die Allüren des Möchtegernbetrügers weiter anzutun.
„Ich hab sie nicht, wirklich nicht. Es war weniger als sonst, ich schwöre. Bei Gott, ich schwöre, Herr Schürk, ich schwöre.“
Adam rollte mit den Augen. Ja genau, schwör du ruhig auf deine Gier, du Arschloch, fauchte er in Gedanken. „Wenn der Stoff noch da wäre, würde ich es dir glauben. So?“ Er lächelte kalt und ließ den Sadismus hineinkriechen, der ihn schnell zu einem Ergebnis führen würde. „Nicht so. Also her mit der Kohle oder ich spiele mit dir Apokalypse Now in deiner verschissen Kloschüssel, während ich deinen Arsch als Schwanzwärmer nutze, ist das klar?“

Dass er Letzteres nicht tun würde, war Adam und auch Vincent hinter ihm klar, aber dem Dealer nicht. Was gut so war, denn so konnte Adam ihm das Blaue vom Himmel runterlügen und musste nicht auch noch mit seinem schmerzenden Körper Hand anlegen. 

Steven wimmerte und seine Hand kroch zu seinen Couchpolstern, in denen er – Wunder oh Wunder – das Geld versteckt hatte. 

Adam rollte mit den Augen. Natürlich. Wo auch sonst. Was für ein Idiot. Fordernd streckte er die Hand aus und bereute im gleichen Moment die Bewegung. „Na los, her damit.“

Mit Tränen in den Augen kroch der Dealer zu ihm und legte ihm das schmierige Geld in die Hand. Adam reichte es Vincent, der es leise nachzählte und schließlich bestätigend nickte. Adam hatte große Lust, sich die Finger zu desinfizieren. Wirklich große Lust.  

„Gut. Und das nächste Mal warte ich nicht auf die Scheiße, verstanden? Machst du das nochmal, dann komme ich dich holen, Steven.“
Der Mann nickte heftig und überrascht. „Ja, Entschuldigung, ich habe verstanden. Es tut mir leid, Herr Schürk, wirklich. Aber…aber ich…ich…heiße Ronny. Steven ist-“
Adam verzog seine Lippen zu einem knappen Lächeln. „Alles klar, Steven. Wir sehen uns ganz bald.“

Er drehte sich um und verließ das ekelhafte Loch von einer Wohnung, stakste zu ihrem unweit geparkten Auto. Vincent folgte ihm auf dem Fuß und sobald sie im Wagen saßen, ließ Adam seinen brummenden Kopf auf das warme Armaturenbrett fallen. Vincent setzte sich hinter das Steuer und machte den Wagen an, ließ die kalte Luft der Klimaanlage die Wärme vertreiben. 

Adam hätte heulen können vor Dankbarkeit.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte er auf und Vincents Finger auf seinen Haaren waren vorsichtig. 
„Nicht mehr lange, dann haben wir sie alle durch.“
„Das ist gelogen, du Arschloch. Es kommen noch mehr als zwanzig.“
Vincent schnalzte leise und missbilligend mit der Zunge. „Es sind auch ein paar einfache dabei. Die können wir zuerst machen, wenn du möchtest.“
„Ich will gar nichts. Mein ganzer Körper tut weh. Ich brauche Schmerzmittel.“
„Du hast schon so viele genommen heute“, murmelte sein Freund und Adam wimmerte, als sein Frust durch Verzweiflung abgelöst wurde. 

„Bitte nur noch eine.“

Vincent seufzte und Adam atmete erleichtert auf. Eine noch. Scheiß auf die Magenschmerzen, scheiß auf seinen verrücktspielenden Kreislauf. 


~~**~~


„Schreib ihm eine Nachricht.“

Leo beobachtete den vorwitzigen Tropfen, der an seinem Radlerglas nach unten flüchtete, als sei er das Interessanteste der Welt. War er auch – zumindest interessanter, als sich seinen Gefühlen zu stellen, die nach fast einer Woche immer noch nicht wirklich weniger geworden waren. Er hatte Herbert, er hatte sich mit dem Team getroffen und es war schön. Beides war toll, aber es fehlte etwas. 

Dass dieses Etwas blond war, blaue Augen hatte und ihn zur Weißglut trieb, hatte er sich jüngst heute Morgen beim Zähneputzen eingestanden. 

Selbst Herbert mit seinen Hundeaugen und seiner unabdingbaren, unvoreingenommenen Liebe konnte diese Lücke nicht füllen. Oder gerade er nicht, denn das, was fehlte, war mit Sicherheit nicht die Liebe, die Adam Schürk ihm entgegengebrachte. 

Er sah hoch und Rainer musterte ihn viel zu aufmerksam. Er missachtete seine Cola zugunsten von Leos Anblick, was nie ein gutes Zeichen war und Leo wand sich unter der Musterung. 

„Warum sollte ich?“, fragte er zähneknirschend. Als würde er sich freiwillig mit Adam treffen wollen. Das war doch bisher auch nicht der Fall gewesen. Warum sollte er jetzt so hinterher sein? Und was würde es über ihn aussagen, wenn er etwas schrieb? Adam hinterherlaufen, damit dieser ihn wieder zu Treffen zwang? Oder waren sie bereits in einem anderen Stadium angekommen? Leo scheute, sich eine Antwort auf die Frage zu geben, ob ihm diese Treffen nicht auch gefielen. 

„Um ihn bei Laune zu halten, ihm zu zeigen, dass du weiterhin Interesse an einem Gespräch und Kontakt zu und mit ihm hast.“

Natürlich. Seine Aufgabe innerhalb des Teams. Leo presste die Lippen aufeinander. Das näherte sich noch nicht einmal dem Kern seines Problems, war aber eine dankbare Möglichkeit, vor sich selbst zu rechtfertigen, Adam zu kontaktieren.  

Er sah auf Herbert, der seinen Kopf auf seinen Oberschenkel gelegt und die Augen geschlossen hatte. Hier, im abgeschiedenen Teil des sommerlich warmen Biergartens konnte er sich problemlos entspannen und Leo war stolz auf die Fortschritte, die der Riese gemacht hatte. Das Stimmengewirr im Hintergrund verängstigte ihn nicht, ebenso wenig wie die mannigfaltigen Essensgerüche.

Leo lächelte und griff zu seinem Radler, führte das Glas an seine Lippen und trank einen großen Schluck. Er setzte das Glas ab und seufzte.

„Ich mach’s“, sagte er knapp und Rainer nickte. 
„Dafür bin ich dir sehr dankbar. Und du schaffst das. Ganz sicher.“

Er meinte damit nicht nur die Nachricht, wusste Leo. 


~~**~~


                                   WhatsApp

 


Leo starrte auf sein Handy und legte es seufzend beiseite. Er hatte es tatsächlich getan und es war weniger schlimm gewesen als gedacht. Adam hatte geantwortet. Natürlich ganz in seinem ureigenen Selbst. 

Herbert quietschte grollend mit seinem Huhn und Leo nickte. „Genau das“, stimmte er dem herumtollenden Hund zu, der mittlerweile nichts mehr abräumen konnte, was gefährdet im Weg stand. Das hatte er entweder schon erledigt oder Leo war klug genug gewesen, es dann wegzuräumen. 

Die leere Stelle in seinem Brustkorb füllte sich etwas, wurde weniger nagend und störend.


~~**~~


Vielleicht hätte er die Flasche Wein nicht trinken sollen. 

Vielleicht.

Wahrscheinlich.

Mit Sicherheit.

Dann würde die Welt aufhören, sich vor ihm zu drehen und er würde aufhören zu kichern. Wäre Vincent hier, hätte er ihm schon längst einen Vortrag über unverantwortliches Trinkverhalten gehalten. Zurecht, wusste Adam, aber das machte ihm die Flasche Merlot nun auch nicht unschmackhafter. Außerdem hatte sie geholfen. Die Woche war hart gewesen, zu hart, zu unerträglich. Die Dreckssau hatte sich einen Spaß gemacht ihn zu quälen und wenn Adam schon keinen schönen, hauseigenen Polizisten an seiner Seite hatte, dann musste es die Rotweinflasche als Ersatz tun. 

Armseliger Ersatz. 

„Arrrrmselig“, echote Adam in seine leere Wohnung. Vincent skypte mit Adam aus Frankfurt und Adam aus Saarbrücken neidete es ihm. Die Vertrautheit der Beiden, die Liebe, die sie füreinander fühlten. Ohne die Gefahr, dass sie entdeckt und getötet wurden. Romeo und Julian-Liebe, Verbrecher und Polizist.

Apropos.

Umständlich zog Adam sein Telefon zu sich und rief ihren letzten Chat auf. Leo Hölzer, der Nachrichtenschreiber. Leo Hölzer, der Antworter. Das war bisher ihre längste Kommunikation gewesen und ein Lichtblick in Adams Scheißtag in seinem Scheißleben in dieser Scheißstadt in diesem Scheißland. Auf dieser Scheißwelt. 

„Alles scheiße“, murmelte er und schüttelte den Kopf. Nicht alles. 

Zwei Anläufe brauchte er um auf den grünen Hörer zu drücken, der ihn mit dem Nicht-scheiße-Menschen verbinden würde. Schwierig, aber er schaffte es. 

Fuchs, der er war.

Es klingelte und klingelte und klingelte. 

„Hmmmwas?“, nuschelte der Mann am anderen Ende der Leitung schließlich verschlafen, nicht ganz wach, und Adam kicherte. 
„Hallo Sonnenschein“, gurrte er und Stille begrüßte ihn. Dann grollte diese Stille und ein gepresstes, gezischtes „Adam!“ grüßte ihn. 
„Der einzig Wahre“, murmelte er glücklich und schloss die Augen. Jetzt drehte sich wenigstens die Schwärze hinter seinen Lidern mit. 
„Was soll das? Es ist halb drei nachts.“
„Ach?“
„Ja!“
„Hmh.“
„Bist du betrunken?“
„Hmmh.“
„Also ja.“
„So offensichtlich?“
„Ich rieche den Alkohol bis hierhin.“
„Ach echt?“

Leo seufzte tief und es war ein schöner Laut, befand Adam. Da war wenig Nachsichtiges und viel Genervtes drin und es machte Spaß, ihm zuzuhören und die Vertrautheit des Ganzen zu genießen. Ein Lichtblick zwischen all den Drogendealern.

„Ich hab dich vermisst“, gab Adam zu und schmollte. Der Mann am anderen Ende der Leitung schnaubte. 
„Ist das so?“
„Hmh.“
„Dann hast du also vergessen, dass du für die Treffen auch Nachrichten schreiben musst?“
„Ne.“
„Aha.“
„Viel zu tun.“
„Was denn?“

Adam kicherte. „Der kluge Herr Hölzer. Nein nein, so leicht lasse ich mich nicht überführen. Nein nein. Dann muss ich noch mehr Gelder eintreiben und-“ Er stockte und presste sich eine Hand auf den Mund. „Ups.“ Na gut, Leo war ja sein erpresster Polizist, der würde schon nichts sagen. 

Nur dass er nicht mehr wirklich erpresst war. Verdammt. 

„Vergiss es.“
„Ist wohl besser“, erwiderte der wache Mann, dessen Stimme nicht mehr ganz so entzückend schläfrig klang. Eher wieder wie der Superman, der er war. 
„Liest du mir wieder was vor?“, fragte Adam hoffnungsvoll und am anderen Ende der Leitung war Stille. 
„Es ist halb drei“, wiederholte Leo wie eine kaputte Schallplatte und Adam brummte zustimmend. 
„Schlafen kann ich trotzdem nicht. Und du bist auch wach.“
„Ja, jetzt. Dank dir.“
„Details.“

Das Augenrollen hörte Adam bis zu sich in seine stylisch kühl eingerichtete Wohnung ohne die gemütliche Lebhaftigkeit von Leos Wohnung.

„Bitte“, gab sich Adam Mühe, auch lieb zu klingen und Leo grollte. 
„Na gut“, gab er schließlich nach und Adam entwich ein Laut irgendwo zwischen Begeisterung und Glück. 
„Bester, hauseigener Polizist.“

Dass Leo ihm zur Strafe Kafka vorlas, hatte Adam schon verdient, das wusste er. Aber eigentlich war das auch gar nicht so schlimm, denn die ruhige, dunkle Stimme des Mannes schaffte nahtlos das, was weder Schmerztabletten noch Alkohol in Adam anrichten konnten. 

Ruhe, tief in ihm.


~~~~ 

Wird fortgesetzt.
  

Notes:

Drunk calling Adam - einer meiner Wohlfühl-Tropes. <3

Chapter 38: §136 StPO

Notes:

Ein wunderbar sonniges Wochenende euch allen! Ich hoffe, ihr genießt es schon seit Mittwoch Abend und habt nun nach dem Feiertag noch einige freie Tage vor euch ;)

Hier nun der neue Teil zur Anatomie, dieses Mal wieder etwas länger als geplant (theoretisch könnte ich ihn splitten, wollte ich aber nicht, da die Szenen zusammengehören).

Es gibt eine Triggerwarnung: Beschreibung eines Mordes, teilweise plastisch

Ich wünsche euch dennoch viel Spaß beim Lesen und eine gute Zeit! :) Vielen lieben Dank für die Clicks und Kudos und die Kommentare <3

Chapter Text

 

„Ich soll da rein?“
„Ja.“
„Mit dir? Und ihm?“
„Er hat einen Namen und heißt Vincent.“
„Weiß ich.“
„Ja, sollst du. Und dein Köter auch. Und Vincent und ich auch. Da ist es kühler als hier draußen.“

Leo schnaufte gegen die brüllende Hitze an, die wie eine große Dunstglocke über ihnen lag und die heiße Luft auf die Erde drückte. Selbst in kurzer Hose und Tanktop war es immer noch zu warm und Leo schien die Wahl des Ausflugsziels mit jeder Minute unklüger. Was ihm auch das Schweigen der Tiere um sie herum bestätigte, die allesamt vor der Mittagshitze geflohen waren. Nur ein paar empörte Grillen zirpten, die dafür umso lauter. 

„Es hätte keine Notwendigkeit bestanden, nach Frankreich zu fahren“, murrte er und beobachtete Ross dabei, wie dieser mit Herbert nach trockenen Ästen haschte und das Spiel spielte, wer sie zuerst fand. Dass die beiden überhaupt noch die Kraft dazu hatten, sich in der Mittagshitze zu bewegen, war Leo ein Rätsel und das einzig Gute an der Geschichte war, dass Adam genauso fertig aussah, wie er sich fühlte. Dem anderen Mann ging es doch immer noch nicht gut, wieso hatte er sich dann für eine Wanderung entschieden? 

„Und ob, außerdem ist das heute hier nicht der letzte Programmpunkt, also rein da.“ 

Zweifelnd starrte Leo auf das dunkle Loch, das den Bunkereingang markierte. Sie befanden sich an der Maginot-Linie und der Teufel alleine wusste, wo Adam dieses Kleinod aus einem Horrorfilm ausgegraben hatte. 
„Du planst nicht zufällig, mich hier umzubringen und zu verscharren?“, fragte Leo lakonisch und warf einen Seitenblick auf Adam, der ihn mit einem viel zu selbstzufriedenen Lächeln musterte. 
„Nein, aber ich wollte dir meine ansehnliche Sammlung an Leichen im Keller zeigen.“

Leo wusste nicht, was schlimmer war: dass er es herausgefordert hatte oder dass Adam darauf in dieser Art und Weise reagierte. Er seufzte und trat hinein in das Dunkel. Der Geruch nach feuchtem, modrigem Stein flutete beinahe augenblicklich seine Nase und Leo musste ein paar Mal blinzeln, um sich an das plötzliche schwache Licht zu gewöhnen, das nur durch die durch die Zeit angefressenen Schießscharten drang.

Neben ihm nieste Herbert gewaltig und Ross lachte. 

„Gesundheit“, wünschte er und strich dem Hund über den Rücken. Verliebt himmelte Herbert ihn an und drückte sich an ihn. Leo kam sich vor wie der schlechteste Mensch auf Erden, dass er Ross Herbert solange vorenthalten hatte. 
Seitdem er heute Morgen zu Adam ins Auto gestiegen war – samt Hundedecke für die Rücksitzbank – waren die Beiden unzertrennlich. Und glücklich, was Leo innerlich grollen ließ. Er war damit nicht alleine, denn Adam hielt genauso wenig davon, im Gegenzug von Ross ignoriert zu werden.  

„So, wo sind jetzt die Leichen?“, fragte er und beobachtete, wie sich Adam auf einem steinernen Vorsprung niederließ. Er trug eine weite Leinenhose, die nun wirklich nichts der Vorstellung überließ. Nicht, dass Leo nicht schon alles gesehen hatte an diesem Mann. Fast alles. 

Das ärmellose, weite Leinenhemd verdeckte die heilenden Narben und die zwanglosen Sneaker rundeten das Outfit ab. Es war…anders. Heller als sonst. Legerer und unbeschwerter. Selbst die Sonnenbrille, die die blonden Strähnen zurückhielt, war so konträr zu Adams sonstigem Stil, dass Leo mehrfach hinsehen musste. Wieso der Kleidungsstil des anderen Mannes plötzlich so interessant für ihn war, konnte er nicht genau beziffern, schließlich bewunderte er ja auch nicht Ross‘ zwanglosen Rock und sein Shirt, die überraschend muskulösen Arme. Vielleicht, weil Adam so anders aussah als sonst. Ohne schwarzen Anzug. Ohne Leos Sachen, die er bis zu Vincents Ankunft getragen hatte. 

„Alle verbuddelt.“

Ross rollte neben Adam mit seinen Augen und setzte sich ebenfalls auf die Mauer. Leo seufzte und tat es ihnen gleich und starrte durch einen der Schlitze hinaus. Es war gar nicht mal so lange her, dass Europa sich im Krieg befunden hatte. Ein junger Frieden, der so hoffte Leo, für immer anhalten würde.


~~**~~


Leo würde den Teufel tun und zugeben, dass die Aussicht über die sanften Hügelkuppen der Vogesen aus dem Schatten ihrer Anhöhe heraus ein großartiger Anblick war, der ihn mit der Hitze des Tages mehr als versöhnte. Er würde ebenfalls niemals im Leben zugeben, dass das von Adam und Ross mitgebrachte Picknick, das Adam und er hier gerade ausbreiteten, ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. 

Der Platz war gut gewählt und brachte nebst Höhe auch noch etwas sommerlichen Wind mit sich, der die Hitze des Aufstiegs abkühlte. Herbert stand neben ihm und schlabberte gierig das mitgebrachte Wasser. Dass sich Hund und Syndikatssprössling keinen Zentimeter weiterbewegt hätten, war Ross und Leo klar gewesen und so traf es sich gut, dass sie hier den Tag ausklingen ließen.

Während Adam und er arbeiteten, war es Ross‘ Aufgabe, Herbert im Blick zu behalten und dafür zu sorgen, dass die neugierige Hundeschnauze nicht wie ein Staubsauger alles in sich aufnahm, was sie finden konnte. Dafür gab es Hundefutter, was genau das war, was Leos Familie auch immer fütterte. 
Natürlich. 
Informationsbeschaffung war immer noch Ross‘ Stärke, das wurde Leo wieder einmal bewusst.

Sorgsam holte er alles aus dem Korb, was sorgsam eingepackt und beschriftet worden war und legte es auf die Decke. Erst bei dem letzten Döschen fiel Leo auf, dass es irgendwie…kunstvoll aussah, wie sie es arrangiert hatten. Nicht pragmatisch, nicht gestapelt, einfach hübsch. 

Heimelig. 

Leo hielt inne und starrte auf die Picknickdecke.  

„Fertig“, sagte Adam stolz neben ihm in diese Erkenntnis hinein und richtete sich mit einem schmerzverzogenen Gesicht auf. Sorgenvoll beobachtete Leo ihn dabei, doch Adam schüttelte nur kurz nonverbal mit dem Kopf. 
„Geht schon“, murmelte er und deutete auf die kleinen Häppchen, den Mezze neben dem Salat, den Cremes, den Früchten, kleinen Kuchen und den Getränken. Alles sorgsam gekühlt durch die mitgebrachte Kühlbox. 

„Hinsetzen, es ist angerichtet.“ 

Adam, in all seiner Höflichkeit. Leo rollte mit den Augen, beobachtete ihn dabei, wie er einen langen Blick auf Herbert warf. Aber Adam, wie Leo auch, wurden keines Blickes gewürdigt zugunsten des Essens, das die gierigen Hundeaugen mit Adleraugen beguckten. Herbert schmatzte brummelnd und seine großen Lefzen hinterließen dunkle Sabberflecken auf der Decke. Vincent passte mit Argusaugen und einer strengen Freundlichkeit auf ihn auf und verhinderte jeden Vorstoß zu den verbotenen Snacks. 

Leo ließ sich schmunzelnd auf den überraschend kühlen Boden nieder und verschränkte seine Beine zum Schneidersitz. Einen Moment lang war er versucht, die Augen zu schließen und all das hier zu genießen. Bevor er eine solche Dummheit begehen würde, besann sich aber und erinnerte sich, dass die beiden Männer nicht seine Freunde waren. Auch wenn Ross – wenn er Herbert Glauben schenken wollte – der tollste Mensch auf dem Planeten war. Seine große Liebe. Kein Wunder, so engagiert wie Ross ihn hinter den Ohren kraulte und ihn damit vom Essen ablenkte. Hin zu seinem eigens mitgebrachten Hundefutter.

Adam ließ sich als letzter nieder und zog seine Beine langsam zu sich. Seine Bewegungen waren stellenweise immer noch steif, als müsste er seinen Körper und seine Haut wieder an die Flexibilität gewöhnen. Es machte Leo immer noch wütend zu sehen, wie lange der Schmerz anhielt, dem sein Vater ihm zugefügt hatte. 

„Bastian lässt Grüße ausrichten und sagt, dass er sich allergrößte Mühe für den hauseigenen Polizisten gegeben hat“, grinste Adam seiner Unmöglichkeiten und Leo bewarf ihn kommentarlos mit einem Stück selbstgebackenem Brot, das an Adam abprallte und von Herbert in nullkommanichts gefressen wurde, bevor Vincent auch nur die Chance hatte, es ihm wegzunehmen. 
„Grüße zurück und falls er mal nach einem legalen Job sucht, ohne dir den Schwanz lutschen zu müssen, soll er sich vertrauensvoll an mich wenden.“ 

Ross‘ Augen weiteten sich und überrascht hielt der Mann in seinem Tun inne, sich eine Olive zu nehmen. 
„Leo, das…“
„Er lutscht mir nicht nur den Schwanz, sondern lässt sich auch von mir ficken. Wollte ich nur mal gesagt haben“, fiel Adam seiner rechten Hand nahtlos ins Wort und Ross verzog das Gesicht vor Unbill. 
Adam…
„Ja was denn? Es stimmt doch. Außerdem zahle ich gut.“
Leo hob seine Augenbrauen, spießte eine Dattel im Speckmantel auf. „Also arbeitet er schwarz?“, fragte er, eigentlich eher im Spaß, doch an den vielsagenden Gesichtsausdrücken ihm gegenüber erkannte er, wie sehr er ins wortwörtliche Schwarze getroffen hatte. 

Leo rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. Besser, er widmete sich dem vor ihm liegenden Essen als dem Gedanken daran, was Adam alles mit seinem Koch anstellte. Oder der ruhigen Zufriedenheit, die er spürte, seitdem er Adams Nachricht vor drei Tagen bekommen hatte und festgestellt hatte, dass dieser ihn sehr wohl noch sehen wollte. 

Er hielt sich an die Hackfleischbällchen, die nach reiflichem Überlegen tatsächlich vegan waren. Ross nahm sich die Gemüsestangen vor und Adam verschlang die anscheinend eigens für ihn gemachten Quiches. Zumindest wachte er eifersüchtig über die kleinen Küchlein und Leo hätte sich wirklich weit herüberbeugen müssen, um sich eins zu nehmen. Zu weit zu Adam. 

Gefräßige, sommerliche, warmluftige Stille, die Leos Herz und Seele durchdrang. Es…gefiel ihm. Herbert in ihrer Mitte gefiel ihm und er hatte – so stellte Leo fest – mitnichten mehr Angst davor, dass entweder Ross oder Adam dem Hund etwas tun würden. Ganz im Gegenteil, denn es schien, dass auch Adam langsam warm mit Herbert wurde. Zumindest hatte er seine Hand neben Herberts Pfote und hatte auch nichts dagegen, dass der Doggenrüde ab und an daran schnüffelte und auch einen unbeobachteten Moment dazu nutzte, über die Finger zu lecken. 

Unauffällig huschten Leos Augen über die Männer, die mit ihm hier saßen. Die Lücke in ihm war gefüllt, er war vollständig und die Emotionen in ihm sollten eigentlich nicht so positiv sein wie sie es in diesem Moment waren. Eigentlich sollte er das Essen mit den Beiden nicht genießen und nicht so frei zugreifen, wie er es jetzt tat. So selbstverständlich. Vor etwas über einem Jahr war es das nicht gewesen – selbstverständlich. Da war es Qual und Zwang gewesen. Doch nun? Nun war alles anders. Niemand war hier ein Monster. Oder ein sadistischer Psychopath. Niemand, bis auf Roland Schürk wahrscheinlich.

„Ihr müsst die Ermittlungen im Fall Elias Schiller ruhen lassen“, sagte Ross in die Stille hinein und Leos Kopf abrupt schoss hoch. Überrascht und überrumpelt starrte er Adams rechte Hand an. Die Worte schienen zunächst unpassend für die Stimmung des sonnigen Tages und die Unbeschwertheit. Sie stießen Leo abrupt zurück in das, was er dank Schürks Aufenthalt bei ihm törichterweise für abgeschlossen befunden hatte – die unheilige Verbindung mit seiner Arbeit, der ernste Hintergrund, den er vor Sekunden noch verneint hatte.  


„Unsere…“, begann er etwas verloren, verstummte dann jedoch, das Wissen des Mannes die deutliche Erinnerung daran, welche Quellen die Beiden hatten. Von jetzt auf gleich trübte es Leos Ruhe, führte ihm die Natur seines eigentlichen Auftrages vor Augen. So viel Entspannung und Frieden er auch verspürte, so sehr wurde ihm jetzt bewusst, dass beide Männer eigentlich immer noch hinter Gittern gehörten für das, was sie getan hatten und immer noch taten. Ein Gedanke, den er sehr weit nach hinten geschoben hatte, nur damit dieser wie ein Bumerang zurückkehrte.

Leo schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht“, sagte er ruhig und stählte sich für das, was kommen mochte. Für den Stimmungsumschwung. Für die Strenge. Für die mögliche Unterdrückung. 
Doch nichts passierte. Da waren nur Ruhe und Emotionen auf Ross‘ Gesicht, die schwerlich etwas mit der Dominanz der ersten Monate zu tun hatte. 
„Du musst aber“, sagte dieser sanft ohne es zu erläutern und Leo hielt offen seinem Blick stand. Leises Unwohlsein kratzte in seinem Hinterkopf, Überbleibsel der letzten Monate, des Gehorsams, der in ihn hineingezwungen worden war. 
„Das kann ich nicht“, wiederholte er und presste die Lippen aufeinander. Erst, als das Schweigen zwischen ihnen wirklich unglücklich wurde und dabei war, an Spannung aufzubauen, wandte er sich an Adam. 

„Warum musste ich damals die Uhr entwenden?“ 

Er wurde für die Frage regelrecht ignoriert. Adam starrte auf die Picknickdecke, als sei sie das Spannendste auf der Welt. 
„Adam“, schob Leo bestimmt nach, als er keine Antwort erhielt und kurz sah der blonde Mann hoch.

„Als Machtdemonstration“, log er dann auch noch schlecht. Leo schüttelte den Kopf.
In Liebe, dein rotziges Miststück. Das steht auf der Uhr, die Elias Schiller von seinem langjährigen Freund geschenkt bekommen hat. Eben jener Freund, den er bis zu seinem Tod hatte, mit dem er ins Ausland gehen wollte. Bevor es soweit kommen konnte, ist er jedoch gestorben. Ermordet worden, Adam.“

Die langen Finger ballten sich zu Fäusten und Adam schüttelte stumm den Kopf. Neben ihm wurde Herbert unruhig und hob den Kopf. Er brummte leise und stupste mit seiner Nase gegen die angespannte Hand. Adam ignorierte ihn, anscheinend zu sehr gefangen in seinen Erinnerungen. 

„Der Zeuge, den wir befragt haben, hat dich wiedererkannt. Er hat dich beschrieben und ich habe ihm ein Bild von dir gezeigt, Adam. Er hat dich einwandfrei identifiziert. Warum ist Elias Schiller gestorben?“

Nun sah Adam doch hoch, seine Lippen verächtlich verzogen. „Wer hat dir erlaubt, dass du ein Bild von mir rumzeigen sollst? In welcher Welt dachtest du, dass das eine gute Idee ist, hm?“, kam der alte Adam zum Vorschein, der Angriff als eine gute Verteidigung erachtete. Früher hätte Leo sich gefürchtet oder es gehasst, nun blickte er beinahe mühelos hinter die Fassade. 

Unerfreut runzelte Leo die Stirn. „Ich brauche dafür keine Erlaubnis, schon gar nicht von dir. Ich mache meinen Job und der Mann hat dich bereits vorher eindeutig beschrieben. Das war es nur eine Bestätigung dessen, was wir schon geahnt beziehungsweise gewusst haben.“ 
„Und ob du eine Erlaubnis brauchst oder hast du vergessen, was auf dem Spiel steht, für dich und deine Familie?“, hakte Adam böse nach. Böse, nicht bösartig, was Leo erst nach ein paar Sekunden erkannte. 
„Habe ich nicht“, erwiderte Leo entsprechend dunkel und Adam nickt knapp. 
„Siehst du und deswegen lässt du deine Ermittlungen ruhen, Herr Kriminalhauptkommissar. Ich habe keine Lust, deine hübschen, grünen Augen leer an die Decke deiner Wohnung starren zu sehen, nur weil du die falschen Leute aufgescheucht hast.“

Leo schluckte und musste sich aktiv den Polizeischutz vor Augen rufen, den seine Eltern immer noch hatten. Es würde gut gehen, oder? Er durfte sich davon nicht unterkriegen lassen. 

„Ich werde auf mich aufpassen“, sagte er und erhaschte einen kurzen Blick in Adams Augen, die zweifelten, aber auch Angst hatten. Angst um ihn, wusste Leo mittlerweile und es ließ ihn innerlich seufzen. Adam glaubte ihm nicht. Wie auch? Er wusste nichts von dem Polizeischutz. Er wusste auch nichts davon, dass Leo schon lange kein Einzelkämpfer mehr war und dass das LKA Saarbrücken schon lange nicht mehr Herr des Verfahrens war.

„Warum wurde Elias Schiller umgebracht?“, kam er zum Wesentlichen zurück und Adam knirschte wütend mit den Zähnen. 
„Woher soll ich das wissen?“, fragte er dann in falscher Nonchalanz. Seine Stimme brach am Ende des Satzes und Ross sah besorgt zu ihm. Herbert tat es ihm gleich und winselte leise, legte seinen Kopf auf seinen Oberschenkel. 
„Adam“, mahnte Leo ruhig, mühevoll angesichts der Tatsache, dass er den anderen Mann am Liebsten angeschrien hätte, ihm endlich die Wahrheit zu sagen, die in greifbarer Nähe lag. 

„Leo, bitte lass ihn“, mischte Ross sich ein und Leo schüttelte den Kopf. 
„Das kann ich nicht…Vincent. Ein unschuldiger Mann ist gestorben und mein Team und ich sind für die Aufklärung zuständig. Ich kann es nicht fallen lassen. Er hat es verdient, dass sein Mörder ins Gefängnis kommt.“ 
„Lass es fallen oder ich entführe dir deinen Köter hier“, murrte Adam und deutete auf Herbert, der das zum Anlass nahm, einmal quer über Adams Hand zu lecken, sich der angedrohten Straftat gänzlich unbewusst. Im Gegensatz zu Ross, dessen Gesichtsausdruck sich minütlich verfinsterte. Er öffnete die Lippen, sagte aber nichts. 
Leo rollte mit den Augen. „Ich glaube nicht.“
„Doch.“
„Du weichst mir immer noch aus.“
„Weil du keine Antwort bekommen wirst.“

Leo atmete tief ein, atmete Ruhe in sich, in seinen Körper hinein. Die Sturheit des blonden Mannes war schlimm. Mehr als das. 

„Warum nicht? Weil es zu wehtut? Weil dein Elias mein Matthias ist? Ein Grab, das du regelmäßig besuchst und das dir vor Augen führt, dass es den geliebten Menschen nicht mehr gibt?“ Leo spielte unfair, das wusste er. Das erkannte er nahtlos auch an dem Schmerz, der nun breitflächig auf Adams Gesicht geschrieben stand. 

„Leo, hör auf! Du tust ihm weh!“, mischte sich Ross keine Sekunde später scharf ein und da war nur Sorge zu hören, sonst nichts. Keine Wut, keine Dominanz. Herbert hob unruhig den Kopf und schlug probeweise mit der Rute. Sanft strich Ross ihm über den Kopf und lächelte auf den Hund hinunter, beruhigte ihn anscheinend nonverbal schneller, als es Leo je mit Worten gekonnt hätte.  

„Nicht ich bin derjenige, sondern der Mörder, der immer noch nicht seine gerechte Strafe für den Mord erhalten hat.“

Ruckartig stand Adam auf und Leo zuckte entgegen seines Vorsatzes erschrocken zusammen. Mit schmerzverzogenem und zornigem Gesicht starrte er auf Leo hinunter.
„Halt endlich deine Fresse, Hölzer! Verdammt nochmal. Halt. Endlich. Deinen. Mund!“, grollte Adam so böse, dass es Leo schauderte und dass Herbert sich überrascht hinter Ross flüchtete, die Rute zwischen seinen Hinterläufen eingeklemmt, die Ohren eng an den Kopf gepresst. Aus dem Augenwinkel heraus sah Leo, dass Ross sich um den Hund kümmerte und dass er sich so ohne Probleme um Adam kümmern konnte. 

Der ihn überragte, zerstörerische Wut in seinen Augen. 

„Hör auf nachzubohren, es sei denn, du willst, dass ich deine Zügel wieder anziehe. Soll ich das? Dich wieder an die Kette legen? Das Würgehalsband wieder enger ziehen?“ Verletzende, spöttische, böse Worte. Worte, die Leo wütend machen sollten. Vielleicht sogar Worte, die Adam ernst meinte. Ganz konnte Leo es nicht auseinanderhalten und es machte ihn wütend. Sehr sogar. Seine Angst machte ihn zornig, die er immer noch davor hatte, nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war. Auch nach Adams Versprechen, ihm nicht mehr wehzutun. 

„Ich kann dich auch knien lassen, wenn es dir hilft, dich auf deine Kompetenzen und Möglichkeiten mir gegenüber zu besinnen.“ 

Woher Leo die Kraft nahm, Adam nach wie vor so ruhig in die Augen zu sehen, war ihm schleierhaft. Noch nicht einmal sein Herzschlag hatte sich beschleunigt und schweigend nahm er die Worte des anderen Mannes entgegen. Die Demütigung, die diese Worte begleiten sollte, hielt sich in Grenzen. Wut schwelte an ihrer Statt und mit ihr Entschlossenheit.

Er erhob sich langsam und kam einen Schritt auf Adam zu. Es reichte, um aus nächster Nähe auf Augenhöhe in die erbosten, blauen Augen schauen zu können. 
„Nichts davon meinst du ernst“, sagte er ernst und Adam zischte. 
„Alles davon meine ich ernst.“

Leo lächelte grimmig und hob seine Augenbrauen. Er trat einen Schritt zurück und spreizte leicht seine Hände ab. Mit einem zynischen Verziehen seiner Lippen sank er vor Adam auf die Knie, ohne den anderen Mann auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Alles davon? Na das würde er jetzt sehen. Wut überdeckte nahtlos die demütigenden Erinnerungen, die damit einhergingen und das war auch gut so.  

„Bitteschön“, sagte er schlicht und seine Worte verhallten wie Donner in der Stille, die danach folgte. „Selbst wenn du mich knien lässt, ändert das nichts an der Wahrheit. Es ändert nichts daran, dass Elias tot ist, seine Mutter uns angelogen hat, du deine Uhr wiederhaben wolltest und nun ausweichst, wer der Mörder ist. Es ändert nichts daran, dass ich weitermachen und den Mörder hinter Gittern bringen werde.“

Adam konnte ihm nicht lange den in die Augen sehen. Wie verbrannt trat er drei Schritte zurück und wandte abrupt seinen Kopf ab. Als würde er flüchten wollen, drehte er sich um und ging ein paar Schritte in den Wald hinein. Leo sah ihm stumm hinterher und hatte plötzlich Herberts Zunge im Gesicht. Sorgenvoll jaulend schmiegte der Hund sich an ihn und Leo umfing ihn mit seinen Armen, während er sich auf seine Fersen niederließ. 
„Alles ist gut“, murmelte er beruhigend, in der Hoffnung, dass Herbert sich nicht zu sehr von der Spannung einfangen ließ. 

„Leo, hör auf, weiter in ihn einzudringen. Er kann dir nichts sagen“, merkte Ross leise an und Leo schnaubte. Das runde, sanfte Gesicht war sorgenvoll verzogen und Leo glaubte ihm jede Nuance. Tatsächlich. 
„Doch, er kann. Wenn er mutig genug ist, kann er es“, widersprach Leo und schreckte hoch, als Adam sich plötzlich umdrehte und zu ihnen zurückkam, als wäre er auf einem Kriegspfad. Er hielt direkt auf Leo zu und dieses Mal hatte er nicht die Ruhe, knien zu bleiben. Da war Gewalt in Adams Gesten, in seiner Mimik, seiner ganzen Gestalt. 

Leo schob Herbert in Ross Richtung und erhob sich ruckartig. Das war besser, wenn die ungerichtete Gewalt sich nur auf ihn…

Da waren Tränen in Adams Augen. Als Adam vor ihm stand, sah Leo sie. Eingebettet in Wut und Zorn, aber es waren Tränen. 

„Du willst deine scheiß Wahrheit? Hier hast du sie. Ich habe ihn geliebt!“, schrie Adam ihm ins Gesicht und Leo blinzelte den Speichel weg, der damit einherging. „Ist es das, was du hören willst? Dann ja, ich habe ihn geliebt. Er war mein Freund, wir waren zusammen! Macht dich das glücklich, du scheiß Wahrheitssucher? Hm?“

Leo schluckte und hielt mit Mühe den Emotionen auf dem ausdrucksstarken Gesicht stand. Er war versucht, einen Schritt zurück zu treten, Ross das Feld zu überlassen, doch das wäre feige gewesen. Er hatte Adam soweit gebracht, er war derjenige, der anscheinend entgegen besseren Wissens den Finger in die Wunder der Wahrheit legen wollte. 

„Adam, du…“
„Und das ist auch der Grund, warum er gestorben ist! Weil ich so dumm war, ihn zu lieben und zu nachlässig, es zu verstecken. Blöd, ne? Da gibt es endlich jemanden, der mir wirklich etwas bedeutet und dann muss ich zusehen, wie die Dreckssau langsam und gemächlich das Leben aus ihm herauswürgt. Wusstest du, dass der Todeskampf Minuten dauert? Dass die Augen hervorquellen und der Körper in Panik und Angst zuckt. Aber natürlich weißt du das, schließlich bist du ja Saarbrückens bester Mordermittler.“

Leo schluckte schwer, mitnichten in der Lage, etwas zu sagen. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu und er wünschte sich, dass in diesem Moment der Ermittler in ihm übernehmen würde, aber das tat er nicht. Er ließ Leo alleine mit seinen Gedanken und schlimmer noch, seinen Gefühlen, die er verspürte. Trauer, überschwemmend und brachial. Unprofessionelle Wut auf den Mörder. 

„Und bevor du deine wilden Theorien äußerst… ja er hat mich zusehen lassen. Jede Sekunde Qual, die Elias durchstehen musste, bis er tot war. Ich konnte ihm nicht helfen, weil die scheiß Gorillas der Dreckssau mich festgehalten haben. Er hat mich dazu gezwungen, über Stunden seine Leiche anzusehen, damit ich auch ja begreife, dass meine abnormale, widernatürliche Art ekelhaft und todbringend ist und dass ich nie von ihm loskomme. Nie. Er hat die Macht, hatte sie schon immer und wird sie immer haben. Er kommt damit durch, genauso wie mit den Bullenmorden.“

Adam weinte, aber Leo glaubte nicht, dass sich der andere Mann dessen bewusst war. Er atmete abgehackt, unregelmäßig und Leo begriff, dass es der Beginn einer Panikattacke war, deren Zeuge er hier wurde. Hinter ihm bewegte Vincent sich, doch Leo war schneller. Schneller, mutig und hochgradig unprofessionell, denn anstelle seiner Ermittlerpersona Raum zu geben, dominierte nun bewusst der Mann, der Leo privat war. 

Er legte seine Hand auf Schürks Oberarm und der zuckte zurück, unwirsch und unwillig. 

„Geh weg“, presste Adam hervor und Leo schüttelte den Kopf. 
„Ich bin da“, erwiderte er auf die eigentliche Frage und langte erneut nach Adams Arm. Dieses Mal war die Gegenwehr schwächer und Trauer erschütterte die schmalen Schultern. Leo zog Adam ohne nachzudenken an sich. Er wollte Trost spenden, wollte wieder gut machen, was passiert war. Wollte die Erinnerungen wieder gut machen, die er getriggert hatte. 

Er hatte gewusst, dass Adam nicht der Mörder war und nur geahnt, dass es sein Vater oder Boris Barns gewesen waren. Das Wie zu hören war fürchterlich, es war schrecklich und es machte Leo so hilflos wie wütend. Es ließ Rachegedanken in ihm hochkommen, die ganz und gar unprofessionell waren. 

Adam war hart wie ein Brett in seinen Armen und für ein paar Sekunden dachte Leo, dass der andere Mann ihn von sich stoßen würde. Doch auf dem Höhepunkt seiner Anspannung wurde er weicher, nachgiebiger. Er ließ seinen Kopf auf Leos Schulter fallen und weinte stumm. Vorsichtig strich Leo über den schmalen Rücken, spendete Trost. 

„Du bist so ein Arschloch“, murmelte Adam rau und Leo nickte. 
„Weiß ich.“
„Arschloch.“
Leo seufzte. „Ich bin Superman, schon vergessen? Irgendwer muss ihn doch dafür zu Rechenschaft ziehen, was er getan hat.“
„Das kann niemand. Er bringt alle um.“
Der Absolutaussage stimmte Leo ganz und gar nicht zu. Er würde es können – mit der Hilfe der Sonderkommission. Mit Adams Hilfe, der als Kronzeuge aussagen konnte. Für einen Moment war Leo versucht, Adam all das zu sagen, doch dann verwarf er den Gedanken. Was, wenn Adam nicht den Mut fand? Die Ermittlung wäre gefährdet, wenn nicht sogar vollkommen erfolglos. 

„Es tut mir leid, was passiert ist“, sagte er anstelle dessen und meinte es auch so. „Es tut mir leid, was er dir und Elias Schiller angetan hat und was du miterleben musstest“, murmelte Leo und lehnte seinen Kopf gegen Adams. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Herbert langsam auf sie zukam und Adams Hand leckte. Er wollte unzweifelhaft Trost spenden und es presste ein nervöses Lachen aus Adam heraus. 
„Da hast du deine Fallaufklärung, du doofer Ermittler. Wuhuu, der böse Syndikatssohn ist nur deswegen so ein Riesenarschloch, weil man ihm sein Boytoy geklaut hat.“
Über Adams Kopf hinweg sah Leo zu Ross, der das Gesicht voller Schmerz verzogen hatte, die Hände hilflos ausgestreckt. Leo erkannte, dass Vincent natürlich schon viel früher als er davon gewusst hatte und dass diese selbstverletzenden Worte nicht neu waren.
 
Leo atmete schwer aus und pustete Luft auf Adams Haare. 

„Du bist kein Riesenarschloch, du bist ein traumatisierter Mann, der Gerechtigkeit verdient hat und der verdient hat, um denjenigen, der ihm so brutal genommen wurde, in Ruhe zu trauern." 
„Leo Hölzer – neueste Ausgabe des Psychrembel. Das hättest du vor Monaten nicht gesagt“, murmelte Adam und Leo brummte.
„Vor Monaten habe ich auch nicht gewusst, was dir angetan worden ist.“

Adam schnaufte in seine Halsbeuge und Leo schauderte. Es kitzelte und ein kurzes Lächeln zog seine Lippen nach oben. 
„Es tut mir leid, dass ich dir mit meinen Fragen wehgetan habe.“
„Lügner.“
„Wirklich.“
Adam grollte halbherzig und schniefte. Er drückte seine Nase gegen Leos Tanktop und…putzte sie daran ab. 
„Sag mal, geht’s noch?“, grollte Leo abrupt und Ross rollte mit den Augen. Abrupt machte er sich von Adam los und schielte auf den deutlichen, dunklen Flecken in der Nähe des Trägers. Adams Sabber und Schnodder, er konnte sich nichts Besseres vorstellen. 

Adam musterte ihn teuflisch und wischte sich die Tränen von den Wangen und aus dem Gesicht. Seine Augen suchten Vincents und schweigend trat der andere Mann näher. Sacht umfasste er ihn und strich Adam die blonden Haare aus dem Gesicht. Herbert musterte die Beiden und flüchtete sich dann zu Leo, presste sich fest an ihn. 

„Okay?“, fragte Ross sanft und Adam zuckte mit den Schultern. Schniefte noch einmal.
„Okay.“
„Auf einer Skala von eins bis zehn?“
„Dreieinhalb.“

Vincent grub seine Hand in Adams Haare und zog seinen Auftraggeber und Freund daran zu sich. Er bettete seine Stirn an Adams und Leo beobachtete den puren Moment der Zärtlichkeit und Vertrautheit mit Staunen wie auch mit Unwohlsein. Die beiden Männer waren sich nahe, sie waren vertraut und verbunden. Durch soviel mehr, als Leo jemals erahnt hatte. 

„Willst du lieber nach Hause oder bleiben?“
Adam zog einen Flunsch. „Ich bin nicht hier in der brüllenden Hitze hochgewandert um jetzt mit halbvollem Magen wieder zurück zu fahren. Ich lasse mir von der Dreckssau doch nicht den Tag verderben.“

Leo ließ die Worte nachklingen und starrte Schürk in das vor Schmerz und Trauer angespannte Gesicht. Erst jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, wie stark der Mann vor ihm eigentlich war. Wieviel Schmerz und Leid er über die Jahrzehnte ertragen hatte ohne daran zu verzweifeln. Er begriff, dass der Adam, den er kennen und hassen gelernt hatte, der Adam war, der der Welt das Gesicht zeigte, das sein Vater in ihn hineingefoltert hatte. Der, der Hass auf die Welt verspürte und das Verhalten seines Vaters als Vorlage nahm – weil er nicht anders konnte. Weil sein Geist sich schützte vor dem Trauma, was dahinter lauerte. 

Und genau dieser Adam hatte sich geändert – wegen ihm. Er hatte den wahren Adam hervorgelassen, hatte zugelassen, dass Leo hinter die Fassade, die beinahe undurchdringliche Schutzmauer blickte. Und nun war Leo mit einem Vorschlaghammer auch an die letzte Mauer gegangen und der Mann, der er hätte sein sollen, war zum Vorschein gekommen. Ein Mann, fähig zu lieben, ein Mann, der trotz allem Freude am Leben empfunden hatte. Und immer noch empfand. An dem Leben, was er Vincent Ross und auch Leo lebte. Jedes Wochenende. 

„Vince, der Polizist guckt komisch.“

Leo blinzelte und erkannte, dass beide Männer ihn anstarrten. Er räusperte sich verlegen und nutzte Herbert an seiner Seite als dankbare Ablenkung. Plötzlich schüchtern, wie es weitergehen sollte, verharrte er, darauf wartend, dass ihm die Entscheidung, was nun passieren würde, abgenommen wurde. 

„Wie wäre es, wenn wir uns wieder setzen?“, nahm Ross dankbar das Ruder in die Hand und Leo nickte. Er ging zusammen mit Herbert zu seinem Platz zurück und setzte sich auf den Boden. Adam folgte ihm schweigend und einen Augenblick lang hatte Leo das Gefühl, dass er sich erneut an ihn anlehnen wollte. Der Eindruck gewann an Substanz und erst im letzten Moment schien Adam von seinem Vorhaben abzuweichen und legte seinen Kopf auf Ross‘ Oberschenkel. Herbert schlug mit der Rute, sich anscheinend darüber freuend, dass jemand auf seiner Ebene war. Er selbst ließ sich gegen Leo fallen, als würde er Adam imitieren.

„Lass mich raten, die Vorladung ist schon geschrieben?“, hakte eben jener nach und Leo nickte stumm. 
„Sie wird am Montag in die Post gehen. Ich konnte sie nicht verhindern.“
„Und du wolltest es nicht.“
„Auch das.“ Es war selten, dass er mit Scham an seinen Beruf dachte, aber just in diesem Moment war es so. Verlegen sah Leo auf seine Hände. 
„Können wir verhindern, dass er es mitbekommt?“, fragte Adam in Richtung Ross und dieser schürzte sorgenvoll die Lippen. 
„Ich hoffe es“, sagte er mit seinem ganz eigenen Schmerz und Leo begriff, was Ross ihm mehrfach hatte versucht zu sagen. Er war für Adam da. Adam brauchte seine Unterstützung. Vincent Ross, der Psychologe, der ehemalige Polizist. Er war nicht nur seine rechte Hand, er war auch sein Hüter. Jemand, der da war, wenn der Mann, der Adam die Liebe seines Lebens genommen hatte, ihn so stark schlug und misshandelte, dass er sich nicht bewegen konnte. Jemand, der auch da war, wenn es zuviel wurde. 

Das Lächeln, was auf Adams Lippen erschien, irritierte Leo aber doch, weil es so unpassend schien. 
„Wirst du mich dann verhören?“, bekam er keine Sekunde später die Begründung dafür und knirschte mit den Zähnen. Pia und Esther hatten beschlossen, dass Pia und Leo es zusammen machen würden, damit Schürk keinen Verdacht bekam, dass etwas nicht so lief wie sonst. 

Es war ein Tanz auf der Nadelspitze. 

„Auch, ja. Zusammen mit Pia werde ich dich befragen.“
„Hmmh. Handschellen?“
Wie schön, dass Ross Adam genauso ansah wie Leo sich in dem Moment fühlte. Er sah es Adam nach; schließlich hatte dieser mehr als einen gut bei ihm. Und schließlich hatte dieser eine blühende Fantasie.
„Nein. Die verbleiben in deinem Schlafzimmer.“
Adam brummte enttäuscht und Leo überlegte sich für einen Moment, wie es Adam wohl aufnehmen würde, wenn er ihn tatsächlich an den Tisch fesselte und ihn dann mit Pia und Esther alleine ließ. Einfach weil. Nötigung mal außen vorgelassen. 

„Wie dem auch sei. Lass uns über andere Dinge sprechen. Ich würde gerne diesen Tag doch noch etwas genießen.“

Lenk mich ab von meiner Trauer, stand in Adams Augen. Lenk mich ab von meinem verdammten Leben. 

Leo tat ihm den Gefallen.


~~**~~


„Es wird alles gut gehen“, versuchte Pia ihrem Teamleiter Mut zu machen – erfolglos. Leo war seit heute Morgen bereits nervös und unstet, konnte sich auf nichts wirklich konzentrieren und war mehr als schreckhaft. 

Heute war der Tag, an dem Schürk zur Befragung kam und Leo war das reinste Nervenbündel. Er tat Pia mehr als leid und am Liebsten hätte sie ihn in ihre Teeküche gezogen und umarmt, damit er etwas zur Ruhe kam. 

„Was, wenn er Wind davon bekommt?“, fragte Leo nicht zum ersten Mal, die Stirn sorgenvoll gerunzelt. 
„Das wird er nicht, dafür sorge ich, in Ordnung?“ 
So ganz überzeugt war Leo nicht und Pia seufzte. „Los komm, stellen wir uns dem Ungeheuer. Wir haben gleich halb eins.“

Es war immer wieder faszinierend zu sehen, wie sehr der private Leo sich von dem dienstlichen unterschied, der nun die Schultern straffte und in Richtung ihres Befragungsraumes vorging. Es war, als wäre die Unsicherheit wie weggewaschen. War sie nicht, dafür aber sorgsam weggeschlossen. 

Pia folgte ihrem Chef und wechselte selbst in ihre Befragungpersona, eben die Frau, die hochkonzentriert und emotionslos an die Informationsbeschaffung heranging. Hier war kein Spielraum für ihre eigenen Sorgen und Nöte, für das Mitleid, das sie mit Leo hatte. Hier war nur ihr abgesprochener Fragenkatalog und…

…Schürk. 

Pia blinzelte. Der blonde Mann war schon da, geschlagene acht Minuten vor der Zeit. Er saß schon auf dem Stuhl im Wartebereich, ein Bein locker über das andere geschlagen. Eine Pose wie aus einem Film, großkotzig, arrogant, lakonisch. Er trug nichts als einen schwarzen Anzug und schwarze Lackschuhe, unter dem Jackett war er augenscheinlich bis auf eine Goldkette nackt. 
Als sie sich ihm näherten, hob er lässig eine Tasse an seine Lippen und nahm einen großen, tiefen Schluck von etwas, das eigentlich nur aus der Teeküche unweit von dem Befragungsraum stammen konnte. 

Kaffee oder Wasser, denn etwas anderes gab es da nicht. 

Pia blinzelte erneut. Die Tasse, die Schürk in den Händen hielt, kannte sie nur zu gut. Grau, einfarbig, aber dennoch heiß geliebt. Leos alltägliche Tasse, die er seit seiner Ankunft hier hatte. 
Was ihr Teamleiter just in diesem Moment auch erkannte und sichtbar mit den Zähnen knirschte. 

Pia runzelte die Stirn und trat auf Schürk zu, der so tat, als hätte er sie jetzt erst gesehen. Übertrieben überrascht hob er die Augenbrauen, nur um das Erstaunen in ein süffisantes Lächeln abgleiten zu lassen. 

„Na sowas, wenn ich gewusst hätte, dass mir das LKA zwei der hübschesten Mordermittler schickt, hätte ich mir etwas ganz anderes angezogen“, grinste er teuflisch und Pia musste nicht hinsehen um zu wissen, welches Gewitter sich auf Leos Gesicht zusammenbraute.   

Etwas ganz anderes? Na das hoffte sie doch mal nicht angesichts seines jetzt schon spärlich bekleideten Erscheinungsbildes. 

„Guten Tag Herr Schürk“, knirschte Leo mühevoll hervor und streckte dem Mann, der ihn über Monate gequält hatte, die Hand entgegen, als würde er ihn nicht kennen. Ein Theaterstück für Schürk, damit dieser keinen Verdacht schöpfte. „Hölzer mein Name, wir kennen uns bereits. Das ist meine Kollegin Pia Heinrich und wir werden heute die Befragung mit Ihnen durchführen.“

Schürk schnurrte – anders konnte Pia das Geräusch nicht bezeichnen und erhob sich. Er schlug Leos Hand ein und schüttelte sie so lasch, dass es Leo wohlversteckt schauderte. 
„Meine Güte, die Polizei sollte Werbung mit Ihnen beiden machen. Der Zulauf wäre bahnbrechend.“
Als er Pia seine Hand entgegenstreckte, drückte sie so fest in den Händedruck, dass sie seine Knochen zusammenschob. 
„Autsch“, gurrte Schürk und Pia lächelte kurz. 
„Kommen Sie, begleiten Sie uns in den Befragungsraum. Und die Tasse bleibt draußen“, sagte sie verbindlich und Schürk trank mit festem Blick auf sie gemächlich Schluck für Schluck leer.  

Pia ahnte, dass sie nicht wirklich die Befragung brauchen würde, um festzustellen, dass der Mann vor ihr ein komplettes Arschloch war. Eines, unter dem Leo die letzten Monate gelitten hatte. Pia wurde nicht oft gewalttätig, eigentlich nur, wenn sie es im Rahmen ihres Dienstes sein musste, aber für Schürk würde sie eine Ausnahme machen. Irgendwann. 

Schürk reichte nicht ihr, sondern Leo die Tasse, während er sie fest im Blick behielt. 

„Sorry, dachte, die wäre frei und der Kaffee hier ist einfach der Beste“, erwiderte er und ging ohne eine Antwort abzuwarten in den Befragungsraum. Pia erlaubte sich einen kurzen Seitenblick auf ihren Teamleiter, der anscheinend die Tasse am Liebsten fallen gelassen hätte. Beinahe schon trotzig nahm er sie mit in den Raum hinein und stellte sie deutlich sichtbar auf das Fensterbrett in seiner Nähe. 

„Bitte setzen Sie sich“, wies Pia ihm einen Platz am Tisch zu und Schürk ließ sich nieder, als würde er sich in seinem privaten Wohnzimmer befinden. Dass er dabei die Beine auseinanderschob und deutlich machte, dass er nebst fehlendem Hemd auch noch keine Unterwäsche trug, machte es nicht besser. 

Gar nicht. 

Pia setzte sich ihm gegenüber und Leo tat es ihr gleich. Er legte die Fallakte vor sich auf den Tisch und schlug sie auf. 

„Herr Schürk“, begann er mit mühevoller Höflichkeit, die Pose des Mannes rundheraus ignorierend. „Wir haben Sie als Zeuge im Mordfall Elias Schiller vorgeladen. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie uns nichts mitteilen müssen, was Sie belasten könnte. In diesem Fall steht Ihnen ein Aussageverweigerungsrecht gemäß § 136 Strafprozessordnung zu, das Ihnen das Wahlrecht einräumt, nichts zu sagen oder einen von Ihnen gewählten Verteidiger zu beauftragen. Haben Sie diese Belehrung verstanden?“

Schürk nickte breit lächelnd. „Ich habe eine rein weiße Weste und mir nichts vorzuwerfen. Aber natürlich habe ich das verstanden. Mein Jurastudium war ja nicht umsonst“
Er zwinkerte und Leos Kugelschreiberhaken an der Belehrung drückte sich noch durch die nächsten Blätter, so feste hakte er diese ab. Ebenso die Adresse und die persönlichen Daten, die Pia ihm vorlegte und die Schürk bejahte. 

Sie nickte. „Herr Schürk, uns liegt eine Zeugenaussage vor, die besagt, dass Sie und Herr Schiller sich in einer langjährigen Beziehung befunden haben. Können Sie uns das bestätigten und falls ja, können Sie uns weitere Angaben zu dem Verstorbenen machen?“

Schürks Augen schweiften zwischen Leo und ihr hinterher und blieben an Leos Händen hängen. Er zuckte mit den Schultern, eine Geste, die so nonchalant war, dass Pia sie ihm keine Sekunde abnahm. Noch nicht einmal abgenommen hätte, wenn Leo ihr und Esther nicht schon am Montag mitgeteilt hätte, dass Schürk seinen Vater belastet hatte. Vor allen Dingen, wie er ihn belastet hatte und was eigentlich dahinter steckte. Welches Monstrum Schürk Senior war. 

Glaubte Pia Leos Erzählungen, war der Mann vor ihr traumatisiert. Glaubte Pia Schürks Auftreten, war der Mann das größte Arschloch. Beides schloss sich nicht aus, wären da nicht Leos Erzählungen darüber, dass Schürk sich gebessert hatte. Dennoch. 

„Wie man das eben so macht unter jungen Männern. Man lernt sich kennen, trifft sich, fickt, fickt nochmal, findet das ganz geil und zack sind ein paar Jahre vergangen.“

Das war die schlimmste Beschreibung einer Beziehung, die Pia jemals gehört hatte. 

„Das war alles?“, fragte sie nach und Schürk wackelte mit den Augenbrauen. 
„Details hätte ich auch noch, falls gewünscht. Er hat so schön gestöhnt beim Orgasmus. Außerdem hatte er da dieses niedliche kleine Muttermal in Form einer Blume an der Innenseite seines rechten Oberschenkels. Und wenn er mich gefickt hat, dann…“
„Herr Schürk!“, fuhr Leo ihm unwirsch dazwischen. „Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche.“
„Aber das ist wesentlich? Ihre Kollegin hat doch danach gefragt.“
„Wonach ich gefragt habe, Herr Schürk, sind Details zum Tagesablauf mit Herrn Schiller, insbesondere Unregelmäßigkeiten, die kurz vor seinem Tod aufgetreten sind. Feinde, die er möglicherweise gehabt hatte. Menschen, die ihn bedroht haben? Drogen, die er möglicherweise genommen hat?“

„Ach so.“ Voller falscher Unschuld weiteten sich Schürks Augen und er lehnte sich zurück, ließ seine Hände auf seinen Oberschenkeln ruhen. Viel zu nah an seinem Unterleib um nicht provozierend zu sein. 

„Nein, hatte er nicht. Weder Feinde noch Drogen. Ich kann mich aber nicht genau daran erinnern, was kurz vor seinem Tod passiert ist, schließlich ist das ja schon etwas länger her und mit der Zeit vergisst man. Er war nett zu ficken, aber dazu gibt’s auch andere. Was machen Sie beide denn heute Abend im Übrigen?“

Leo zerbrach mit einem trockenen, scharfen Knacken seinen Kugelschreiber und Pia warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Teamleiter, dessen Augen Mord versprachen. 

Sie räusperte sich. „Herr Schürk, wir sind nicht zu Ihrer persönlichen Belustigung hier. Wir sind ebenfalls keine Lustobjekte und mitnichten werden weder mein Teamleiter noch ich sich mit Ihnen treffen.“ Die Lüge tat ihr körperlich weh, aber es war notwendig. Leo traf sich gezwungenermaßen mit Schürk und alleine der Gedanke daran, dass dieser zusätzlich zu seinen Drohungen und seiner Erpressung Leo auch noch mit dieser Anzüglichkeit zugesetzt hatte, machte sie wütend. 

Leo wischte mit seiner Hand die Kugelschreiberreste zusammen und Pia reichte ihm ihren Ersatzkuli. „Konzentrieren Sie sich bitte auf unsere Fragen, Herr Schürk. Hier geht es um die Aufklärung eines Mordfalls, nicht um den Plausch in einer Gay-Bar.“
Amüsiert schmunzelte der blonde Mann und deutete dann knapp auf Leos Hand. 
„Sie bluten, Herr Kriminalhauptkomissar Hölzer. Soll ich Ihnen ein Pflaster holen? Es gibt welche im Verbandskasten in Ihrer Teeküche.“
„Danke, ich komme klar“, wies Leo das unmögliche Hilfsangebot ab und Pia straffte die Schultern.

„Kommen wir zurück zu Herrn Schiller. Das heißt, Sie können uns gar nichts dazu sagen?“
„Nicht wirklich.“
„Auch hierzu nicht?“, fragte sie und schlug ihren Aktendeckel auf. Sie nahm das Bild der entwendeten Uhr auf und schob es über den Tisch zu Schürk, der einen kurzen Blick riskierte, es aber sonst ignorierte. 
„Diese Uhr haben wir in Verbindung mit einem anderen Mordfall als Beweismaterial sichergestellt. Der Getötete trug die Uhr Ihres verstorbenen Freundes, eine Uhr, die Sie ihm geschenkt haben.“
„Aha.“
„Laut Zeugenaussage hat Herr Schiller seinen Freund – Sie – immer sein rotziges Miststück genannt. Ebenfalls laut Zeugenaussage hat die Mutter des Verstorbenen ihren Sohn damit aufgezogen, dass sein Sohn einen Freund hat, der so ein rotziges Miststück ist.“

Schürk blinzelte und legte dann den Kopf schief. Seine Mimik änderte sich minutiös, wurde ernster und lauernder. „Was wird das, Frau Heinrich? Bin ich tatsächlich nur Zeuge oder werde ich gerade als Beschuldigter vernommen? Falls ja, dann will ich aber auch Handschellen und ein bisschen Polizeigewalt, vorzugsweise von Ihrem Teamleiter mit den starken Armen und kugelschreiberzerstörenden Händen.“

Er zwinkerte anzüglich und Leos Zähneknirschen hörte Pia bis zu sich. 

„Sie werden weiterhin als Zeuge vernommen. Sie müssen jedoch nichts zu Protokoll geben, was Sie selbst belastet“, wiederholte Pia mit langsam ausfransender Geduld. Hätte Schürk sie erpresst, sie hätte ihn schon längst umgebracht und im Wald verscharrt. Leo war ein Heiliger, mehr als das. Er war der stärkste Mensch auf der Welt, erkannte Pia, dass er es mit diesem Mann aufnahm und sich immer noch den Menschen bewahrt hatte, der er gewesen war.

„Ja, ich habe ihm die Uhr geschenkt – er mochte derlei Gefühlsduseleien und war dann immer umso motivierter, mir den Schwanz zu lutschen. Hat sich also gelohnt, möchte ich meinen. Was die Uhr dann bei einem Toten zu suchen hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Der hat mir definitiv nicht den Schwanz gelutscht. Wobei wer weiß, das Pressebild war einfach zu hässlich. Nun denn, zur Uhr. Elias ist vor fünfzehn Jahren gestorben…vielleicht über einen Flohmarkt?“

Pia machte sich Notizen, als würden die Informationen neu für sie sein.   

„Möchten Sie die Uhr nach Abschluss des Verfahrens wiederhaben?“, fragte sie und sah hoch. Schürk lächelte und runzelte dann die Stirn. Etwas auf seinem Gesicht passte nicht zu der zur Schau gestellten Mimik. 
„Warum sollte ich? Es ist Vergangenheit.“

Pias Bauchgefühl sagte ihr, dass Schürk sich so anhörte, wenn er log. Kein Wunder, denn er besaß die Uhr längst. Leo hatte sie ihm bringen müssen und sich dadurch selbst strafbar gemacht. 

„Der guten, alten Zeiten willen?“
„Die neuen Zeiten sind besser. Ich lebe generell gerne in der Gegenwart.“
„Natürlich. Erlauben Sie mir dennoch die Frage, was Sie am Tag seines Todes gemacht haben.“
Schürk legte den Kopf schief und nickte in Richtung der Akte. Er lehnte sich zurück und schlug bequem die Beine übereinander. 
„Wenn Sie mir nochmal auf die Sprünge helfen, wann das genau war?“

Wieder hörte sie die Lüge aus seinen Worten heraus und fand bestätigt, was Leo ihr gesagt hatte. 

„Am zwölften September 2008“, erwiderte sie und Schürk überlegte. Dass es nichts zu überlegen gab, sondern dass er sie hinhielt, war klar. Pia verharrte geduldig und schlussendlich schüttelte Schürk den Kopf. 
„Gute Frage, es ist so lange her, dass ich es nicht mehr genau sagen kann. Müsste noch warm gewesen sein, war ja September. Irgendwas fürs Studium?“
„Sie erinnern sich nicht mehr an ihre Vorbereitungen um zusammen weg zu gehen?“

Wieder flammte etwas hinter den blauen, spöttischen Augen auf, das nicht zum Rest des Mannes passte. „Die waren zumindest von meiner Seite aus nicht so ernst. Ich weiß, Elias hat sich da viel von versprochen, aber anscheinend hatte er da was falsch verstanden. Es war eher ein Gehirnfurz von mir.“
„Wohin wollte er denn mit Ihnen auswandern?“
„Ans Ende der Welt“, schnaubte Schürk amüsiert und deutete auf das Fenster. „Irgendwohin, wo nicht Deutschland ist. Er wollte Abenteuer und Spaß. Sowas Romantisiertes, Sandstrand, Schildkröten, die Bar in der Einsamkeit, in der alle gut gelaunt sind und so.“
„Und Sie?“
„Ich? Mir war bewusst, dass man auch Geld verdienen muss“, lachte Schürk und winkte ab. „Und wie man sieht, bin ich heute noch hier.“

Das war er und war für sämtliche Institutionen die Pest. Jemand, dem man nichts nachweisen konnte – noch nicht. Mit Leos Hilfe würden sie die kriminellen Machenschaften seiner Organisation dingfest machen. Oder ihn dazu bringen, auszusagen, wenngleich Pia das gerade erheblich anzweifelte. 

„Vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen“, sagte sie entsprechend verbindlich und Schürk hob erstaunt seine Augenbrauen. 
„Wie, das war es schon?“
„Es sei denn, Sie haben noch etwas?“

Da war es wieder, das unmögliche Lächeln, die dreiste Provokation. Anspannung fraß sich Pias Wirbelsäule hinauf und neben ihr richtete Leo sich auf, anscheinend schon in Erwartung dessen, was kam. 

„Wenn Sie mir Ihre Nummer nicht geben, Frau Kriminalhauptkommissarin, dann habe ich nichts mehr.“ Gönnerhaft lehnte Schürk sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor seinem Bauch.

Noch bevor Pia etwas erwidern konnte, erhob Leo sich abrupt und nickte in Richtung Tür. 
„Dann wünschen wir ihnen einen schönen Tag, Herr Schürk, ich begleite Sie nach draußen.“ Das war nichts als eine Drohung und Pia konnte sich sehr gut vorstellen, was Leo nun mit ihrem Zeugen unter vier Augen besprechen würde. 
„Oh, gerne doch. Auch wenn ich mit Sicherheit alleine herausfinden würde.“

Pia kam um den Tisch herum und streckte ihm ihre Hand entgegen. Wieder griff sie fest zu und dieses Mal erwiderte er den Druck mit gleicher Kraft.
„War mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Frau Heinrich“, sagte er augenzwinkernd und sie musterte ihn eindringlich. 
„Vielen Dank für Ihre Kooperation, Herr Schürk. Ich hoffe, dass wir den Mord an Ihrem verstorbenen Partner bald aufklären werden und er Gerechtigkeit erfahren wird.“
„Wer hofft das nicht?“

Anscheinend er selbst. Aber das verkniff Pia sich. Sie warf einen Blick auf Leo, der knapp seine Hand musterte, sie an seiner dunklen Hose abwischte und in Richtung Tür vorging. 

Schürk folgte ihm und grinste anzüglich, während er ihrem Teamleiter auf den Hintern starrte und anerkennend nickte.

Arschloch.  


~~**~~


„Rein da.“

Zu sagen, Adam liebte es, wenn Leo streng und dominant wurde, war untertrieben. Zu sehen, wie sein hauseigener Polizist in der Befragung mehr und mehr die Geduld mit ihm verlor und wütend wurde, war ein Fest. Ein rauschendes Fest für Adams Sinne, das ihm Genugtuung und Rache dafür war, dass der andere Mann beim Spazierengehen nicht locker gelassen und ihn dazu noch herausgefordert hatte. Zumal er es besser wissen müsste, wenn er glaubte, dass Adam sich ungestraft vorladen ließ und dann auch noch nach den Regeln der Polizei spielte. Niemals. 

„Die Herrentoilette, wie originell“, gurrte Adam und wurde keine Sekunde später rabiat in eine der Toilettenkabinen geschoben, nachdem Leo sich vergewissert hatte, dass niemand hier war. Eng war es und meine Güte war Adam angetan von Leos Nähe, von dessen Wärme, die ihm entgegenstrahlte, als der Ermittler vor ihm stand, so nah bei ihm wie seit dem Wochenende nicht mehr und mit dem blutigen Finger auf ihn deutete. 

Es gab schlechtere Möglichkeiten, den Tag zu verbringen und Adam schauderte wohlig.

„Mit dir im LKA eingesperrt in einer Toilettenkabine zu sein, hat was, Leo, das kann ich nicht verneinen, wir müssten nur vorher abklären, was-“
„Halt den Mund, du Mistkerl! Was war das denn? Denkst du, dass es eine gute Idee ist, deine schmierigste Art und Weise an Pia auszulassen? Wirklich? Oder dich aufzuführen, wie der hinterletzte Verbrecher? Was dachtest du dir dabei?

Leos hübsche Augen waren hellgrün vor Zorn und das ebenmäßige Gesicht eine Leinwand an Attraktivität für Adam. Er lächelte knapp und reckte den Kopf in Richtung Ermittler, überbrückte ihre Distanz und wahrte noch einen letzten Rest an Anstandsentfernung zwischen ihnen beiden. 

„Ich habe genau das gedacht, was ich dir bereits am Samstag gesagt habe, Leo. Ich schätze es nicht, vorgeladen zu werden und obwohl du die Wahrheit kennst, wird sie niemand anderes erfahren.“
„Dazu wäre es nicht notwendig gewesen, dass-“
Adam presste Leo mit seinem Gewicht gegen die Toilettenwand und kam ihm nun wirklich unschicklich nahe. In Leos Augen unschicklich, in Adams war da immer noch genug Abstand. Züchtiger, keuscher Abstand. Auch wenn es zwischen ihnen knisterte und funkte und Adam sich schon fragte, wie dieser Funke sich entladen würde. Gewalt? Unwahrscheinlich. Lust? Es wäre zu wünschen, aber ebenso unwahrscheinlich. Vermutlich bekam er am Wochenende ungesalzenes Essen und Leo würde alle Gewürzstreuer verstecken. 

„Nein, wäre es nicht, aber es hat Spaß gemacht. In all der Scheiße, in all dem Mist, hat es Spaß gemacht und den gönnst du mir“, schnurrte er dunkel und brachte den Mann vor sich abrupt zum Schweigen. 

Wunderschön. Endlich. 

Adam musterte seinen hauseigenen Polizisten lange und ausgiebig. „Ich habe meine Entscheidung getroffen und nein, ich werde es nicht riskieren, dass noch jemand stirbt. Das kannst du vergessen, Superman. Und jetzt lass endlich deine Hand versorgen, sonst fängst du dir noch eine Infektion ein.“

Er nutzte Leos Fassungslosigkeit, zwinkerte und presste ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. Unter nach empörtem nach Luft schnappen schloss er die Kabine auf und kam in dem Moment aus der kleinen Kammer, als Möller, einer seiner Bestochenen, in die Toilette kam und wie angewurzelt stehen blieb. 

Er sah erst ihn an, dann Leo und Adam grinste. 

„Das ist nicht, wonach es aussieht!“, grollte es hinter ihm und Adam schnalzte missbilligend mit der Zunge. 
„Es ist genau das, wonach es aussieht. Schönen Tag zusammen!“, hinterließ er ein Fallout sondergleichen und verließ fröhlich pfeifend die Herrentoilette und schlussendlich die Dienststelle. 


~~**~~


„Er ist ein Arschloch. So ein Arschloch. So ein verdammtes Arschloch. Es tut mir leid, Pia, dass du ihn erleben musstest.“

Pia strich ihrem immer noch wütenden Teamleiter beruhigend über den Rücken und musterte sein angespanntes Gesicht. Hilflos war seine Wut nicht, eher…fassungslos. Sie erstickte ihn nicht mehr und der Hass hinter seinen Worten war quasi nicht existent. 

Pia fragte sich, ob sie Leo über eine lange Sicht überhaupt noch mit der Aufgabe betrauen sollten, Schürk umzudrehen. Dass der andere Mann Interesse an Leo hatte, war offensichtlich. Dass dieser ihren Teamleiter mit Blicken auszog, war nur zum Teil gespielt gewesen. Was allerdings echt gewesen war, war die Sorge um Leo und seine Verletzung. 

Das war auch das Einzige, in dem Pia mit Schürk übereinstimmte. Die musste versorgt werden, auch wenn der Sturkopf neben ihr das nicht einsah. Aus Trotz. Sie seufzte innerlich. 

Zwischen den beiden Männern war etwas, das sie nicht zu beziffern wagte, über das sie aber mit Esther sprechen musste. Schlimmer als ein umgedrehter Ermittler war einer, dem die eigenen Gefühle im Weg standen. 

Und dass er Gefühle, in welcher Art und Weise auch immer ausgeartet, für Schürk hatte, das war offensichtlich. 

Unter anderen Umständen hätte es Pia gefreut, dass Leo endlich jemanden gefunden hatte, der mit ihm durchs Leben ging. Der da war und ihn forderte, denn genau so jemanden brauchte ihr anspruchsvoller Teamleiter. Nur dass dieser jemand kriminell war und ihm sehr wehgetan hatte, das musste nun wirklich nicht sein. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 39: Auge um Auge

Notes:

Einen wunderbaren Montagabend euch allen!

Hier ist nun, kurz vor Drehstart des neuen Tatorts "Jackpot", der neue Teil *wuppwupp*. Noch rechtzeitig und so, bevor der Hype so richtig losgeht. :D

Ich danke euch allen für eure Kommentare, Klicks, Kudos, für euer Interesse und euer Durchhaltevermögen. :)

Für diejenigen von euch, die es auf Tumblr noch nicht gesehen haben, hier gibt es eine Zusammenfassung der bisherigen Kapitel zur besseren Übersicht. Achtung, das Ganze ist spoilerbeladen.

Viel Spaß beim Lesen!

Eine Triggerwarnung gibt es: Gewalt ausgeübt von und gegen Minderjährige.

Chapter Text

 

„Das ist alles, was du über ihn finden konntest?“, hakte Adam nach, während er sorgfältig die Akte durchging, die Zarah ihm auf den Tisch gelegt hatte. Dick war sie nicht, dafür umso klassischer. Mit Ach und Krach durch das Abitur, danach abgestürzt. Nach dem Absturz in die Stahlbranche und immer noch wohnhaft im Saarland, außerhalb von Saarbrücken in einem kleinen, heruntergekommenen Kaff, wo die Mieten günstig und die Rechtsradikalität hoch war.

Wunderschön. Passend für ein Arschloch wie Detlef Hofmann, Produktionsmitarbeiter bei der Dillinger Hütten AG. Keine Verhaftungen, keine Vorstrafen, prolliges, angemeldetes Auto und nicht verheiratet. Wenn Adam raten müsste, ging der Mann nach Schicht ein oder zwei oder drei Bierchen trinken, am Wochenende dann auf Ü30-Parties und holte sich anschließend vor dem PC zu Pornos einen runter. Er verließ Deutschland wenn dann nur in den europäischen Raum, von anderen Kontinenten hielt er nichts. 

Bloß nicht zu weit weg mit ihm. Schade eigentlich. Adam hätte ihn gerne in der tiefsten, sibirischen Tundra gesehen. 

Zarah nickte und ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen. Sie hievte ihre Beine über die linke Lehne und ließ sie an der Seite hinunterbaumeln. 
„Er hat ein vollkommen normales, langweiliges Leben mit einem festen Zeitplan. Sehr planbar, wenn du einen Zugriff willst.“ Zarah, die gnadenlose Gedankenleserin. Sie liebte Geld, noch mehr jedoch, wusste Adam, liebte sie ihren abwechslungsreichen Job bei ihm. Moralische Grenzen hatte sie wenige und genau deswegen hatte er sie angesprochen, bevor Onkel Boris seine Finger an sie bekommen und sie zur Dealerin machen konnte. 

„Ja, möchte ich. Bereitest du alles vor?“
„Wie immer?“
„Ja.“
Lächelnd tippte sie sich an die Schläfe. „Alles klar, Chef.“

Adam nickte zufrieden. Wenn sein hauseigener Polizist und er schon bei Vergangenheitsbewältigung angekommen waren, dann würde auch er sehen, dass die dunklen Stunden von Leos Schulleben gesühnt wurden – als Gegenleistung dafür, dass dieser ihm mit der Dreckssau helfen wollte. Und als Geschenk dafür, dass Leo sich um ihn sorgte. Als Zeichen, dass Adam…es ebenfalls so erging. Er sorgte sich um Leos Wohlbefinden und dem Arschloch zu zeigen, dass das, was er getan hatte, vielleicht nicht ganz das Gelbe vom Ei gewesen war, würde Adam eine Freude werden. 


~~**~~


„Wird Zeit, dass ich mal wieder nach Saarbrücken komme“, lächelte sein Frankfurt-Adam und Vincent seufzte innerlich. Er liebte es, wenn der andere Mann hier war, er liebte auch die Treffen mit seinen beiden Adams zu Dritt, aber in letzter Zeit spürte Vincent eine Anspannung in ihrem Gefüge, die es ihm beinahe unmöglich machte, unbeschwert heranzugehen. Nicht zwischen seinem Saarbrücken-Adam und ihm, sondern ausgehend von Roland Schürk und dessen brutaler Gewaltbereitschaft seinem Sohn gegenüber. 

Er befürchtete, dass sich die Katastrophe von vor fünfzehn Jahren noch einmal wiederholen würde und dass es dieses Mal Leo Hölzer oder Adam selbst treffen würde. Vielleicht auch ihn, als Warnung und die Angst davor ließ Vincent in der letzten Zeit nicht gut schlafen. 
Ihr sorgfältig konstruiertes Kartenhaus hielt – noch. Leo Hölzer als Ausreißer war beunruhigend, aber bisher nicht derjenige, der sie zu Fall brachte. Vincent sah deutlich, wie sehr sich der andere Mann geändert hatte und Adam wie auch ihm zugewandter war als jemals zuvor. 

Nach der Zeit vor Weihnachten war das für Vincent immer noch ein Wunder, das er nicht so recht begriff und das er auch zum Teil auch misstrauisch beäugte. Obwohl Leo niemand war, der Gefühle spielen konnte. Obwohl Leo seine Emotionen auf der Zunge und auf dem Gesicht trug. 

Was passierte, wenn Boris Barns rechtskräftig verurteilt werden würde, das stand in den Sternen und Vincent hoffte wirklich, dass Adams Vater nicht die Kontrolle über sich verlor und Leo oder sein Team tötete. 
Das Verfahren war weit fortgeschritten und würde in den nächsten Wochen seinen Abschluss finden – dass Rahel Boris noch freibekommen würde, damit rechnete Vincent nicht. Nicht nach Tangermanns Aussage.

„Erde an Vincent.“
Vincent blinzelte und lächelte automatisch. „Entschuldige bitte, ich war in Gedanken.“
„Das bist du häufiger in letzter Zeit und versicherst mir wenig glaubwürdig, dass alles in Ordnung ist. Ich sehe deine Augenringe, das ist dir klar, oder?“
Betreten sah Vincent zu Boden. „Ja, ist es.“
„Also. Dann schaue ich mir das Ganze mal vor Ort an. Was machst du nächstes Wochenende?“
Etwas überfahren schoss Vincents Kopf hoch. So bald schon? Nächstes Wochenende? Er hatte doch noch gar keine Vorbereitungen…
„Nichts, aber…“
„Gut, dann komme ich.“
Überrascht starrte er Adam in die entschlossenen Augen. „Aber…“
„Freust du dich nicht, mich zu sehen?“, wurde er in jedwedem Widerspruch ausgebremst und Vincent schluckte. 
„Doch, selbstverständlich freue ich mich. Das ist nur so bald und ich habe nicht aufgeräumt.“
„Dafür hast du noch über eine Woche Zeit, außerdem nehme ich dich auch unaufgeräumt und staubig, das weißt du doch.“

Vincent verzog sein Gesicht. Männer in Adams Alter und ihr Humor, insbesondere dann, wenn sie für sich ihren zweiten Frühling entdeckt hatten. Schlimm, das. Er seufzte. 

„Also gut, nächstes Wochenende. Möchtest du etwas Spezielles machen?“
„Dich sehen und nach Strich und Faden verwöhnen.“

Ein warmes Kribbeln breitete sich trotz seiner Sorgen in Vincents Bauch aus. Er freute sich natürlich auf Adam und der Gedanke, seinen Partner in den Armen zu halten, seinen Körper an sich zu spüren, im völligen Fokus dieser wunderschönen Augen zu stehen, war das Beste, das Vincent sich vorstellen konnte. Er liebte ihre gemeinsame Zärtlichkeit und Adams trockenen Witz. 

„Ich freu mich“, murmelte er und sah zur Seite, als sein Handy klingelte. Leo? Vincent blinzelte und sah entschuldigend zu Adam. 
„Ich muss Schluss machen, die Arbeit ruft und anscheinend ist es dringend“, sagte er nicht ganz die Wahrheit, log aber auch nicht per se. Adam brummte und nickte. 
„Dann geh, wir sprechen uns später nochmal.“
„Liebe dich“, flüsterte Vincent und Adams Mimik leuchtete auf. 
„Liebe dich auch.“

So einfach war das. So schön war es. 

Vincent beendete die Verbindung und nahm ab, bevor Leo auflegen konnte. 

„Hallo Leo“, grüßte er zum Teil durchaus alarmiert und der Mann am anderen Ende der Leitung gab ein unsicheres Geräusch von sich. „Alles gut?“
„Können wir uns treffen?“ 
Überrascht hob Vincent die Augenbrauen. Das war das erste Mal, dass Leo es von sich aus erfragte und der Ton in seiner Stimme klang genau danach. So als ob er lieber alles andere lieber gefragt hätte als das. Als ob es ihm zuwider wäre. 

Vincent verübelte es ihm nicht, nicht nach allem, was passiert war. 

„Natürlich.“
„Wann?“
„Jetzt, wenn du magst.“

Es dauerte etwas, bis Leo seine Zustimmung hervorpresste, doch am Schluss verabredeten sie sich auf einen kurzen, einsamen Spaziergang auf der Strecke, die sie schon so oft miteinander gegangen waren. Unfreiwillig von Leos Seite her. Nun – gefordert von ihm. 

Vincent fuhr mit einem mulmigen Gefühl zu ihrem Treffpunkt. Er hielt an dem üblichen Parkplatz und wanderte ein Stück in den Wald hinein, sah, dass Leo bereits dort wartete. Beim Näherkommen erkannte er, dass der andere Mann seine Finger nervös knetete und anscheinend auch innerlich mit sich rang.
Ein ungutes Gefühl beschlich Vincent und für einen Moment befürchtete er, dass Leo etwas Dummes getan hatte. Doch als der andere Mann zu ihm aufsah und schüchtern wieder wegsah, verwarf Vincent den Gedanken teilweise wieder. 

„Hallo Leo“, grüßte er und setzte sich neben ihm auf die Bank. Erwartungsvoll musterte er den Ermittler, der ihm beständig und beharrlich auswich, jetzt, wo er da war. Spannend. 
„Hey.“ Sacht strich Vincent über Leos nackten Unterarm und wieder ruckte der Kopf zu ihm, wieder öffneten sich die Lippen, ohne etwas hervorzubekommen. „Was ist?“

Leo brauchte exakt zwei Ansätze, um ein flüchtiges „Warum nicht?“ herauszupressen, mit dem Vincent nun gar nichts anfangen konnte. Bevor er nachfragte, lehnte sich Leo jedoch grollend zurück und starrte ihm in die Augen. 
„Sein Vater hat vor seinen Augen seinen Freund brutal ermordet. Er schlägt ihn, seit er klein ist. Wieso ist er so stur und löst sich nicht von ihm? Wieso geht er nicht zur Polizei oder lässt zu, dass ich das mache? Ich kann ihm helfen“, fragte er frustriert und Vincent begriff, woher der Wind wehte. 

Adams Leid ließ Leo nicht los, den guten, gesetzestreuen Leo. Den sich sorgenden und kümmernden Leo, der in Adam nicht mehr das Monster vom Beginn sah, sondern das Opfer, das wohlversteckt hinter dem Monster sein Dasein fristete. 
Eben jener Mann versuchte, Gerechtigkeit zu bekommen und Vincent spürte den Drang des Ermittlers, Roland Schürk das Gesetz über zu stülpen und ihn für die Gewalt, die er an Adam verübt hatte, hinter Gittern zu bringen, beinahe körperlich. 

„Die jahrelange Gewalt und der Mord an seinem Freund haben ihn traumatisiert“, sprach er zum ersten Mal aus, was er bislang für die Welt um sich herum verschwiegen hatte. Erschrocken stellte er fest, wie sehr es ihn erleichterte, eben diese Worte laut sagen zu können und jemanden zu haben, der wusste, was passiert war und der sich ebenfalls sorgte. Aus ganz anderen Gründen, aber dennoch. 
„Damals hatte er keine Unterstützung bei der Polizei.“
Vincent lächelte traurig. „Und heute hat er sie bei dir? Er hat dir wehgetan, Leo, schon vergessen? Wir haben dir wehgetan.“

Sichtlich unwohl verschränkte Leo seine Arme vor der Brust. „Nein, ich habe es nicht vergessen. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Dafür habt ihr beide euch zu verantworten. Aber sein Vater…“ Leo verstummte und Vincent ahnte, was er eigentlich sagen wollte. 

„Sein Vater ist mächtiger, als du denkst, Leo. Er hat Mittel und Wege, die selbst unser System an Verknüpfungen in den Schatten stellen. Zudem hat er Adam nichts anderes als Gehorsam und Angst eingeprügelt, Jahr um Jahr. Du kannst ihn nicht innerhalb weniger Wochen da rauslösen, Leo. Egal, wie gut deine Absichten sind. Egal, wie fasziniert er von dir ist.“

Es war wieder eine der Wahrheiten, die Leo verlegen machten. Unwirsch entknotete er die Arme. „Ist er nicht“, log er dreist und Vincent seufzte. 
„Hmmh, klar“, erwiderte er ironisch und ertappt zog Leo den Kopf ein. 

„Leo, du interessierst Adam in verschiedenen Facetten schon seit dem ersten Tag an. Jetzt mehr als früher. Du weißt das, du siehst das. Du hast dich ebenso verändert und siehst ihn selbst anders an. Ich kann mich täuschen, aber jetzt interessiert er auch dich.“

Leos Kopf schoss hoch und er schnaubte verächtlich. Den Schutzreflex dahinter hätte Vincent problemlos auch ohne sein Studium erkannt. „Jetzt ist er einfach kein Arschloch. Und du im Übrigen auch nicht. So verhalte ich mich nun einmal Menschen gegenüber, die ne …normal sind.“ Nett hatte er sagen wollen und Vincent spürte ein hilfloses Kribbeln der Zustimmung in sich. Nett waren sie und in einem anderen Leben hätten sie Drei auch Freunde sein können. Vincent konnte sich das mühelos vorstellen. Ein Teil von Vincent wollte das auch sehr. 

Wie schwer Leo diese Selbstlüge fiel, erkannte er aber erst nach ein paar Sekunden und lächelte sanft. Er verstand Leos inneren Konflikt nur zu gut. Leos Verhalten gegenüber Adam ging etwas über reine Menschlichkeit hinaus, wessen sich Leo auch bewusst war. Dass dies mit Adams Anwesenheit in seiner Wohnung und damit auch seiner emotionalen Nähe begünstigt worden war, lag auf der Hand. 

„Ich hätte dich gerne anders kennengelernt“, gab Vincent zu und Leo erstarrte. „Aber trotz aller angenehmer Zeit, die wir miteinander verbringen, hast du immer noch ein Interesse daran, uns für das, was wir getan haben, zur Rechenschaft zu ziehen und das ist durchaus nachvollziehbar. Du stehst auf der richtigen Seite des Gesetzes, wir nicht. Bis es soweit ist, eine Entscheidung zu treffen, haben wir noch Zeit, aber diese ist nicht unendlich. Ich hoffe, dass wir Drei an dem Punkt dann auf die Zeit, die wir jetzt haben, zumindest mit Ruhe zurückblicken. Solltest du dich durchsetzen können mit deinem Wunsch, uns in Gefängnis zu bringen.“
„Ich will Gerechtigkeit“, murmelte Leo und Vincent nickte. Vor ein paar Monaten hätte der verängstigte und gequälte Ermittler dem Gefängnis zugestimmt, er hätte Rache geschworen und vollkommen anders reagiert als jetzt. 
„Absolut verständlich.“

Dass Roland Schürk seinen Sohn im Gefängnis weiter quälen, wenn nicht sogar umbringen würde, davon sagte Vincent nichts. 

Gemeinsam verfielen sie in Schweigen und Vincent nahm durchaus Leos Zögern und seinen inneren Kampf wahr, den er stumm austrug. 

„Weißt du, Leo, manchmal gibt es eben nicht nur schwarz-weiß, insbesondere dann nicht, wenn Emotionen im Spiel sind. Es ist in Ordnung, dass du auf Seiten des Gesetzes stehen möchtest, aber auch genauso in Ordnung, wenn du es dir erlaubst, in einer anderen Art und Weise über Adam oder mich zu denken. Wir sind eben nicht nur böse. Dennoch haben wir Dinge getan, die vielleicht nicht der Gesetzeslage entsprechen und bestraft werden müssen. Wir haben dir Dinge angetan, die illegal sind und die dir wehgetan haben.“

Überrascht schoss Leos Kopf hoch und seine Augen weiteten sich. Beinahe schon hilfesuchend musterte er Vincent, der innere Zwiespalt klar auf seinem Gesicht.  

„Es hat seine Berechtigung, was du fühlst und auch die positiven Dinge dabei sind vollkommen legitim. Sie machen dich nicht zu einem schlechteren Menschen oder einem Menschen, der beeinflusst oder gebrochen oder manipuliert ist. Du kannst genauso die Zeit mit uns genießen, wie du wütend sein oder uns hassen kannst. Alle diese Gefühle haben ihre Berechtigung. Für keines davon musst du dich schämen.“ 

Vincent sah, wie groß der Kampf in Leo war, den er mit sich ausfocht. Wie schmerzhaft es auch für ihn sein musste, die widerstreitenden Emotionen zuzulassen. „Ich sollte euch nicht mögen. Nicht nach dem, was ihr mir angetan habt.“

Oh. Vincent blinzelte ob der starken Bedeutung, die Leos Worte hatten. So direkt hatte er es noch nicht formuliert und es kribbelte in Vincents Magengegend bei dem Gedanken daran, dass Leo sie mochte. Adam und ihn. 

„Du magst uns? Adam und mich?“, hakte Vincent sanft nach und provozierte damit mehr Abwehr als alles andere. Verständlich. Dass Leo seine Worte nicht zurücknahm oder sie verneinte, war auch alles. Vincents Nachfragen schmeckte ihm aber nicht, als wäre er durch seine eigenen Wahrheiten selber überrascht worden. 

„Die Treffen…sie sind nicht mehr schlimm“, korrigierte er sich auf das, was am Ungefährlichsten schien und Vincent lächelte. Das war sehr tief gestapelt dafür, dass Leo locker und entspannt war. Dass er Adam Paroli bot und seinen besten Freund nicht mehr mit seinen teilweise kruden Ideen durchkommen ließ. 

„Das sollen sie auch nicht sein“, stimmte er zu und Leo strich sich über seine Unterarme, als wäre ihm kalt. 
„Ich kann helfen, Roland Schürk hinter Gitter zu bringen“, wechselte Leo abrupt das Thema und Vincent seufzte innerlich.

Zuerst wollte er den Vorschlag abtun, doch dann wurde ihm bewusst, dass genau das Leos Schutzreflex war. Der Ermittler in ihm gab ihm Sicherheit und eine Linie, er führte ihn durch das Chaos, das Adam und Vincent in ihm und seinem Leben angerichtet hatten. 
„Ich weiß, dass du dabei helfen kannst, Leo. Du bist ein ausgezeichneter Ermittler und hast ein tolles Team“, lobte Vincent ehrlich. „Vielleicht irgendwann.“

Wann das sein sollte, sah Vincent zwar nicht, aber er stimmte mit Leo darin überein, dass Adam bald aus den Fängen seines Vaters gelöst werden musste um nicht selbst getötet oder verstümmelt zu werden. 

„Hast du auch dafür gesorgt, dass Tangermann wieder zurückkehrt?“, fragte Vincent in die Stille zwischen ihnen beiden hinein und Leos Kopf ruckte zu ihm. Mit großen Augen sah der Ermittler ihn an, anscheinend überfahren durch die direkte Frage. Die aufkommende Verneinung erreichte zunächst die Lippen, dann auch die Augen, bevor Leo endgültig mit dem Kopf schüttelte. 

„Wie denn?“, fragte er und Vincent zuckte mit den Schultern. 
„Zusammen mit Weiersberger.“ 
„Nein“, presste Leo die Verneinung eine Millisekunde zu schnell hervor, als dass sie glaubwürdig gewesen wäre. 
„Leo…“
„Wirklich nicht.“
„Leo“, mahnte Vincent und es war gleichermaßen gut und erschreckend zu sehen, wie sehr Leo immer noch auf diesen bestimmten Ton reagierte. Wie nachhaltig er Leo auch jetzt noch prägte. Dass der andere Mann über eben jenen Ton wütend wurde, konnte er gut nachvollziehen. 

„Ich war es nicht“, grollte Leo. „Ich habe nichts dergleichen getan. Tangermann hat sich selbst gestellt und ich habe keine Ahnung warum.“ Wütend starrte er Vincent in die Augen, während dieser sich bewusst wurde, dass er nur für sich, aber  nicht für Weiersberger gesprochen hatte. Gut zu wissen. Es bestätigte, was Vincent bereits vermutet hatte.  
„Ich weiß nur, dass ich froh bin, dass es uns dadurch möglich ist, Barns des Mordes zu überführen, falls der Richter seiner Aussage Gewicht zubemisst.“

Ja, falls. Je nachdem wie unmöglich erfolgreich Rahel war, würde Boris Barns dennoch freikommen. So sehr Leo auch Recht mit seinen Worten hatte, so streng musste der Richter auch seinen eigenen Maßstab anlegen, was die Beurteilung der vorliegenden Fakten anbetraf. Es würde Roland Schürk beruhigen und Adam aus der direkten Schusslinie nehmen. 

Das, was Vincent daran Sorgen machte, war allerdings, dass der Einfluss von Boris auf Adam dann wieder stärker werden würde. Und damit auch die latente Unmenschlichkeit, die Boris seinem nicht verwandten Neffen von klein auf anerzogen hatte und die dank Leos und seinem Einfluss mehr und mehr in den Hintergrund getreten war.

Nicht zum ersten Mal kam in Vincent der Gedanke auf, dass es vielleicht doch gut wäre, Leo machen zu lassen. Auszusagen, Roland Schürk und Boris Barns ein für alle Mal das Handwerk zu legen und zu hoffen, dass Adam und er die Zeit im Gefängnis lebend überstanden. 

Oder aber sich rechtzeitig genug ins Ausland abzusetzen, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden ihnen nicht zu nahe kamen. Also nicht noch näher als jetzt. 
Vincent seufzte innerlich. Vermutlich würde Adam keine Zeit verlieren, Leo ebenfalls mit nach Kuba zu nehmen. Euphemistisch ausgedrückt. 

Leo würde es vermutlich verschleppen oder entführen nennen.


~~**~~


Entspannt lehnte Adam sich auf der fleckigen, durchgesessenen Couch zurück, sich innerlich vor dem Dreck ekelnd, der sich an seinen legeren und in die Jahre gekommenen Reporteroutfit heftete und ihn in seiner ganzen Person beschmutzte. Was erwartete er auch anderes von dem Mann, der sich als Junge schon mit gewalttätigem Dreck besudelt hatte, indem er andere, hilflose Jungen misshandelte und schlug? 

So wie Leo. 

Adam war immer noch wütend, so wütend über das, was er durch Leo erfahren hatte. Informationen über die Schulzeit der Beiden hatte er nur bedingt erhalten - da er Frau oder Herrn Hölzer nicht fragen wollte und Vincent ihm dazu geraten hatte, nicht an Leos Schule nachzufragen. Überhaupt hieß Vincent gar nicht gut, was er hier tat und deswegen hatte Adam auch Zarah mitgenommen. 

Zarah, seine Frau fürs Grobe, ein Mensch ohne Gnade, wenn es drauf ankam. Und hier würde er ihre Fähigkeiten mit Sicherheit brauchen. 

Adam sah sich im dreckigen, vermüllten Haus ihres gewaltbereiten Kunden um und lauschte dem nach Aufmerksamkeit geifernden Mann, wie er ihnen in der Küche drei Bier öffnete. Wie sehr man Menschen doch mit der Aussicht auf etwas Ruhm und Sadismus bekam. Und mit dem Versprechen nach Geld. Detlef Hofmann, der nach seiner Schicht und einem Besuch bei seiner Stammprostituierten nach Hause gekommen war, gesättigt und zufrieden, hatte ihnen ihre Reporternummer ohne nachzufragen abgekauft. 

Zwei Reporter auf der Suche nach Schmutz über den ihnen in die Quere kommenden Ermittler und sie blockierenden Leo Hölzer. Zwei gierige Reporter, denen gesagt wurde, dass Detlef Hofmann der Beste war, der etwas darüber sagen konnte, was für ein Versager Leo Hölzer eigentlich war. 

Adam hätte kotzen können, wie sehr Hofmanns Gesicht aufgeleuchtet war und wie bereitwillig er sie hineingelassen hatte. 

Gier, die Adam auszuradieren gedachte. 

Er wollte nur noch Angst in diesen wässrigen Augen auf dem verbrauchten Gesicht sehen. Er wollte die Panik vor seinen nächsten Handlungen sehen, damit dieses Arschloch einmal in seinem Leben begriff, dass er nicht die Oberhand hatte, nicht der Gewinner war und dass er mitnichten den versprochenen Lohn bekommen würde. 

Das, was Leo damals erspart worden geblieben war – eine weitreichende und sadistische Demütigung – wollte Adam dem Mann, der Leo so wehgetan hatte, tausendfach angedeihen lassen. 

Hofmann kam mit den drei Bier zurück und stellte die billige Plörre mit einem anzüglichen Grinsen vor Zarah und mit einem beeindruckten Nicken vor Adam ab, bevor er sich selbst auf einen Stuhl niederließ. 

„Hölzer…oh ja. An den erinnere ich mich. Eine Weichflöte, ein Streber, so ein Weicher, der immer geheult hat, wenn ich ihn mir vorgeknöpft habe. Der ist ein pissiger Feigling, der nicht zurückschlagen kann. Der ist handzahm, wenn man ihm ein bisschen öfter ins Gesicht schlägt.“ Hofmann lachte selbstzufrieden und trank einen großen Schluck Bier. Er rülpste laut und kratzte sich an seinen Eiern. Die Adam ihm am Liebsten abgerissen hätte. 

„Tatsächlich?“, hakte Adam nach und schlug sein kleines Notizbuch auf, eine exakte Kopie von Leos kleinem, schwarzen Notizbuch, das er anscheinend immer mit sich herumtrug. Er machte sich Notizen und schrieb dreimal, dass Hofmann ein blöder Wichser war, bevor er wieder hochsah.

„Was haben Sie denn noch mit ihm gemacht?“ Mit Mühe hielt Adam die Fangfrage aus seinem Ton heraus. Den Hass und Zorn auf einen Mann, der es gewagt hatte, Hand an Leo zu legen und ihm auch jetzt noch Alpträume bescherte. Der seinen hauseigenen Ermittler weinen ließ. 

„Ich hab seinen Kopf in der Toilette unter Wasser gedrückt, das war großartig. Er hat da immer so schön gegurgelt. Oder als wir die Elektrokabel aus dem Physikraum an ihm ausprobiert haben.“

Adam stellte fest, dass die Dreckssau ihn zwar ziemlich abgehärtet hatte, aber dass er nicht gegen das Mitgefühl und Mitleid immun war, die sich zu gleichen Teilen in seinem Magen ausbreiteten und ihn mit eiserner Faust verdrehten und ihm beinahe die Luft zum Atmen abschnürten. 

„Und er hat so schön geflennt, als ich ihm Regenwürmer in den Mund gestopft habe.“

Adam schrieb erneut in das kleine Notizbuch und atmete tief durch. Knapp nickte er dann Zarah zu und wie aus einem Guss erhob sie sich und zerrte das widerliche Drecksschwein in der gleichen Bewegung von seinem Stuhl, presste ihn zu Boden und verdrehte seine Arme einen nach dem anderen in einem schmerzhaften Griff. 

Voller Überraschung schrie Hofmann auf – ungehört von den weit entfernten Nachbarn, mit denen er es sich wahrscheinlich an Tag eins verscherzt hatte. 

„Was zur Hölle, was soll das?“, schnaufte er empört und schrie gleich nochmal wie ein kleines Kind, als Zarah ihn schmerzhaft in die Höhe brachte, ihm aber mitnichten Raum zur Gegenwehr ließ. Adam liebte es, ihr zuzusehen, seiner Rache auf zwei Beinen und den pechschwarzen Haaren. 

„Hast du gut gemacht, Detlef. Ganz toll“, grinste er teuflisch und ließ jede Fassade von sich abfallen. Er zeigte Zähne, er bleckte sie, er gab einen Blick auf das frei, was kommen würde. 
„Danke für deine ausreichenden Informationen über das, was du Leo Hölzer angetan hast. Aber soll ich dir was gestehen? Dummerweise bin ich gar kein Reporter und dummerweise sind meine Freundin hier und ich gar nicht hinter einer schlimmen Story über Leo Hölzer her. Ich wollte nur wissen, was du ihm angetan hast und dir mitteilen, dass ich es nicht gerne sehe, wenn man sich an meinem Eigentum vergreift.“

Wie gut, dass Leo nicht hier war um das zu hören. Mit Sicherheit war der andere Mann nicht sein Eigentum und würde Adam entsprechend einen Kopf kürzer machen, aber er würde nicht zulassen, dass dieser Wichser Leo mit ihm in emotionale Verbindung brachte, wenn Adam mal nicht mehr sein sollte. 

Das Begreifen auf dem roten Gesicht des Mannes war köstlichster Nektar für Adam und er trieb dem widerlichen Stück Scheiße seine Faust in die Niere. Dreimal, bevor er das wimmernde, bettelnde, jaulende Stück Dreck am Boden betrachtete. 

Wenn Adam seine Wut von der Kette ließ, würde er zutreten und nicht mehr aufhören. Doch das wollte er nicht. Hofmann hatte einen anderen Zweck zu erfüllen und für den musste er relativ unversehrt, aber voller Angst sein. 

Adam packte den anderen Mann bei seinen Haaren und zog ihn daran hoch. 

„Und jetzt reden wir mal über das, was du getan hast und tun wirst“, raunte er in die beginnende Panik seines Opfers hinein. 


~~**~~


„Vertraust du mir?“

Zweifelnd sah Leo von Adam zu dem Gegenstand, den dieser in der Hand hielt. Pointiert hob er seine Augenbrauen und am Liebsten hätte er laut und deutlich nein gesagt. 

Eine Augenbinde. 

Vor Monaten wäre das undenkbar gewesen. Und nun? Nun provozierten Adams Unruhe und seine Hibbeligkeit mühelos Leos Neugier. 

Adam war noch nie so sprunghaft in seinen Bewegungen gewesen und ein Teil von Leo wollte wissen, was Sache war. Ein anderer Teil von ihm war ebenso aufgeregt, denn die Augenbinde war neu, sie raubte ihm die Kontrolle und sie brachte ein Kribbeln mit sich, das er sich durchaus erklären konnte.

In einem anderen Kontext. Aber nicht in diesem.

„Was hast du vor?“, fragte Leo kritisch und Adam rollte mit den Augen. 
„Nur das Beste. Ich hoffe, dass es dir gefallen wird!“

Kurz huschten Leos Augen zu Vincent, der mit versteinert-neutraler Miene neben Adam auf dem Beifahrersitz saß und sich nicht in das Gespräch einmischte. Keine Information war aus ihm heraus zu bekommen, keine Reaktion vor allen Dingen. 

„Willst du dich für die Befragung rächen?“, äußerte Leo die für ihn naheliegendste Vermutung und stieß auf knurrige Ablehnung. 
„Ich will dir was Gutes tun und jetzt hör auf, Vincent anzustarren, der wird dir nicht helfen.“

Was leider sehr wahr war und Leo schürzte unsicher die Lippen. Die Woche war gut gewesen, er war durchaus entspannt. Die Kontrolle derart abzugeben und dann auch noch von Adam irgendwo hingefahren zu werden, war dennoch etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte und auf das er sich einstellen musste. 

„Na gut“, stieß er schlussendlich hervor, bevor er es sich anders überlegen konnte und streckte seine Hand verlangend nach dem länglichen, schwarzen Stück Stoff aus. Er zögerte, bevor er sie sich selbst anlegte und seine Welt in ein überraschend dichtes Schwarz tunkte. 

„Gut siehst du aus“, hörte er das Grinsen aus der Stimme des blonden Mannes und grollte. Blind haschte er nach dem Gurt und schnallte sich an, lehnte sich angespannt zurück. Adam würde doch nichts tun, oder? Nicht nach all der Zeit. Und er würde ihn auch nicht seinem Vater ausliefern. Oder andere Dinge tun. Dessen war sich Leo sicher. Also grundsätzlich. 

Während sie losfuhren war Leo hin- und hergerissen von seinen Gedanken an Horrorszenarien, die allesamt darauf hinausliefen, dass Adam doch der Psychopath war, dem Leo ihn zu Beginn unterstellt hatte und gleichermaßen an aufregenden Möglichkeiten ihres samstäglichen Treffens. Vermutlich war es etwas vollkommen Harmloses und er machte sich umsonst Sorgen und Hoffnungen. 

„Das solltest du öfter machen. Einfach mal loslassen“, kam der Lifecoach vom Fahrersitz damit in Fahrt, ihm kluge Ratschläge geben zu wollen. 
„Keine Sorge, das passiert schon.“
„Wann?“
„Wenn ich schlafe.“ 
„Langweiler.“
„Schau den an, der das sagt.“
„Mit dem Anschauen ist es ja nicht ganz so weit her, nicht wahr? Außerdem bin ich nicht langweilig. Noch nie gewesen.“

Leo gab ein unbestimmtes Brummen von sich. Nein, das war Adam mit Sicherheit nicht. Langweilig wäre niemals eines der Attribute gewesen, mit denen er für Adam ins Rennen gegangen wäre. Alles andere als das. Dabei war langweilig manchmal gar nicht so verkehrt – befand Leo. Ein Nachmittag auf der Couch mit Serienmarathon war gut. Entspannend. Loslösend. 

„Wie lange noch?“, fragte er in die aufkommende Stille und rieb seine etwas klammen Finger an seiner Jeans ab. Das vertraute Gefühl des rauen Stoffes beruhigte ihn, insbesondere jetzt, als er erst verspätet eine Antwort bekam. 
„Bald“, sagte Adam kryptisch und das war so gar nichts, was Leo auch nur in Ansätzen vorbereitete. 
„Wann ist bald?“
„In Kürze.“
„Wann?“
„Sei nicht so neugierig.“
„Ich bin nicht…“
„Du bist süß, wenn du so unsicher bist.“

Empört schnaufte Leo. „Ich kann mir die Augenbinde auch abnehmen.“ Süß, als wenn. Außerdem war er nicht unsicher, was sollte das? Das war doch wieder eine von Adams Provokationen, mit Sicherheit war sie das. 
„Nein, die bleibt dran!“
„Ach? Wie willst du mich hindern?“
„Dann bleibe ich einfach stehen und wir verbringen den ganzen Tag hier, mitten auf einer nichtssagenden Landstraße in einem nichtssagenden Abschnitt vom Saarland. Für dich mache ich auch die Klimaanlage aus, damit du’s dann schön kuschelig haben wirst.“

In Anbetracht der Tatsache, dass Adam noch ganz andere Dinge wahrgemacht hatte, die er versprochen oder eben auch nicht versprochen hatte, nahm Leo die Drohung ernst und behielt seine Hände brav auf seinen Oberschenkeln. Die Aussicht, den ganzen Tag im Auto zu verbringen, war nicht das, was Leo sich für diesen Tag vorgestellt hatte, und durch die Kindersicherung würde er auch nur dann den Wagen verlassen können, wenn er mit Adam um die Entriegelung kämpfte. 

Als ihm die darauffolgende Stille zu vielsagend wurde, verschränkte er die Arme und ließ sich an die Lehne zurückfallen, lauschte dem Rauschen des Wagens und wachte erst aus seiner Halbtrance auf, als der Wagen zum Stehen kam. 
„Schön sitzenbleiben“, befahl Adam und seine Stimme klang viel zu samtig, als dass Leo dem nicht unterbewusst Folge leisten würde, sich darüber ärgernd, dass es Adam so leicht gelang, ihn damit zu manipulieren.

Die Tür an seiner Seite öffnete sich und Adam berührte ihn an seiner Hand. Auch wenn dessen Finger schon einmal auf Leos gelegen hatten, so war es dieses Mal um ein Vielfaches intensiver und zum Teil auch schlimmer. Eben weil er nichts sah und seine anderen Sinne auf Hochtouren liefen um die vermeintliche Gefahr auszugleichen. Oder sich – was noch viel schlimmer war – auf die sachte Berührung zu konzentrieren.

„Komm, ich führ dich“, behielt Adam jenen beruhigenden Ton bei und Leo schnallte sich nach ein paar Sekunden Zögern und anschließendem blinden Tasten ab. Adam löste sich von ihm und trat anscheinend einen Schritt zurück, damit Leo sich aus dem Wagen kämpfen konnte. Wieder waren da Adams Hände und natürlich nutzte der blonde Mann Leos Zustand aus, um ihn an seinen Händen zu greifen. 

Den selbst erwählten. Er hätte ja auch nein sagen können. Hatte er aber nicht. Auch nicht zur Augenbinde. Leo seufzte innerlich. Warm waren die Finger, die seine umfassten und ihn Schritt um Schritt vom Wagen wegführten. 

Leo schnupperte. Es roch leicht modrig, so wie in dem Bunker in Frankreich. Dass es ein weiterer Bunker war, schloss er aus, dafür war der Hall ihrer Schritte zu dominant. Hier gab es eine hohe Decke und weit entfernte Wände. 

„Wo sind wir hier?“, fragte er in die Dunkelheit hinein und erntete dafür ein derart vorfreudiges Lachen, dass es ihm einen Schauer über den Rücken trieb. Es erinnerte ihn an den alten Adam, an den Spieler und den latenten Sadisten. 
„Wirst du gleich sehen.“

Warum das wie eine Drohung klang, war Leo nicht ganz klar. Sein Instinkt meldete sich jedoch prompt und seine Nackenhaare stellten sich auf. Ein warnendes Prickeln kroch seine Wirbelsäule empor und gleichermaßen unwohl wie unsicher blieb Leo stehen. Er wollte seine Hände aus Adams lösen und sich selbst ein Bild von der Lage machen, doch Adam kam ihm zuvor und seufzte. 

„Alles wird gut, in Ordnung? Es ist nichts Schlimmes. Du wirst es gleich sehen.“

Weg war der latente Sadismus und zurück war die Sanftheit. Wie damals am See. Etwas in Leo wurde weich und nachgiebig dabei und etwas glaubte Adam das, was er sagte, nahtlos. Er nickte blind und ließ sich weiterführen, bis Adam ihn nun wirklich zum Stehen brachte. 

„Ich löse dir die Augenbinde“, raunte er Leo keine zwei Sekunden später ins Ohr und Leo schauderte. 
„Okay.“

Das Schwarz um ihn herum verschwand und Leo blinzelte. Das Licht in der verlassenen Lagerhalle mit dem baufälligen Dach war gedämpft, aber im ersten Moment stach es ihm trotzdem in die Augen. Unwirsch schirmte Leo seine Augen ab und sah dadurch auch erst beim zweiten Hinsehen den knienden Mann mit dem gesenkten Kopf und den fettigen Haaren, der sich unweit vor ihm befand. 

Ruckartig wandte Leo sich an Adam, während sein Magen sich eisern zusammenkrampfte. Sein Instinkt schlug nun voll aus und schrie ihn an, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Nahtlos trat der private Leo zurück und der Ermittler kam in ihm hervor, übernahm die Führung. Er sah zu Vincent, der ihn mit fest zusammengepressten Lippen musterte und dessen Wissen um das, was hier geschehen würde, Leo fast verrückt machte.  

„Wer ist das und was soll das?“, fragte er streng und sah in dem Moment zurück zu dem Mann, als dieser den Kopf hob und ihn wässrige Augen anstarrten. 

Voller Furcht und Hoffnung, etwas das Leo nur zu gut kannte. Nicht auf dem Gesicht des Mannes vor ihm, nein, sondern auf seinem eigenen, wie ihm mit einem schmerzhaften Ruck bewusst wurde. 

Den Mann würde er überall und immer wieder erkennen. Er sah dessen Gesicht in manchen Wochen beinahe jede Nacht vor sich, über sich, hörte die gehässige, schlimme Stimme, die noch viel schlimmere Dinge sagte. Leo konnte sogar die Fäuste des Mannes bestimmen, mit dem er verprügelt worden war, als wäre es gestern gewesen. 

„Detlef?“, fragte er rau und seine Stimme brach im Angesicht aller Emotionen, die ihn nahtlos überrannten, allem voran Panik und Unglauben.

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 40: Rache, heißkalt serviert

Notes:

Hallo, einen guten Abend und einen guten Start in die Woche euch allen. ✌️

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und Fluchen! Der Slowburn-Anteil der Geschichte nähert sich langsam seinem Ende und macht Platz für etwas...Anderes. 😉

Die Dreharbeiten sind im vollen Gang und die Herren lassen sich nicht lumpen mit freien, muskulösen Oberkörpern. Wer Lust hat, am Ball zu bleiben, der kann einen Blick hierhin werfen. Bislang ist die Fundquote neuer Infos ziemlich gut.

Deswegen: viel Spaß beim gemeinsamen Mitfiebern und Mitgucken der Schnipsel!

Ach ja. Und...40 Kapitel! *tröööööt* 🥳 Vielen lieben Dank euch allen fürs Durchhalten, Lesen, Kommentieren, Kudotieren....!

Chapter Text

 

Der Mann vor ihm war unzweifelhaft Detlef Hofmann, der ihn über Jahre hinweg gequält hatte. Ebenso unzweifelhaft kamen die Erinnerungen und Leo wurde innerhalb von Sekunden überrollt von Dingen, die er schon längst vergessen geglaubt hatte. 

Blind starrte er auf den knienden Mann und je länger er unfähig war, sich zu regen und etwas zu sagen, umso drängender kam Leo der Gedanke, dass es wieder so werden würde wie damals. Sie würden ihn quälen und er wäre machtlos. Drei Männer gegen ihn…sie würden… wie in der Schule…nach dem Unterricht und in den Pausen…

Leo schluckte und holte sich mit Gewalt aus seinen zerstörerischen, beinahe schon panischen Gedanken. Alle drei Männer hatten ihn gequält, sie hatten ihm wehgetan, das stimmte. Zwei der drei Männer hatten sich dafür entschuldigt und versuchten nun, was sie ihm Schlechtes angetan hatten, wieder gut zu machen. Außerdem wusste er, dass er sich nun verteidigen konnte. Gegen Detlef und auch gegen Adam, denn er war weitaus stärker als noch vor Weihnachten. Er trainierte wieder. Er schlief besser. Er aß mehr. Er wusste, wie man Schläge abwehren und selbst Schläge austeilen konnte. 

„Möchtest du diesem Schwein was sagen, Leo?“, fragte Adam und verständnislos wandte Leo den Kopf zu dem Mann der Unmöglichkeiten. Die Sanftheit auf Adams Gesicht sprach ebenfalls eine eindeutige Sprache, dass er Leo nicht wehtun würde – im Gegensatz dazu, dass Detlef und seine Clique es immer wieder getan hatten.
„Was sagen?“, echote er verständnislos und Adam nickte knapp zu dem Mann auf dem Boden. 
„Ja, er ist hier, um zuzuhören und anzunehmen, was du zu geben bereit bist.“ 

Adam schnarrte das letzte Wort nur so heraus und Leo fröstelte es. Es lag das Versprechen auf Gewalt darunter und auf Sadismus. Der alte Adam kam zum Vorschein und der machte Leo in dieser Situation Angst. Dass diese unbegründet war, erkannte er, ebenso wie die Tatsache, dass der alte Adam ihm hier nicht schaden wollte. 

„Hast du ihn dafür hierher gebracht?“, fragte Leo rau und Adam bejahte nonverbal so selbstzufrieden wie eine Katze, die ihrem Besitzer ein Geschenk gebracht hatte. Eine tote oder halb lebende, blutige, zitternde Maus. Stolz auf sich und das Geschenk, aber ohne Verständnis, dass das ekelhafte Ding keinen Gefallen fand. 

Leo blinzelte. Es war genau das. Adam warf ihm seinen Peiniger aus Jugendtagen vor die Füße und das, weil Leo ihm gesagt hatte, wie sehr er unter dem Mann gelitten hatte. Er begriff, dass das hier ein Geschenk für ihn war, es war Adams Vorstellung von Wiedergutmachung für ergangenes Unrecht. 

Kurz huschte Leos Blick zu Detlef, doch ins Gesicht sehen konnte er dem Mann nicht. Viel zu angeekelt war er davon. Viel zu sehr kratzte die in ihn hineingeprügelte Angst an seiner Ruhe und seinem Erwachsenendasein.  

Viel sicherer und… angenehmer war da Vincent, der ihn mit Ruhe und Zuversicht musterte. Er lächelte und nickte unmerklich, als würde er Leo beruhigen wollen, dass alles gut werden würde. 

Es machte den Aufruhr in seinem Innerem nur marginal besser. 

Leo schüttelte den Kopf und fuhr sich über das Gesicht, raufte sich die Haare. Er trat einen Schritt zurück, drehte sich weg von dem Monster, hin zu der ruinösen Halle. Die Decke war löchrig und wenn sie Pech hatten, auch noch einsturzgefährdet. Sie war ebenso gefährlich wie das, was Adam hier tat. 

Leo streckte sich, machte sich körperlich größer und stemmte seine Hände in die Hüften. Er legte den Kopf in den Nacken, als könne ihm die Weite der Halle und der punktuelle Blick in den Himmel eine Antwort geben. 

Oder Luft zum Atmen. 

War das Adams Vorstellung des quid pro quo? Leo kümmerte sich um seinen Vater und ließ nicht locker, versprach, ihn zu schützen, und Adam schaffte dafür Detlef hierher? Was hatte er ihm überhaupt angetan, dass er das so bereitwillig…

Leo fror ein, als ihm die Tragweite seines Gedankens bewusst wurde. Detlef tat das hier mit Sicherheit nicht freiwillig. Mit Sicherheit hatte Adam irgendetwas getan, das illegal war und damit sich und auch Leo in Gefahr gebracht. Was, wenn Detlef zur Polizei ging? Was, wenn er sie anzeigte? Mittäterschaft würde Leo den Kopf kosten, noch mehr, als es jetzt schon der Fall war. 

Entschlossen straffte er die Schultern und drehte sich zu den Männern zurück. Fest sah er Adam in die Augen, der ihn mit ruhiger Zufriedenheit und Stolz im Gesicht musterte. Leo beschloss, dass wütendes Schreien seiner Position mitnichten helfen würde und atmete tief durch; knapp nickte er in seine Richtung. Adam lächelte dunkel ob des unausgesprochenen Befehls und streunte lasziv zu ihm. 

Viel zu knapp vor ihm blieb er stehen und sah Leo durchdringend in die Augen. „Was ist los, gefällt dir dein Geschenk nicht?“, gurrte er laut genug für alle Personen in der Halle und Leo begriff, dass das hier Show war. Für Detlef, nicht für ihn. 
 
„Was soll das, Adam? Was hast du ihm angetan, dass er das da macht?“, zischte Leo im Gegensatz dazu leise, um zumindest ein Mindestmaß an Privatsphäre zu haben, und deutete auf Detlef. „Das macht der doch im Leben nicht freiwillig.“
„Jetzt schon“, schmunzelte sein Gegenüber mit viel zu viel Stolz auf seine Arbeit und Leo ballte seine Hände zu schmerzhaften Fäusten. 
„Jetzt? Was hast du ihm angetan?“

Adam legte den Kopf schief und Leo hatte das Gefühl, dass sich gleich ihre Nasen berühren würden, würde Adam noch ein Stück näherkommen. „Willst du das wirklich wissen oder würde das dein Polizistengewissen zu sehr belasten? Also nicht, dass ich was dagegen hätte, dass du mir sexy Handschellen anlegst, aber ich glaube, Vincent würde das eher weniger gefallen.“

Leo grollte – erzwungenermaßen leise, dafür umso wütender. „Das ist nicht der richtige Augenblick dafür!“
„Oh, heißt das, es gibt einen, der besser wäre?“ Adams Augen leuchteten vor Vorfreude auf und Leo erkannte seinen groben Fehler.

Adam war unmöglich. Wirklich. Zähneknirschend schüttelte Leo den Kopf. „Lenk nicht ab vom eigentlichen Thema! Was hast du ihm angetan?“
„Nichts, was ihn umbringt. Aber er hat eben den Fehler gemacht, mir stolz davon zu erzählen, was er dir alles getan hat. Das konnte ich nicht ungesühnt lassen. Außerdem habe ich sein Gesicht verschont. Gibt das Bonuspunkte?“

Mit Horror erkannte Leo den schweren Sinn hinter den Worten. Adam wusste, was Detlef getan hatte. Er war noch gläserner als nach ihrem nächtlichen Gespräch und seinen schnell hervorgepressten Worten. Adam kannte seine dunkelsten Stunden und wer wusste schon, wie Detlef es ihm erzählt hatte. Dinge, die die Grundlage für Leos Trauma waren, lagen brach und sichtbar zwischen ihnen. Auf dem Präsentierteller eines Mannes, der ihm noch vor Monaten selbst Gewalt angetan hatte. 

Zu Beginn ihres Kennenlernens hätte Adam das als Idee genommen, ihn damit zu quälen und auch jetzt wogte kurz eine Unsicherheit in ihm hoch, ob das nicht noch passierte. Die Welle ebbte schneller ab, als sie eigentlich sollte und wurde ersetzt durch etwas, das sich verdächtig nach Vertrauen anfühlte. 

Anscheinend stand sein innerer Kampf auf seinem Gesicht, denn Adams Mimik wurde sekündlich weicher. 

„Machst du dir etwa Sorgen um ihn?“, fragte er und Leo schüttelte entschieden den Kopf. 

„Ich wollte nicht, dass es jemand weiß“, murmelte er rau. „Selbst meine Eltern oder Caro wissen nicht alles. Es ist Jahre her und vorbei, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Aber jetzt bist du da und weißt, was er getan hat.“
„Und das ist schlimm?“
Leo nickte mit großem Kloß im Hals. Weil er dadurch schwach war und wirkte. Erneut. Weil es Dinge waren, die ihn demütigten, auch heute noch. Er schauderte, doch nicht von der Kühle der Halle. 

Ernst huschte über Adams Züge und Leo spürte, wie seine zur Faust geballten Finger für einen kurzen Moment sacht umfasst wurden, ungesehen und verdeckt von Adam. Wieder eine Berührung. Wieder etwas, das Leo akzeptierte, auch wenn er es nicht sollte. Das Schlimmste daran war vielleicht, dass es auch noch half. Ihn beruhigte. Ihn erdete.

„Das, was er dir angetan hat, ist bei mir genauso sicher wie das, was die Dreckssau mir angetan hat, bei dir.“ 

Beinahe wäre Leo bei Adams sanften Worten zusammengezuckt, so unvorbereitet erwischten ihn diese. Adams Geheimnis war bei ihm nicht sicher. Die SoKo wusste davon. Er hatte keine Sekunde gezögert und das Wissen um Roland Schürks Grausamkeit weitergegeben. 
Der ehrliche Mann in ihm, der, der Adam wirklich helfen wollte, begehrte auf und wollte Leo verneinen lassen. Dieser wollte Adam die Wahrheit sagen. 

Leo erstickte diese Seite in sich so schnell es ging. Damit würde er alles kaputt machen. Das würde in einer Katastrophe enden.

Um Zeit zu gewinnen, seufzte er. 

„Was hast du ihm angetan?“, besann er sich deswegen auf das eigentliche Thema und nun war es an Adam, einen Augenblick lang zu zögern. Dann kam er mit sich anscheinend zu einem Schluss und zuckte mit den Schultern. 
„Ein paar Schläge, etwas Wasser aus seiner eigenen Toilette, etwas Druck hier und dort“, euphemisierte Adam sehr deutlich das, was er getan hatte und Leo grollte unerfreut. Das war nichts Anderes als Folter, das Adam hier beschrieb. Das konnte er nicht gut finden. Das sollte er nicht gut finden. Eigentlich musste er es ganz klar verurteilen. Er musste tätig werden.  
 
„Das ist Körperverletzung. Was, wenn er Strafanzeige stellt? Das wird dich ins Gefängnis bringen, wenn er ins Krankenhaus geht und sie die Beweise aufnehmen.“

Also das, was Leo nie getan hatte. Anstelle dessen hatte er sich beim Duschen eingeschlossen und selbst im Sommer langärmelige Shirts getragen, den Schwimmunterricht immer dann mit fadenscheinigen Ausreden geschwänzt, wenn sein Körper zu viele Prügelspuren aufgewiesen hatte, die selbst durch die Lehrer und Lehrerinnen nicht mehr übersehen werden konnten. 

Gespenstische Stille herrschte zwischen ihnen, bevor sich schlussendlich Adams Mimik änderte. Sein Gesicht erhellte sich und die Vorfreude in den blauen, so durchdringenden Augen schickte Leo nahtlos einen Schauer über den Rücken. 
 
Wie falsch es war, was er gesagt hatte, erkannte er mit plötzlich trockenem Mund.  

„Du hast Sorge, dass ich ins Gefängnis komme“, stellte Adam langsam, Silbe für Silbe fest und Leo knirschte mit fest aufeinander gepressten Zähnen, auch wenn das im Moment nicht annähernd ausreichend war um sein Missfallen auszudrücken. Über sich, seine Dummheit, Adams richtige Fehlannahme und die Gesamtsituation. 

„Nein“, behauptete er erfolglos, denn seine Antwort hatte den selektiv hörenden, dabei auch noch intelligenten Syndikatsspross auf eine Fährte gebracht, die er schwerlich wieder verlassen würde. Leo sah es in Adams Augen, er sah es in dessen Entschlossenheit.

„Doch doch…ich spüre es genau, du machst dir Sorgen um mich, dass ich ins Gefängnis wandere. Hierfür. Was ist denn mit den anderen Dingen, für die du mich einknasten willst? Machst du dir da keine Sorgen? Hast du deine Meinung geändert? Los. Sag’s!“

Den anderen Dingen. Der Erpressung. Dem Leid, das er in Leo verursacht hatte. Daran hatte Leo keine Sekunde gedacht - bis jetzt und umso wärmer wurden seine Wangen bei der Bedeutung, die es hatte. Sein voreiliges Mundwerk. Sein verfluchtes, voreiliges Mundwerk, das vollkommen außer Acht gelassen hatte, was noch zwischen ihm und dem Syndikatsspross stand.

„Adam!“, knurrte Leo und dieser wackelte mit den Augenbrauen. 
„Ooh.“

Schneller, als Leo es verhindern konnte, hatte eben jener ihm einen feuchten Kuss auf die Wange gepresst und drehte sich zurück zu Detlef. Verhinderte damit, dass Leo auch nur den Hauch einer Chance erhielt, noch etwas zu sagen oder anderweitig zu reagieren. 

Energisch presste Leo seine Lippen aufeinander, denn alles, was sie verlassen hätte, wäre der Situation nicht zuträglich gewesen. Zumal er Vincents aufmerksame Augen auf sich spürte und ihn pointiert ignorierte. Er wollte sich dem, was er darin sah und was ihn widerspiegeln würde, mit Sicherheit nicht stellen. Jetzt nicht und später…vielleicht auch nicht.  

„Detlef“, gurrte Adam in diesen Versuch hinein und Leo zuckte unisono mit dem knienden Mann zusammen. „Sag meinem Polizisten hier doch mal, was dir so durch den Kopf geht, wenn du ihn siehst.“

Er war verdammt nochmal nicht Adams hauseigener Polizist und das Possessivpronomen konnte Adam sich auch in die Haare schmieren. Innerlich verfluchte Leo Adams Drang des Besitzergreifens, insbesondere vor dem Mann, der… 

Eisern würgte Leo sich ab und konzentrierte sich wieder auf die Situation vor ihm, die alles war nur nicht beherrschbar.

Mit Adam würde er später sprechen. Wichtig war, dass er diese Situation hier aufgelöst bekam. 

„Ich…möchte mich entschuldigen“, presste die so verhasste Stimme hervor, die Leo am Liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Wie oft hörte er die jüngere Version noch in seinen Träumen? Wie oft lachte der Mann dort manisch? Lachte ihn aus, spottete über ihn? Wie Nägel auf einer Kreidetafel kratzte die Stimme an Leos Selbstbeherrschung und nichts konnte ihm die Wut nehmen, die in ihm aufwallte. 

Entschuldigen wollte der Mann sich? Natürlich, nachdem es erzwungen worden war. Nachdem Adam nachgeholfen hatte. Machte es das, was geschehen war, wieder gut? Nein. Niemals.

„Weiter…“ Ebenso bedrohlich wie verführerisch klang Adams Stimme und Leo konnte sich selbst nicht gegen den Sog dieses Tons erwehren. Er erinnerte sich noch sehr gut, als er gedacht hatte, dass Adam ihm die Finger abhacken würde für seine Frage nach der Tatwaffe. Er erinnerte sich sehr gut an den Ton der Stimme und seine eigene Angst. 

„Für…alles. Für die Gewalt. Und…und die Gemeinheiten…und die Beleidigungen… und die…D…Dis…kriminierung…“

Jede Silbe war gelogen, erzwungen, erpresst und es macht Leo so wütend wie schon lange nicht mehr. 

Wütend trat er einen Schritt nach vorne, hielt sich körperlich von dem zweiten ab. „Halt deine Fresse“, grollte er und Detlef zuckte vor ihm zurück, als hätte er ihn geschlagen. Einmal in seinem Leben machte er dem Scheißkerl hier Angst, nachdem er so viele Male selbst vor lauter Panik sich nicht mehr zur Schule getraut hatte. 

„Deine Entschuldigungen sind erstunken und erlogen. Dich hat es jahrelang nicht interessiert, was du mir antust, wie es mir geht und was es für mich bedeutet, was du mir antust. Du hast dich daran aufgegeilt, was du getan hast! Du hast gelacht, gespottet, du hast Fotos gemacht! Du hast dir einen Spaß daraus gemacht, mir aufzulauern. Es war erst vorbei, als meine Eltern eingeschritten sind und du und deine Clique einen Schulverweis bekommen haben. Erst dann konnte ich aufatmen. Erst dann bin ich zur Schule gegangen ohne davor Angst haben zu müssen, dass du mir in den Pausen oder nach der Schule auflauerst!“ 

Leo wurde lauter, je mehr Worte über seine Lippen drangen, ungehemmt und ungesagt – bis jetzt. Eigentlich war er doch damit ausgekommen, es zu verdrängen und zu schweigen, warum tat er es jetzt nicht? Es war doch vorbei. Sie waren erwachsen und lebten ihre Leben ohne Berührungspunkte.

Und doch belastete es Leo noch so sehr, dass er auch heute noch Alpträume davon hatte. 

„Nur weil er dich dazu gezwungen hat, heißt das nicht, dass du es fühlst und dass du wirklich bereust, das kannst du nämlich nicht, du sadistischer Psychopath!“

Detlef kauerte sich zusammen, während Leo ihn anschrie. Er schützte seinen Kopf und wimmerte und es juckte Leo in den Fingern, ebenfalls zuzuschlagen. So oft Detlef es auch getan hatte. Es juckte ihm in den Fingern, ihm alles heimzuzahlen, was dieser jemals getan hatte, jetzt, wo die Narbe aufgebrochen war und der jahrelang angesammelte Eiter herausfloss. 

Ekelhaft, stinkend, aber auch…gut. Erlösend. Befreiend. Ihm Schmerz nehmend, von dem Leo bis gerade eben nicht gewusst hatte, dass er noch unter seiner Haut lauerte. Schmerz, der sich wohl versteckt hatte unter seinen Bewältigungsstrategien des jahrelangen Missbrauchs. 

Die Hand auf seinem Arm ließ Leo erschrocken zusammenfahren und mit großen Augen sah er zu Vincent, der ihn ernst und fragend musterte. Beinahe in Sekundenschnelle ankerte er ihn in seinen wilden Rachefantasien und Leo fletschte die Zähne. 

„Ich will ihm nicht verzeihen. Ich kann ihm nicht verzeihen, nicht nachdem, was er getan hat!”, presste er hervor und verfluchte sich dafür, dass Vincent ihn immer noch problemlos zum Sprechen brachte. Insbesondere in solch einer Situation. „Ich sehe auch nicht, warum ich ihm verzeihen sollte! Nur weil Adam ihm was auch immer angetan hat?“

„Ich mach das freiwillig! Wirklich!“, jaulte Detlef dazwischen und seine Verzweiflung war so immanent, dass Leo ihm seine Lügen am Liebsten zu fressen gegeben hätte. Adam hatte ihn in der Mangel gehabt, das stand in Neonlettern über seiner devoten Gestalt, die sonst alles war, nur das nicht. 

„Wenn du das nicht möchtest, Leo, dann besteht kein Zwang, es zu tun“, sagte Vincent ruhig und ernst. Wieder strich seine Hand über Leos Arm, wieder erdete Leo der Kontakt mehr als alles andere. „Du bist nicht gezwungen, dem Mann, der dich gequält hat, irgendetwas zu geben. Du kannst ihn ignorieren, du kannst ihn anschreien, du kannst ihm Dinge antun, solltest du das wollen. Das ist alles in Ordnung. Niemand hier wird dich hier davon abhalten.“

Leo blinzelte und labte sich an der Anwesenheit des anderen Mannes. Er sah Verständnis in den kajalumrandeten Augen, das nicht nur auf Vincents Psychologendasein beruhte. Er war auch gemobbt worden, erinnerte Leo sich – in der Dienststelle, die eigentlich sein sicherer Ort hätte sein sollen. Sie teilten ähnliche Erfahrungen und Leo wurde sich in Vincents ruhiger Mimik bewusst, warum der andere Mann so schweigsam war. Natürlich wühlte das hier auch seine schlechten Erinnerungen wieder auf. 

Tief seufzte Leo und wandte sich an Adam, der sie beide beobachtete und analysierte. Ein Geschenk, eine Möglichkeit, Wiedergutmachung zu erlangen, ebenso unüberlegt wie überenthusiastisch. Es war die Antwort auf Leos Bohren nach der Wahrheit um Elias Schillers Tod. Keine Rache, sondern das Gegengeschenk.  

Leo atmete ein paar Mal tief ein, erdete sich und seine widerstreitenden Emotionen. Er drehte sich zurück zu Detlef und trat bewusst ein paar Schritte von Vincent und Adam weg hin zu dem Mann, der eigentlich immer ein widerliches, armes Würstchen gewesen war. Er nahm sich dieses Mal die Zeit ihn Stück für Stück zu analysieren und etwas zu wagen, das er seine gesamte Schulzeit sich nicht getraut hatte. 

Hinzuschauen. 

Sich Details einzuprägen, die nicht überlebensnotwendig waren. 

Schwachstellen zu sehen, die er nutzen konnte. 

Detlef schrumpfte unter dieser Musterung, er wurde kleiner und kleiner und eigentlich war er das schon immer gewesen. Klein und erbärmlich und ohne Sinn und Zweck für diese Welt.

Ja natürlich würde es gut tun, ihn zu schlagen. Alleine die Vorstellung, seine Faust in Detlefs Gesicht zu treiben, war eine Wonne sondergleichen für Leo. Oder ihm die unzähligen Male heimzuzahlen, in denen Detlef ihm in den Magen getreten hatte. Es war verführerisch, das tun zu können, doch er hatte sich für einen anderen Weg entschieden – einen Weg, der Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortete, sondern mit Gesetzestreue.

Wenn er diesen Weg nun verlassen würde, wäre er nicht besser als Detlef. Und auch als Adam. 

Was Leo mit jeder Sekunde, die er darüber nachdachte, wütend machte. Adam hatte ihn gerächt, hatte Detlef soweit gebracht, vor ihm zu knien und Angst zu haben. Doch das war es nicht, was Leo wollte. Er wollte Frieden – vor Detlef. Er wollte Vergessen. Er wollte einfach sein Leben leben und glücklich sein. 

„Sieh mich an“, forderte Leo rau und saß es aus, dass diese wässrig-braunen Augen ihn anstarrten. 

„Ich nehme deine Entschuldigung nicht an, weil sie alles ist, nur nicht wahr und überzeugend. Du kannst von mir aus bis in alle Ewigkeit hier knien bleiben und winseln und um Vergebung betteln, die du von mir nie bekommen wirst. Ja, ich könnte dich solange schlagen, bis dein Gesicht nur noch ein Klumpen aus Haut, Knochen und Sehnen ist und du für dein Leben lang aus einer Schnabeltasse trinken wirst. Aber ich bin besser als du. Ich stehe für die richtige Seite. Du wirst dein Leben lang mit deiner Niedertracht und deinem Hass auf andere Menschen leben müssen ohne wirklich zur Ruhe zu kommen. Denn all deine Gewalt und all dein Hass auf vermeintlich Schwächere waren immer nur ein Ausdruck deines eigenen Frustes und deiner eigenen Unzulänglichkeit.“

Ruhe erfüllte Leo bei diesen Worten. Wie sehr es ihn befreite, diese Worte zu sagen, erkannte er jetzt erst und wie sehr dadurch zu dem fand, was seit Jahren nach einem Ende, nach finalen Worten gierte.

Er prägte sich das erbärmliche, furchtsame Gesicht Detlefs gut ein, bevor er sich schlussendlich umdrehte. Schweigend musterte er Adam, der ebenso aufmerksam zurückstarrte.

„Ich laufe zurück“, sagte Leo bestimmt und noch während er das sagte, begriff Adam, wie ernst es ihm war. Die aufkommende Verneinung dämpfte sich zugunsten eines knappen Nickens und Leo verließ die Lagerhalle. 

Mit einem Blick auf Google Maps erkannte er, dass er sich gut 28 Kilometer von seiner Wohnung entfernt befand und knirschte mit den Zähnen. Das würde ein langer Heimweg werden…


~~**~~


Als Leo schließlich seine Wohnungstür leise hinter sich schloss, wusste er zwei Dinge. 

Zum Einen, dass er mit der Konfrontation mit Detlef einen Schritt in eine Richtung gegangen war, die er bisher gescheut hatte, die aber nicht in Ansätzen so wehtat, wie er es immer befürchtet hatte. Sie öffnete ihm Möglichkeiten einer Therapie, zumindest ließ er nun wenigstens den Gedanken etwas aktiver zu als vorher. 

Zum Anderen war da der Gedanke an Adam. Adam, der sich Detlef vorgenommen und Leo gerächt hatte. Noch nie hatte das jemand für Leo getan und der Gedanke daran hatte sich während des langen Rückmarsches derart in ihm festgesetzt, dass es Leo auch jetzt noch schauderte. 

So sehr sich auch der Polizist in Leo dagegen verwehrte, dass einem anderen Menschen Gewalt angetan worden war, so aufgeregt betrachtete der Mann, vor allen Dingen aber der traumatisierte Jugendliche in Leo das, was Adam getan hatte. Für ihn. 

Und so war es nicht nur Wut, die er über Adams gut gemeintes, eigentlich unmögliches Vorgehen verspürte, sondern auch eine Freude, die sich in etwas anderes wandelte, was Leo nahtlos als Erregung deutete. Latente, kribbelnde Erregung, dass es jemanden gab, der ihm auch wehgetan hatte, der das aber wieder gut machte und der nun auch noch dafür gesorgt hatte, dass Detlef seine eigene Medizin zu schlucken bekommen hatte. 

Leo fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, als ihm die Bedeutung dessen in aller Klarheit bewusst wurde. 

„Scheiße“, fluchte er leise und stöhnte unterdrückt auf, als sich sein Schwanz bei dem Gedanken an das Gerächt werden leicht gegen seine eigentlich gar nicht zu enge Hose drückte. „Lass das!“

Wer genau was lassen sollte, das spezifizierte er nicht.

Sein Handy pingte und Leo nahm die Ablenkung dankbar entgegen. Er fischte es aus seiner Hosentasche und rief die Nachricht auf, die wenig überraschend von Adam kam. 

~Falls du reden, mich anschreien oder mir den Hintern versohlen möchtest, ich stehe zur Verfügung.~

Leo knirschte verzweifelt mit den Zähnen und presste seine Stirn gegen die Raufasertapetenwand seines Flurs. 


~~**~~


„Was fühlst du für ihn?“

Mit Schwung klatschte Adam die vegane Salami auf die Pizza und folgte den tomatigen Spritzern bis zu seinem grünen Shirt. Das eigentlich nicht seins war, sondern Leos. Er hatte es bei einem seiner letzten Besuche mitgehen lassen, während Leo auf dem Klo gewesen war. Es roch nach dem anderen Mann und Adam fühlte sich in dem ihm etwas zu großen Shirt pudelwohl – ganz zu Vincents Misstrauen, der natürlich genau wusste, dass dieses beinahe schon fadenscheinige Ding nicht ihm gehörte.

„Wieso?“
„Lenk nicht ab, Adam. Was ist es?“
„Ich lenk nicht ab. Zucchini auch noch?“
„Adam.“
„Zucchini?“

Ja, er wich aus. Und nutzte die Zucchini, um nicht antworten zu müssen. Blödes Gemüse, er hasste es. Vincent hingegen liebte es, also kam es auf seine Hälfte der Pizza. So sorgsam war Adam nun einmal, wenn er jemanden mochte und Vincent mochte er wirklich sehr gerne. Hatte ihn die letzten Monate über noch viel mehr zu schätzen gelernt. 

Genaugenommen liebte er Vincent, aber dessen war sich Adam durchaus bewusst und ihm war wirklich viel daran gelegen, seine rechte Hand und seinen Freund zu schützen. Aber Vincent war hier nicht das Thema, das musste Adam sich nicht vormachen. 

„Er ist interessant“, einigte er sich mit sich selbst und das stieß auf wenig Gegenliebe. 
„Ist das ein Gefühl, Adam?“
„Klugscheißer.“

Stille trat zwischen sie und Adam grub seine Finger in die Schüssel mit Mais, verstreute ihn auf der gesamten Pizza. Das war etwas, was sie Beide mochten. Leo mochte keinen Mais, das wusste Adam ebenfalls; Vincent hatte es ihm gesagt. Deswegen gab es ihn ja jetzt auch – weil Leo, nicht wie geplant, mit zurückgekommen war, sondern sein eigenes Wochenendding drehte und Adams Nachricht des Gesprächsangebots ignorierte. 

„Ich mag ihn“, gestand er Vincent eine Antwort zu. „Sehr.“ Er war heute in Geberlaune. 
„So sehr, dass du dich für ihn in Gefahr bringst, indem du Detlef Hofmann auf deine Fährte bringst.“

Adam seufzte. Vielleicht noch etwas Brokkoli für seine Hälfte? Mit Sicherheit noch etwas Brokkoli. Er schnappte sich einen der kleinen grünen Atompilze und kaute auf einem grünen, bereits durchgegarten Strunk, um Zeit zu schinden, während er auf die unfertige Pizza starrte, Vincent nicht in die Augen sehen konnte und überlegte, was er antworten konnte. 

In welchem Maß und Spektrum seine Antworten Vincent noch überraschen würden. 

„Das ist alles geregelt, Zarah hat sich darum gekümmert.“
„Ist er tot?“
Empört schnaufte Adam. „Nein. Sie tötet niemanden, wie du weißt.“
„Dann besteht die Gefahr, dass er dich und sie verrät.“
„Nein. Wir haben dafür gesorgt.“
„Wie?“
„Wir haben seine Internetaktivitäten so frisiert, dass er für eine lange Zeit ins Gefängnis wandert, wenn er uns verrät und wir unsere Informationen breit treten.“

Vincent seufzte – vorhersehbar, befand Adam. 

„Es ist alles eingetütet“, sagte er und fand den Mumm, sich zur Seite zu drehen und den blauen, inquisitorischen Psychologenaugen zu begegnen, die ohne Probleme tief in seine Seele blicken konnten.

„Und abseits davon?“
„Wie?“

Vincent machte schon wieder dieses Ding mit seinem Gesicht. Diese Ruhe, die er einkehren ließ um Adam zu zeigen, dass er mit dem Bullshit aufhören sollte und dass jetzt die Zeit für ehrliche Antworten gekommen war. 

„Ja okay. Ich trage sein Shirt, ist dir das Antwort genug? Er riecht eben gut, sieht gut aus, würde sich sicherlich gut auf meinem Bett machen. Falls er Interesse hätte.“ 
„Wenn, Adam. Nicht falls. Er hat sein Verhalten dir gegenüber geändert. Er lässt zu, dass du ihm einen Kuss auf die Wange gibst. Er lässt zu, dass du ihm über seine Finger streichst.“
„Das ist normal.“

Wenn Vincent seinen Blick auf die Pizza richten würde, wäre sie in Null-Komma-Nichts heiß, befand Adam und steckte sich die Hände in seine Hosentaschen. 

„Ist es nicht. Seine Körpersprache ist dir zugewandt, er ist offener dir gegenüber. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er dich mag. Und mehr.“
„Gut, dann kann ich mir ja bald seinen Schwanz zwischen die Lippen schieben.“

„Adam!“

Adam grinste und überfiel nun Vincent mit seinen Wangenküssen. Doch nicht nur das. Sacht zog er seinen besten Freund in eine enge Umarmung, aus der er ihn nicht so schnell losließ. 

„Ich habe das im Griff, Vince. Danke, dass du dich so um mich sorgst. Und deinen Verdacht habe ich auch im Kopf. Mal sehen, vielleicht bekomme ich ihn zum Reden, wenn ich ihm dreimal hintereinander seinen Orgasmus verwehre und er mich anbettelt, ihn kommen zu lassen.“

Vincent wimmerte regelrecht und schmiegte sich in der schweigenden Art der Menschen an ihn, die ganz viel Raum für Zweifel ließ. Zweifel, die Adam auch hatte, aber er würde Leo auch nicht von der Bettkante schubsen, wenn dieser anklopfte. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

 

Chapter 41: Besuch aus Świecko

Notes:

Guten Abend zusammen,

frisch aus meinem Sommerurlaub gibt es hier nun das 41. Kapitel zur Anatomie. Was man doch mit Bergaussicht alles schreiben kann. 😉 Ich hoffe, es gefällt und ihr seid mir nicht allzu böse über den Cliffhanger!

Ansonsten: vielen lieben Dank für all eure Kudos, Klicks und Kommentare, hier und in anderen Medien! Nach all der Zeit freut es mich sehr, dass ihr immer noch mitlest und die Beiden bei ihren Babysteps ins Glück (ächäm) begleitet! ❤️🌻

Für den letzten Part der Geschichte gibt es eine nsfw-Warnung, ansonsten ist alles tutti (in Anatomie-Maßstäben eben). Viel Spaß beim Lesen euch! Ich flitze mal weiter Berge hoch.

 

Novemberblues hat mir bei der Professur unter die Arme gegriffen!

Dankesehr! 🌻🌻

Ach ja und wer quatschen möchte: Hier geht's zum Tatort Saarbrücken-Discord 😊

Chapter Text

 

Adam war nicht unbedingt bekannt für seine Geduld. 

Wenn er Vincent fragte, war sie an schlechten Tagen nonexistent und eher fragwürdig an guten. Wenn Elias noch leben würde, hätte er gesagt, dass Adams Ungeduld legendär wäre und dass er es gar nicht hatte erwarten können, mit Elias all dem zu entfliehen, was ihn belastete. 

Die Gedanken an Elias kamen seit Leos Drängen auf die Wahrheit öfter, so, als hätte der Ermittler eine Büchse geöffnet, die Adam auch nicht mehr wirklich schließen wollte. Jahrelang hatte er Elias in sich eingeschlossen, hatte ihn versteckt und sich eingeredet, dass er weiterleben konnte und dann war da so ein verfluchter Saarbrücker Top-Ermittler gekommen, der zum Einen nichts davon hielt erpresst zu werden, zum Anderen aber beschlossen hatte, dass Adam ein rettenswertes Wesen war. 

Dass er für seine Erpressung ins Gefängnis gehörte – irgendwie – aber für seine Körperverletzung nicht. 

Da verstand mal einer das saarländische LKA. 

Er nicht und das machte das Kribbeln in seinem Magen nicht kleiner, wenn er an den verantwortlichen Kriminalhauptkommissar dachte. Der wiederum schuld an seiner Ungeduld war, denn dieser hatte es doch tatsächlich in vier Tagen nicht geschafft, auf seine Nachricht zu antworten. Das restliche Wochenende ohne den Polizisten war dank Vincent ertragbar gewesen. Aber eben auch nur das. 

Das, und nur das, war der Grund, warum sich Adam wie ein Dieb den Seiteneingang des LKA hineinschlich, der abends nicht stark frequentiert wurde und dem man mittels einer eigenen Zugangskarte öffnen konnte. Diese war zwar den Angehörigen des LKA vorbehalten, doch Adam war ja fast so etwas wie ein LKA-Mitarbeiter – so viele, wie er hier kannte, erpresste und bestach. Der KDD war auf der anderen Seite des Gebäudes und so war Adam sicher vor neugierigen Augen. 

Um Überraschungen zu vermeiden, nahm er mit knackenden Knien die Treppe und beschwerte sich bei jeder Stufe stumm darüber, dass sein hauseigener Polizist im vierten Stock residierte. Mittlerweile alleine, denn seine Kolleginnen hatten schon vor zwei Stunden die Dienststelle verlassen, was Adam durch Zarahs Argusaugen hatte beobachten lassen. 

So hatte er freie Bahn und machte nun mit einem Schwung die Tür auf, die ihn von Leos Anblick trennte. 

Dessen Kopf nun zu ihm herumruckte und dessen Augen so wunderbar groß wurden, als er ihn sah und begriff, dass Adam keine Fatamorgana war. 

Bestimmt schloss Adam die Tür hinter sich und lehnte sich gegen das weiß lackierte Holz. 

„Kriminalhauptkommissar Hölzer“, schnarrte er schleppend langsam und steckte sich die Hände in die Taschen seines Anzuges. Das wortlose Erstaunen, das beinahe in ein Entsetzen mündete, freute Adam diebisch. Die gelungene Überraschung freute ihn entsprechend breit lächelte er in dessen sprachloses Erstaunen hinein. Und wie sich die Lippen bewegten, die gar nicht wussten, was sie sagen sollten. 

Leos Körper war da schneller und abrupt erhob er sich, seine Augen immer wieder von der Tür zum Fenster und dann zu Adam zuckend. Als wenn sie jemand durch die verspiegelten Scheiben sehen würde…

Sie waren ganz und gar ungestört. Auch das wusste Adam durch Vincents Logistikpläne bereits seit längerem.

„Was…machst du hier?“, presste Leo fassungslos, ja beinahe schon geschockt, hervor und Adam zuckte nonchalant mit den Schultern. 
„Deine ausstehende Antwort auf meine Nachricht einfordern, was sonst? Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt…“

In Leos Wange zuckte ein Muskel, den Adam als den Adamsmuskel bezeichnete. Der trat immer hervor, wenn Leo gerade mit irgendetwas unzufrieden war, das Adam tat oder sagte. Zumindest hatte Adam das in unzähligen Studien festgestellt. 

„Du hast hier nichts zu suchen. Was, wenn dich jemand findet und wie bist du überhaupt hier reingekommen? Der Empfang wird dich kaum durchgelassen haben oder hast du sie bestochen? Erpresst? Was, wenn jemand reinkommt, der weiß, wer du bist? Pia und Esther…“
„…sind vor einer Stunde gegangen“, stoppte Adam Leos nervösen Wort- und Vorwurfsschwall und stieß sich von der Tür ab. „Ich habe sie beobachten lassen um sicher zu gehen.“
„Was?“
„Beruhigt dich die Information nicht?“
„Nein! Angefangen dabei, dass du sie hast beobachten lassen!“

Leo grollte tief aus seinem Bauch heraus und Adam musste den Blick abwenden, um seinen hauseigenen Ermittler nicht alleine durch sein breites Grinsen zu provozieren. Er besah sich dabei das weitläufige, helle Büro hinter der verspiegelten Fensterglasfront und stellte sich vor, wie es wäre, Leo gegen das Fenster zu ficken, unsichtbar für die Welt unten, eng verbunden an dem unmöglichsten aller Orte. Er stellte sich vor, vor ihm auf die Knie zu gehen und sich Leos Schwanz tief in den Rachen zu stecken, dabei den Blick nicht von ihm abzuwenden, während sein hauseigener Polizist stöhnte und keuchte und ihn verfluchte. Eine Fähigkeit, auf die Adam immer noch stolz war. Und hier wäre das mit einem besonderen Nervenkitzel verbunden. 

Gut, dass er Leo dafür erst einmal in sein normales Bett zuhause bekommen musste, war klar. Ohne das würde hier im LKA gar nichts gehen. Ob das jemals der Fall sein würde… Adam bezweifelte es, also blieb es erst einmal bei der anregenden Vorstellung. In einer Dienststelle hatte er noch nie Sex und sein Vater würde mit Sicherheit ausrasten, wenn er das erfuhr. Noch mehr als sonst. 

Adam seufzte schwer ob seines schlimmen Loses und streifte durch den Raum. Eigentlich ziemlich langweilig, die Schreibtische von Leos Team, befand er, und die Raumdekoration ließ auch zu wünschen übrig. Dafür roch es nach Polizisten und nach Leo, was die Sache marginal besser machte. Die Bilder an den Wänden waren neutral und nicht halb so bissig, wie Leo manchmal war, also durch und durch vernachlässigbar. 

Bis auf die Wand, an der der Name Elias Schiller wie in Leuchtlettern prankte. 

Adam wandte sich mit einem plötzlichen Krampfen seines Magens ab und traf beinahe Nase an Nase auf seinen persönlichen Wachhund, der ihn anscheinend durch seine Runde hier verfolgt hatte. 

Leos Mimik war eine Mischung aus Nervosität und Unbill, aus der eines ganz klar wurde: Adam sollte gehen. „Du hast hier nichts verloren.“

Adam sah das anders, sehr sogar. Wenn er seine Existenz auf der anderen Seite des Gesetzes mal außer Acht ließ, machte das Ermitteln wirklich Spaß. Die wenigen Nachforschungen, die er bei dem Strickwarenmord angestellt hatte, waren schon sehr amüsant gewesen und er wäre mit Sicherheit eine gute Ergänzung für den Saarbrücker Top-Ermittler. 

„Es wird keiner kommen“, erbarmte sich Adam dann schließlich doch Leos Unsicherheit und hob vielsagend die Augenbrauen. „Du sollst ja schließlich nicht auffliegen und ein Syndikatssprössling mit zweifelhafter Vergangenheit hier in deinem geschützten Büro wird schwer zu erklären sein.“
„Ja!“, bestätigte Leo leidenschaftlich und Adam grinste.
„Also. Was sagst du zu meiner Nachricht?“

Bevor Leo antwortete, verzog sich sein Gesicht in stürmischem Missfallen. Er öffnete die Lippen, anscheinend, um etwas zu sagen und schloss sie dann wieder. Mehrfach. 
„Wieso hast du das getan?“, destillierte er die vielfachen Emotionen auf eine hinunter: Unverständnis ob Adams Handeln. 
Adams Lächeln verklang und anstelle dessen wurde er ernst, ließ das Spielerische von sich abfallen wie eine Maske. 

„Warum ich dir Detlef gebracht habe wie eine Opfergabe? Weil du Rache an ihm verdient hast. Das Schwein hat dir Dinge angetan, für die er ins Gefängnis gehört und für die er dauerhaft leiden sollte. Weil er es verdient hat, für das, was er dir angetan hat. Dir wäre auch nichts passiert, wenn du ihn geschlagen hättest…denn das wolltest du tun, ich habe das genau gesehen.“  

Leo wollte verneinen, überlegte es sich aber dann doch anders. Er presste die Lippen aufeinander und nickte.
„Ja, kurz wollte ich es. Die Versuchung war da. Aber ich bin besser als er. Das ist nicht mein Weg. Ich glaube an die Arbeit der Polizei.“

Das tat er und das war auch der Grund gewesen, ihn an allererster Stelle zu erpressen. Adam seufzte.

„Gut, dann also nur Worte.“
„Aber ich wollte das nicht! Ich wollte ihn vergessen.“
„Und das klappt gut?“
„Ja!“

Bittere, böse Worte lagen Adam auf der Zunge. Zynische Worte, die verletzen würden. Er schluckte sie hinunter und schob sich die Hände in die Taschen. „Du lässt dir von Männern, die ihm ähnlich gesehen haben – also zumindest wie er früher war – wehtun. Das ist eine Bewältigungsstrategie.“

Selbst seine so sanften Worte sorgten dafür, dass Leo dicht machte. 

„Was wird das jetzt? Therapiesitzung mit Doktor Schürk?“, fauchte er und Adam schnaubte. 
„Glaub mir, die würde anders aussehen“, wackelte er vielversprechend mit seinen Augenbrauen und wurde schneller, als er denken konnte, gegen die nächste Wand gepresst, ein eiserner Arm über seiner Brust. Leo starrte ihm in die Augen und seine grünen Augen funkelten und blitzten. 

Ob das hier noch Wut war, bezweifelte Adam wirklich stark. Zwischen ihnen zischte und knisterte es gewaltig. Leo tat gar nichts, hielt ihn nur und Adams Mund wurde trocken. Er schluckte schwer.

„Ich bin so etwas von gar nicht amüsiert!“, wurde er darauf hingewiesen, wie wenig Humor der Ermittler gerade verstand und Adam war so gefangen von dessen Nähe, dass er fast die Warnung dahinter übersah. Mit Absicht, aber dennoch. Mühevoll riss sich Adam zusammen und schnaufte, nahm Abstand von der Überlegung, ob es klug wäre, Leo auf die nahe Nasenspitze zu küssen. 

„Das kann ich mir vorstellen, aber habe ich nicht Recht? Er beeinflusst dein Leben immer noch. Deine Alpträume sprechen für sich. Du weinst und schreist im Schlaf. Das ist eine Wunde, die noch nicht geheilt ist.“
„Ach. Und deine, oder wie?“

Adam rollte mit den Augen. Ein Angriff und dazu auch noch schlecht? „Nein, genauso wenig wie deine.“

Das nahm Leo deutlich den Wind aus den Segeln. Wütend starrte er ihn an und sein warmer Atem strich über Adams Gesicht. Schwacher Kaffeegeruch wehte ihm entgegen und löste selbst in seiner Alltäglichkeit ein Gefühl der Vertrautheit aus.  

Es prickelte an Adams ganzem Körper und wieder hatte er das Gefühl, dass etwas Anderes aus dieser Spannung entstehen würde. Dass das Aufgestaute zwischen ihnen kurz davor war, sich zu entladen. Als hätte er Adams Gedanken gelesen, zuckten Leos Augen nach unten und Adam stellte sich vor, dass es zu seinen Lippen war, in der Absicht, ihn zu küssen. Wünschenswert auf jeden Fall. 

„Ich träume wieder von ihm.“
„Und wie wachst du jetzt auf?“
„Wie immer.“
„Voller Angst oder mit dem Wissen, dass er ein erbärmliches Würstchen ist, dass sein Gift nicht mehr in deine Richtung spucken kann? Nie mehr. Und dass er erlebt hat, was du durchleiden musstest?“
Leo schnaubte. „Nein, mit der Angst, dass er gegen dich und auch mich Strafanzeige stellt.“

Adam schüttelte den Kopf. „Wir haben ein paar Sachen über ihn gefälscht, die ihn nahtlos in den Knast bringen werden, wenn ich das weiterleiten lasse. Was ich tun werde, wenn er zu den Bullen geht. Für unser beider Sicherheit ist gesorgt.“
„Das ist illegal.“
„Ja. Waren seine Foltermethoden, die er an dir ausprobiert hat, auch.“

Leo zuckte körperlich vor seinen Worten zurück und Adam bereute sie alleine aus dem Grund, da sein hauseigener Polizist sich von ihm löste und ganze drei Schritte zurücktrat. Unwirsch fuhr er sich über sein Gesicht und seinen Bart, bevor er die Arme verschränkte und ihre Nähe gegen seine Barriere austauschte, die Adam überall haben wollte nur nicht hier. 

„Mach das nicht nochmal“, sagte Leo schließlich ernst und keinen Widerspruch zulassend. „Nicht ohne mich zu fragen. Nicht…einfach so.“
Nicht ohne ihn zu fragen klang besser als das kategorische gar nicht. Das klang eher nach einem Kompromiss. Und fragen war ja auch ein dehnbarer, beeinflussbarer, zeitlich nicht ganz so festgelegter Begriff. 
„Versprochen“, stimmte Adam zu und lächelte. „Damit wieder Freunde?“

Wenn etwas zuverlässig den Widerstand des anderen Mannes hervorrief, dann das. 

„Wir sind keine…“, begann Leo, gefangen zwischen Empörung und Entrüstung, und Adam winkte nonchalant ab. 
„Du weißt, was ich meine.“

Wusste Leo sehr genau, so groß, wie die Kröte zu sein schien, die er nun herunterschluckte. 

„Also. Kommst du übernächsten Samstag zu mir?“, fragte Adam todesmutig und war im ersten Moment über das Stirnrunzeln irritiert, mit dem Leo seiner Frage begegnete. Dann ging es ihm auf warum und Adam wurde warm ums Herz, als er begriff, dass der andere Mann so sehr auf die Wöchentlichkeit ihrer Treffen gepolt war, dass ihn nun das nun auszulassende Wochenende irritierte. Und störte.

Adam winkte ab. „Besuch aus der Ferne, der das ganze Wochenende da ist.“

Leo hob fragend seine Augenbrauen und fast erwartete Adam, dass er Rede und Antwort stehen und sich rechtfertigen musste. War das etwa Eifersucht in den Gedankenspiralen seines hauseigenen Polizisten? 

Oha.

„Keine Sorge, ich werde dir nicht untreuer, als ich es mit Bastian ohnehin schon bin“, grinste er frech und da war er wieder, der Adammuskel auf dem bärtigen Gesicht. 

„Raus hier“, knurrte Leo mit entsprechendem Fingerzeig wütend und Adam befand, dass Klugheit sich auch darauf erstreckte, den idealen Zeitpunkt zu erkennen, an dem er sich zurückziehen sollte. 

„Wir sehen uns!“, schnurrte er und verließ das Büro seines hauseigenen Polizisten, bevor er noch einen Tacker oder Locher an den Kopf bekam. 


~~**~~


Wie sehr eine Person ein Zuhause sein konnte, merkte Vincent jedes Mal wieder, wenn Adam zu Besuch kam. Wenn dieser tolle, raue, etwas robuste Mann, der Lust mit Männern erst sehr spät für sich entdeckt hatte, auf seiner Couch saß oder sich vertraut in seiner Wohnung bewegte und Vincents Herz voller Liebe für ihn aufging. Er liebte auch seinen Saarbrücker Adam, das ohne jede Frage, aber der Świecko-Adam war sein Zuhause mit seinem eigenen, bestimmten Geruch, seiner eigenen, bestimmten Art sich zu bewegen oder Dinge zu formulieren.

Vincent fand Stärke in Adams Präsenz wie auch in seinen Armen und in diese Stärke ließ er sich nach der nervenaufreibenden, letzten Zeit nur zu gerne fallen. 

Als er auf seiner Couch lag, seinen Kopf auf Adams Schoß und dessen augenrollenden, leicht zynisch angehauchten Erzählungen seiner dienstlichen Woche lauschte, fühlte sich Vincent ganz. Zufrieden hatte er die Beine angezogen und warf einen Blick auf die kleinen Tapas und Mezze, die er für sie beide zubereitet hatte. Eigentlich um Adam zu füttern, aber mit einem Blick auf Vincent hatte dieser doch tatsächlich beschlossen, dass er der zu Fütternde sein würde.

„Idioten, alles Idioten“, schloss Adam und küsste Vincents Locken. „Bis auf dich, du bist der klügste und schönste Mensch auf dem Planeten. Du bist die Vernunft unter all dem Arschlochtum.“

Adams Komplimente waren wie er: direkt und ungefiltert, manchmal auch ungelenk, aber so von Herzen, dass es tief in Vincent wehtat und schmerzte. Adam war das Leben, das er sich wünschte, der Mensch, mit dem er alt werden wollte. 

Dass ihrer beider Lebensentwürfe noch für eine lange Zeit dem entgegenstehen würden, war Vincent schmerzhaft klar und umso mehr genoss er die gemeinsame Zeit und Intimität mit Adam. Emotional, körperlich, gedanklich. 

„Wie war deine Woche?“, murrte der Mann seines Herzens und Vincent lächelte voller Liebe. 
„Gut soweit, Adam hat grad viel zu tun und entsprechend stressig waren die Tage. Aber es fügt sich alles – irgendwann.“

Vincent hatte schon lange vorher gelernt, dass die Wahrheit gewürzt mit einer Portion Lüge am Glaubwürdigsten war. Seine Worte ließen vor Adams Augen eine Welt entstehen, die weitab von Verknüpfungen, Erpressung, Korruption und Straftaten lag. Eine Welt, die der Schein war für seinen Adam, damit er Vincent nicht verfluchte und verjagte. 

Was am Anfang unerträglich war, war mittlerweile zu etwas geworden, das notwendig war wie Vincents Luft zum Atmen. 

Und eine kleine, stille Seite in ihm hoffte auch immer noch, dass alles gut ausgehen würde. 

„Los, Mund auf, du Toller.“

Gehorsam öffnete Vincent den Mund und reckte seinen Kopf nach hinten. Adam führte einen eingelegten Champignon an seine Lippen und Vincent nahm sich die Freiheit, sowohl den als auch Adams Finger für einen Moment zu umschließen. Er brummte genießend und entließ die Finger aus ihrem warmen, vielversprechenden Gefängnis. Langsam kaute er den Pilz und schluckte ihn bedeutungsvoll. 

„Mehr“, forderte er spielerisch und Adam musterte ihn mit amüsiertem Staunen. Sanft strich er ihm über die Wange und Vincent lehnte sich aufseufzend in die Berührung. 
„Für dich immer. Und jederzeit.“

In manchen Augenblicken drängte der Wunsch, mit seinen beiden Adams einfach wegzugehen, in den Vordergrund und wurde so überwältigend, dass Vincent am Liebsten die ganze Wahrheit vor ihm ausbreiten würde. Auf Verständnis hoffend. Auf Liebe hoffend. Doch dann gewann seine rationale Seite und der Puppenspieler nahm sich die Kontrolle. 

„Ich liebe dich auch“, murmelte Vincent anstelle dessen, was er wirklich sagen wollte und verschränkte seine Finger mit Adams.


~~**~~


„Bist du eigentlich für seine Sorgenfalten verantwortlich?“
„Nicht, dass ich wüsste. Du? Sind eure abendlichen Skypesessions etwa nicht entspannend?“
„Ich habe keine Sor-“
„Sind sie. Sogar sehr. Für mich schon.“
„Adam!“
„Ich kann mir nicht vorstellen, warum er dann Sorgenfalten haben sollte. Bei uns ist alles tutti in Saarbrücken, harmonisch und so schön, dass wir mit unserer Freude diese hässliche Stadt ausgleichen.“

Vincent konnte sich ein gequältes Zähneknirschen nicht verkneifen. Adams Worte trieften nur so vor Ironie und das machte sie gleich doppelt und dreifach schlimm. Bei all dem, was im letzten Jahr passiert war, war nicht viel Harmonisches dabei und Vincent wachte immer öfter mit klopfendem Herzen und der Angst auf, dass alles den Bach heruntergehen würde. 

„Alles klar, du Spinner.“ 
„Sagt der, der sich im zweiten Frühling einen jungen Lover angelacht hat.“

Unmöglich, alle beide. Sie waren unmöglich. Im Doppelpack noch mehr als alleine schon. Ob das am Namen lag? Manchmal glaubte Vincent das fest. 

„Könntet ihr das Gekeife sein lassen oder mich aus eurer Mitte entlassen?“, fragte er mit entsprechend sanfter Dominanz und drückte warnend Adams Finger, die eng mit seinen verwoben waren. Seinem Saarbrücken-Adam, der sich an seiner anderen Seite befand, während sie die gepflasterten Wege der Innenstadt entlang liefen, warf Vincent einen warnenden Blick zu. Adam hatte bummeln wollen und wer war Vincent, dass er seinem Partner den Wunsch abschlug? Zumal Adam jede Gelegenheit nutzte, sich offen mit ihm zu zeigen und zu ihnen zu stehen. 

Jetzt. Nachdem es vor ein paar Jahren fast zu spät gewesen war. 

Wie immer, wenn Vincent daran dachte, wurde sein Herz schwer. Er wusste, dass Adam sich immer noch Vorwürfe machte, zu spät reagiert zu haben, zu wenig gesagt zu haben, als es wichtig gewesen wäre. Er machte sich Vorwürfe, dass er nicht eher zu dem gestanden hatte, was er Vincent gegenüber fühlte. Dass er damit vermutlich nichts verhindert, sondern für sich selbst nur verschlimmert hätte, wollte er nicht hören. 

So war Vincent auch entsprechend überrascht gewesen, als sein ehemaliger Kollege triefnass vom Regen vor ihm gestanden und viele Dinge gesagt hatte, die Vincent niemals so erwartet hatte. 

Dass sie unterm Strich dazu geführt hatten, dass er eine glückliche Fernbeziehung lebte – das war zu der Zeit nicht wirklich das gewesen, was Vincent für seine Zukunft gehalten hatte. Aber nun war er hier, in der Saarbrücker Innenstadt. Es war warm und an seiner Seite waren seine beiden Adams, also Menschen, die er liebte.

Dass sie Leo hier trafen, hatte Vincent als unwahrscheinlich eingestuft. Leo war kein Mensch, der gerne in die Innenstadt ging, schon gar nicht samstags, wenn es voller Menschen, trubelig und laut war. Bevor Adam und er ihn zu einer ihrer Verknüpfungen gemacht hatten, war er durchaus abends essen gegangen, aber übertags betrat er das Stadtzentrum nur, wenn er musste. 

So hatte Vincent keine Ausrede finden müssen, um Adam in eine andere Stadt zu lotsen, sondern konnte ihm seinen Herzenswunsch erfüllen. Im Gegensatz zu dem hier aufgewachsenen Adam liebte sein Adam diese Stadt mit allen Ecken. Warum, das war Vincent immer noch ein Rätsel, aber er mochte das freudige Leuchten in den Augen seines Partners, sobald sie die Stadt erkundeten. 

So auch jetzt, wenngleich ihn die beiden Adams mit ihren Unmöglichkeiten und ihren plötzlichen Bündnissen gegen Vincent schon an den Rand der Verzweiflung trieben. Wie immer, wenn sie aufeinander trafen, zwei Jungs, gefangen im Geist von zwei Männern. 


~~**~~


„Oh. Das ist viel.“

Mit Verwunderung starrte Leo auf den riesigen Eisbecher vor sich und sah hilfesuchend zu Pia, die ihm gegenüber an dem kleinen, wackligen Tisch der Eisdiele saß und deren Spaghettieis nicht um Längen so groß war wie sein Fruchtbecher. 

„Warst du noch nie hier?“, fragte sie und Leo schüttelte den Kopf, hielt gleichzeitig Herbert davon ab, sich an seinem riesigen Fruchteisbecher zu bedienen. Dabei müsste der Held eigentlich schon längst satt sein, soviel, wie er heute Morgen bei Leos Eltern gefressen hatte. Leo war eigentlich auch satt, aber zu Pias spontaner Frage, ob er Lust hätte, mit ihr Eis essen zu gehen, hatte er nicht nein sagen wollen. Insbesondere, weil er dieses Wochenende ungeplant frei hatte. Mehr Zeit für sich, aber ein Bruch der Gewohnheit und damit war Leo grundsätzlich erst einmal unzufrieden. 

„Nein, war ich nicht“, erwiderte er zweifelnd ob des Melonen-Bananen-Kirschen-Erdbeeren-Physalis-Sternfrucht-Monstrums, das er anscheinend zu essen hatte und unter dem zusätzlich auch noch vier Kugeln Fruchteis plus Sahne lauerten. 

„Ich habe mir sonst immer was auf die Hand am Johanner Markt geholt“, gestand er. Zwei Kugeln in der Waffel, genug um zu schlendern. Mehr nicht. 
Pia lachte und deutete mit ihrem Löffel auf Leos Becher. „Dann fang an, ansonsten kannst du den Rest trinken. Wenn du nicht fertig werden solltest, helfe ich dir, okay?“

Leo nickte leidend und legte einen Arm um Herbert, der sich aus lauter Frust mit dem Kopf zur Fußgängerzone hingesetzt hatte – natürlich nicht ohne sich an Leo zu lehnen und dabei genauso groß zu sein wie er – der aber lieber die vorbeiziehenden Menschen beobachtete, als weiterhin auf den ihm verbotenen Eisbecher zu starren. Ganz im Gegensatz zu Leo, der Pia die gute Position überlassen hatte und mit dem Rücken zu den Menschenmassen saß, die an dem warmen, sonnigen Samstag im Kaufrausch durch die Stadt eilten. Fürchterlich. Wirklich schlimm.

„Wie geht’s deiner Schwester?“, fragte Leo, während er sich durch das erste Stück Honigmelone kämpfte. Pia seufzte schwer. 
„Sie kommt so langsam an, es ist aber immer noch ein Chaos an Bürokratie und an Anerkennung ihrer Doktortitel. Es wird langsam.“ 
„Immer noch? Aber sie ist doch schon seit mehr als einem Dreivierteljahr in Großbritannien.“
„Die Mühlen dort mahlen langsam, leider. Sie hat sich vorgestern noch darüber beschwert, wie schwierig es ist, ihre Kinder in eine Schule zu bekommen. Und dass ihr Mann dazu auch noch die irakische Staatsbürgerschaft hat, hilft natürlich gar nicht.“

Zynisch verzog Pia das Gesicht und rollte mit den Augen. Mitfühlend seufzte Leo. Paula, Pias Zwillingsschwester war mit ihrem irakischen Mann, zwei Kindern und zwei Doktortiteln auf den akademischen Ruf hin nach London gezogen. Für fünf Jahre sollten sie beide an der University of the Arts dozieren, was wohl nicht im Ansatz so einfach funktionierte, wie es ihnen versprochen worden war. 
Ihr multikulturelles Weltleben stieß immer wieder an bürokratische, aber auch an rassistische Grenzen und das zog natürlich auch Pia hinunter, wie sie ihm bei einem ihrer Feierabendbiere gestanden hatte. 

Hakim war ein Bär von einem Mann, groß, breitschultrig, gefühlt zwei Köpfe größer noch als Leo. Er hatte schwarze lange Haare und einen schwarzen Vollbart. Dass er ein Herzchen war, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und der bei Liebesfilmen weinte, das wussten weder Flughafenkontrollen noch Bürokraten oder die Menschen, die ihm auf der Straße begegneten und die Seite wechselten. Er hatte seinen Weg damit gefunden, aber weh tat es ihm trotzdem. 

Umso beschützender war Familie Heinrich, zumindest las Leo das aus Pias Erzählungen und den zwei Malen, in denen er Hakim und Paula ebenfalls getroffen hatte, heraus.

„Ich drücke den beiden die Daumen, dass alles klappt, bevor ihre Professuren beendet sind“, erwiderte Leo in einer Mischung aus Zynismus und ehrlichem Mitgefühl und Pia dankte ihm wortlos seufzend.

Er setzte an, ein weiteres Stück Melone zu nehmen um endlich zu seinem Eis durchzudringen, als Herbert aus tiefster Seele maulte.

Verwirrt sah Leo auf den Hund, doch dann war es schon zu spät. Bevor er auch nur reagieren und verarbeiten konnte, Eis, Früchte, Hund und Umgebung unter einen Hut zu bringen, war Herbert auch schon aufgesprungen und zog Leo, den Tisch, an dem Leo sich überrascht und töricht festklammerte, Leos Stuhl und Leos und Pias Eis unter lautem Freudenjaulen in einem völligen Chaos mit auf die Straße.
 
Leo landete mitsamt Stuhl hintenrüber auf den Pflastersteine, den Inhalt des riesigen Bechers auf sich. Sein Kopf pochte schmerzhaft vom Kontakt mit dem Boden, während er sich schnaubend ein Ananasstück, das sich unter all dem Obst versteckt hatte, halb aus der Nase fischte. 

Irritiert und verwirrt, zum guten Teil aber auch panisch sah er kopfüber, wie Pia aufgesprungen war und Herbert gleichzeitig jemanden ekstatisch begrüßte und sich einen Dreck darum scherte, was er hinter sich für eine Katastrophe angerichtet hatte.

Da es nur wenige Personen gab, denen Herbert derartig begeistert entgegenging, überraschte Leo das ebenso geschockte Gesicht, was er nun mit einem flüchtigen Blick sah, so überhaupt gar nicht.

Zum Glück läuft er nicht weg, registrierte sein überhaupt nicht hilfreiches Hirn und Leo sah zurück zu Pia, die sich besorgt neben ihn kniete. 

„Alles okay mit dir, hast du dir weh getan?“, fragte sie und Leo schüttelte den Kopf, strich sich das Eis und die Früchte vom Gesicht auf den Schoß. 
„Alles bestens“, knurrte er schaudernd und richtete sich umständlich auf, warf noch einmal einen richtigen Blick in Richtung Verräterhund, der sich überschwänglich freuend um Vincent herumschlängelte, immer wieder schwanzwedelnd zu Leo zurücksah und sich dann wieder seinem absoluten Lieblingsmenschen widmete.

Neben dem natürlich Adam stand und… Leo blinzelte. Er musste ein zweites Mal hinsehen um den ruppigen, unfreundlichen Polizisten zu erkennen, der neben Vincent stand und voller Staunen auf die sich ihm darbietende Szene starrte. 

Wie alle anderen auch in einem Umkreis von zehn Kilometern. 

Leo hasste überfüllte Innenstädte. 

„Porca miseria! Ecco un asciugamano, prendilo!“
 
Und jetzt kam auch noch der aufgeregte Kellner und dachte, die Welt würde untergehen. 

Unwirsch rupfte Leo ihm das mitgebrachte Handtuch aus den Händen und sah mit einem gezwungenen Lächeln hoch zu dem Italiener mittleren Alters, der anscheinend noch nie etwas Schlimmeres gesehen hatte als einen Mann auf dem Boden vor seiner Eisdiele mit seinem kostbaren Eis nicht im Becher. 

„Schon gut…ist schon gut! Dankeschön“, sagte er im gleichen Moment, in dem sich Herbert anscheinend darauf besann, dass er doch wohl eher zu seinem Rudel gehörte als zu Vincent und zu ihm zurückkehrte. Aber auch nur, erkannte Leo, um ihm freudig zu zeigen, dass sein Lieblingsmensch da war und um sich…

„Hörst du auf, dir das Obst zu klauen?!“, grollte Leo, als die große Hundeschnauze sich schnell wie ein Staubsauger über seinen Körper schob und die sich dort befindlichen Obststückchen gierig einsammelte. Womit er natürlich zurück zu Vincent flüchtete, gar nicht genug von Adams rechter Hand bekommend, nachdem er ihn die letzten Wochen über nicht gesehen hatte.

Vincent selbst stand immer noch wie angewurzelt dort und wagte es nicht, ihn so liebevoll wie sonst zu begrüßen. 

Kein Wunder, bei seiner Gesellschaft, die links mit einem viel zu breiten Grinsen neben ihm stand und rechts mit unwirscher Unfreude auf Leo starrte. 

Der sich nun, eingedenk der Unwahrscheinlichkeit von Herberts Flucht, zusammen mit Pia von der Eis-Obst-Sahne-Pampe befreite…zumindest in Ansätzen. Erst, als keine großen Stücke mehr da waren, ließ er sich von Pia samt ihren Krav Maga-Kräften auf seine Beine hieven und sah angewidert an sich herunter. 

„Ich glaube, Ihr Hund mag mich, Herr Hölzer“, sagte Vincent so förmlich, dass es im ersten Moment nicht in Leos Kopf wollte, was er da hörte, hatte er Vincent doch niemals seinen Nachnamen so höflich aussprechen gehört. Selbst bei ihrer ersten…

Oh.

Leo verstand. Zumindest glaubte er es, als er einen kurzen Blick auf den fremden Polizisten warf. 

„Er mag viele Menschen, Herr Ross“, erwiderte er indifferent, die Fassade für Raczek aufrecht erhaltend. Er glaubte nicht, dass der verlogene Polizist wusste, in welcher Verbindung Adam und Vincent zu ihm standen und entsprechend vorsichtig war er auch jetzt ihm gegenüber. 

Pia kam neben ihn und Leo sah sie aus seinem Augenwinkel grimmig nicken. 
„Herr Schürk“, grüßte sie den ihr offiziell bekannten Mann und Adam legte eines seiner lakonischsten Grinsen auf, während er vergeblich versuchte, Herbert zu ignorieren, der eben nicht ignoriert werden wollte und ihm sein Eis und Obst-sabbriges Maul gegen die Anzughose drückte und nach Aufmerksamkeit jaulte. Der verzweifelte Versuch der Kontaktaufnahme glückte, als Adam kurz an sich hinuntersah und seine bestimmt klebrige Hand kurz vorsichtig auf Herberts Schopf legte.

„Ihr Hund sabbert, Herr Hölzer“, brachte er Leo das Offensichtliche entgegen und Leo befand, dass es ihm recht geschah. Er sah zwar nicht so schlimm wie Leo selbst aus, aber Leo war da nicht wählerisch.

„Das kommt vor.“
„Passiert Ihnen das öfter, dass Sie von Ihrem Hund mit Eis eingeschmiert werden, wenn er Menschen auf der Straße sieht, die ihm gefallen? Falls ja, könnte ich Ihnen beim Entfernen helfen“, spielte Adam erneut die Rolle des Unmöglichen und neben Leo knirschte Pia hörbar mit den Zähnen. 

Leo selbst beschloss, Adam zugunsten seines Namensvetters zu ignorieren, der wie selbstverständlich neben Vincent stand. Den er seit seinem Weggang nicht mehr gesehen hatte. Ja klar. 
„Herr Raczek, interessant, Sie hier zu sehen. Ich dachte, Sie haben keinen Kontakt zu Herrn Ross mehr“, begrüßte er Vincents Begleiter, der nun in einem Akt störrischer Verweigerung seine Finger mit denen des anderen Mannes verschränkte. 

Und Leo begreifen ließ, wie sehr er in der Dienststelle von ihm und Pawlak belogen worden war. 

„Ihr Besuch hat mich auf die Idee gebracht, mich ihm wieder zu nähern.“

Die Lüge troff aus jeder Silbe und unerfreut runzelte Leo die Stirn. 

„Natürlich“, entgegnete er ironisch. „Freut mich, dass Sie direkt nach meinem Gespräch mit Ihrem…Partner… wieder zu ihm gefunden haben. Nach Jahren der Distanz.“
„So kann es gehen.“
„Bewundernswert.“
„Nicht wahr?“

Im Leben nicht. Leo erinnerte sich an das Gespräch mit Pawlak und Raczek. An die Lügen, die ihm beide aufgetischt hatten, was Vincent und Adam ihm mitten in der Nacht mitgeteilt hatten. Was aber wohl Raczek nicht wusste. 

Kurz streifte Leo Vincents äußerst neutrales Gesicht und erkannte die beinahe schon panische Furcht, die dahinter lag. Viel offener war das von Adam, auf dessen Zügen ein so deutliches Nein stand, dass Leos es schwerlich ignorieren konnte. Also wusste er von gar nichts und Leo hatte ihn mit seinen damaligen Ermittlungen aufgescheucht. 

Dass Raczek und Vincent sich in einer Liebesbeziehung befanden, hätte Leo im Leben nicht gedacht, aber es erklärte so viel. Es macht vieles so viel klarer, auch und gerade Adams und Vincents nächtlichen Besuch. Die Eindringlichkeit der Warnung der Beiden. 

Herbert kam zu ihm und presste seine feuchte, kalte, klebrige Schnauze gegen Leos Hand. Nach Vergebung suchend schielte er zu Leo hoch und winselte leise, brach damit Leos finsteres Mustern des Trios.
 
„Jetzt kommst du an, du Opportunist?“, murmelte er und kraulte ihn hinter den Ohren, besann sich dann, dass Pia einen guten Teil ihres unmöglichen Zusammentreffens offiziell gar nicht kannte. 

„Pia, das sind Herr Adam Raczek, Kriminalhauptkommissar aus Świecko und Herr Vincent Ross, angestellt bei Herrn Schürk.“

„Heinrich, guten Tag.“ Pia spielte ihre Rolle gut, als sie vorgeblich nichtsahnend, aber in bester Polizistinnenmanier zuerst Raczek, dann Vincent knapp zunickte und Adam eingedenk ihrer letzten Befragung mit so zähneknirschender Höflichkeit bedachte, dass Leo es bis zu sich und über Herbert hörte.

„Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen“, merkte sie mit festem Blick auf Adam an, der vielsagend mit den Augenbrauen wackelte. 
„Was für ein außerordentlich schöner Zufall, Sie und vor allen Dingen Ihren Kollegen so…ansprechend angerichtet zu sehen an einem Samstagmorgen. Darf ich Ihnen die Sahne in Ihrem Bart entfernen oder machen Sie das selbst?“

Ungläubig starrte Leo Adam in die Augen und in den Schelm, der hinter den latent spöttischen Worten steckte. Wag dich ja nicht, stand in seinen Augen und er wischte sich langsam seinen Bart sauber, putzte sich seine klebrige Hand an seiner ohnehin schon in Mitleidenschaft gezogenen Hose ab. 

„Beim nächsten Mal sollten Sie vielleicht etwas besser auf Ihren Hund aufpassen oder lassen Sie ihn immer fremde Menschen anfallen?“, grollte Raczek und Leo wandte seinen Blick von Adam ab. Bevor er etwas erwidern konnte, strich Vincent seinem…Partner über den Arm. 
„Lass gut sein, Adam. Der Hund ist doch nett und er hat sich doch nur gefreut. Vielleicht hat er mich mit jemandem verwechselt.“

Ja, verwechselt. Klar. Mit Sicherheit hat der Vincent anhimmelnde Hund ihn verwechselt. 

Kurz warf Leo einen Blick hinter sich und nickte den beiden Kellnern dankbar zu, die den Tisch wieder in die richtige Position brachten und die zu Boden gefallenen Eisbecher und Reste aufsammelten. Leo würde sich gleich noch bei ihnen bedanken, aber jetzt würde er diesem Trio mitnichten den Rücken zudrehen. Vor allen Dingen traute er Adam keinen Zentimeter über den Weg, dass dieser nicht doch noch etwas versuchte. Vielleicht klebte ihm ja noch eine Physalis am Hintern. Sicher verneinen konnte Leo das zumindest nicht.  

„Man möchte meinen, dass der Hund genauso ist wie sein Herrchen, wenn es um meinen Partner geht. Blind, ahnungslos und vertut sich in seiner Einschätzung.“
„Adam, lass es gut sein!“, tadelte Vincent, während Leo sich auf die Zunge biss um ja nichts von dem heraus zu lassen, was ihm als Antworten auf diese Provokation einfielen.
„Komm, lassen wir Herrn Hölzer und Frau Heinrich in Frieden weiter Eis essen. Sie wollen sicherlich auch nur einen schönen Tag miteinander verbringen. Ich möchte keinen Streit, okay? Zumal Herr Hölzer nur gute Polizeiarbeit gemacht hat.“

Grimmig schnaubend ließ sich Raczek einen Schritt zurückziehen, weg von Leo, der ihn finster musterte. Zusätzlich zu Vincent schob sich nun auch Adam zwischen sie und zwinkerte Leo amüsiert zu, während Herbert ihm die Hand ableckte. Adam ignorierte das pointiert – anscheinend einen Ruf zu verlieren habend. 

„Nicht immer so finster gucken, Herr Kriminalhauptkommissar, das gibt Falten“, murmelte er leise, aber nicht leise genug für Vincents gute Ohren. 
„Auch du, Adam! Los, wir gehen jetzt. Einen schönen Tag noch“, schickte er knapp in Richtung Leo, bevor er seinen Partner vor sich herschob und Adam mit sich zog. Leo selbst hatte mit Herbert alle Hände voll zu tun, damit dieser Vincent nicht hinterhereilte, nicht verstehend, warum er heute, an einem Samstag, nicht mitdurfte. 

Pia griff ebenfalls zu und zusammen hielten sie die Dogge davon ab, Leo nun auch noch quer über die Einkaufsstraße zu ziehen. 

„Möchtest du mir erklären, was das war?“, fragte sie währenddessen und Leo knirschte mit den Zähnen. 
„Bevor oder nachdem ich mich geduscht und mir saubere Klamotten angezogen habe?“

Sie schmunzelte liebevoll. „Komm, ich bring euch beide nach Hause.“


~~**~~ 

 

                                                                     Chat

 

 

Leo seufzte und warf sein Handy beiseite. Vorwurfsvoll warf er einen Blick auf den engelsgleichen Hund, der neben ihm auf der Couch lag und der mit großen Augen von unten zu ihm hochsah, als könnte ihn kein Wässerchen trüben. 

Als hätte er heute kein vollkommenes Chaos angerichtet. 

„Du bist wie er, ist dir das klar?“, fragte Leo und eines der riesigen Ohren hob sich. Herbert brummelte leise und schlug sacht mit seiner Rute. „Stiftest Chaos, liebst Ross und walzt über alles drüber, was dir im Weg ist, um das zu bekommen, was du willst. Und hören kannst du schonmal gar nicht. Eigentlich könntet ihr Zwillinge sein, ist dir das klar?“

Herbert maulte erneut und Leo strich ihm über den Schädel, ganz zur Beruhigung des riesigen Hundes. Er beugte sich zu ihm hinunter und küsste das weiche Fell, seufzte gegen die Haare.

„So wie er“, murmelte Leo und schloss für einen Moment die Augen. Die Parallelen waren fürchterlich schlüssig. Vermutlich schon von Anfang an gewesen. 


~~**~~


„Oh. Du bist ja schon da?“, fragte Vincent überrascht, als Leo dieses Mal ohne Hund vor ihm stand, in seiner Hand nur das Kartenspiel, das er seit Adams Weggang aus seiner Wohnung noch nicht ausprobiert hatte. 
Irritiert sah Leo auf seine Uhr. „Ja?“
Ebenso irritiert runzelte Vincent die Stirn. „Und Adam hat dir nicht gesagt, dass sich das Treffen zwei Stunden nach hinten verschiebt?“

Nein, nichts hatte Adam gesagt oder geschrieben und Leo atmete tief ein. Er ließ Vincent sehen, was er vom Schweigen seines Auftraggebers und Freundes hielt und dieser nickte schicksalsergeben. 

„Du hast nichts davon gesagt, dass du mit ihm zusammen bist“, sagte Leo und Vincent schob sich die Hände in die Taschen seines Rocks. Er zögerte, bevor er eine Antwort gab und selbst die war schwach.
„Das war auch nicht nötig und nicht relevant.“
„Kein Wunder, dass er mich belogen hat, wenn er dich schützen wollte. Weiß er, was du hier treibst?“

In der Art, wie Vincent sein Gesicht auf Neutralität schulte, erkannte Leo, dass er keine Antwort erhalten würde. Oder eben eine gut gemachte Lüge. Er ahnte auch warum, denn damit gab der andere Mann ihm Macht. Über sich. Über Raczek. 

„Verstehe“, schloss er das Thema schnaubend für sie beide und Vincent nickte zustimmend. Verständnisvoll lächelte er und das stumme Geständnis nahm Leo als das, was es war.  

„Geh schon mal vor ins Wohnzimmer, ich komme gleich nach und leiste dir Gesellschaft“, sagte er anstelle einer direkten Antwort und Leo folgte dem mittlerweile gewohnten Prozedere aus Schuhe und Jacke ausziehen, während Vincent sich in das Badezimmer der Wohnung zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Wäre das vor Monaten passiert? Leo glaubte es nicht. Auch das war wieder eines der Indizien dafür, wie sehr sich das Verhalten zwischen ihnen Dreien doch geändert hatte. 

Das, was am Anfang ein Großteil seiner Verzweiflung ausgemacht hatte – die vollkommene Isolation –, gab es nicht mehr. Leo besuchte seine Familie wieder, er traf sich mit Pia, Esther und Rainer. Er hatte Herbert und er… fand Wochenenden ohne Adam und Vincent seltsam komisch. 

Für den Moment befand Leo sich in einer Blase des Glücks, an dessen Rändern zum Einen der kommende Prozess gegen Barns, zum Anderen aber auch seine Arbeit für die SoKo zupften. Leo wusste, dass diese Blase dünn und kurzlebig war, aber er würde das, was er jetzt hatte, nicht verteufeln. 

Der Rest…würde noch früh genug kommen. 

Ein Geräusch ließ Leo aus seinen Gedanken hochschrecken und stirnrunzelnd lauschte er in die darauffolgende Stille. Es schlängelte sich erneut durch den Gang und Leo hob die Augenbrauen. Das kam aus Richtung des hinteren Flurs und für einen Augenblick war er versucht, es einfach zu ignorieren. Dann jedoch gewann der Ermittler in ihm, der nichts mit dem Geräusch anfangen konnte und sich nicht sicher war, ob es sich dabei um eine Person handelte, die Hilfe benötigte. 

Da war es wieder, ein schmerzerfülltes Stöhnen und Leo fragte sich allen Ernstes, ob Adam es für eine gute Idee hielt, in seiner Gegenwart entgegen aller Versprechen einem Menschen wehzutun. Mit Sicherheit würde Leo nicht zulassen, dass der blonde Mann schon wieder jemandem Schmerzen zufügte. Und wehe, das war Detlef. Wehe, er hatte ihn wieder hier – dieses Mal in seiner Wohnung! 

Zielstrebig ging Leo durch den Flur zum Schlafzimmer des Mannes. Die Tür stand einen Spalt auf und erlaubte Leo so einen abrupten und ungeschönten Blick in das Schlafzimmer, besser gesagt das Fenster, an dessen Fensterrahmen Bastian lehnte, das Gesicht gerötet, die Lippen geöffnet. 

Er war es nicht, der schmerzerfüllt stöhnte… Nein, ganz im Gegenteil. Er hatte die Finger seiner rechten Hand in Adams blonde Haare gekrallt und schien damit den anderen Mann fest an sich…an seinem…

Leo schluckte.  

Adam kniete und das Stöhnen kam von ihm. 

Bastian zog just in diesem Moment den blonden Schopf nach hinten und keuchte. Adam selbst war außer Atem und seine Lippen waren weit…viel zu weit…Bastian grinste auf Adam hinunter und leckte sich über die Lippen. 

„Gut so?“, fragte er und Adam lachte dunkel, rau genug in der Stimme, dass es Leo am ganzen Körper schauderte. 
„Ist das schon alles, was du tun kannst?“, raunte Adam mit einer Stimme, die verboten gehörte, und Bastian schnaubte. 
„Du willst es härter?“
„Ich will, dass du meinen Mund fickst. Ich bin nicht aus Zucker“, erwiderte Adam und schneller, als Leo sich bewusst werden konnte, was er da hörte, hatte sich dieser Satz auch schon in seinen Unterleib und seinen Schwanz gebrannt. Wie Adam das sagte, mit welcher Stimme er es sagte…Leo war praktisch hilflos gegen die rohe Lust, die das in ihm auslöste. Er war überrumpelt und überschwemmt von etwas, das bisher noch nie so deutlich, so eindrücklich 

Gleichsam labte sich etwas Dunkles in ihm an Adams Position, daran, dass dieser kniete und dass ihm keine Wahl gelassen wurde, wie er Bastians Schwanz zu schlucken hatte. Etwas noch viel Dunkleres stellte sich just in diesem Moment vor, wie es wäre, wenn er Adam so seinen Platz zeigen und sich für das Knien zu Beginn ihrer Bekanntschaft rächen würde. Nur eben…anders. Intimer. Er hätte Macht über den Mann, der seine Handlungen so viele Monate bestimmt hatte. 

Leo schluckte erneut und schickte seine dunklen Gedanken dorthin, wo sie gekommen waren – ganz weit weg, zurück zu Erinnerungen, die er lieber nicht anrührte. Was blieb war… Erregung. 

Adam war gut darin, sich anzupassen und Bastian Befriedigung zu verschaffen und Leos verräterische Lust teilte ihm mit, dass er auch bei ihm so gut sein würde. Sie fragte ihn, wie es wäre, wenn er Adam die ganze Nacht auf seinen Knien lassen würde, für ihn bereit. Nackt. 

Zum Teufel, was war mit seinen Gedanken los?

„Das ist aber nicht das Wohnzimmer“, sagte Vincent abrupt in eben diese hinein und Leo zuckte so gewaltig zusammen, dass er einen Satz nach hinten machte, die Augen schreckensweit und seine Wangen so heiß, dass sie nur feuerrot sein konnten. Er schluckte trocken und starrte Vincent in die leicht amüsierten, blauen Augen. Auf die verdächtig zuckenden Lippen. 

„Komm…wir lassen den Beiden etwas Privatsphäre“, zwinkerte er und hilflos krampfte sich Leos Hand um das plötzlich so schwere Kartenspiel. Er starrte an sich hinunter und erstarrte beinahe in der gleichen Bewegung, als er seine deutliche Erregung sah. Verfluchte Chino. Verfluchter Körper. Verfluchter…

„Oh.“

Natürlich musste Vincent kommentieren, was mit ihm los war. Natürlich musste er ihn darauf stoßen. Natürlich…

Leo biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Er musste weg. Es ging nicht. Er konnte hier nicht bleiben. Nicht mit seinem Problem. Nicht mit der Bedeutung, die dieses Problem gerade für ihn hatte. Nicht mit dem Chaos in seinem Kopf. 

Er sah wütend hoch und grollte, hinein in Vincents sanften, wissenden Gesichtsausdruck. Schier panisch schüttelte er ob des Wissens in den blauen Augen den Kopf. 

„Nein!“ Leo drängte sich an Vincent vorbei in den Eingangsbereich der Wohnung, in seinen Ohren die eindeutigen Geräusche der anscheinend nichtsahnenden Männer aus dem Schlafzimmer und streifte sich mit zitternden Fingern seine Schuhe über. Blind griff er sich seine Jacke, Vincents Anwesenheit in seinem Rücken wie ein schweres, unnachgiebiges, schuldaufwerfendes Gewicht. 

„Leo, wo willst du hin?“, fragte dieser sanft und ohne ihn anzusehen, stürzte Leo zur Tür, riss sie auf. 
„Weg.“

Nur weg. 

Ohne einen Blick zurück zu werfen, polterte Leo mit unbequem enger Hose die Treppe hinunter und weg von dem Mann, der viel sein durfte, nur nicht derart attraktiv. Für den er viel empfinden durfte, nur keine Lust. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 42: Die Freuden von Grindr

Notes:

Hallo zusammen!

Die Sommerpause ist vorbei und hier ist er nun, der neue Teil der Anatomie! Er ist teilweise schon über ein Jahr alt und ich hatte erneut Hilfe bei gewissen Information. So wusste ich z.B. nicht, wie man Grindr nutzt. Vor einem Jahr hat mich da treibholzdesuniversums mit samt bestem Kumpel tatkräftig bei der Aufklärung unterstützt. Vielen Dank dafür!

Quelquun und Carmenta haben mich bei der Szenenkontrolle und der Szenendynamik beraten und unterstützt. Danke euch beiden! ❤️🌻

Euch Lesenden, Kommentierenden, Kudotierenden...euch danke ich für euer immer noch andauerndes Interesse. ❤️

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Wo ist Leo?“

Vincent sah von dem Stück veganen Kuchen auf, das Bastian heute für ihn, aber auch für Adam und Leo gebacken hatte. Zur Feier des Tages…damit er sich nach Herstellung des Kuchens auch gleich noch von Adam oral befriedigen lassen konnte. 

Praktisch, so eine Doppelfunktion, befand Vincent etwas angesäuert. 

Für gewöhnlich hatte er gar kein Problem mit Bastians und Adams Verbindung. Ersterer tat Letzterem gut und bot ihm ein recht verlässliches Ventil für Adams manchmal besonderen Bedarf an Sex. Für seine dunkleren Stunden und dunkleren Bedürfnisse. Letzterer bot Ersterem Schutz vor potenziell gewaltbereiten Freiern, die sonst Bastians Leben finanziert hatten. Eine Symbiose beider Männer, die zur beidseitigen Zufriedenheit war. 

Vincent mochte und schätzte Bastian, er wusste, dass er ein zuverlässiger, kluger und guter Mensch war. Was man von Adam und dessen Versuchen, Leo in sein Bett zu bekommen, nicht behaupten konnte. 

„Leo? Der kommt doch erst später“, mimte Vincent den Ahnungslosen und nahm eine Gabel mit Kuchen. Schokolade mit Nüssen, so wie er es liebte; insbesondere Bastians war da ein Leckerbissen sondergleichen. Adam wusste das und war fürsorglich genug um ihn oft damit zu versorgen. 

Dass er im Gegensatz dazu nicht fürsorglich und mitdenkend genug war um Leo nicht Hals über Kopf in dessen unmögliche und in subjektiv empfundene, verbotene Lust zu stoßen und ihm nicht plakativ zu zeigen, wie gut Adam darin wäre, Dinge mit Leo zu tun, ärgerte Vincent schon. Vor allen Dingen derart…berechenbar. Und was es mit Leo machte, nicht sanft an seine erwachte Anziehung herangeführt zu werden, sondern mit dem offensichtlichen Fallout seiner verbotenen Lust konfrontiert zu werden, konnte sich Vincent auch nur ausmalen.

Adam setzte an zu widersprechen, dann ging ihm auf, was Vincent hier mit ihm auf dem Balkon trieb. Unwirsch runzelte er die Stirn und presste die Lippen aufeinander. 
„Hast du ihn wieder weggeschickt?“, fragte er knurrend und Vincent sah hoch. Er legte die Kuchengabel beiseite und lehnte sich zurück. 
„Er ist von selbst gegangen. Erschrocken, panisch und…erregt. Du hast also alles erreicht, was du wolltest.“

Finster musterten sie sich und nur graduell gab Adam My für My nach. 

„Ich wollte nur, dass er sieht, dass er das auch mit mir machen kann, was er am Anfang mit ansehen musste“, gestand er schließlich ein und blickte auf die Stadt hinaus. „Und natürlich, dass ich kein Problem damit habe, ihm einen zu blasen.“

Weil Seufzen nicht mehr reichte, massierte sich Vincent erneut seine Nasenwurzel. Zumindest die war entspannt, im Gegensatz zu allem anderen. 

„Fangen wir mal damit an, dass es eine dumme Idee ist, dass ihr Beiden euch näher kommt – sowohl emotional als auch körperlich. Aufhalten lasst ihr euch davon aber anscheinend nicht und ich habe es aufgegeben, dir das ausreden zu wollen, wie du weißt. Das heißt aber nicht, dass ich deine Herangehensweise gutheiße und dass du dich ihm am Besten nackt auf den Bauch bindest, damit er dich wahrnimmt. Denn er nimmt dich auch so wahr, aber er braucht Zeit, diesen inneren Konflikt zu überwinden, wenn er sich dazu entscheidet, ihn überhaupt überwinden zu wollen. Mach langsam, Adam. Ihr seid euch nicht im Club oder auf der Straße begegnet. Du hattest Macht über ihn, monatelang. Du hast sein Leben diktiert.“

Vincent atmete tief aus und hielt Adams brennenden Blick voller wohl versteckter Schuld. 

„Wie sonst soll ich herausfinden, ob und was er empfindet, wenn nicht so?“, hielt er kritisch dagegen und Vincent schüttelte den Kopf. 
„Indem du fragst und ihm Zeit für die Antwort gibst. Leo Hölzer ist ein nachdenklicher, ein analytischer Mensch, er braucht seine Zeit. Und heute, vor nicht einmal zwei Stunden, hat ihn seine Lust so überraschend überrollt, dass er Panik hatte. Weil du und Bastian ihn erregt haben. Deutlich.“
„Gut, dann gehe ich zu ihm und kläre das mit ihm. Ohne mich ihm nackt auf den Bauch zu binden.“

Die spöttische Verachtung in Adams Stimme war nicht halb so verletzend gemeint, wie sie sich im ersten Moment zu Vincent trug und mit ruhiger Dominanz haschte er nach der Hand seines besten Freundes und Auftraggebers. Adam ließ zu, dass er seine Finger sacht drückte. 

„Ich weiß, dass du ihm nicht wehtun wirst“, gestand er ein. „Aber bedenke, dass er noch nicht so weit ist wie du, was seine Lust für dich angeht. Falls er es jemals sein wird. Es kann durchaus sein, dass er niemals mit dir schlafen wird.“

Adam schmeckte diese Möglichkeit ganz und gar nicht, das sah Vincent. Doch er erwiderte den Druck und keinen Moment später wurde Vincent in eine enge, beinahe schon verzweifelt anmutende Umarmung gezogen. 

„Wünsch mir Glück“, murmelte Adam und küsste Vincent auf seine lockigen Haare. Ihr Abschiedsgruß, wenn sie beide wussten, dass Adam im Begriff war, etwas wirklich Waghalsiges zu tun. Und Vincent ihm genug Chuzpe zugestand, um ihm nicht davon abzuhalten.


~~**~~


Was hatte er getan? 

Eine Frage, die sich Leo immer und immer wieder stellte und auf die er keine Antwort fand. Er war leer, buchstäblich, wortwörtlich. 

Seine Erregung und seine Lust war er losgeworden, in hastigen, abgehackten Bewegungen unter der Dusche. Er hatte versucht, sich nicht Adam vorzustellen, sondern einen anderen, blonden schlaksigen Mann, und war gescheitert. Während er verzweifelt versucht hatte zu kommen, war es einzig und alleine die Erinnerung an den knienden Adam, der von Bastian benutzt wurde, die ihn zum gewünschten Ergebnis geführt hatte. 

Nein… gewünscht war das Ergebnis mit Sicherheit nicht gewesen. 

Wie konnte er? Wie konnte er Lust für einen Mann empfinden, der ihn noch vor Monaten erpresst, unterdrückt, gedemütigt hatte? Wie konnte er Lust für die Spiegelung dieser Situation empfinden? Wie konnte Lust Ekel ersetzen? 

Leo presste seine Beine an seinen Oberkörper, als könnte er so eine neue Welle der Erregung unterbinden. Nahezu zwecklos. Er legte die Stirn auf seine angezogenen Knie und schnaufte. 

Sich mit Adam zu treffen, war eine Sache. Sich nicht mehr unwohl dabei zu fühlen, eine andere. Sich dem Mann in freundschaftlicher oder intimer Art und Weise zu nähern, war… wie sollte das gehen? Wie konnte Leo überhaupt eine Sekunde darüber nachdenken? 

Das Klingeln seiner Tür riss ihn aus brutal seinen Gedanken und Leo zuckte so brachial zusammen, als wäre er gleichzeitig verbrannt und geschlagen worden. 

Adam? Vermutlich. Vincent? Genauso wahrscheinlich. Sein persönlicher Psychologe, der sich um Ausgleich und um Verständnis bemühte. Verständnis für diese Situation würde Leo aber nicht haben…mit Sicherheit nicht. Das brachte er doch noch nicht einmal für sich selbst auf. 

Vielleicht sollte er einfach gar nicht aufmachen. Wer auch immer dort unten stand, ignorieren, und darauf warten, dass er ging. So tun, als wäre er nicht da, obwohl in seiner Wohnung zur Straße hin Licht brannte, was man von unten gut sehen konnte. Außerdem stand sein Wagen vor der Tür, ein weiteres Indiz.

Leo presste die Lippen aufeinander, als seine Gedanken sich wie flüchtige Täter vor dem konkreten Anlass scheuten und vor einer konkreten Entscheidung flohen.

Es klingelte erneut und Leo ballte seine Hände zu Fäusten. Was auch immer käme, er wollte es nicht. Nein, er hatte regelrecht Angst davor. Nicht vor der Person, sondern vor seiner eigenen Reaktion. Vor den Konsequenzen seines Handelns. 

Es klingelte zum dritten Mal und bevor er sich weiter in sich zurückziehen konnte, erhob Leo sich. Es war die nahezu fatalistische Seite in ihm, aber auch die pragmatische, die ihn nicht damit durchkommen ließ, sich hier zu verstecken und seinen Problemen aus dem Weg zu gehen. 

Er ging zur Tür und drückte den Summer, ohne vorher zu fragen, wer es war. Lieber riss er den Anblick der nun hochkommenden Person wie ein Pflaster von einer eiternden Wunde, als dass er die Sekunden bis zum Eintreffen damit verbringen konnte, sich darauf vorzubereiten. 

Dass er Adam alleine an seinen schnellen, aber unregelmäßigen Schritten erkannte, war eine Erkenntnis an sich, die er lieber nicht gehabt hätte.  

Sobald Adam in sein Sichtfeld kam, ließ der blonde Mann ihn nicht aus den Augen und Leo fühlte sich gefangen von den eisblauen Augen, die nur ein Ziel kannten – ihn. Ohne Zweifel hatte Vincent ihm gesagt, warum Leo aus der Wohnung geflohen war und ohne Zweifel war das mehr als eine Bestätigung für den Mann vor ihm, dass Leo weder willensstark und integer genug war, diese Grenze nicht auch noch zu überschreiten. 

Adam nahm die letzte Treppenstufe und kam zu ihm, ungewohnt schweigsam und ohne einen dummen Spruch auf seinen Lippen. Leo wünschte sehr, dass er irgendetwas sagen würde, das ihn wütend machte. Denn Wut war leichter zu ertragen als das Chaos in ihm. Sie wäre gewohnter und weniger…roh. 

Ohne Worte standen sie sich gegenüber und Leo begriff, dass er es sein müsste, der Adam in seine Wohnung bat. Symbolträchtig in jedem Fall. Nein zu sagen war eine Option und diese wäre richtungsweisend. Ja zu sagen ebenfalls. 

Leo drehte sich um und ging zurück in sein Wohnzimmer, obließ es Adam, ihm zu folgen. 

Das Geräusch der sich schließenden Wohnungstür gab ihm den letzten Beweis, dass ein Gespräch zwischen ihnen unumgänglich sein würde und er schloss die Augen, holte für einen Moment tief Luft. Atmete ein und aus, um sein wild klopfendes Herz zu beruhigen.

Er drehte sich zurück und sah sich Adam gegenüber, der auf Socken in seinem Wohnzimmer stand. Wenn Leo genau hinsah, würde er noch die leicht geschwollenen und gut durchbluteten Lippen erkennen, mit denen Adam Bastian befriedigt hatte. Ebenso würde er erkennen, dass Adams Haare, dort, wo Bastian sie gepackt und Adams Kopf damit dirigiert hatte, immer noch durcheinander waren. 

Leo hätte gerne gesagt, dass er nicht genau hinsah, aber das wäre eine Lüge gewesen und die Informationen, die er daraus erlangte, ließen ihn trocken schlucken. 

„Du hast Bastian und mich dabei beobachtet, wie ich ihm einen geblasen habe“, sagte Adam und Leo nickte knapp. 
„Und es hat dich erregt.“

Wie final diese Worte doch klangen. Wie selbstverständlich, obwohl sie das nicht waren. Keine Silbe daran war es. 

„Nein.“ Seine Antwort war kühl, zittrig hervorgepresst und gelogen. Warum er das tat, wusste Leo selbst nicht – vielleicht, weil eine unvernünftige Stimme ihm sagte, dass Adam nicht auch noch diesen Sieg einfahren sollte, nachdem Leo ihm schon soviel gab. Freiwillig. 

„Nein?“, hakte Adam sanft nach und Leo nickte, als wäre er wirklich überzeugt von dem, was er hier sagte. Dass er seiner Stimme nicht soweit vertraute, es noch einmal zu sagen, stand auf einem anderen Blatt. 
In einem anderen Buch stand dahingegen, dass Adam sich nun auf ihn zubewegte, langsam, als wäre er ein scheues Tier, das beim Verdacht eines Angriffs fliehen würde. 

„Es hat dich also nicht angemacht zu sehen, wie Bastian seine Hand in meine Haare gekrallt hat?“, fragte er, die Stimme dunkle Verheißung, weich und so vollkommen abseits von seinem sonstigen Timbre. Leo wusste selbst, wie gut er auf Adams Sanftheit reagierte, schon vor Monaten war ihm das bewusst geworden. Dass nun aber auch noch eine andere Nuance hinzukam, die Leo auf einer ganz anderen Ebene ansprach, war ein Ding der Unmöglichkeit. 

Stumm schüttelte er den Kopf und hatte mehr und mehr Mühe, Adam in die Augen zu sehen, die weniger jägersgleich waren, sondern eher viel zu verständnisvoll. 

„Es hat dich also nicht angemacht zu sehen, wie ich vor Bastian gekniet habe und er über mir gestanden hat.“
„Nein.“ Leo hasste, wie rau seine Stimme wurde, wie gläsern. Wie voreilig er den Mund aufmachte um etwas zu sagen, das nicht seine Lippen verlassen sollte. 

„Es hat dich also nicht angemacht, wie er sein eigenes Tempo bestimmt hat, als er meinen Mund gefickt hat. Wie er meinen Kopf dirigiert hat, so wie er es wollte? Es hat dich nicht angemacht, dass er mich bewegt hat, als wäre ich nicht mehr als ein Gegenstand? Es hat dich also nicht angemacht zu sehen, wie er mich benutzt hat?“

Leos Schwanz reagierte fürchterlicherweise auf Adams Worte. Er fühlte sich tief in sich angesprochen durch das, was der Mann vor ihm mit seiner unendlich weichen, dunklen Stimme sagte. Es war nicht mehr als der animalische Instinkt Adam nach all den Monaten, nach all der Unterdrückung und Demütigung zu dominieren und ihn sich zu unterwerfen, sagte Leo sich. Ein Drang, der rein körperlich war und verspätet in Leo aufwallte, genährt durch dunkle Erinnerungen, die Leo sonst so sorgsam in sich wegschloss. Mehr nicht. 

Mehr. Nicht. 

„Nein“, presste Leo hervor und dieses Mal war es nicht nur ein Nein zu Adam, sondern auch ein Nein zu sich, zu all dem Chaos, das in ihm tobte und er nicht wollte. 

Und natürlich ließ Adam ihn nicht damit davonkommen. Das hatte er auch schon in der Nacht nicht, als Leo ihn hatte von den Erinnerungen an Detlef hatte ausschließen wollen. Adam war gnadenlos, im Schlechten wie im Guten, wie es schien. Er kam auf Leo zu und jagte nun doch. Ihn. Seine Wahrheit. Das, was Leo verneinte.

„Du lügst.“ Zwei simple Worte, die Leo den brüchigen Boden unter den Füßen wegzogen. 

Mit eben diesem Boden korrodierte auch Leos Beherrschung und wütend stieß er Adam von sich, als könnte er so dessen Wahrheiten von sich fernhalten. 

„Und wenn?“, fauchte er wütend, während er dem Mann in die Augen starrte, dessen Lippen immer noch etwas geschwollen waren, von…

„Und wenn ich lüge? Was dann? Was glaubst du, folgt daraus? Dass ich vor dir auf die Knie gehe und dir deinen Schwanz lutsche? Oder du meinen? Oh ja, das wäre etwas. Der Kronprinz des Syndikats lutscht seinem vormals erpressten Bullen den Schwanz. Wie wäre das, hm? Sag es mir? Hast du Lust dazu? Wenn ja, dann ab auf die Knie mit dir und sperr dein Maul auf, damit ich deinen Mund ficken kann!“

Leo war so wütend, dass er vulgär, ungerecht und verletzend wurde. Dabei war er noch nicht einmal auf Adam wütend, sondern auf sich selbst und seine dummen Emotionen, die ihn hierhergebracht hatten und ihm schale Lust bereiteten, die dermaßen schulddurchsetzt war, dass Leo beinahe die Galle hochkam. 

Die Hände zu Fäusten geballt starrte er Adam in die viel zu ruhigen Augen. Viel zu ruhig dafür, dass er nun vor Leo auf die knackenden Knie sank, die ihm mit Sicherheit Schmerzen bereiteten.

„Dann tu es“, sagte er schlicht und Leo war nicht fähig, auf eine geeignete Art und Weise auf Adam zu reagieren. Wie eingefroren stand er vor Adam, über Adam, und starrte ihm in das Gesicht, was immer noch viel zu wenig Emotionen abseits von Ruhe hatte. Dafür, dass Adam ihre Situation spiegelte, vor ihm auf die Knie ging, ihm anbot, Dinge zu tun, die unaussprechlich waren, die unmöglich waren in ihrer Konstellation.  

„Nein“, presste er gequält hervor und ein kurzes Lächeln huschte über Adams Lippen.

„Ich bin hier. Mach mit mir, was du willst.“

Leos verdammter Schwanz reagierte erneut und das machte den Verrat an seinen Prinzipien doppelt schlimm. Gleichwohl labte sich etwas in ihm an den Worten des vor ihm knienden Mannes und wollte ihm nur zu gerne seinen Wunsch…seine Aufforderung…erfüllen.

Seine Hände zuckten und die minimale Bewegung war der Anstoß, den Leo brauchte um vor Adam zu fliehen. Zum zweiten Mal innerhalb von Stunden. Dieses Mal kam er nur bis in sein Schlafzimmer und warf eher verzweifelt als wütend die Tür hinter sich zu. Schier panisch ging er zum Fenster und merkte, wie seine Hose schon wieder enger wurde. Innerhalb von mehreren Stunden, obwohl er sich nicht verabredet hatte. Obwohl er keine einzige Chatnachricht über Grindr geschrieben hatte.

Verzweifelt wandte Leo sich ab und rutschte an seinem Bett zu Boden. Er zog die Knie an, damit er selbst nicht sehen musste, was er nur zu deutlich fühlte. Frustriert bettete er seinen Kopf auf seine hochgezogenen Knie. 

Das, was ihm in seinen dunkelsten Stunden immer als willkommene Rache gewesen zu sein schien, war nun nicht mehr als eine schale Hülse. Adam kniete vor ihm und er konnte mit ihm machen, was er wollte? Der Polizist in ihm wollte ihm Handschellen anlegen. Vielleicht. Jemand anderes in ihm wollte das auch…aber dieser dachte nicht daran, Adam den Behörden zu überstellen. Nein, dieser ergötzte und nährte sich einzig und allein von vermeintlich körperlicher Rache und erotischer Macht. Aber das war Leo nicht. Er war kein schlechter Mensch…er wollte das nicht. 

Er konnte auch nicht, denn das hieße, dass er sein System durchbrach. Er pflegte keine Verbindungen zu seinen Bettgeschichten. Selbst zu Gunnar und Mika nicht. Er traf sich mit ihnen nicht außerhalb ihrer Sex-Dates. Seit…Matthias hatte er das nicht mehr getan und nun war es unvorstellbar, eben das zu tun. 

Die Tür öffnete sich und Leos Magen zog sich schmerzhaft bei dem Gedanken daran zusammen, dass Adam mit ihm im Raum stand und ihn so schutzlos sah. So verzweifelt wegen einer Sache, die eigentlich zu Leos Leben gehörte. Die er ihm angeboten hatte. Nach der Leo nur greifen musste, wenn er denn könnte. 

Adam verharrte und trat schlussendlich zu Leos ungemeinem Horror zu ihm, ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder. 

Vielleicht fand er deswegen auch den Mut, überhaupt den Mund aufzumachen. 
 
„Hör auf damit“, verließ das erste deutliche Flehen in Adams Gegenwart Leos Lippen. Das erste Mal, seit er ihn kennenlernen musste, bettelte er wirklich und Leo wusste noch nicht einmal, ob sich das an Adam oder seine eigene Existenz richtete. 

„Womit genau?“, hakte Adam nach und Leos Kehle verließ ein Laut, der nicht mehr als ein Wimmern war. 
„Mit dem hier. Mit allem. Mit…damit.“
„Damit, dir Lust zu bereiten?“

Lust…primitive Lust an Adams Position und an der Situation, ja. Leo schnaubte verächtlich. 

„Ich habe mir in meiner verdammten Dusche einen runtergeholt und konnte dabei an nichts Anderes denken. Aber ich will das nicht! Ich. Will. Das. Nicht. Du hast schon soviel von mir. Ich…fühle Dinge, die ich nicht fühlen sollte. Nicht auch noch das. Das war die letzte Grenze, die mir geblieben ist und nun ist die auch noch überschritten. Ich will doch nur… integer sein…“, schloss er verzweifelt, die Hände schmerzhaft in seinen Haaren vergraben. 

Adams Finger, die sich auf seine legten, waren schlimm. Die Art, wie sie mit sanfter Dominanz seine Hände aus seinen Haaren lösten, war es ebenfalls.

„Hör auf, dir wehzutun“, befahl der andere Mann ruhig und Leo presste nun seine Handballen gegen seine Schädeldecke, als Adam seien Finger wieder zurück zog. Minutenlang sagte Adam nichts, dann schob er sich anscheinend näher zu ihm. 

„Deine Reaktion ist eine rein körperliche, Leo. Du empfindest Lust, weil das, was du gesehen hast, dich erregt und auch in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, dass es dich erregt. Ein ganz natürlicher, körperlicher Mechanismus, der dazu geführt hat, dass der Druck in die wegmusste. Dass ich es war, der das in dir ausgelöst hat…oder Bastian…das ist keine Grenze, das ist einfach ein Zufall. Ein dummer Zufall. Es ändert an deiner Integrität deinem Dienstherrn gegenüber gar nichts. Du wirst ihm nicht untreu dadurch.“

Nein!“, begehrte Leo verzweifelt auf und spürte mit erheblichen Horror, dass seine Augen brannten und sein eingeschränktes Blickfeld verschwamm. Er weinte…und wegen was? Wegen Lust? Das war doch dumm. 
 
„Mein Körper spielt gegen mich, obwohl es das Letzte ist, wo ich dir Widerstand geleistet habe. Und nun sehe ich, wie dieser Mann dir seinen Schwanz in den Rachen steckt und selbst dieser Widerstand ist weg. Ich bin nicht mehr ich! Ich bin nur noch…das, was du von mir willst. Nur noch…“ Leos Stimme brach und er schüttelte den Kopf, seine Stirn an dem weichen Stoff seiner Jogginghose schabend. 

„Du hast mir doch von Anfang an Widerstand geleistet, Leo“, korrigierte Adam ihn sacht. „Und nur, weil dieser Widerstand weg ist, heißt das doch nicht, dass du mich nicht hinter Gittern sehen willst, mit Handschellen und allem Drum und Dran. Du wartest, bis die Zeit reif ist und dann schnappen vorzugsweise deine Handschellen zu. Oder ich winke dir aus meinem Cabrio, mit dem ich vorm SEK fliehe, während du mir mit einem gefluchten „ADAM!“ hinterherrennen kannst. Das hat alles nichts damit zu tun, dass du dich verloren hast und das bist, was ich will. Zumal ich will, dass du du bist.“ 

Adam seufzte. 

„Deine Lust, die lediglich auf das Zusammenschlagen von Atomen in deinem Körper ausgelegt ist, ist nun einmal geprägt durch anderweitige Vorlieben und Gefühle, die ich in dir hervorgerufen habe. Ich sehe nun einmal aus wie dein Beuteschema. Da lag es nahe, dass dir das gefällt. Es würde dir auch bei jedem anderen, blonden Mann gefallen.“

Konnte es so einfach sein? Lust empfinden, weil er wie Hund darauf geprägt war, blonde, schlaksige Männer zu begehren und Adam trotzdem ins Gefängnis zu bringen, auch wenn er ihn so deutlich erregt hatte? Leo wollte ja schreien, vieles in ihm wollte das, aber da gab es auch eine kleine Stimme, die ihn darauf hinwies, dass es erst die Erinnerung an Adam gewesen war, die ein Kommen möglich gemacht hatte.  

Leo verharrte und gab Adams Worten Raum, in ihm zu wachsen. Vielleicht war es nur in dieser Situation exakt Adam gewesen. Vielleicht gab es andere Situationen, wo es nicht mehr so sein würde. 

Die Hoffnung auf diese Situation gab Leo die Kraft, die er dazu brauchte, um seinen Kopf zu heben und sich die Tränen von den Wangen zu wischen. In einem Akt der Gewalt richtete er seinen Kopf nach links und sah Adam in das wenig arrogante, dafür umso ruhigere Gesicht. 

„Ich wünschte, das alles wäre nie passiert. Ich wünschte, du hättest mich nie erpresst“, flüsterte er, unterschlug jedoch die ungesagte Seite seiner Worte. Ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt. 

Das Lächeln, was auf Schürks Lippen lag, war auf krude, ehrliche Weise bedauernd. „Das wäre so oder so passiert, Leo, dafür bist du zu gut in dem, was du tust.“ Wir hätten uns in jeder Variante kennengelernt, stand zwischen den Worten. 

Das Lob in den Worten verwandelte sich in eine Pfeilspitze, die Leos Herz sauber durchbohrte und er starrte zu Boden. 

„Aber ich werde dafür sorgen, dass du das bekommst, was du eigentlich brauchst.“

Das klang wie eine Drohung und unsicher sah Leo in das immer noch entspannte, kantige Gesicht voller Nachgiebigkeit. Da er die Drohung halb ausschloss, war es nun eher wie ein Versprechen, doch auch das beruhigte Leo nicht. 

„Ich habe eine Idee“, sagte Adam und Leo zuckte innerlich. Wenn er eins gelernt hatte, dann, dass Adams Ideen das Schlimmste waren, was ihm passieren konnte, waren sie doch selten wirklich harmlos. Ob er diese vorher mit Vincent durchgesprochen hatte, stand auch auf einem anderen Blatt. 
 
„Oh bitte nicht“, entkam es seinen Lippen trotz oder gerade ob seiner Verzweiflung latent ironisch aber definitiv nervös und der Mann neben ihm schnaubte. 

„Los, hol dein Handy heraus“, sagte er und Leo sah ihn zweifelnd an, seine negativen Emotionen momentan on hold. 
„Nein!“, war Leos erste, instinktive Reaktion. Was auch immer Adam mit seinem Telefon wollte, es konnte nicht gut sein. Doch Adams ruhige Mimik, seine abwartenden, beinahe schon unschuldigen Züge lockten etwas anderes in Leo hervor. Neugier. „Wofür?“, hakte er nach und Adam lächelte. 

„Sag ich dir, wenn du’s in der Hand hast.“

Adam manipulierte seine Neugier, dessen war sich Leo sehr wohl bewusst. Schon seit er sich das Bücherregal des anderen Mannes vorgenommen hatte, traf der andere Mann eben diesen Nerv wieder und wieder und wieder. Er machte das absichtlich und Leo wehrte sich mehr schlecht als recht dagegen. Aber nur so hatte er den Mordfall Elias Schiller gelöst. Nur so hatte er erfahren, wer hinter Adam Schürk steckte und dass das Monster keins war, sondern ein traumatisierter Mann im Überlebensmodus. 

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich hin und schlussendlich fischte Leo tatsächlich sein Telefon aus der Hosentasche. 

„Na los, entsperr es“, forderte Adam weiter und Leo gehorchte zögernd. Adam beugte sich so nahe zu ihm, dass Leo sein dezentes Aftershave riechen konnte, und wischte mit einem sehr spitzen Zeigefinger durch Leos Apps, bis er auf Grindr stieß und ohne viel Federlesens auf den Button klickte. 

Mit Entsetzen sah Leo, wie sich seine personalisierte Benutzeroberfläche lud, seine Reaktion zu spät, zu langsam, viel zu irritiert von dem, was sich hier abspielte.

Adam zog seinen Finger zurück und sah ihn dann abwartend an. Leo starrte ebenso abwartend zurück, während er im Augenwinkel sein Profil wahrnahm. 

„Du bist dran“, forderte der blonde Mann mit einem Nicken und Leo blinzelte. Er wusste nicht, worauf er hinauswollte. Womit war er dran? 

„Wir finden dir einen blonden, großen, schlaksigen Mann, der es dir besser besorgt, als ich es jemals könnte“, spezifizierte die Unmöglichkeit auf zwei Beinen neben ihm. Leo starrte. Das war doch ein schlechter Scherz, oder? Oder? Sein aufgerufenes Profil teilte ihm anderes mit und wurde sich in einem Moment des vollkommenen Schreckens bewusst, dass Adam es ernst meinte.

Was zur Hölle?“, presste er entsprechend fassungslos hervor und der blonde Mann deutete erneut auf sein Telefon. 
„Du brauchst einen Mann, dem du deinen Schwanz tief in den Rachen stecken kannst. Also suchen wir.“
„Das…“
„Und vier Augen sehen mehr als zwei.“
„Ich…“
„Außerdem kann ich so Arschlöcher herausfiltern, die dir nur wehtun wollen.“
„Wie…“
 
Leo starrte, vollkommen unfähig, Worte in diesem absurden Gespräch zu finden. Adam erregte ihn und er selbst stand nach Adams eigenen Aussagen seit langem auf dessen Liste der attraktiven Männer und nun bot er Leo an, ausgerechnet nach anderen, ähnlich aussehenden Männern zu suchen? 

Das war absurd, bigott und alles dazwischen. War das kruder Humor oder würde Adam dann losziehen und die Interessenten aus dem Weg räumen? Leo vermochte es nicht genau zu sagen. Sein Gesicht zeigte keine Anzeichen für eine solche Vorgehensweise, das hieß aber nichts. Rein gar nichts. Oder? Wenn er nach der Sanftheit ging, die Adams Augen umspielte, war es Ernst. 

„Warum?“, fragte er rau und der neben ihm sitzende Mann zuckte mit den Schultern. 
„Ich habe dir soviel Unglück gebracht, wenigstens hier kann ich dafür sorgen, dass du glücklich bist und ich nicht weiter die Quelle deines Unglücks bin.“

Leo öffnete den Mund, um etwas Ablehnendes zu entgegen. Er öffnete den Mund, um zu sagen, dass er selbst dafür verantwortlich war, dass er eine andere Wiedergutmachung wollte, als eine gemeinsame Männersuche. Die Worte blieben ihm bei dem ehrlichen und offenen Ausdruck in Adams blauen Augen jedoch im Hals stecken und er starrte anstelle dessen auf seinen nun dunklen Bildschirm.

„…und dass jemand Anständiges deinen Schwanz schluckt.“

Leo schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel, während seine Wangen untrüglich rot wurden. Unglaublich war das. Wirklich unglaublich. Wie immer schaffte es Adam mühelos, ihn zu überrumpeln, ihn mit Unmöglichkeiten wegzureißen von seinen dunklen, verzweifelten Gedanken. Von seinem eigentlichen Problem, das für Adam keins war, sondern eine Möglichkeit, neue Lösungsmöglichkeiten zu öffnen. 

Sacht rempelte Adam Leo an. „Na los, aufgestaute, sexuelle Energien sollte man nicht allzu lange unbefriedigt lassen.“

Die Frage, was Adam über aufgestaute, sexuelle Energien wusste, verbiss Leo sich, denn die Antwort kannte er mit Sicherheit schon. Und falls nicht, wollte er sie auch nicht kennen. 

„Ich werde nicht mit dir zusammen grindrn, das ist…“, begann er im Versuch einer Weigerung, doch das bestimmte Schnaufen an seiner Seite teilte ihm anderes mit. 
„Warum nicht? Weil mir Datingplattformen für Männer neu sind und du meinen unschuldigen Geist damit nicht beschmutzen willst?“

Leo öffnete seine Augen und starrte Adam gleichsam vielsagend und vernichtend an. 

„Sehr witzig. Als wenn“, murrte er und Adam lächelte. 
„Na siehst du. Das wäre nicht das Schlimmste, was ich gesehen habe.“
„Trotzdem.“
„Ich habe eine Schuld zu begleichen und wenn ich derjenige war, der dich in schamlose Lust getrieben hat, dann werde ich auch dafür sorgen, dass du Abhilfe bekommst.“

Die hatte Leo doch schon gehabt und seine Finger brannten immer noch vor Scham über seine eigenen Berührungen. 

„Und ich will dir zeigen, dass die Kerle, die du dir aussuchst…also die wir zusammen aussuchen, es eben so gut können wie ich.“
 „Willst du noch dabei sein oder was?“, knurrte Leo und erkannte noch während er das sagte, dass er eine nicht als eine ehrliche Antwort zu erwarten hatte. 
„Wenn du mich einlädst.“
„Nein!“
„Dann wohl eher weniger.“
„Das ist doch Unsinn!“
„Kein Unsinn. Du brauchst das, du sollst das bekommen.“
„Ich habe auch früher bekommen, was ich wollte.“
„Klingt sexy.“

Leo presste seine Lippen aufeinander und gab Adam sehr deutlich zu verstehen, dass er in dieser Situation diese Art von Scherzen nicht wollte. 

„Gibst du Ruhe, wenn wir gucken?“, fragte er hoffnungsvoll und Adam nickte. 
„Sobald wir jemanden gefunden haben, der passt und kein Psychopath ist, ja.“

Das war doch ein Wort und Leo hoffte auch nicht auf zu viele Schwänze direkt als erstem Bild. Er atmete tief ein, öffnete die Augen und hob den Kopf, das mittlerweile schwarze Telefon in der gleichen Bewegung wieder zum Leben erweckend. 

„Du bist unmöglich“, murmelte Leo mit immer noch warmen Wangen pro forma und rief gleichzeitig sein Grindr-Suchprofil auf, das von blonden Männern nur so strotzte. Er hatte es so eingestellt und für gewöhnlich war das kein Problem für ihn. Er stand dazu. Er lebte damit. Er war so gesehen worden und bisher hatte Adam ihn…bis auf eine Ausnahme…damit in Ruhe gelassen. Nur jetzt saß eben jener neben ihm und starrte gebannt mit ihm zusammen auf sein Telefon. Das machte es seltsam. Nicht nur das. 

Auch wenn Adam vollkommen ungerührt von seinem latenten Unwohlsein schien und mit wachem Blick durch seine Galerie scrollte, ihn dabei auch noch ignorierte, als würde er für sich selbst suchen.

Es dauerte nicht lange, bis Adam dort auf jemanden zeigte. „Der da!“

Wenn sich der Boden nun unter ihm aufbrechen und ihn verschlucken würde, so wäre das Leo wirklich recht. 

Pflichtschuldigst rief er das Profil des Mannes auf und starrte nun gemeinsam mit Adam auf dessen ausladenden Schwanz. Natürlich. Grindr war entsprechend freizügig und schamlos, was männliche Körperteile anging, und für gewöhnlich hatte Leo auch überhaupt kein Problem damit. 

Für gewöhnlich.

„Der ist nicht so groß wie meiner“, merkte Adam nicht ohne Stolz an und Leo war wirklich versucht, sein Handy einfach auszumachen. Diese offene schamlose Eigenwerbung war mit das Schlimmste, was Adam in dieser Situation betreiben konnte und Leo verbot sich eisern, darüber auch nur eine Sekunde nachzudenken. 

Er wusste es auch, wusste um Adams Länge, die er nun mehr als einmal gesehen hatte. Er wusste um die Größe, die soviel Gutes verhieß. 

Wenn sie nicht zu Adam gehören würde. 

Leo atmete tief ein.

Ein Gutes hatte das Alles. Die Situation war so lächerlich absurd, dass er das fürchterliche Wissen um die Lust, die Adam in ihm hervorgerufen hatte, in den Hintergrund schieben und vergessen konnte. Es wurde so sehr zu etwas, das absurd war, dass es sich wie Balsam auf Leos Seele legte. Dadurch, dass Adam mit ihm nach anderen Männern suchte, war das alles hier weniger auf ihn selbst fixiert. Zudem fand Leo in der gewohnten Handlung Ruhe und Vertrautheit. 

„Der scheint keine sonstigen red flags zu haben und er trägt eine Brille. Allerdings ist da auch ziemlich viel Langeweile. Ich glaube, der würde ablehnen.“

Dem konnte Leo nur beipflichten, aber er würde den Teufel tun und das laut aussprechen. Lieber brummte er und schloss das Profil wieder, kehrte zurück zur Seite der Adam-Ersatzmänner und ließ den neugierigen Mann links von ihm erneut auswählen, welches Profil er aufrufen sollte.

Sie schauten sich das Profil von Manuel an und von Kevin. Einen Jean gab es auch noch, bevor der Mann, der nun im Großformat auf seinem Bildschirm auftauchte, einen zweiten Blick wert war. Bildschön war er und sehr deutlich nur zu gewillt, Oralsex zu haben. Jedes seiner Bilder war durch ein Lächeln geprägt und für die Verhältnisse dieses Portals war er beinahe schon anständig bekleidet. Auch wenn das Bild in Boxershorts, das ihn im sachten Morgenlicht zeigte, wenig der Vorstellungskraft überließ. 

Leo schluckte und wurde wieder angestupst. 
 
„Der könnte.“

Leo brummte erneut und legte nun wirklich kopfschüttelnd sein Smartphone zur Seite. Es war…zu seltsam. Leo hatte noch nie mit jemanden zusammen gegrindrt, befreundet mit Adam war ebenfalls nicht. Und selbst wenn, hätte er niemals mit einem Freund etwas so Intimes ausgesucht. 

„Siehst du, genug Männer für dich. Du brauchst mich nicht. Ich war eben grad zu einem ungünstigen Zeitpunkt für dich zu einer ungünstigen Stelle“, konkludierte Adam und Leo erkannte keine Bosheit in dem aufmerksamen Gesicht. Auch nicht, als er sich nun langsam erhob und sich den imaginären Staub von seiner Hose klopfte und drei Schritte zurücktrat, damit Leo sich nicht den Nacken verrenken musste, um zu ihm hochzusehen. 

„Ich bin ersetzbar, wie du siehst. Also mach dir nichts aus deiner kurz hochflammenden Lust für mich. Das war nur eine zeitweilige Verwirrung. Dein Hirn hat dir temporär vorgegaukelt, dass ich ein potenzieller Kandidat wäre, mehr nicht. Komisches Hirn.“ 

Adam lächelte und wenn Leo sich nicht täuschte, verkam das Lächeln am Ende zu etwas Bedauerndem, etwas Traurigem. Vincents Worte kamen Leo in den Sinn. Adam hatte Interesse an ihm, schon immer gehabt. Erst sexuell, dann…auf andere Art und Weise. Jemand wie Adam hatte doch genug Ablenkung und Leo glaubte sowieso nicht, dass der andere Mann trotz aller Bemühungen und trotz allem Kontakt zu ihm tatsächlich Interesse an etwas Festem hatte. 

Bevor er sich jedoch weitere Gedanken darüber machen konnte, tippt Adam sich in Form eines knappen Grußes an die Stirn und wandte sich ab. Mir nichts dir nichts verließ er das Schlafzimmer und kurze Zeit später hörte Leo seine Wohnungstür auf- und zugehen. 

Die daraufhin eintretende Stille hatte etwas von der Einsamkeit, die Leo sich noch vor Monaten gewünscht hatte. Nun war es wie das Zuschlagen von etwas, von dem Leo bisher nicht gewusst hatte, dass es offenstand und der Drang, Adam zurück zu halten, wurde erst im Nachhinein groß. Die Leere der Einsamkeit konnte nicht die vorsichtige Erleichterung wieder wettmachen, die Leo umfasste, dass seine Lust wahrscheinlich doch nicht auf Adam bezogen war. 

Und die Zweifel daran. 


~~**~~


Adam setzte sich hinter das Lenkrad seines Wagens und atmete tief ein. 

Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal, bevor er auch nur daran denken konnte, sein Telefon in die Hand zu nehmen um Vincent anzurufen. Gleich irgendwann. 

So fühlte es sich also an, zu verhungern, mit der Karotte direkt vor der Nase. So fühlte es sich an, unterzugehen und zu ertrinken, mit dem Rettungsboot zwei Meter weiter. So fühlte sich hilflose, betäubende Enttäuschung und Leere an. 

Adam hatte schon viele negative Gefühle in seinem Leben gehabt, doch das hier war neu und so bitter, dass ihm beinahe das Mittagessen wieder hochkam. 

Soviel zu seinem Plan, Leo mit seinen Vorzügen für sich gewinnen. Leo war überzeugt gewesen, das eindeutig und so durchdrang auch ein bisschen Stolz die nebulöse Leere, dass sich sein hauseigener Polizist zu seinem Anblick einen in der Dusche runtergeholt hatte. 

Dass dies aber nicht mit weiterer Lust und Bereitschaft, sich von ihm den Schwanz lutschen zu lassen, hinterlegt war, sondern mit Panik und Angst…das fand Adam intolerabel und hatte daher tief in seine Trickkiste gegriffen. Die Ablenkung mit Grindr war erfolgreich gewesen und Leo würde nun zu seinem Come-and-Fuck zurückkehren, was ihn anscheinend schon seit Jahren begleitete. 

Also alles in bester Ordnung. 

Nur dass Adams Magen rumorte und tobte und er bittere Galle im Rachen stehen hatte. Die frühherbstliche Sonne schickte ihre letzten Strahlen über Saarbrücken, doch Adam verspürte nur Trostlosigkeit bei dem Gedanken daran, dass Leo diesen Schritt nicht gehen würde und sich anstelle dessen nun Ersatz holte. 

Das blonde Miststück mit dem ach so tollen Körper würde mit Sicherheit nicht so gut schlucken wie er. Das wusste Adam. Jetzt schon. Aber dieses Wissen brachte ihm nichts, denn Leo würde ihn ausprobieren und dann zum Nächsten weitergehen. Wie immer. 

Und Adam würde ewig außen vorbleiben. Weil er getan hatte, was er getan hatte. Weil Leo das nicht vergessen konnte – berechtigterweise. Sie standen auf zwei verschiedenen Seiten und Leo fickte keine Verbrecher. 

Adam biss die Zähne zusammen und rief Vincent an. 

„Wie lief es?“, fragte seine rechte Hand und sein bester Freund sanft und Adam lächelte, weil er sonst geschrien hätte. 
„Bestens. Habe mit ihm gegrindert und er hat nun ein Date, dem er seinen Schwanz in den Mund stecken kann.“
„Was?“
„Unser hauseigener Polizist hat natürlich kein Interesse an Sex mit mir und weil er deswegen auch noch ein schlechtes Gewissen hat, habe ich ihm Ersatz besorgt, der selbstlose Mensch, der ich bin.“
„Adam…“
„Lass gut sein, Vincent. Ist eben so.“
„Adam…“ 
„Ich komm gleich zu dir und will irgendwas Geistloses sehen. Eine Umarmung wäre auch nett.“

Einen Moment lang herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Dann seufzte Vincent. 

„Alles, was du willst, Adam. Alles.“

Er wollte Leo und das seit langer Zeit wieder nicht nur rein körperlich, sondern in Ansätzen auch so, wie es mit Elias gewesen war. Doch anscheinend hatte die Dreckssau Recht damit gehabt, als er ihm gesagt hatte, dass ihn nichts wollte, so wie er es wollte und dass er deswegen besser seinen Platz in der Welt kannte. Dieser bestand nicht bei so unsinnigen Sachen wie…Zuneigung. 

Natürlich nicht.

Das war sein Fegefeuer, seine Buße für all das Schlechte, das er getan hatte. 

Adam blieb immer allein, gehasst und verachtet für das, was er war. Egal, von wem. 


~~**~~


Leo traf sich mit Niklas – so hieß der Blonde mit wirklichem Namen. Am Montag Abend lehnte er mit dem Rücken an seinem Wagen und krallte seine rechte Hand in die blonden Haare des Mannes, während dieser seine Lippen um Leos Schwanz geschlossen hatte. Engagiert und leidenschaftlich war er.

Und Leo empfand nichts. 

Erregung, ja. Schwach, unvollständig, zögerlich. 

Er kam, viel zu schnell und viel zu oberflächlich und unbefriedigt, fühlte sich dabei leer und wenig entspannt. Die kleine, leise Stimme in ihm, die ihm sagte, dass das trotz allem nicht der richtige, blonde Mann war, ignorierte er und verabredete sich für Dienstag mit Mikhail. Blond, blauäugig, dominant. Er beugte Leo über die versteckte Balkonbalustrade des französischen Clubs und fickte sich so tief in ihn, dass Leo an der Grenze zur Erträglichkeit seine Lippen blutig biss. Er kam – aber genug war es nicht. Das Richtige war es nicht, obwohl er schon oft so gekommen war. 

Während er Mittwoch Morgen kaum in der Lage dazu war zu sitzen und Esther ihm während seines Besuches ihrer Teeküche ihr Kissen auf den Stuhl legte, machte er sich am Mittag für abends eine wandelnde Gegenthese auf zwei Beinen klar. Verbissen sagte Leo dem Date mit Stefan zu. Oral, am Waldrand, so wie immer. Stefan sah nett aus, ein Adam, ohne Adam zu sein. 

Dass er noch nicht einmal richtig hart wurde, während Stefan ihm einen blies, war eine Katastrophe. Dass Leo, anstelle seinen Schwanz gelutscht zu bekommen, schlussendlich auf seine Knie sank und zumindest dafür sorgte, dass Stefan etwas von ihrem Date hatte, war nicht geplant und es machte auch diesen Abend bitter. 

Die Stimme, die ihm sagte, dass es sicherlich nur Zufall war und dass er eigentlich gar keine Lust gehabt hatte, wurde leiser und machte der anderen Stimme Platz, die ihm Erinnerungen an Adam schickte, wie er Bastian befriedigte. Das war doch nicht möglich; er war doch nicht plötzlich nur noch auf Adam geprägt, nur weil er einmal gesehen hatte, wie dieser...

Leo raufte sich die Haare und fragte Gunnar und Mika, noch während er nach Hause fuhr, ob sie am Donnerstag Zeit für ihn haben würden. 

So wenig freundschaftliche Nähe er außerhalb ihrer Treffen zuließ, so sehr wusste Leo, dass wenn es jemanden gab, der seine Theorie widerlegen könnte, es die beiden waren. Er mochte Gunnar und Mika, er mochte ihre Art der gemeinsamen, körperlichen Intimität. Mit ihnen traf er sich regelmäßig. Noch nie hatte er keine Lust gehabt, wenn er sich mit den Beiden traf. 

Er würde es nicht nach Hause kommen nennen, sondern gewohnte und gemochte Lust. Vertraute Lust und vertraute Intimität. 

Auch jetzt, auch hier, als er zwischen ihren nackten Körpern lag, seine eigene Kleidung sorgfältig auf dem Sessel in ihrem Schlafzimmer gelegt. Leo genoss ihre Nähe und die Erregung, die er ihnen bereitete und die sie in ihm hervorriefen. Es war schön, aber der scharfe Stich an Lust, den er beim Anblick von Adam empfunden hatte, fehlte. 

Es war schön, es war vertraut, aber…es war nicht das, was er brauchte. Ein Quäntchen an etwas fehlte und Leos Gedanken wanderten wieder zu Adam und Bastian. Sie wanderten zu der Vorstellung, was wäre, wenn es mehr als nur Oralsex wäre. Wenn es so wie hier wäre, mit einem warmen, menschlichen Körper hinter ihm, wenn Adam seinen Körper in die Matratze presste, sich in ihn schob und seinen Körper in Brand setzte. 

„Du bist wund, Leo“, drang eine Stimme durch seine Gedanken und im ersten Moment begriff Leo nicht, was sie meinte. Ja, er fühlte sich wund, aber nur, weil soviel Chaos in seinem Leben war. Das konnten Gunnar und Mika doch nicht wissen oder war es so offensichtlich, was in ihm tobte? 

Leo blinzelte und schnaubte. „Könnten wir uns auf uns konzentrieren?“, fragte er mit einem ironischen Lächeln und drehte sich soweit nach hinten, dass er Gunnar in das viel zu ernste Gesicht sehen konnte. 
„Ja, das tue ich gerade, Leo, und du bist wund. Du hattest diese Woche bereits Sex und bist wund davon.“

Er war…was?

Leo überlegte. Gunnar hatte Recht. Er spürte Mikhail immer noch, aber es war doch kein Problem, er konnte das. Das wussten die Beiden auch. 
Mika strich ihm über die Wange und Leos Blick ruckte zu ihm. „Leo, du bist nicht bei uns heute. Dein Kopf ist woanders, er ist weit weg. Was ist los?“

Es war das Schlimmste, was Mika in dieser Situation hätte sagen können. Während sie miteinander im Bett lagen und Leo die Körper beider Männer genoss, zu hören, dass er wieder nicht anwesend war. Dass sich der Mann, den er vor einer Woche gesehen hatte, soviel Raum in seinen Gedanken einnahm, dass…

Gunnar setzte sich zu Leos Schrecken langsam auf und legte ihm mit sanfter, aber unnachgiebiger Dominanz eine Hand auf den Brustkorb. 

„Heute nicht“, bestimmte er und Wut wallte in Leo auf. Was sollte das? War er sogar nicht mehr in der Lage, sein eigenes Sexleben zu bestimmen, nur weil er in Gedanken ab und an bei einem Mann war, der ihm zu denken gab? 

Unwirsch befreite Leo sich von ihnen beiden und schob sich in Richtung Fußende, vor sich, seinen Gedanken und der Wahrheit hinter ihm fliehend. Weit kam er nicht. Gunnar hielt ihn sanft an seiner Hand zurück und Leo fror ein. 
„Sei nicht böse“, murmelte der Däne entschuldigend und Leo kam sich vor wie der schlimmste Mensch auf dem Planeten. Wie eine eingeschnappte Diva, die nicht das bekam, was sie wollte. Wie ein Mensch, der nichts auf Zustimmung oder Grenzen gab.

Er senkte den Kopf. „Ich bin nicht böse“, sagte er leise. „Es ist nur keine leichte Zeit gerade.“

Mika robbte zu ihm und ehe Leo sich es versah, umarmte ihn der andere Mann schweigend. Gunnar folgte ihm ein paar Sekunden später und hilflos verharrte Leo in der menschlichen, platonischen Nähe zweier nackter Männerkörper, mit denen er eigentlich so viel intimere Nähe hatte teilen wollen. Er schauderte und brauchte zwei Sekunden, um nicht in Panik auszubrechen. Er war doch nur hier um sich zu beweisen, dass alles in Ordnung mit ihm war. 

„Was bedrückt dich, hm?“

Nicht nur, dass Leo nackt war, er fühlte sich auch so. Gesehen, durchleuchtet, ohne Schutzwälle. Vielleicht war das auch der Grund, der Worte über Leos Lippen purzeln ließ, die er sonst vermutlich nicht gesagt hätte. 

„Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf, obwohl ich alles versuche. Ich kann und darf mit ihm nicht intim werden, aber er ist einfach so und er will es auch. Ich kann aber nicht, es wäre nicht gut und schon gar nicht legitim.“ Leo verstummte elendig.  
„Ist er minderjährig?“, fragte Mika vorsichtig und Leo schüttelte wild den Kopf. 
„So alt wie ich.“
„Steht er auch auf Männer?“
„Ja.“
„Steht er auf dich?“
„Ja.“
Gunnar brummte und küsste Leo auf die Haare. „Dann ist es doch sehr einfach. Wenn er dir nicht aus dem Kopf geht, dann lässt du ihn hinein und schaust, ob er gut dort aufgehoben ist. In deinem Kopf und in deinem Körper.“

Leo entwich ein verzweifeltes Seufzen. „Wenn es so einfach wäre.“
„Manchmal ist es das…“

In diesem Fall nicht. Es fing doch schon damit an, dass Leo niemals Sex mit Freizeitaktivitäten kombinierte. Beides ging nicht. Das letzte Mal, als er beides miteinander vereint hatte, war mit Matthias gewesen, seitdem nicht mehr. Wie komisch wäre es denn, mit Adam beides zu tun? 
Wie verlogen auch? Wie konnte Leo das vor der SoKo rechtfertigen? Wie konnte er sich mit dem Mann treffen, Intimitäten mit ihm austauschen und über diese dann auch noch Pia und Esther berichten? Rainer und Weiersberger?

Du könntest schweigen, murmelte eine leise Stimme in ihm und Leo brachte sie ebenso innerlich erzürnt zum Schweigen. Was wäre noch schlimmer als das ohnehin schon doppelzüngige Spiel, das Leo betrieb? Ja richtig, eins, bei dem er beiden Parteien etwas verschwieg.  

Und sich dabei das nahm, was er wollte. 

„Einmal ist keinmal, Leo. Du weißt nicht, ob es gut ist, wenn du es nicht ausprobiert hast.“

Mikas Logik war so bestechend einfach, dass sie schon beinahe wehtat. War das wirklich so? Einmal war keinmal? Konnte er das? Sich Adam einmal öffnen, in der intimsten aller Weisen? Konnte er das mit ihm teilen, was er ihm gleich zu Beginn ihres Kennenlernens zum ängstlichen Vorwurf gemacht hatte? 

Was war danach? Gab es ein Danach? 

„Aber was, wenn es nicht gut ist?“
„Dann war es das nicht. Du kommst dann wie gewohnt zu uns und wir verwöhnen dich so richtig. Lassen dich dann einen Tag lang nicht aus unserem Bett kommen. Oder länger, je nachdem, was du brauchst.“

Mika und Gunnar als seine Reißleine, als sein Netz mit doppeltem Boden? Zumindest was den Sex anging? 

„Ich will euch nicht zur Last fallen“, murmelte Leo und wurde darauf gleich im doppelten Schwitzkasten genommen, die Haare verwuschelt und gekitzelt. Leo quietschte überrascht und Mika lachte vergnügt. 
„Als wenn, lieber Leo, als wenn“, schnaubte Gunnar und strich ihm über den nackten Rücken. „Du fällst uns nicht zur Last. Du bist eine wunderschöne, strenge, grollende Bereicherung für unsere Leben, mit der wir gerne unser Bett teilen.“

Das zu hören, öffnete Leo noch auf eine ganz andere Art und Weise und machte ihn wund. Nicht körperlich. Seelisch. 


~~**~~


Adam starrte blind auf das Wirrwarr an Legosteinen auf seinem Spieletisch. Er war müde, aber zu erschöpft um zu schlafen. Das machte ihn ungnädig…ungnädig genug, dass er Vincent nach Hause geschickt hatte, der sein wöchentliches Sexdate mit Adam doch tatsächlich hatte absagen wollen.

Wegen ihm.

Er hatte Leo auch noch nicht wegen morgen kontaktiert, nicht nach Leos Verzweiflung. Vielleicht war es auch besser so, wenn der Abstand zwischen ihnen beiden etwas Abkühlung brachte. 

Adam sah zu dem Baumhaus, das prominent in seinem Regal stand, und dessen grüne Blätter Leos Werk waren. Ganz im Gegensatz zu dem Bausatz, den er jetzt vor sich hatte. Gringotts samt Unterbau. Adam war seine durch Elias hervorgerufene Harry Potter Leidenschaft nie losgeworden und so war es ihm nur recht, dass er sich damit und den Gedanken an die Zeit mit Elias die schlimmen Gedanken vertreiben und Leo in den Hintergrund schieben konnte. 

Und was wäre da besser zu geeignet, als diese doofen Steine einfach vollkommen ungeordnet ungeachtet ihrer Beutelnummern auf seinem Tisch zu verstreuen und sie dann noch wild zu vermischen? 

„Nimm das, hauseigener Polizist“, murmelte Adam und zuckte regelrecht zusammen, als das Klingeln seiner Haustür die absolute Stille seiner Wohnung durchbrach. 
„Ich schwöre, wenn du doch nicht deine doofe Skypesitzung machst, nur weil…“, knurrte Adam in Richtung eines unsichtbaren, vermutlich sturen Vincents und erhob sich. 

Nur Vincent würde um diese Uhrzeit klingeln. 

Adam ließ sich Zeit zur Tür zu gehen und drückte die Gegensprechanlage. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch gut alleine klar komme, Vince. Ich bin kein Kind mehr“, murrte er und die Stille am anderen Ende der Leitung bedeutete nichts Gutes. Adam wollte grad irritiert die Videoanlage einschalten, als es etwas verzerrt durch die Leitung räusperte. 

„Ich bin’s, Leo.“

Verspätet kam die Bedeutung der Worte auch in Adams Hirn an und er schluckte mühevoll. Leo? Hier? Es war halb zwölf nachts. Sollte der sich nicht das Hirn rausvögeln, was er die ganze Woche getan hatte? Adam hatte sich mit jeder einzelnen Information über Leos Aktivitäten gefoltert, hatte wie manisch Zarah danach gefragt oder über das eigentlich schon längst obsolete Überwachungssystem Leos leere Wohnung bis zu dem Zeitpunkt beobachtet, an dem sein hauseigener Polizist zurückgekehrt war und geduscht hatte. 

Er wusste, dass Leo jeden Tag der Woche dazu genutzt hatte, zu ficken. Gefickt zu werden, sich ficken zu lassen, sich Schwänze in den Rachen zu schieben oder selbst Re-enactment von Adams Vorgehen mit Bastian zu betreiben. Seine Fantasie war blühend genug, dass er sich alles ausmalen konnte, was Leo von Montag bis Donnerstag getan hatte.  

Schneller, als seine Gedanken seinem Körper die Bewegung untersagen konnten, hatte er den Türöffner gedrückt und hörte eine Sekunde später, die Leo die Tür aufdrückte und langsam nach oben kam. Freiwillig. Ohne Einladung. Ohne Ankündigung.

Adam atmete tief ein und öffnete, sich innerlich stählend auf das, was kommen mochte, seine Wohnungstür. 

Er sah Leo, noch bevor dieser sein Stockwerk erreichte und erkannte, dass dieser sich viel zu vorsichtig fortbewegte. So als wäre das Gehen nicht schmerzfrei. Adam presste seine Lippen zusammen, in dem hoffentlich fruchtbaren Versuch, das nicht zu kommentieren. Also einer von denen hatte es zu wild mit ihm getrieben und Leo hatte wieder ohne Rücksicht auf sich zu nehmen, mitgemacht. 

Und nun kam er zu ihm um was zu sagen? 

Stirnrunzelnd musterte Adam seinen hauseigenen Polizisten, als dieser vor ihm zum Stehen kam. Die Augenringe sprachen von durchzechten Nächten und so ganz fit sah Leo auch nicht mehr aus. Sein violettes Shirt war verkrumpelt und steckte mehr schlecht als recht in seiner Jeans. 

„Ist spät und auch nicht Samstag. Was gibt’s?“, fragte Adam, doch die Nonchalanz wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil: seine Stimme klang gepresst und viel zu überhastet. 
„Kann ich reinkommen?“

Wenn es nicht so wehtun würde, wäre Leo gar nicht erst in die Verlegenheit gekommen, fragen zu müssen. So trat Adam schweigend beiseite und wartete, bis Leo die Tür hinter sich zugemacht hatte. 

Kaum, dass sie vom Flur abgeschnitten waren, machte sich Schweigen zwischen ihnen breit. Leo lehnte gegen seine Wand, die Hände hinter seinem Rücken, als dürfe Adam sie nicht sehen. Adam stand unweit von ihm im Durchgang zum Wohnzimmer, ein aufmerksamer, stummer Beobachter. 

„Bist du alleine?“, fragte Leo schließlich und die Worte stiegen rau zwischen ihnen auf, verpufften mit den Sekunden, die Adam für eine Reaktion brauchte. Schließlich nickte er. 
„Vincent lässt sich per Video ficken.“ 
„Oh.“
Adam zuckte mit den Schultern. „Fernbeziehung eben.“
„Mit Raczek.“
„Wie du bereits weißt.“
„Seit ich euch in der Stadt gesehen habe.“
„Bist ja nicht umsonst Polizist geworden.“

Gepeinigt weiteten sich Leos Augen, als hätte Adam etwas Falsches gesagt. Was auch immer es war, es brachte den anderen Mann dazu, sich von seiner Position an der Wand zu lösen und einen Schritt auf Adam zuzutreten. Er erreichte ihn nicht, sondern blieb mitten im Flur stehen. 

„Willst du mich ficken?“, platzte es schließlich aus Leo heraus und Adam blinzelte. Einmal, zweimal und weil er es nicht wirklich fassen konnte, gleich noch ein drittes Mal. War er eingeschlafen? Träumte er? War er einfach tot umgefallen?
„Was?“, fragte er dann unintelligent nach und Leo nickte knapp in Richtung Schlafzimmer. 
„Willst du?“

Überfahren versuchte Adam seine Gedanken zusammen zu suchen, die sich allesamt bei der direkten Frage aus dem Fenster gestürzt hatten und jetzt nach Vincent suchten, damit dieser sie übersetzte. 
„Du weißt doch, was ich gerne mit dir machen würde“, sagte Adam vorsichtig, zum ersten Mal in seinem Leben absolut unsicher, was sein Gegenüber von ihm wollte. 
„Gut. Ich habe mich vorbereitet und ich habe Kondome dabei.“

Adam öffnete seinen Mund. Schloss ihn wieder, als ihm nichts, aber auch gar nichts dazu einfiel, was er hier hörte. Matter-of-fact, als wäre das eine Geschäftsbeziehung, als wäre das nichts, was angeleiert, angeflirtet, angeteasert werden müsste. Etwas, das nicht Kreativität, Intimität und Lust voraussetzen würde. 

„Leo, ich…“
„Du willst es doch. Das hast du gesagt. Vincent hat das gesagt. Dann lass es uns tun, ich bin da und…“
„Leo, stopp!“
„Mir ist egal wo, aber ich schlafe danach nicht bei dir. Ich fahre nach Hause und dusche auch nicht hier. Ich..“

Unmöglichkeiten über Unmöglichkeiten verließen Leos Mund und Adam konnte gar nicht anders reagieren als ihn anzustarren. Doch bei den letzten Worten…

Adam löste sich abrupt aus seiner Starre und kam auf Leo zu, drängte ihn ohne Wenn und Aber gegen die nächste Wand. Er hielt züchtigen Abstand, während er sich auf die großen, grünen Augen fixierte, die ihn weit und erschrocken anstarrten. 

„Was redest du da, Leo?“, fragte Adam gepresst. „Du bist kein Callboy und ich bezahle dich nicht für Sex. Was ist in dich gefahren?“
Und schon mischte sich Wut in den Schrecken. „Ich will es, okay? Ich will mit dir ficken. So wie du es auch willst.“
„Warum jetzt doch?“
„Weil das mit den blonden Männern nicht stimmt! Das war…falsch. Ich habe es ausprobiert. Mehrfach. Ich…du…ich will das. Okay? Ich will mit dir ficken.“
„Mit mir schlafen.“
„Ficken.“
„Schlafen.“
„Nenn’s wie du es möchtest, ich will deinen Schwanz, verdammt nochmal!“

Adam schloss die Augen und ließ den Kopf fallen. Er atmete tief ein. Leo war ein Wunder und eine Katastrophe gleichzeitig. Destruktiv bis zur Selbstzerstörung, aber auch brutal ehrlich und hoch emotional. Und er sollte jetzt der hier Vernünftige sein? 
Dass Adam nicht lachte. Seine Selbstbeherrschung war legendär nicht vorhanden und nun sollte er genug Disziplin aufbringen, um Leos Zustand nicht dahingehend auszunutzen, ihn über die nächste Oberfläche zu beugen oder sich ihm seinen Schwanz einzuverleiben?

Eine kleine, verzweifelte Stimme lachte schrill in Adam. 

Er atmete noch einmal ein und hob den Kopf. 

„Leo, lass uns vorher-“, begann er und wurde effektiv wie effizient durch weiche, fordernde Lippen auf seinen zum Schweigen gebracht. Unnachgiebig waren sie, dominant und verzweifelt, fast schon grob. Adam verfluchte sich, das nicht kommen gesehen zu haben und bevor er sich dazu entscheiden konnte, sich zu lösen, umfasste Leo seinen Hinterkopf und hielt ihn, wie er ihn haben wollte. 

Adam stöhnte beinahe wimmernd auf – ganz der beherrschte Mensch, der er war und Leo grollte animalisch. Wie so oft, nun nur…anders.

Der Laut schoss Adam von seiner Wirbelsäule direkt in den Schwanz und er spürte, dass er alleine von diesem kurzen, überraschenden, überfallenden Körperkontakt hart wurde, während sein ganzer Körper ja zu Leo schrie.

 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Notes:

Ich liebe Cliffhanger...ihr auch? ❤️😉

Endlich, ENDLICH sind die beiden sich näher als jemals zuvor. Macht sie das vernünftig? Wer weiß!

Und wisst ihr, wer noch unvernünftig ist? Ja, richtig. Ich. 😁 Warum? Weil die Grindr-Szene eigentlich über ein Jahr alt ist (16.07.2022 🤐).

Wenn ihr schauen wollt, das ist die Originalszene von damals, unter anderen Prämissen und mit völlig anderen Dynamiken.

Wie man sieht, die Differenz ist erheblich und ich musste die Szene ziemlich umschreiben. Ich würde ja sagen "Don't do this at home" aber... das wäre bigott. Ich mach es immer noch, gelernt habe ich nichts daraus.

Chapter 43: Farbenspiel

Notes:

Einen wunderbaren Dienstagmittag euch!

Nach einer unschicklich langen Wartezeit hier nun das neue Kapitel der Anatomie. Achtung, es ist nsfw. 😉 Viel Spaß beim Lesen euch und vielen vielen lieben Dank euch allen für eure Klicks, Kudos, Kommentare, Likes... ❤️ Man sagt ja, dass so etwas der Nektar von Schreiberlingen ist... man könnte sagen, dass ihr mich also zu einer zufriedenen, dicken Hummel im Blütenkelch gemacht habt.

Danke an den Tatort Saarbrücken Discord für die spannende und anregende Diskussion, wie man notwendige, aber unerotische Dinge schön einbauen kann.
Ebenfalls danke für die Hinweise, wie man Halt mal kurz spielt!

Chapter Text

 

Alles in Adam wollte sich fallen lassen, in diesen Kuss, diese Berührung und Leos beinahe schon verzweifelte Führung. Vielleicht hätte er das auch getan, wenn er Leo im Club kennengelernt hätte – unvorbelastet, unvoreingenommen und frei von jedweden Verbindungen. 
Mit all dem, was er Leo angetan hatte und was er über ihn wusste, schloss sich das aber aus und Adam musste eiserne Kraft und Disziplin aufbringen, um sich von dem Mann zu lösen, den er eigentlich von Minute eins ihres Kennenlernens an in seinem Bett gewollt hatte. Unter sich. Erregt. Wimmernd, stöhnend, sich windend vor Lust. 

Sacht fuhr Adam mit seinen Fingern durch die weichen, braunen Haare, bevor er sich soweit von Leo löste, dass er ihn ansehen konnte. 

Verspätet öffnete dieser seine Augen und Adam wurden die Knie weich bei dem Blick, der ihn nun traf. Tief und vor allen Dingen hilflos seufzte er.

„Wir werden vorher darüber reden“, bestimmte Adam schicksalsherausfordernd und Widerstand kochte sichtbar und vorhersehbar in Leo hoch. Sein hauseigener Polizist presste die geröteten und geschwollenen Lippen aufeinander und Adam biss sich auf seine, um ihn nicht noch einmal in einen Kuss zu locken, der dann unweigerlich in einem bodenlos gedankenlosen übereinander Herfallen mündete. 

„Worüber? Ich denke, die Lage ist klar“, kam der König der direkten Unmöglichkeiten mit der nächsten Ansage um die Ecke und Adam hätte gerne seine Augen geschlossen. Angesichts des gerade erlebten Überfalls traute er dem aber nicht – und auch sich selbst nicht, war er doch auch nur begrenzt stark und zurechnungsfähig, was den Mann vor ihm anbetraf. Vincent wäre stolz auf diese Erkenntnis, befand Adam. 

„Ich möchte mit dir über Safewörter und Farben sprechen“, brachte Adam hervor und atmete tief ein, als er hier plötzlich der vernünftige Erregte sein musste, der seinem unwillig-willigen Bettgespielen anscheinend die Grundlagen seines Sexlebens erklären würde. Er hatte zwar nicht viele Grenzen, aber sie waren da und potenziell aus dem Ruder laufenden Sex ohne Netz und doppelten Boden zu haben, schied für ihn aus. Auch um Leos Willen. Gerade um Leos Willen, auch wenn dieser das eindeutig nicht so sah. 

„Ich brauch keins. Wir können das vorher auch so absprechen“, erwiderte dieser wenig erfreut im besten Polizistenton und Adam war sehr versucht, mit den Augen zu rollen. Sowohl die Worte als auch deren Darreichungsform waren vorhersehbar, aber nichts, dem Adam zustimmen würde. Nun mit Zynismus zu reagieren, würde Leo verschrecken und das war wirklich das Letzte, was er wollte. 

„Aber ich brauche eins, Leo. Ich möchte uns beide in Sicherheit wissen, wenn etwas passiert, das dir oder mir nicht gefällt. Ich möchte parallel dazu wissen, wie es dir geht – in deinen Gedanken und in deinem Körper. Ich möchte wissen, ob deine Welt gerade grün, gelb oder rot ist“, sagte er ernst und erntete ein abfälliges Schnauben. 
„Und die Farben sollen was bedeuten? Kann meine Welt dann auch blau sein?“

Adam glaubte im ersten Moment, dass Leo ihn verarschte. Ja, er war sogar überzeugt davon. Aber das Unwissen, die Fragen in den grünen Augen waren viel zu dominant dafür. Wieso kannte jemand, der sich mit fremden Männern im Wald traf und sich hart durchficken ließ, die Farben nicht? Leo war doch nicht erst seit gestern mit anderen Männern unterwegs, hatte denn niemand jemals…?

Mit einem unwohlen Gefühl in seinem Magen erkannte Adam, dass dem nicht so war. Er erkannte, dass er der Erste sein würde. Er erkannte aber auch, welchen Kampf das bedeuten würde. 

Adam atmete tief ein und stählte sich und stählte sich für den kommenden Widerstand. 

„Grün bedeutet, dass alles gut ist. Dass du dich top fühlst, die Situation gerade genießt, dass wir einfach mit dem weitermachen, was wir grad so machen. Gelb bedeutet, dass du mit irgendetwas an der Situation unzufrieden bist. Falscher Winkel, deine Hüftmuskulatur spannt, du liegst unbequem im Bett, sowas. Gelb bedeutet auch, dass etwas an der Situation geändert werden muss. Rot hingegen ist ein sofortiger Stopp. Bei Rot geht es dir nicht gut, du fühlst dich nicht gut, du hast Schmerzen…“ Adam hielt inne, als er wenig verwunderlich den aufkommenden Widerspruch sah. „Mehr Schmerzen als sonst, die du nicht haben willst. Rot bedeutet sofortiger Abbruch. Raus aus der Situation und im Idealfall darüber reden, was gerade schlimm gelaufen ist. Das Safeword hat die gleiche Funktion wie die Farbe Rot. Es wird unterbrochen, was gerade geschieht.“

Leo hörte ihm zu und seine Wangen färbten sich von Sekunde zu Sekunde tiefer rot ein. Er schluckte und schüttelte dann den Kopf. 

„Ich brauche das alles nicht“, beharrte er auf seiner Meinung, stur wie immer. „Wir sprechen jetzt ab, was geht und dann wird das so gemacht.“
Natürlich. Hatte er es anders erwartet? Eigentlich nicht, aber eigentlich schon. Adam knurrte wenig erfreut über das deutsche Beamtentum in ansprechend muskulöser Darreichungsform. 
„Du bist kein Vorgang, den ich stemple und bei ich immer gleiche Felder ausfüllen muss. Du bist ein Mensch, du kannst deine Meinung auch ändern.“
„Passiert nicht.“
„Passiert doch.“
„Ist noch nie passiert.“

Adam hob bedeutungsschwanger seine Augenbraue. Deswegen wurdest du diese Woche auch wundgefickt, lag ihm auf der Zunge, aber dann wäre Leo schneller aus seiner Wohnung heraus, als er gucken konnte. Diplomatie war eben nicht Adams Stärke, dafür aber Einwilligung in einvernehmlichen Sex. 

Er nutzte ihre Nähe um Leo ruhig nieder zu starren und ihm dann noch näher zu kommen, bis sich ihre Lippen beinahe berührten und er Leos Atem auf seiner Haut spüren konnte. 

„Ich bin so grob zu dir, wie du es von mir willst, Leo Hölzer, aber zu meinen Konditionen. Ich werde dich ficken, dich hart rannehmen, alles, was du willst. Ich werde dir auf Knien deinen Schwanz lutschen, aber ich werde dabei keine Grenzen überschreiten und ich werde dich nicht wund oder blutig ficken. Das bekommst du von mir nicht.“

Adam musste sich anstrengen, um die Strenge in seiner Stimme durchklingen, aber nicht zu scharf werden zu lassen. Er wollte Leo nicht triggern. Wenn er zu dem Adam zurückkehrte, der Leo bei ihrem Kennenlernen unterworfen hatte, würde er außer reflexartigem Gehorsam und notwendiger Weigerung nichts bekommen. Schon gar nicht seinen Willen, Leo stundenlang zu verwöhnen.

Leo öffnete seine Lippen, schloss sie wieder, versuchte es erneut. Widerstand erstarkte in seinen Augen und wurde dann durch Nachdenklichkeit und Zögern ersetzt. Adam wusste, dass er mit seinen vorherigen Worten nicht aufhören durfte und dass das Kommende ihre intime Verbindung beenden konnte, noch bevor sie begonnen hatte. Innerlich stählte für seine Worte und auch für das, was darauf folgen würde. 

„Ich werde heute nicht mit dir schlafen, Leo, denn du bist wund. Du gehst, als hättest du Schmerzen und ich werde dir keine zusätzlichen Schmerzen bereiten. Aber ich verspreche dir, dass du hier nicht unbefriedigt rauskommen wirst“, ließ Adam seine Stimme zu einem Raunen verkommen, und sah, dass es keinen so großen Widerstand in Leo hervorrief, wie er zunächst geglaubt hatte. Im Gegenteil, es jagte Leo sichtbar eine Gänsehaut über die Arme. Zu sagen, dass es den Stein von Adams Herzen herunterschubste, war untertrieben. Vielleicht rollte gerade ein ganzer Abhang nach unten. 

Auch in seinen Schwanz.

„Ich bin nicht…“, setzte Leo dann doch an zu widersprechen und verstummte angesichts dessen, was er anscheinend auf Adams Gesicht sah. 
„Dich hat erregt, was Bastian getan hat, richtig?“
Leo schwieg stur, dann nickte er knapp und unwirsch. 
„Du willst das auch.“

In seinen Augen stand ja, seine Lippen verweigerten die Antwort. 

„Gut. Dann sage ich dir, was ich tun werde. Ich gehe gleich vor dir auf die Knie und glaube mir, ich werde dich dabei keine Sekunde aus den Augen lassen. Ich lege meine Hand an deinen Gürtel, löse die Schnalle und ziehe deinen Reißverschluss runter. Dann nehme ich deinen jetzt schon halbharten Schwanz in die Hand nehmen und massiere ihn. Natürlich lasse ich mir Zeit um herauszufinden, wie du es gerne hast und brauchst. Bevor ich dich dann in den Mund nehme.“ 

Leo schluckte schwer und Adam erkannte sehr deutlich, wie sehr seine geraunten Worte in dem Hirn und dem Schwanz seines hauseigenen Polizisten ankamen. 

„Dann dirigierst meinen Kopf mit deiner Hand, während du meinen Mund fickst“, fuhr Adam fort und Leo schloss gepeinigt die Augen, presste seinen Hinterkopf an die Wand von Adams Flur, als könne er dadurch auch nur einer Silbe entkommen. Was war das anderes, als eine Einladung, befand Adam und ließ seinen Atem über die anscheinend äußerst empfindsame Haut an Leos Hals streifen ohne ihn direkt zu berühren. Er hoffte, dass es für Leo auch nur in Ansätzen eine so große Folter war wie für ihn.  

„Aber alles nur, wenn du mir vorher dein Safeword verrätst und mir versprichst, dass du dich auf das Farbensystem einlässt.“

So vorsichtig die Worte auch waren, so sehr holten sie Leo aus seiner Beinaheohnmacht heraus. Adam sah, wie groß der Widerstand war, den er leisten wollte. Leo überlegte und dachte nach, nur um dann endlich…endlich nachzugeben. 

„Okay“, presste Leo zwischen seinen Zähnen hervor und öffnete seine Augen. Adam lächelte. 
„Farbe?“, fragte er probeweise und Leo ermordete ihn schier nonverbal. 
„Neongrün.“
So knirschend und abwehrend das auch hervorgebracht worden war, es entsprach Adams Wünschen. 

Leo wollte das hier. Er wollte all das, was Adam in Aussicht gestellt hat – in seinen Grenzen. Ein Schaudern durchlief Adam, als er erkannte, was das bedeutete. Was das für sie beide bedeutete, für dieses Treffen – und vielleicht auch für künftige. 
„Dein Safeword?“
„Baumhaus.“

Baumhaus…? Perplex sagte Adam erst einmal nichts. Es gab nur ein Baumhaus, das ihnen beiden bekannt war. Leo hatte kein Baumhaus. Nur das, was sie zusammen gebaut hatten, Leo, wider Willen, Adam, voller Elan, Leo näher kennen zu lernen. Er hatte ihn provoziert, ihn gereizt und versucht, Reaktionen aus ihm heraus zu kitzeln. Und bislang hatte Adam gedacht, dass Leo das unter zwangsweisen Treffen verbucht hatte. 

Nicht aber, dass es noch so nachhing. 

Irgendwann würde Adam fragen, warum. Nicht jetzt, nicht heute, irgendwann. 

Sacht umfasste er Leos Wange und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Erst einmal vorsichtig fragend, dann intensiver und forscher, als er sah, dass Leo es nicht nur auch wollte, sondern nur zu bereitwillig seine Lippen öffnete. Er grollte, was zu einem Seufzen verkam und Adam stöhnte beinahe schon verzweifelt in ihren Kuss. Verlangend presste er sich an Leo, spürte die deutliche Härte durch Leos Jeans und seine Hose. Adam war da nicht besser aufgestellt, so eng, wie seine Hose war. Ganz und gar nicht. Er schmiegte sich der Länge nach an Leo, ließ ihn die Lust spüren, die er seit Monaten für ihn empfand und die nun verzweifelt einen Weg nach draußen suchte. 

„Ich will dich“, wisperte Leo an seine Lippen und streckte sich ihm fordernd entgegen. Er wollte Lustbefriedigung von ihm, er wollte ihn sich aus dem System ficken. Deswegen war er hier. So forsch, wie er sich ihm entgegenstreckte und so energisch, wie sich Leos Hand in Adams Haare krallte, ging ihm das wohl auch alles zu langsam.

Denkste, grimmte Adam stumm in sich hinein. Ich werde mich in dich ficken, dich bis zur letzten Nervenzelle befriedigen. Ich werde dich süchtig nach mir machen. Langsam. Genüsslich. Roh. Lustvoll.

Seine Hände wanderten nach unten zu Leos und Adam verschränkte ihre Finger miteinander. Nur zu bereitwillig ließ Leo sich führen und mit sanfter Gewalt führte Adam Leos Hände nach oben über seinen Kopf, presste sie gegen die Wand. Er stöhnte in den willigen Mund und lehnte seine Stirn an Leos. 

„Ich spüre dich“, murmelte Adam. „Ich will dich. Ich will, dass du meinen Mund ausfüllst und deinen Schwanz tief in meinen Rachen stößt, während du mich fickst. Ich will an nichts anderes denken können, als an deinen Schwanz, der mir die Luft zum Atmen nimmt.“

Leo stöhnte leise auf und öffnete seine Augen. Die Pupillen waren fast schwarz, so weit waren sie und Adam lächelte sacht. Er löste seine Hände aus ihrer Verbindung und ließ sie sinken. Leos folgte nach viel zu langem Zögern nach und Adam sah ihm in die Augen. 

Sah richtig hin. 

Ich mache dich süchtig nach meinen Lippen, auf dass ich der Einzige bin, der es dir richtig besorgen kann. Fick die Idioten in den Clubs, die dir wehtun. Fick die scheiß Waldficks. 

Worte, die ungesagt blieben, während Adam blind zur Schublade seines Kommodenschränkchens griff und sie mit der freien Hand unwirsch aufzog. Guter Ort für Kondome, hatte er nach dem dritten Sex mit Bastian im Flur beschlossen und zog nun eines der Tütchen zu sich, hielt es zwischen sie. 

Leos Augen flammten wissend auf und Adam roch seine aufgeregte Erregung bis hierhin. 

„Farbe?“ 
„Lindgrün!“

Immer ein Revoluzzer, sein hauseigener Polizist.

Adam lächelte und nahm den Rand des eingepackten Kondoms vorsichtig zwischen die Zähne. Langsam sank er auf die Knie, seinen ewig präsenten Schmerz dabei ignorierend. Jetzt würde er sich garantiert nicht durch die Taten der Dreckssau davon abhalten lassen, Leo an den Rand der Verzweiflung und darüber hinaus zu treiben. Schon gar nicht, wenn Leo ihn nicht mehr aus seinem Fokus ließ und sein Herz anscheinend so schnell schlug, dass sein Atem hektisch aus den geöffneten Lippen floh. 

Adam lächelte. Wenn schon Service, dann vollständig. Langsam strich er mit seinen Händen über Leos Schienbeine, zu den Knien, über die Innenseiten der muskulösen Schenkel bis hin zum Gürtel, bewusst die Körpermitte des anderen Mannes außer Acht lassen, die ihm so deutlich Leos Wünsche vermittelte.  

Stille knisterte zwischen ihnen und Adam sah ein vollumfängliches Ja in Leos Augen. Er lächelte vorsichtig um die Folie des Kondoms und öffnete die Schnalle des Lederriemens. Kurz flammte die Erinnerung an die Riemen der Dreckssau auf und Adam drückte die Bilder in seinem Kopf mit aller Macht nieder. Er würde sich nicht dadurch beeinträchtigen lassen. Niemals jetzt. Niemals hier. Niemals in Anwesenheit seines willigen Polizisten. 

„Mach endlich!“, grollte dieser so ungeduldig wie gehetzt und Adam lächelte verheißungsvoll. Oh nein, so leicht würde Leo nicht davonkommen. Er war kein Mann in einem Club, kein Fick für fünf Minuten. Er kannte Leo, wusste zu einem nicht zu geringen Teil um seine Gedanken und Gefühle. Das war seine schärfste Waffe um Leo die Lust zu verschaffen, die dieser brauchte um zu ihm zurück zu kommen. 

Eben jene Mission lenkte ihn nun vollends von den Gedanken an die Dreckssau ab und folternd langsam öffnete Adam den Knopf der Hose, zog Zahn für Zahn den Reißverschluss herunter. 


~~**~~


So wild, wie Leos Herz in seinem Hals und seiner Brust pochte, hatte es zuletzt bei seinem ersten Mal geschlagen. Er verstand nicht, warum Adam das so stark in ihm auslöste, war er doch nur ein blonder Mann, der seinem Beuteschema entsprach, der vor ihm kniete, wie unzählige andere, blonde Männer auch schon. 

Dass dem nicht so war, ahnte Leo und das Wissen lauerte wie ein Raubtier auf der Suche nach Beute im hinterletzten Winkel seines Bewusstseins. Er hatte die Woche über versucht, sich Adam aus seinem System zu waschen und sich zu beweisen, dass er eben nur ein blonder Mann war, den Leo leicht ersetzen konnte auf der Suche nach seiner Lust. 

Und jetzt, wo Adam vor ihm kniete und jegliche Lust, die in Leo tobte, sich in seinem Schwanz manifestierte, konnte er an nichts anderes denken, als Adams Mund zu ficken und sich von dem anderen Mann ficken zu lassen. Leo wollte Adam, wie er selten einen Mann gewollt hatte, schon gar nicht seine flüchtigen Bekanntschaften in den Clubs. Es prickelte in Leo bei der Vorstellung, dass es ausgerechnet Adam war, mit dem er hier schlief und von dem er sich zum Höhepunkt treiben ließ. Adam, der vor Monaten noch der Teufel persönlich gewesen war, ein Detlef, nur viel schlimmer. Adam, der jetzt das war, das Leo eigentlich auch immer von Detlef gewollt hatte. Reumütig. Kein…schlechter Mensch. 

Die Tatsache, dass es Adam war, verursachte in Leo ein Gewitter an fürchterlich schönen und prickelnden Emotionen, die bis dato kein Thema für ihn gewesen waren. Auch dass Adam ihn seine unsinnigen Farben und Safewörter aufdrückte, die Leo nicht brauchte. Wenn er seine Entscheidung getroffen hatte, dann…

Aber ohne das eine bekam er das andere nicht und Leo hatte gerade für sich festgestellt, dass er jetzt und hier keinen Rückzieher machen würde.  

„Grün, immer noch“, knurrte er, als Adam schon wieder fragend hochsah und die langen Finger zogen nach seiner Jeans nun auch die Boxerbriefs nach unten, befreiten seinen mehr als harten Schwanz. 

„Braver Polizist“, murmelte die Unverschämtheit auf zwei Beinen und wenn Leo nicht so wild auf den anderen Mann wäre, dann…

Wie von alleine fand seine Hand die blonden Haare und er hielt fragend inne. Adam nahm sich das Kondom aus dem Mund und riss ohne hinzusehen die Packung auf, während er ihm fest in die Augen starrte. 
„Grün, Leo. Sehr sehr grün.“

Damit beugte er sich Leos Schwanz und platzierte einen so sanften Kuss auf die Länge, dass Leo beinahe unkontrolliert nach vorne gestoßen hätte, wenn er nicht noch über einen kleinen Rest an Selbstbeherrschung verfügte, der am seidenen, dünnen Faden hing. 

Mehr, gellte es in ihm und Adam gab ihn mehr, als hätte er seine Gedanken gehört. Soviel mehr, als Leo es jemals gedacht hatte und jede von Adams Berührungen, von seinen Lippen und seiner mal sanften, mal unnachgiebig harten Finger, die Leo massierten. Geradezu bereitwillig spreizte er seine Beine und zuckte nach vorne, als Adam mit einer Hand seine Hoden umschloss und mit seinen Mund Leos Schwanz umschloss und ihn mehr und mehr schluckte. 

Leo zitterte und seine Finger umschlossen die blonden Strähnen beinahe schon krampfhaft. Er testete aus, wie weit er Adams Kopf bewegen konnte und kam zu dem schier unmöglichen Schluss, dass es weit war. 

Sehr weit. 

Leo wimmerte nun wirklich, als er erkannte, dass er Adams Kopf frei bewegen konnte. So wie er es wollte und brauchte, als wäre Adam ein Gegenstand, zur Lustbefriedigung gedacht. 

Adam, der sich benutzen ließ, der nahm, was er von Leo diktiert bekam. Adam so zu sehen, ihn zu spüren, wie er ihm Lust bereitete, war beinahe genug um Leo kommen zu lassen und sein vernebelter Verstand machte ihm nur sehr undeutlich klar, dass das hier auch die Rache war, die er sich seit Monate erträumt hatte. Adam, vor ihm kniend, seiner Macht ausgeliefert, so wie…

Leo keuchte und löste Adams Lippen abrupt von sich. Sein Innerstes schrie verzweifelt auf, verfluchte und verdammte ihn für die völlige Reizarmut, die er sich selbst aufzwang. 

„Komm hoch“, wisperte Leo, bevor er es sich anders überlegen konnte und Adam starrte mit seinen geröteten Wangen und seinen großen, blauen, durchtriebenen Augen zu ihm hoch. 
„Gefällt es dir nicht?“ Rau war seine Stimme und Leo schluckte. Eben diese Stimme tat Dinge mit ihm, die ihn sich wie ein Teenager vorkommen ließen, ohne Gewähr, dass er noch lange aushielt. Zittrig atmete er ein und zog erneut leicht an den Haaren. 

„Hoch mit dir, ich will deinen Schwanz an meinem spüren.“

Denn Leo hatte erkannt, dass er diese Rache nicht wollte. Er wollte die Demütigung nicht. Er wollte, dass der andere Mann ihn einkesselte, ihn gegen die Wand drückte und dass sie sich gegenseitig spürten. 

Adam ließ langsam, beinahe schon zögernd von ihm ab und erhob sich ächzend. „Man sollte meinen, ich wäre der ohne Knieprobleme“, murrte er und ein schlechtes Gewissen flammte brachial in Leo auf. Anscheinend so deutlich, dass Adam es zum Anlass nahm, ihn gegen die Wand zu pressen, seine Lippen auf Leos, seine Zunge in Leos Mund, die schamlos plünderte und räuberte, bevor er es Leo auch nur in Ansätzen wieder erlaubte, Luft zu bekommen. Nicht, dass es ihm auch danach vergönnt gewesen wäre, denn Adam schmiegte sich an ihn und verschaffte seinem nach Aufmerksamkeit heischendem Schwanz soviel Druck und Berührung, dass es Leo fast um den Verstand brachte. 

„Du denkst nicht daran, hast du mich verstanden?“, warnte Adam und sein strenger Tonfall manifestierte sich direkt in Leos Erregung. „Nicht jetzt, nicht an ihn, hier sind nur wir beide.“

Leo schluckte und nickte. „Dann will ich dich an mir spüren.“

Adam lächelte dunkel und tat ihm nur zu gerne den Gefallen. Leo keuchte wimmernd und Adam zischte. 
„Du willst ihn, also hol ihn dir. Ich gehöre ganz dir.“

Es brauchte keine Sekunde, bis Leo der allzu subtilen Aufforderung unwirsch Folge leistete und er Adams Jogginghose beinahe brutal nach unten riss. Natürlich…natürlich trug der andere Mann keine Unterwäsche und gewährte Leo so einen viel zu leichten Zugang zu seinem Schwanz. 

Ungeduldig rupfte Adam ein zweites Kondom hervor und überließ es Leo, es ihm überzustreifen. 

Zwei Anläufe brauchte Leo und Adam keuchte überrascht und tief, als Leo das Überstreifen auch dazu nutzte, Adams schwere Erregung zu massieren. Adam griff ebenfalls zu und Leo glaubte, nun vollends seinen Verstand zu verlieren.

„Verfluchte Scheiße“, grollte er und bäumte sich verzweifelt ob des Gefühls auf, mit Adam so verbunden zu sein. Eine solche Nähe zu ihm zu haben. 

„Du… bist…“ Weiter kam Leo nicht, als Adam ihn erneut küsste und an die Wand drückte. Er stöhnte in den Kuss und konnte das Flehen, das sich seinen Lippen entrang, nicht aufhalten, ganz in Adams tiefem, atemlosen Stöhnen ertrinkend. Er war unfähig, noch ein klares Wort hervorzubringen und erkannte mit dem letzten Rest seiner bewussten Sinne, dass es Adam anscheinend auch so ging, während sie hastig und gnadenlos ihrer gemeinsamen Lust frönten.

Ohne Zeit, ohne Rücksicht, ohne Gnade.


~~**~~


„Ich bleibe nicht hier.“

Leo Hölzer, nicht nur sein hauseigener Polizist, sondern auch sein hauseigener Bottich eiskalten Wassers, der nach ihrem gemeinsamen Orgasmus gerade mal ein paar Minuten brauchte um wieder zu sich zu kommen und so unromantischen Kram wie den hier von sich zu geben. 

Adam seufzte tief und reichte Leo die Box an Feuchttüchern, die er mit wackligen Beinen aus Butter aus dem Badezimmer geholt hatte. Dass Leo sich nicht kommentarlos eingepackt hatte um zu gehen, war auch alles und dass er sich die Zeit nahm, sich wenigstens oberflächlich zu säubern, schon ein Bonus. 

„Bleibst du auf einen Kaffee?“, fragte Adam so entspannt, aufgekratzt und zufrieden wie schon lange nicht mehr und stellte sich auf das obligatorische Nein ein, während Leo sich wieder ausgehfertig machte und die Beweise für ihr verräterisches Stelldichein auf ein Minimum reduzierte, ihn dabei mit gesenktem Kopf ignorierte.

Das Letzte, was Adam jetzt wollte, war Scham angesichts dessen, was sie getan hatten. 

Leo sagte immer noch nichts, als er fertig war und stand einen Augenblick lang nachdenklich im Flur, auf die Stelle am Boden starrend, an der sie es sich gerade besorgt hatten, so intim miteinander wie noch nie zuvor. Adam beobachtete ihn dabei, hin und hergerissen zwischen dem Drang, ihn gleich noch einmal an sich zu ziehen, zu küssen und seine Hände auch über den restlichen Körper wandern zu lassen, der ihm noch verborgen geblieben war. 

Dass Leo für den Anfang ausschließlich die Triebbefriedigung in den Vordergrund stellte, akzeptierte Adam wohlwissend. Er wusste, dass jedwede Form von zärtlicher oder nur nach Zärtlichkeit aussehender Nähe dieses scheue Ermittlertier schnell von ihm wegtreiben würde. 

„Hey.“

Alleine das erschreckte Leo schon und mit großen Augen sah er hoch. Seine Wangen und Lippen herrlich rot, seine Haare zerzaust. Der Ausdruck in Leos Augen ähnelte jedoch im ersten Moment so sehr dem Mann, der vor Monaten verstört aus dem Wald wiedergekommen war, dass Adam alle blöden Sprüche im Hals stecken blieben. Wie konnte es sein, dass ein Mann so offen und brutal mit sich und seinem Körper umging, so verschreckt war, wenn es darum ging, ihm danach etwas Gutes zu tun?

Adam wollte Hofmann gerne noch einmal wehtun. Dieses Mal richtig.  

„Eine Tasse? Nur was Kleines, einen Cappuccino. Im Stehen.“ 

Sein Angebot fand zögerliche Zustimmung bei dem schweigsamen Mann und Adam ging mit ausreichendem Abstand langsam an ihm vorbei in seine Küche. Es juckte ihm in den Fingern, Leo an sich zu ziehen, ihn zu streicheln, zu liebkosen, ihm zu zeigen, dass er ihn wertschätzte, körperlich wie geistig. Er wusste aber gleichzeitig auch, dass dafür noch nicht die Zeit war, es vielleicht auch nie sein würde. 

„Das hier ist nur Sex“, wiederholte Leo hinter ihm wie eine kaputte Schallplatte und Adam schmunzelte ungesehen von ihm in sich hinein. Die Worte galten nicht ihm, das wusste er, sondern Leo selbst. Dem Jungen, der in seiner Jugend dauerhaft Schmerzen erlitten hatte und dessen Freund sich erst von ihm getrennt hatte und dann gestorben war. Die Frage aller Fragen war, ob Leo mit der Zeit erkennen würde, dass Sex mit gleichbleibenden Partnern auch in Ordnung war. So wie mit den beiden Dänen…nur anders. 

„Natürlich.“ Der Vollautomat röhrte und spuckte für Leo die kleine Tasse Cappuccino aus, für Adam seinen Milchkaffee.

Mit seiner Beute drehte er sich um und blieb für einen Moment regungslos stehen, als er den zur Flucht bereiten Ermittler im Türrahmen lauern sah. Von seiner verzweifelten Lust war nun noch ein verzweifelter Drang zum Gehen übrig und Adam fragte sich, warum er die Wohnung nicht bereits verlassen hatte. Das Verharren musste doch etwas heißen, oder?

Adam reichte Leo seinen Cappuccino und sah durchaus zufrieden, dass dieser auch nicht ganz sicher in seinen Bewegungen war. Zittrig und fahrig waren seine Finger, unstet der schöne Körper.

„Morgen soll’s regnen.“
Plötzlich war sein Getränk doch nicht mehr das Wichtigste auf der Welt. Kritisch runzelte Leo seine Stirn. 
„Und?“, fragte er, als wüsste er nicht, dass sie sich morgen eigentlich treffen würden. Morgen oder Sonntag, wie immer an einem Wochenende. 
„Das bedeutet, dass wir unsere Aktivitäten nach drinnen verlegen.“
Leo zögerte. „Wir?“
„Du, Vincent und ich.“

Es war ein gar nicht mal so kleiner Testballon, den Adam hier steigen ließ. Er wusste, wie Leo mit den Männern umging, die ihm Befriedigung verschafft hatten. Er ließ sie hinter sich. Er traf sich in den allermeisten Fällen nie wieder mit ihnen. Ihn an ihr morgiges Treffen zu erinnern war…waghalsig. Mutig. Vermutlich dumm, wenn er Vincent fragte.

Leo starrte ihn an, verloren in der Bedeutung von Adams Worten. Es war, also würden ihm die wöchentlichen Treffen jetzt erst wieder einfallen und als würde ihm bewusst werden, was das bedeutete. Was es auch für ihn bedeutete. 
Er ließ die Tasse sinken, schwenkte sie nachdenklich und arbeitete sich anscheinend durch sämtliche Möglichkeiten, die er hatte. Sämtliche Verneinungen, die ihm zur Verfügung standen. 

„Ich habe einen Vorschlag für dich“, lenkte Adam hoffentlich von der für ihn schlimmsten Variante ab und weckte damit sowohl Leos Neugier als auch Erleichterung. 
„Welchen?“
„Es gibt zwei Treffen, unabhängig voneinander. Eins am Wochenende. Mit Vincent, dir und mir. Und eins nur für uns beide, unter der Woche. Wenn wir beide Lust haben. Das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.“

Das Letzte war ebenso gelogen wie Adams Versicherung, dass er nur einer von vielen blonden Männern wäre, aber anscheinend notwendig, um Mr. Selbstbetrug hier die Möglichkeit zu eröffnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, beides mit ihm zu machen und sich nun nicht ganz zurück zu ziehen. 

„Ich überlege es mir.“

Das war kein Ja, aber auch kein Nein, es war ein herzhaftes Vielleicht begleitet von einem noch viel herzhafterem Schluck. Entschlossen stellte Leo seine nun leere Tasse ab und drehte sich um. Er ging in den Flur zurück und Adam folgte ihm, bevor er seine Wohnung verlassen konnte. 

Leo hatte schon die Hand am Griff seiner Eingangstür, als Adam ihn von hinten einkesselte. Er lehnte sich zu ihm, ohne ihn zu berühren, aber nahe genug, um Leos Geruch in sich aufzunehmen, der so einzigartig war, dass Adam gar nicht mehr genug davon bekommen konnte. Nicht nach ihrem kurzen, hastigen Sex. Nicht nach der Nähe, die sie geteilt hatten. 

Adam lehnte sich nach vorne und brachte seine Lippen an Leos Ohr und blies ihm sanft über das Ohrläppchen. Schaudernd verharrte Leo, machte keine Anstalten, sich von ihm zu lösen.

„Solltest du dich für ein nächstes Treffen unter der Woche entscheiden, gehört dein Arsch mir, das verspreche ich dir. Du wirst mein Bett erst verlassen, wenn ich es dir so hart und ausdauernd besorgt habe, dass du nicht mehr laufen kannst und deine muskulösen Oberschenkel weich wie Butter sind“, raunte Adam und löste sich Zentimeter für Zentimeter von Leo. Er hörte dessen Schlucken und sah dessen Schaudern und lächelte. 

Leo war angetan von seinen Worten, er war nicht unberührt von ihnen, auch wenn er wortlos die Tür öffnete und ebenso wortlos ging.


~~**~~


Erst in der Stille seines drei Häuserblocks weiter geparkten Autos fand Leo wieder Stück für Stück zu sich. 

„Was hast du getan?“, flüsterte er sich selbst zu und starrte auf seinen Schoß, als hätte dieser ein Eigenleben. Dem war definitiv nicht so, denn Leo hatte sich aktiv dazu entschieden, sich heute von Adam ficken zu lassen. Hart, brutal, schmerzhaft, mit vielleicht kommendem Orgasmus. 

Adam hatte andere Pläne gehabt und das, was Leo sich vorgestellt hatte, war anders und sanfter passiert. Mit Farben. Farben! Leo brauchte sie nach wie vor nicht, doch er hätte nichts von Adam bekommen, hätte er dem nicht zugestimmt und das war zum Kotzen fürsorglich. Zumal Leo wollte. Nichts an diesem Tag hatte seinen Drang, sich von Adam ficken zu lassen, abebben lassen können. Dass sie es gemeinsam getan hatten, war…

Leo schluckte bei der Erinnerung daran. 

Es war ein erster Tropfen Wasser in seiner ausgedörrten Kehle, aber es war noch nicht genug. Leo hatte immer noch Durst und er wusste, dass noch mehr auf ihn warten würde, wenn er einfach zugreifen würde. 

Das war ein Novum, denn er traf sich bis auf Gunnar und Mika mit niemandem mehrmals. Und nun ausgerechnet Adam…? Mit dem er sich dazu auch noch so traf um an Informationen zu gelangen? 

Leo wimmerte leise und ließ seinen Kopf auf das Lenkrad fallen, verfehlte nur knapp die Hupe. 

„Was bist du für ein Idiot“, schimpfte er mit sich selbst und wusste, dass er vor allen Dingen der Idiot sein würde, der Adams Angebot der getrennten Treffen mit Sicherheit annehmen würde, denn das, was er eigentlich wollte, hatte er heute mitnichten bekommen. 

Dafür aber Lust auf mehr. 


~~**~~ 


„Adam!“

Zum wiederholten Mal befand sich Leos Hand unter Adams, deutlich und sichtbar schneller als die des blonden Mannes. Dass das kein Zufall war, wussten sowohl Leo als auch Vincent und Vincent hob fragend seine Augenbrauen, als er Adams zufriedenes Großkatzenlächeln sah und merkte, wie leicht Leo heute auf die Provokation ansprang. 

Als wäre nicht Leos Wunsch auf unbedingten Abstand zu ihnen von Sekunde eins an klar gewesen, noch bevor dieser mit festem Griff um das Kartenspiel die Wohnung betreten hatte. Was auch immer Leo in Adams Flur gesehen hatte, es hatte ihn so stark erröten lassen, dass Vincent für einen Moment die Befürchtung hatte, dass etwas Gesundheitliches mit Leo nicht in Ordnung war. Doch an der Art, wie der Ermittler sich abrupt abgewandt hatte, konnte es nichts sein, das ihn körperlich belastete. 

Dass sich da aber eine anscheinend neu gefundene Unsicherheit mit eingefunden hatte, was den Kontakt zu Adam anging, damit hatte Vincent nicht gerechnet und es machte ihn misstrauisch. Adam hingegen kehrte sein provokantestes Ich heraus und kannte nur ein Ziel: Leo Hölzer. 

Der mit finsterem Blick nun am weit entferntesten Rand des Tisches saß und beschlossen hatte, dass der ihm durch Adam gereichte Cappuccino es nicht wert war, getrunken zu werden. 

Kein Wunder, da er doch sonst immer Milchkaffee trank. 

Konstant irritiert versuchte Vincent sich ein Bild von der Lage zu machen, scheiterte aber daran, dass beide Männer sich den größtmöglichen Anschein gaben, als sei das hier ein normales, samstägliches Treffen, bei dem sie Nazikarten schlugen, Leo zum zweiten Mal auf ein „Halt mal kurz“ hereingefallen war und Adam anscheinend verlernt hatte, dass Polizisten nicht geschlagen werden sollten in diesem Spiel. 

Was er mit einer stoischen Ruhe und einem vielsagenden Blick auf Leo ignorierte und sie somit der Reihe nach dazu brachte, alle mit offenen Karten zu spielen.

Dass Leo jetzt die Hutschnur riss, war kein Wunder, das Feuer in seinen Augen ebenso wenig. Es machte Vincent etwas froh, dass sie noch nicht bei der Vollversammlung angekommen waren, bei der er sich alleine schon aus Solidarität und Diplomatie auf Leos Seite schlagen müsste um einen offenen Krieg zu verhindern. 

„Ja bitte, Leo?“, fragte Adam unschuldig wie der Teufel und seine Fingerkuppen tanzten auf Leos Handrücken. Das Überraschendste war daran aber, dass Leo seine Hand nicht sofort wegzog, sondern wie hypnotisiert auf die vorwitzigen, langen Finger starrte. Es dauerte etwas, bis er sich darunter löste und Adam so finster musterte, als hätte dieser ein Kapitalverbrechen begangen. 

Wenn Vincent eine Vermutung anstellen musste, warum Leo sich so verhielt, dann würde er auf einen entsprechend provozierenden Chatverlauf tippen.

„Alles in Ordnung, Leo?“, fragte Vincent, während er seine Tasse abstellte und Leo seinen erkalteten Cappuccino so durchdringend anstarrte, als wolle er ihn alleine durch seine Blicke aufwärmen. 

Verbrennen wohl eher. 

„Bestens“, knirschte er und das hing mit Sicherheit mit seinen tiefen Augenringen zusammen, die auf eine kurze Nacht hindeuteten. Vermutlich hatte er sich wieder zu sexuellen Abenteuern hinreißen lassen, was Adam durch Zarah wusste. Die Übernächtigung führte zur schlechten Laune und Adams durchaus vorhandene Eifersucht auf Leos Stelldicheins führte dann zu Provokationen. 

„Wirklich?“

„Ja!“ Unwirsch schoss Leos Kopf nach oben und Vincent wurde durch das Erschrecken in seinen Augen überrascht. Er hielt sich davon ab, noch weiter nachzubohren und musterte Adam, der sich kommentarlos seinem Kuchenmassaker widmete um danach mit einem sinistren Lächeln seine nächste Karte zu legen.

„Ach, mein, dein, bürgerliche Kategorien“, schnarrte er lakonisch und griff nach Leos Karten. Der wiederum entzog sie ihm und Adam langte noch einmal danach. Leo entzog sie ihm wieder und Vincent war sich nicht sicher, was die Beiden gerade spielten. Halt mal kurz war es sicherlich nicht mehr, dafür aber ihre ganz eigene Art und Weise ihres Haschmich-Spielchens. 

„Her damit!“
„Nein!“
„Das ist das Spiel!“
„Nimm Vincents!“
„Nein!“
„Geh weg!“
„Meine Wohnung und jetzt her damit!“

Beinahe schon fasziniert sah Vincent zu, wie eine ihrer unnötigen Diskussionen ausbrach und Adam Leo doch tatsächlich körperlich nahe kam, als der versuchte, ihm seine Karten zu entziehen. Erst als Adam die bisher vorhandene, körperliche Grenze überschritt und Leo seine Unverschämtheit nicht mit einem entschiedenen Zurückstoßen bestrafte, wurde Vincent eine Sache deutlich, die ihm vorher entgangen war. 

Es war etwas passiert, dass sich Vincents Kenntnis entzog und die beiden Männer waren nicht dieselben wie in der letzten Woche. Hier war etwas geschehen und Vincents Instinkt teilte ihm mit, dass es ein gewaltiger Schritt in eine verbotene Richtung war. 

Leos Hand mitten auf Adams Gesicht, das er nun doch rigoros von sich wegschob, bestätigte Vincent seine Theorie beinahe augenblicklich und er ahnte, was geschehen war. 

Vincent hob seinen Hafermilchkaffee an die Lippen und betrachtete Leos Augenringe unter einem ganz neuen Blickwinkel. 


~~**~~


„Du hattest Sex mit Leo.“

Adam streckte sich ausgiebig auf seiner Couch, auf der bis gerade eben noch sein hauseigener Polizist gesessen hatte. Vincent war ein kluger Mann, befand er und spielte mit der Flasche Bier, die er sich zum Fernsehen aufgemacht hatte. 
Dafür, dass Leo sich nicht mit seinen Sexbekanntschaften traf, hatte er es heute lange hier ausgehalten. Bis neun Uhr abends, bevor er dann vor der Dunkelheit nach Hause musste. Ganz brav. 

Sie hatten den regnerischen Tag genutzt um gefühlte zwölf Runden Halt mal kurz zu spielen. Irgendwann hatten sie zur Couch übergesiedelt und Leo hatte Vincent als wohlplatzierten Puffer zwischen sich und Adam genutzt. Geholfen hatte es wenig und Vincent hatte ihnen beiden in der Mitte des Films ruhig mitgeteilt, dass er nicht im Ansatz so reich war wie die Schweiz und deswegen diese Rolle auch nicht übernehmen würde. 

Alles in allem…gar nicht mal so übel, befand Adam und wagte nun einen Blick auf den klugen Mann. 

„Woran merk man’s?“, fragte er und Vincent hob vielsagend seine Augenbraue. 
„Unter anderem daran, dass du mir gerade eben ausweichst.“

Autsch. 

„Ja, hatten wir. Gestern Abend. Also er wollte Sex und dass ich mit ihm schlafe, aber ich war standhaft und habe ihm nur einen geblasen und dann haben wir uns zusammen einen runtergeholt.“ Stolz präsentierte Adam seine Disziplin, die er im Angesicht des ihn schier verrückt machenden Mannes gezeigt hatte. Dass Vincent diese gar nicht so sehr zu schätzen wusste, sondern im Gegenteil eher so aussah, als hätte er in eine saure, unreife Zitrone gebissen, ließ Adam nahezu enttäuscht die Nase rümpfen. 

„Was denn?“, fragte er schmollend und Vincent seufzte tief. 
„Glaubst du, dass es eine gute Idee war?“, fragte er wenig offen und Adam zuckte mit den Schultern. 
„Ich hatte schon schlechtere Ideen?“
„Und bessere.“
„Nenne drei.“

Sein flappsiger Humor kam gar nicht so gut an wie gedacht und Vincents Lippen umspielte ein nachdenklich-trauriger Zug. Er beugte sich zu Adam und legte seine Hand auf Adams Finger. Die Bewegung glich so sehr Leos und seinem gemeinsamen Handjob von gestern, dass Adam eine kurze Welle an kribbelnder Vorfreude in den Schwanz schoss. Gute Idee war diskutabel, stimmte Adam Vincent stumm zu und lächelte schräg. 

„Ich pass auf mich auf, okay?“, kam er Vincents Sorge zuvor, doch auch das konnte diesen nicht wirklich beruhigen. 
„Es spricht nichts dagegen, dass ihr Spaß miteinander habt, Adam“, murmelte Vincent und hob Adams Hand an seine Lippen. Sacht küsste er die Fingerknöchel. „Aber vergiss nicht, wer er ist und dass eure Verbindung niemals von Dauer sein kann. Leo ist Polizist und das wird er auch immer bleiben.“

Vincent hatte Recht, das wusste Adam. Deswegen befanden sie sich auch in ihrer schicksalsverdammten Ménage-à-trois mit ungutem Ausgang. Aber bis dahin würde Adam genießen, was er hatte, damit er sich schließlich im Gefängnis zu den Erinnerungen an einen willigen, stöhnenden, hilflos keuchenden Leo Hölzer einen runterholen konnte. 

 

~~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 44: Nur gute Kritik

Notes:

Hallo zusammen,

und hier ein neuer Teil zur Anatomie. Dieses Mal wieder mit dem altbewährten Konzept h/c, einem bissigen Adam, einem genervten Leo und ein bisschen nsfw zum Schluss. 😉 Habt viel Spaß beim Lesen und vielen lieben Dank an dieser Stelle nochmal für all eure Kommentare, Clicks, Kudos!

P.S., was ich vergessen hatte. Für alle, die es interessiert, hier habe ich eine Szene zu Elias, Adam und Roland geschrieben.

Chapter Text

 

„Würdest du das machen?“, fragte Leo nachdenklich und warf einen Blick in den Rückspiegel. Er setzte den Blinker und fädelte sich in den trägen, Saarbrücker Nachmittagsverkehr ein, der an der nächsten Ampel erst einmal zum Erliegen kam. 

„Das am Wochenende war…nicht schlimm. Mit ihm gemeinsam zu kommen und ihm nahe zu sein, das wollte ich. Ja, ich wollte es.“ Leo nickte bekräftigend, denn er konnte im Nachhinein nicht sagen, dass er bereute, was Adam und er getan hatten. 

Sex, flüsterte die ungnädige Seite in ihm, die verstörend genau nach Esther klang. Leo schauderte. In dem Kontext vielleicht nicht der richtige Weg, ihre Vernunft und ihren Ernst einfließen zu lassen. 

Sie hatten Sex gehabt und Leo bereute es nicht. Er hatte sich im Anschluss mit Adam getroffen und es war in Ordnung gewesen. Kein komisches Gefühl, keine Verpflichtungen, keine Missverständnisse. Im Gegenteil, der Samstag war entspannt gewesen, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass Adam sein übliches, unmögliches Selbst war und keine Ansprüche erhob, dass er jetzt plötzlich ein amouröses Anrecht auf Leo hätte. 

Das wäre ja noch schöner. 

Sex mit Adam war Nervenkitzel und die körperliche Nähe zwischen ihnen beiden eine Gratwanderung auf dünnem Eis. Der von Leo geplante penetrative Sex, wie er ihn mit anderen, fremden Männern hatte, wäre da der Bungeesprung ohne Seil gewesen. 

Und stand immer noch aus, denn Adam hatte sich wie Mika und Gunnar auch geweigert, ihm noch mehr Schmerz zuzufügen. Auf der einen Seite kribbelte das Wissen um diese Rücksichtnahme tief in Leos Magen, auf der anderen jedoch fühlte er immer noch Wut in sich über diese schamlose Bevormundung. Er entschied doch, was seinem Körper gut tat und was nicht…nicht andere. 

Leo grollte, ließ das aber beinahe sofort zu einem Seufzen verkommen. 

„Ja, Entschuldigung“, murmelte er. „Was würdest du denn machen?“

Die Frage konnte er sich auch stellen. Was würde er machen, wenn es nun wirklich darum ging, Adam die Kontrolle zu überlassen? Natürlich, es war nur Analsex, aber Leo musste Adam vertrauen, dass er ihm nicht wehtat. Also nicht mehr, als Leo es ertragen konnte. 
Nach allem, was geschehen war, war das etwas, was Leo jetzt auch nach dem ersten Mal wagen konnte? Adams Versprechen, dass sein Arsch ihm gehören würde, war in dem sexuellen Kontext, in dem er es geäußert hatte, schon reizvoll gewesen. Erregend. Vielversprechend. 

Ganz im Gegensatz zu der Unterdrückung, die er in der Anfangszeit durch den blonden Mann erfahren hatte. 

Leo schluckte und krampfte seine Finger um das Lenkrad. 

Aber das war vorbei. Adam bereute und Leo kannte den Hintergrund. Konnte er das und sein Bedürfnis nach grobem, beinahe schon verletzendem Sex in Einklang bringen? 

„Ja“, knurrte er und tatsächlich konnte er sich das vorstellen. Sich Adam hingeben, auf dass dieser ihn fickte, damit er mit Lust und Erregung aus ihrem Stelldichein hinausging? Es war vorstellbar. Sehr sogar. Es war machbar und Leo würde einfach nach dem nächsten Mal sehen, ob er sich dann noch auch so mit Adam treffen wollen würde oder ob die Treffen aufgrund des Zwangs der SoKo zu einem unerwünschten Muss im Namen der Gerechtigkeit wurden. 

Das Gefühl einer großen, nassen, schlabbrigen Zunge holte Leo aus seinen Überlegungen zurück und er schauderte grinsend. 

„Ey“, beschwerte er sich bei Herbert, der hinter ihm auf der Rücksitzbank seines Wagens saß und den er heute zum Tierarzt begleiten sollte. Seine Eltern hatten beide keine Zeit, Caro hatte Schicht, so hatte Leo sich dazu bereit erklärt, den Riesen zur notwendigen Impfung und ärztlichen Überprüfungsuntersuchung zu fahren. 

Laut des Tierarztes, der Herbert vermittelt hatte, gar kein Problem. 

Leo fuhr auf den Parkplatz der Praxis und brachte seinen Wagen zum Stehen. Er drehte sich nach hinten um und drückte Herbert einen Kuss auf die große Nase. 
„So, das wird alles halb so schlimm“, machte er dem aufgeregten Hund Mut und verließ nichtsahnend den Wagen. Herbert folgte ihm und bis zur Eingangstür der Praxis stimmte Leos Einschätzung auch problemlos. Der Rüde trabte anstandslos neben ihm her, schnüffelte neugierig an den Büschen und Bäumen. Er hatte nichts gegen andere Hunde und nachdem, was seine Eltern ihm gesagt hatten, waren ihm bisher nur Mäuse außerordentlich suspekt. 

Sobald die automatische Schiebetür sich öffnete, konnte Leo allerdings noch nicht einmal im Ansatz davon sprechen, dass Herbert sich problemlos führen ließ. Wie angewurzelt stand er in der Tür und starrte in den Vorraum mit der bunten Theke und dem noch viel lauteren Treiben. Kein Gramm seiner achtzig Kilo ließ sich wegbewegen und Leo grunzte frustriert, als nichts zu machen war. Kein leichtes Rucken an der Leine, kein Locken, kein Vorgehen…nichts. 

Versichernd legte Leo die Hand auf Herberts Rücken und kraulte das seidige Fell dort. Er seufzte schwer. 

„Na komm, Großer. Das ist nichts Schlimmes und ich bin bei dir, okay? Ich lass nicht zu, dass dir was passiert.“

Das brachte Leo zumindest einen wehleidigen Blick aus braunen Hundeaugen ein und Herbert presste sich an ihn, als wollte er hineinkriechen. Als Leo probeweise einen Schritt nach vorne trat, kam er aber mit, so eng an ihn gequetscht, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte. 

Leo lächelte zuversichtlich und war erleichtert, dass er es dann doch bis zum Empfangstresen schaffte.

„Leo Hölzer mein Name. Das ist Herbert. Wir sind zum Impfen und zur Vorsorgeuntersuchung hier. Barbara Hölzer hat uns angemeldet.“
Die Frau am Empfang – Magdalena stand auf ihrem Namensschild – musterte zuerst ihn, dann Herbert, der den Kopf furchtsam über den Tresen reckte und lächelte. 
„Hallo zusammen und herzlichen willkommen in unserer Praxis“, lächelte sie und streckte Herbert probeweise ihre Hand entgegen. Das wurde nicht mit viel Gegenliebe aufgenommen und abrupt wich Herbert vor der ihn erschreckenden Hand zurück, sodass Leo alle Hände voll zu tun hatte, ihn aufzuhalten. 

„Hey…hey…alles in Ordnung. Dir passiert nichts“, versuchte er ihn wieder zu beruhigen, doch die hängenden Ohren und der eingeklemmte Schwanz schienen da eine andere, sehr deutliche Sprache zu sprechen. Herbert hielt nach einem ersten Beschnuppern absolut gar nichts hiervon und Leo beschlich die Vermutung, dass seine vorherigen Besitzer ihn nicht nur missachtet und eingesperrt hatten, sondern dass er entgegen der ersten Einschätzung auch schon in jüngster Kindheit schlechte Erfahrungen mit Tierärzten gemacht hatte. 

„Ich bin bei dir“, sagte er beruhigend und erneut starrte Herbert zu ihm hoch. Dass das anscheinend nicht reichte, wurde Leo bewusst, als der Hund sich auf die Hinterbeine stellte und seine Vorderläufe auf Leos Schultern legte. Leo schnaufte.

„Ernsthaft, Herbert? Na komm! Wir haben es doch bald hinter uns. Es wird nicht schlimm“, versuchte er den Hund zu beruhigen, der brummelnderweise gar nichts von seinen Worten hielt. Seufzend sah Leo zu Herbert hinauf und hob seine Augenbrauen. 
„Los jetzt, das ist keine große Sache. Du wirst davon gar nichts spüren.“

Herbert ignorierte ihn und stemmte seine Hinterläufe schmerzhaft zuerst in Leos Obeschenkel, bevor er sich komplett um seinen Oberkörper klammerte und schlussendlich gänzlich an Leo klebte.
Ungläubig versuchte Leo einen Blick auf den plötzlichen Klammeraffen zu erhaschen und ächzte schwer ob des zusätzlichen Gewichtes. 
„Was ist denn mit dem Boden? Der ist doch in Ordnung, du Angsthase“, grollte er sanft und Herbert winselte, machte jedoch keine Anstalten, sich aus seiner anscheinend bequemen Position zu begeben. 

Wenigstens war sie das für einen von ihnen beiden. 

Magdalena räusperte sich amüsiert. „Möchten Sie und Ihr…Schoßhund… noch solange ins Wartezimmer, bis Frau Doktor Sie aufruft? Es ist momentan auch nicht so voll.“
Leo schnaufte und drehte sich so, dass er sie ansehen konnte. Mit dem riesigen Hundeschädel und den Hundeschultern im Weg gar kein so einfaches Unterfangen. „Gerne. Wo finde ich das?“
„Hier gleich geradeaus. Die Stuhlreihe am Fenster ist auch frei, da können Sie sich hinsetzen.“

Leo schleppte sich samt Last nach vorne und hörte ungesehen das amüsierte Prusten der anderen Menschen, während Herbert sich an ihn klammerte, als wäre er seine letzte Rettungsleine. 

„Du Schisser“, schimpfte Leo liebevoll und pustete Herbert auf das weiche Brustfell. 
„Guten Tag zusammen“, grüßte er die Anwesenden und brachte sie beide zu einem der Stühle, die doch überraschend stabil dafür waren, dass annähernd 180 Kilo versuchten, auf ihnen Platz zu nehmen. Er bog sich nur ein wenig durch, aber mehr konnte Leo auch nicht sehen. Nicht mit dem riesigen Baby in seinen Armen, das am ganzen Körper zitterte und dessen Sabber Leos Shirt am Rücken und an der Schulter durchnässte.

Er seufzte tief. 

„Aber das ist kein Polizeihund, oder?“, fragte eine weibliche Stimme zu seiner Rechten und Leo fiel siedend heiß ein, dass er sein Holster von der Arbeit noch anhatte und damit auch noch seine Handschellentasche. In Anbetracht der Tatsache, dass vermutlich weniger Saarbrücker mit Handschellen am helllichten Tag in Tierarztpraxen zu finden waren, war seine Berufszuordnung mehr als eindeutig. 

Leo brummte und war jetzt doch froh um das Versteck, das Herbert ihm bot. 

„Nein, wir beschäftigen keine Doggen“, erwiderte er und sie lachte. 

„Das freut mich zu wissen, ansonsten hätten Sie wohl eher die Hände voll zu tun, ihn zu schützen. Viel Glück im Übrigen mit ihm“, sagte die unbekannte, weibliche Stimme gnädig und Leo winkte mit einer seiner beiden Hände in die ungefähre Richtung.

Zumindest aber hoffte er auf Glück. „Danke.“

„Herr Hölzer? Frau Dr. Trottmann hat nun Zeit für Sie.“ Unzweifelhaft war das Magdalena und Leo stemmte sich mit samt Herbert in die Höhe, der das so gar nicht gut fand. Leo musste ihn fester packen, damit ihm der Hund nicht stiften ging und klopfte ihm sacht auf den Rücken. 

„Wenn du noch weiter höherkletterst, bringst du uns beide zu Fall, ist dir das klar, du Angsthase?“, fragte er und Herbert maulte lauter, je näher sie zum Behandlungszimmer kamen. Leo gab sein Bestes, um ihm beruhigend über das Fell zu streichen, den Weg zu finden und gleichzeitig Herberts Kopf nicht an den Türrahmen zu stoßen, durch den er nun trat. 

„Oh.“ Anscheinend war das die Tierärztin, mutmaßte Leo. Ihre Stimme klang zumindest so – er kannte schließlich den Ärztinnenton seiner Schwester nur zu gut.
„Hallo, Hölzer mein Name und das hier ist Herbert.“
„Schön, Sie beide kennen zu lernen. Unzweifelhaft ein Fliegengewicht, Ihr Hund. Die Tür hinter Ihnen ist zu, Sie können ihn hinunterlassen, wenn Sie möchten.“
„Ich versuch`s.“

Dass Leo seinen Worten Taten folgen ließ, führte im Endeffekt dazu, dass er auf die Knie gehen musste und schlussendlich dazu noch rücklings auf dem Tierarztboden lag mit Herbert auf ihm drauf, der sich winselnd und jammernd an ihn klammerte, als würde ihm gleich das Schlimmste widerfahren, was passieren konnte. Aber wenigstens sah er jetzt das Gesicht der Tierärztin, die ihn mit erhobenen Augenbrauen musterte. 

„Der erste Besuch beim Tierarzt?“, fragte sie lakonisch und er nickte gequält. 
„Und der erste Hund. Eigentlich kann er mittlerweile ganz gut mit Menschen.“
„Vermutlich verängstigen ihn hier die Gerüche, das passiert schonmal. Nicht immer, aber manche sollen einfach nicht.“
„Danke für die Erklärung. Nicht, dass es mir gerade etwas bringt.“
„Hmh. Könnten Sie ihn festhalten, während ich ihn impfe?“, grinste Frau Dr. Trottmann verschwörerisch und er nickte.

Nichts leichter als das, befand Leo und schlang seinen Arm um den in ihn hineinkriechenden Hund.
„Du wolltest es so, Angsthase. Und ich bin ja da, außerdem ist es nur ein Pieks und gleich vorbei.“
„Es wären zwei Spritzen“, warnte Dr. Trottmann, bevor sie Leo eine Schale an Leckerchen gab und wartete, bis Herbert zumindest mal neugierig seine gierige Nase hineinsteckte, bevor sie seine Ablenkung nutzte, um beide in Fellfalten zu versenken. 

Erstaunt sah Leo zu Herbert, der gierig das Futter verschlang, während die Ärztin mit einem triumphierenden Lächeln die leeren Kanülen hochhielt. Dieser opportunistische Hund… hätte Leo doch zumindest erwartet, dass er die Leckerchen nicht anrühren würde. Aber nein. 
„Klappt meistens, die Gier nach Futter auszunutzen. Auch bei den ängstlichen Tieren. Allerdings habe ich auf meinem Plan auch noch die restliche Untersuchung… dafür muss Herbert entweder auf den Tisch oder aufstehen. Was wäre Ihnen lieber?“

Leo seufzte mit zusammengebissenen Zähnen. „Versuchen wir das Aufstehen.“
„Alles klar, dann auf geht’s!“

Selten war Leo so glücklich über seine Polizeiausbildung gewesen, als er sich recht würdevoll von Herbert befreien konnte, der schneller stand, als sie beide gucken konnten. Sacht, aber bestimmt drückte Leo die Vorderpfoten hinunter, sie sich schon wieder auf seine Schultern legen wollten, kaum, dass er aufgestanden war.
„Nein, unten bleiben“, befahl er streng und hielt das in ihn hineinkriechende Tier eisern fest, während die Tierärztin ihn in Augenschein nahm und den zitternden und maulenden Herbert abhörte. Die Lefzen zog Leo lieber hoch, auch denn das ein nicht zu unterschätzender Krampf war. Dass er sich die Krallen schneiden ließ, war da eher eine positive Überraschung, wenngleich das sein betrogenes Heulen bei der Ohruntersuchung mitnichten wieder wettmachte, das Leo durch Mark und Bein ging.

„Er ist vollkommen gesund“, versicherte Dr. Trottmann ihm, als sie anscheinend seinen panischen Gesichtsausdruck sah und Leo schluckte erleichtert. „Er hat nur Angst. Hat er schonmal schlechte Erfahrungen beim Tierarzt gemacht?“
„Das wissen wir nicht, wir haben ihn aus dem Tierschutz.“
„Verstehe. Vermutlich wäre nächstes Mal ein Hausbesuch da besser“, mutmaßte sie und Leo blinzelte. 
„Das wäre möglich gewesen?“
„Klar. Bei Angstpatienten wie ihm hier mache ich das. Ich brauche nur einen entsprechenden Vorlauf.“

Oh.    

„Beim nächsten Mal dann“, erwiderte Leo mir knirschendem Lächeln und strich Herbert über die Flanke. „War es das oder kommt noch mehr?“
„Das war es…Ihre Impfbescheinigung lasse ich am Empfang hinterlegen, solange können Sie schonmal mit Ihrem kerngesunden Hund wieder nach vorne gehen.“

Leo nickte dankbar und wandte sich an Herbert. „Siehst du, alles gut überstanden“, machte er ihm Mut und griff sich die Leine. 

Im Nachhinein hätte er sich denken können, dass nicht alles gut war und dass Herberts Körpersprache ihm eine Warnung hätte sein sollen. Er hätte sich denken können, dass die geöffnete Tür vielleicht ein willkommener Fluchtweg war. Er hätte sich vieles denken können, tat er aber nicht und so wurde er innerhalb von Sekunden vollkommen von Herberts gewaltvollem Zug mit dem Gesicht voran gegen die Türkante gepresst. Fluchend hielt sich Leo seinen Kopf und kam nicht umhin, durch den Schreck der ersten Schmerzsekunde die Leine loszulassen. 

„Geht’s Ihnen gut?“, fragte die Ärztin besorgt an seiner Seite, während er sich fluchend sein verdächtig pochendes, linkes Auge hielt und sich ebenso unflätig schimpfend krümmte. Panische Geräusche und auf dem Boden zerschellende Gegenstände drangen aus der Praxis zu ihnen und Leo stöhnte auf. Unzweifelhaft Herbert und Leo wusste, dass er hinterhermusste. Würde er auch, sobald der schmerzinduzierte Schwindel und die damit einhergehenden Kopfschmerzen nachließen.

„Sie bluten, Herr Hölzer.“
„Das muss warten, der Hund…“

Ohne auf den Einwand der Ärztin zu hören, taumelte er den Flur entlang und erkannte, dass sich der Angsthase von einem Riesen hinter die letzte Ecke des Empfangstresen gequetscht hatte. Seinem Weg folgte eine Spur der Verwüstung und Leo presste die Zähne aufeinander. Zum Glück hatte er eine gute Haftpflicht, denn das, was hier auf dem Boden lag, sah nicht günstig aus.

Leo ignorierte die anderen Tierbesitzer, die ihn anstarrten, als ob er…naja…blutete, und ließ sich vorsichtig neben Herbert hinter dem Tresen nieder. Dieser ignorierte ihn, als wäre er der schlimmste Mensch auf dem Planeten und nun scheiterten wirklich alle Versuche, das Tier aus der Ecke zu bekommen. Egal, was Leo tat, locken, Leckerchen, sanfte Strich über das seidige Fell – nichts half. 

Leo schluckte. Ihm blutete das Herz, dass es Herbert so schlecht ging, ihm blutete das Herz, dass der Hund soviel Angst hatte, obwohl er doch da war. 
Nicht wollte gelingen und alles, was Leo tat, machte es anscheinend nur noch schlimmer… und nach zwanzig Minuten des fruchtlosen Versuchens und der stärker werdenden Kopfschmerzen gab Leo auf.

Er konnte den Betrieb der Arztpraxis nicht Ewigkeiten lahmlegen und Magdalena beim improvisierten Arbeiten von unten zusehen. 

Wenn der sture Bock unterm Tresen ihn nicht sehen wollte, gab es noch eine Möglichkeit, wie er ihn hervorlocken konnte. Herbert liebte ihn – für gewöhnlich, aber es gab jemanden, den liebte er sehr sicher abgöttisch. 

Zähneknirschend holte Leo sein Handy hervor. 


~~**~~


Als er im Auto saß und in Richtung Tierarztpraxis fuhr, konnte Vincent immer noch nicht ganz glauben, welches Telefonat er soeben geführt hatte. 

Zähneknirschend und mit deutlichem Widerwillen in seiner Stimme hatte Leo Hölzer ihn darum gebeten, vorbei zu kommen und einen völlig sturen und verängstigten Herbert aus seiner Tierarztpraxis zu holen. 

Das war neu und unerwartet und Leo hatte sich so angehört, als würde er lieber eher alle Menschen der Welt fragen als ihn. Vincent verstand das nur zu gut und entsprechend sanft hatte er dem zugestimmt. Sein Treffen mit Adam nach hinten schiebend, hatte er sich dann auf den Weg gemacht und war innerhalb von einer Viertelstunde in der Kleintierpraxis von Frau Dr. Trottmann. Leo saß hinter dem Tresen, ein Pflaster und einen Eisbeutel an seinem linken Auge. Als er ihn sah, presste er unwirsch seine Lippen aufeinander. 

„Hallo Leo“, grüßte Vincent mit einem Lächeln und der Ermittler sah aus, als würde er lieber Glasscherben schlucken als den Gruß zu erwidern. Er war angespannt und Vincent konnte sich durchaus vorstellen, warum. Die Chance, dass sie jemand zusammen sah, war gering, aber nicht null. Noch immer wussten seine Kolleginnen nichts von Leos Verbindung zu Adam und ihm. 

„Er kommt nicht unterm Tresen hervor“, erwiderte Leo gepresst und Vincent warf vorsichtig einen Blick auf den zusammengekauerten Hund, der einen nicht unerheblichen, jedoch für seine Größe überraschend kleinen Platz im Halbdunkeln einnahm.

„Oh…hallo Herbert“, murmelte er sanft und eines der Ohren stellte sich minimal auf. „Hi. Na, Großer, alles gut mit dir?“

Minimal schlug das letzte Drittel der Rute des Hundes und er winselte leise. 

„Blöder Arztbesuch, hm? War die Spritze gemein zu dir?“ 

Wieder maulte Herbert leise und die Rute schlug sacht etwas schneller, als Vincent vorsichtig seine Hand nach Herbert ausstreckte. 

„Kommst du mit Leo und mir raus? Das klingt doch nach einem guten Plan, oder? Weg von hier, ein bisschen kuscheln auf der Couch? Was hältst du davon? Ich habe auch noch Äpfel dabei, wenn du möchtest.“

Es brauchte nur noch ein paar Sekunden des Überlegens in Herberts Hundeleben, dann robbte die Dogge sich vorsichtig aus seiner Ecke heraus, auf Vincent zu und in Vincents Schoß. Immer und immer überschwänglicher begrüßte er ihn, seine Zunge winselnd durch Vincents Gesicht und seinen Hals ziehend. Unauffällig griff Vincent zur Leine und hielt sie fest im Griff, bevor der Hund wieder stiften ging. 

„Kommst du mit?“, fragte er den kooperativen Hund wie auch den niedergeschlagen neben ihm sitzenden Leo. Beide brummten unisono und Vincent strich Leo über den Oberarm, was dieser mit einem undurchdringlichen Blick beobachtete. Vincent lächelte ihm versichernd in das angespannte Gesicht und deutete auf den Ausgang. 
„Wir schaffen das“, sagte er zu den beiden Sorgenkindern und ließ sich von Herbert herausziehen, während Leo ihm schweigend folgte. 

„Soll ich euch beide nach Hause bringen?“, fragte er sacht, als sie auf dem Parkplatz neben Leos Auto standen. 
Nachdenklich wurde sein Angebot abgewogen und schlussendlich abgelehnt. „Ich kann selbst fahren.“
„Okay.“ Vincent wusste, wie wichtig es war, Leo in einer solchen Situation seine eigenen Entscheidungen treffen zu lassen. Leo wollte gleichberechtigt sein, er gierte danach und er hatte als Privatperson ohne Verbindung zum Syndikat auch jedes Recht dazu. 

Das Problem war nur…Herbert bewegte sich keinen Zentimeter in Leos Auto hinein. Er blieb eng gepresst an Vincent stehen und warf einen vorwurfsvollen Blick in Richtung des Ermittlers, der ihn unglücklich musterte. 

„Na komm“, lockte Leo mit weicher Stimme, doch erfolglos. Es frustrierte den Ermittler und machte ihn so niedergeschlagen, dass Vincent das Herz für beide blutete – Herbert und Leo. Auch Vincents Locken blieb erfolglos.  
„Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich Herbert zu dir fahre. Bei mir wird er vielleicht einsteigen. Und heute Abend wird er dir auch nicht mehr böse sein, versprochen.“

Leo überlegte einen Moment, sichtlich zerrissen, ob er das Angebot annehmen sollte und nickte dann stumm. 


~~**~~


Herbert war ihm tatsächlich bereitwillig in seinen Wagen gefolgt und kam nun mit ihm sehr bereitwillig in Leos Wohnung und legte sich mit vorwurfsvollem Blick maulend auf die Couch. Vincent strich ihm liebevoll über den Rücken und verließ ihn dann zugunsten von Leo, der sich bereits einen Kühlpack nahm, um ihn sich an die linke Gesichtshälfte zu pressen. 

„Soll ich mir das einmal anschauen?“, fragte Vincent mit einem zuversichtlichen Lächeln und angesäuert musterte Leo ihn. Natürlich war es für ihn unangenehm, Vincent um Hilfe zu bitten, das verstand er. Aber wo er schon einmal hier war…

„Geht schon, die Tierärztin hat bereits drüber geguckt“, murrte der Ermittler und das war derart absurd, dass Vincent nicht umhin kam zu lachen. 
„Und, wurdest du auch gleich entwurmt?“, fragte er im Versuch eines harmlosen Witzes, der Leo sogar zum Schnauben brachte. 
„War knapp, aber nein.“
„Freut mich. Und er wird wieder, da bin ich mir sicher. Er ist jetzt gerade sauer, weil du es warst, der ihn zum Tierarzt begleitet hat, aber das gibt sich mit Sicherheit. Er mag dich doch sehr gerne.“

Seine Worte trafen auf schweigende Annahme. „Willst du einen Kaffee?“, fragte Leo dann und Vincent nickte glücklich. Er erkannte Leos Angebot als das, was es war. Ein Dank und ein Friedensangebot. 
„Gerne, wenn es keine Umstände macht.“

Anscheinend machte es keine, denn Leo drehte sich kommentarlos um und warf seinen Vollautomaten an, der, wie Vincent wusste, guten Kaffee produzierte. Er folgte Leo in die Küche und lehnte sich neben ihm an die Küchenanrichte, betrachtete das bärtige, nachdenkliche Gesicht. 

„Ich würde gerne mit dir noch über eine andere Sache sprechen“, läutete Vincent ein, was gehörig schief gehen konnte und erntete ein Brummen dafür. 
„Du und Adam, ihr wart intim miteinander.“

Leo hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne und erstarrte in jedweden Bewegungen. Dann löste er sich mit einem Ruck aus der Starre und gab Vincent schweigend seinen Kaffee, zog sich selbst eine Tasse hervor. Er machte sich einen Milchkaffee und gab in aller Ruhe Zucker dazu. Dass er gar nicht so ruhig war, erkannte Vincent an der Ader, die in seinem Hals pochte. 

„Hat Adam also mit dir darüber gesprochen, ja?“, fragte er schließlich und wandte sich Vincent zu, wütend und enttäuscht, aber auch voller Scham. Vincent schüttelte den Kopf. 
„Nein, ich habe anhand eures Verhaltens zueinander geschlossen, dass ihr euch körperlich nahe gewesen sein musstet.“
Leo schnaubte. „Wie das denn?“
„Deine Hand in Adams Gesicht war neu und sprach von einer Intimität, die vorher noch nicht da gewesen ist. Ebenso sehr, wie ihr euch um ein Spiel gekebbelt habt. Das habe ich bei euch noch nie beobachtet und dann Adam damit konfrontiert.“

Leo blinzelte. Seine Wangen färbten sich rot ein, was er mit einem Schluck zu verstecken suchte. Vincent seufzte. Er verstand, dass Leo damit ein Problem hatte, er ahnte, nein, wusste auch warum. Aber es zu ignorieren, half der Sache nicht. Ganz und gar nicht. 

„Wie fühlst du dich damit?“
„Bestens.“

Dass hier nichts bestens war, sahen sie beide nur zu deutlich und Vincent wartete geduldig ab, bis Leo fortführte, was er eigentlich sagen wollte. Wenn er es überhaupt sagen würde. 

„Ich wollte es“, schob der Ermittler beinahe schon trotzig nach und Vincent hob seine Augenbrauen. „Ich komme damit klar.“

Angesichts der Tatsache, dass sie von der höchsten Form körperlicher Intimität sprachen, war Ich komme damit klar nichts, was Vincent wirklich beruhigte. 
„Also hat es dir nicht gefallen?“
„Doch.“
„Würdest du es wieder tun?“

Leo war mittlerweile hochrot im Gesicht und kämpfte sichtlich mit einer Antwort. Fast rechnete Vincent damit, dass der andere Mann ihm klar mitteilte, dass es ihn nichts anging, doch kein einziges Wort in diese Richtung verließ Leos Lippen. Im Gegenteil. Anscheinend hatte er trotzdem weiterhin Redebedarf und Vincent war der Einzige, mit dem er über Adam sprechen konnte. 

„Er fällt in mein Beuteschema.“

Vincent erkannte, dass die ausweichenden Antworten gerade das Minimum an Informationen enthielten, das Vincent brauchte, um Leos Intentionen daraus abzulesen. Bis auf die beiden Dänen, mit denen sich Leo regelmäßig traf, entsorgte er Männer, die in sein Beuteschema passten, nach ihrem Stelldichein. Er traf sich nicht zweimal mit ihnen. Daher war die Aussage zweischneidig. 

Vincent nahm einen Schluck Kaffee und drehte sich Leo zu. Locker verschränkte er seine Arme vor seiner Körpermitte. 

„Heißt das, dass du nochmal mit ihm schlafen willst?“, wiederholte Vincent seine Frage und Leo verweigerte ihm für eine unendlich lange Minute eine direkte Antwort, dann drehte er sich wütend zu ihm.
 
„Und selbst wenn, was geht’s dich an? Willst du Raczek untreu werden oder habt ihr eine offene Beziehung? Willst du auch mal ran?“, setzte Leo zum Gegenschlag aus, der durchaus vorhersehbar war, und Vincent seufzte. 

„Nein, ich möchte Adam nicht untreu werden und nein, ich möchte nicht ran. Du hältst aber nichts von dauerhaften Sexpartnern und ich möchte verhindern, dass du Adam mit dem, was du vielleicht unwissentlich tust, wehtust. Deswegen sprechen wir hier“, erläuterte er geduldig und Leo blinzelte. 

„Ihm…wehtun?“, echote er ungläubig und Vincent nickte ernst. 
„Adam mag dich, er mag die Treffen zwischen euch beiden.“
„Die ihr mir aufgezwungen habt…“
„…und die du mittlerweile freiwillig wahrnimmst“, ergänzte Vincent die klare Wahrheit so sanft, wie er konnte, doch auch das war schon viel zu bitter für Leo. Er sah aus, als hätte er in eine wirklich saure Zitrone gebissen, hatte aber der Anstand, es schlussendlich durchaus zuzugeben. 
„Mittlerweile“, brummte er und Vincent schnaufte sanft. 
„Adam ist keiner der gesichtslosen Männer, mit denen du dich in Clubs oder im Wald triffst.“
„Als wenn ich das nicht wüsste.“

Vincent seufzte tief. „Worum ich dich damit bitten möchte, Leo, ist einfach Folgendes: brich Adam nicht das Herz.“

So einfach sein Satz war, so wuchtig waren die Emotionen, die dahintersteckten. Adam würde es nicht noch einmal überleben, einen Menschen zu verlieren, der ihm etwas bedeutete und dass Leo ihm etwas bedeutete, war klar und deutlich erkennbar. Adam selbst würde es Leo gegenüber nie zugestehen, aber dafür gab es ja Vincent. 

„Werde ich nicht“, murrte Leo leise und starrte auf seinen Milchkaffee, als wäre es das Interessanteste der Welt. 
„Bald wird der Prozess gegen Boris Barns weitergehen. Ich weiß, dass du auch in den Zeugenstand gerufen wirst. Boris Barns ist wie ein Onkel für Adam gewesen, eine Vaterfigur, wo sein leiblicher Vater versagt hat.“
Leo schnaubte verächtlich. „Er ist trotzdem ein Mörder! Das hätte er sich vorher überlegen sollen.“

Vincent schmunzelte bitter. „Das ist erst bewiesen, wenn der Richter seinen Urteilsspruch gefällt hat.“ Natürlich hatte Leo Recht, die Indizien waren eindeutig und belasteten Boris Barns schwer. Die Wahrheit stand auf einem ganz anderen Blatt. 
„Wir werden sehen“, erwiderte Leo entsprechend dunkel und Vincent nickte. 
„Ihm die Vaterfigur zu nehmen, wird ihn verletzen, so gerechtfertigt das auch sein mag. Es wird ihn angreifbar machen und verletzlich. Wenn du dir den Zeitpunkt aussuchen solltest, um ihm zu sagen, dass du ihn nie wieder sehen willst, möchte ich dir raten, dir einen anderen zu suchen. Davor oder danach.“
„Ich werde dran denken“, stimmte Leo zu und Vincent strich ihm lächelnd über den Unterarm. 

„Du bist ein guter Mensch, Leo. Behalte dir das im Herzen, egal, wie stürmisch die Zeiten sein mögen.“

Es war ein Kompliment, aber auch eine Warnung. Leo erkannte beides und Vincent leerte seine Kaffeetasse. 

„Du liebst Adam, oder?“, fragte der Ermittler schließlich und überrascht sah Vincent auf. 
„Natürlich tue ich das“, gab er offen zu, was nur zu ersichtlich war. „Warum fragst du?“
„Ihr werdet irgendwann auffliegen. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann. Die Strafe, die euch beide dann erwartet, wird hoch sein. Wenn du ihn so liebst, dann überzeuge ihn davon, dass er sich der Polizei stellt und ins Zeugenschutzprogramm geht.“

Überrascht musterte Vincent den Ermittler neben sich, der von jetzt auf gleich wieder auf das Thema zu sprechen kam, das ihn anscheinend seit ein paar Monaten beschäftigte. 

„Das entscheidet Adam, nicht ich. Und wie wir beide wissen, will er es nicht.“

Leo schnaufte abwertend und schüttelte den Kopf. „Das ist seine Chance, alles wieder gut zu machen. Er sollte sie ergreifen“, sagte er und Vincent wusste, dass Adam das anders sah. Ganz anders. 

„Wir werden sehen“, spiegelte er Leos Worte von zuvor.


~~**~~


Es war seltsam, dass Vincents Ansprache voller Sorge Leo die Entscheidung abgenommen hatte, ob er sich tatsächlich ein weiteres Stelldichein mit Adam gönnte oder nicht. 

Mit jeder Silbe, die Vincents Mund verlassen hatte, war Leo klarer geworden, dass er keine Angst vor Sex mit Adam hatte. Er wollte es, er wollte bis zum Letzten gehen. Er wollte sehen, ob Adam sein Versprechen halten und ihn ficken würde. Trotz der nahenden Gerichtsverhandlung, trotz der verschiedenen Seiten, auf denen sie standen. Er wollte ihn und die Möglichkeit, die sich ihm durch Sex mit Adam eröffnete. 

Und natürlich wollte sich Leo seine ungelenkte Lust für den blonden Mann aus dem Körper ficken lassen, damit er endlich Ruhe haben konnte. 

Er seufzte und starrte auf die träge Saar. Herbert hatte er heute Morgen bei seinen Eltern abgeliefert und er war froh zu sehen, dass der Hund ihm nun hinterhergejaulte. Es war alles wieder gut, vergessen und vergeben. Nur sein blaues Auge bot noch Anlass zu Spekulationen und, wie in Esthers Fall, zu Spott.

Momentan waren sie und Pia allerdings Mittagessen und so hatte Leo genug Zeit, zu brüten und nach seinem Handy zu greifen, es wieder weg zu legen, wieder danach zu greifen und dann endlich Adams Kontakt aufzurufen. 

Er atmete tief ein, seine Finger auf dem Display. Ja. Er wollte es. 

 

Chatverlauf I
 


Was!? Leo blinzelte. Was sein Arsch…brauchte? Was war das für eine Frage? Was für eine Antwort wollte Adam darauf? Wie…also… was sollte Leo. Er schluckte. Sollte er jetzt „deinen Schwanz“ schreiben, oder was bezweckte Adam? 

Er starrte auf sein Handy und legte es beiseite. Das konnte er doch nicht einfach so schreiben. Auf Grindr, ja, aber doch nicht auf WhatsApp. Was…

Leo stand auf und ging eine Runde durch ihr Büro, lenkte sich durch einen Blick auf die Beweismittelwand für Elias Schiller ab. Erst danach kam er wieder zu seinem Schreibtisch, immer noch nicht wissend, was er wirklich schreiben sollte. 

Aber zum Glück war Adam ihm zuvorgekommen, sah Leo mit wild schlagendem Puls. 

 

Chatverlauf II


 
Was für ein Arschloch! 

Leo grollte und warf sein Handy auf den Schreibtisch, gerade rechtzeitig, bevor Pia und Esther wieder das Büro betraten. Mit pochenden Ohren wandte er sich seinem PC zu. 

Dumbo. Pah.


~~**~~


Adam hatte seine Wohnung aufgeräumt. Er hatte an allen strategischen Positionen Kondome und Gleitgel verteilt und sich geduscht. Vielleicht gleich zweimal, aber das würde er nicht zugeben. Überhaupt war nach ihrem kurzen Austausch heute Mittag seine Welt aufregender geworden und Adam konnte nicht sagen, dass er jemals mit Bastian so nervös gewesen war wie mit Leo jetzt. 

Es konnte soviel schiefgehen, aber auch soviel gut werden. Adam wusste, dass er gut war, das hatte Bastian ihm in einer ehrlichen Minute mit einem vielsagenden Grinsen gestanden. Adam verstand den männlichen Körper, sehr gut sogar. Er wusste, welche Knöpfe er drücken musste. Dass die Knöpfe auf Leos Körper mit doppelten Sicherungen kamen, dessen war Adam sich bewusst und das machte es nur noch ein bisschen reizvoller. Aufregender. Spannender. 

Er hatte viel vor am heutigen Abend und wehe dem, er versagte. Er musste seinen hauseigenen Ermittler höchstpersönlich davon überzeugen, dass dieser bei niemand anderem besser dran war als bei Adam selbst. 

In sexueller Hinsicht. 

Ein bisschen körperlicher Kontakt hatte nichts mit der Liebe zu tun, die er Elias gegenüber empfunden hatte. Dass sie abseits dessen etwas zusammen machten, entsprach auch nicht dem, was er mit Elias geteilt hatte. Wie auch, nachdem, was Leo eigentlich war. Sie waren sicher, denn sie wären sich niemals so nahe wie Elias ihm nahe gewesen war. Leo war ein Polizist und das war ihre Rückfallversicherung. Sein Vater würde keine zweite Gelegenheit haben, …

Adam schluckte die bittere, brennende Kröte hinunter, die plötzlich seinen Hals hinaufkroch und die er so gar nicht gebrauchen konnte. 

Er wollte jetzt nicht daran denken. Nein. Leo war gleich bei ihm, in seinem Bett oder sonst wo in der Wohnung. Leo, der freiwillig kam und nahm, was Adam zu geben bereit war. 

Wie auf Abruf klingelte der andere Mann und Adam drückte den Türsummer. Er hörte schon an den Schritten, dass es tatsächlich Leo war und lehnte sich an den Türrahmen, die Arme locker in seinen Hosentaschen. Das versteckte das Zittern seiner Finger und Adams Lächeln die Aufregung, die dahintersteckte. 

Leo kam hoch und stumm musterten sie sich. Adam trat nonchalant zur Seite und ließ Leo hinein, der mit Jacke, Shirt und Chino so normal und lässig vor ihm stand, als würden sie etwas Anderes machen als dass, was sie geplant hatten. 

„Hallo, du Türkrieger“, grüßte Adam mit hochgezogenen Augenbrauen latent ironisch, während Leo sich seiner Schuhe und seiner Jacke entledigt, und erntete ein Zusammenpressen von schmalen Lippen dafür. 

„Du mich auch“, erwiderte Leo abfällig und Adam erkannte, dass er nicht der Einzige war, der nervös war. Ganz im Gegenteil.

„Erfolgreicher Kampf, also?“, forderte er sein Glück daher gleich noch einmal heraus. „Ich hoffe, du hast sie verhaftet?“

Natürlich hatte Vincent ihm alles erzählt – nachdem er wieder da war, der Miese. Zu gerne hätte Adam Leos Gesicht gesehen, als Vincent das schissige Riesenbaby aus der Praxis geholt hatte. Zu gerne hätte er sich direkt um Leos Verletzungen gekümmert und den Schmerz mit einem Blow-Job konterkariert. Aber nein. So blieb ihm nichts anderes übrig, als es jetzt zu würdigen und zu kommentieren. 

Ganz zu Leos Unbill, der schnaubte und sich im Flur umsah, als wäre es das erste Mal, das er hier war. „Klar, drei Jahre Einzelhaft.“
„Meine Güte klingt das sexy. Kannst du es nochmal sagen?“
„Drei?“
Adam grinste und Leos Augen funkelten herausfordernd. Oh wenn er Leo irgendwann soweit hatte, dass er mit ihm mal streng umgehen würde. Adam schauderte. 
„Was ist los?“
„Nichts nichts.“
„Du siehst nicht aus wie nichts.“

Adam brummte und kam zu Leo, überwand ihren noch sicheren Abstand zueinander. Anscheinend musste er sich ihn wieder holen, seinen hauseigenen Polizisten oder diesen wieder gegen seine Wand drücken. Wie ein Safeword eben. Ihn einfangen. 

„Willst du einen Kaffee?“, raunte er und die Luft zwischen ihnen knisterte mit jeder Sekunde, in der Leo nicht antwortete, sondern auf Adams stumme Herausforderung einging. Es war ein Angebot, es doch nicht zu tun. Nicht zu vögeln, nicht miteinander zu schlafen, oder, wie Leo sagen würde, zu ficken. 
„Ich bin nicht zum Kaffeetrinken hier“, erwiderte Leo leise mit rauer Stimme.  
„Ich weiß.“
„Hmmh.“

Adam schauderte. Leos verbindliche, strenge Präsenz war soviel anders als Bastians. Er füllte den Flur aus und erlaubte Adam nur eines –sich auf ihn zu konzentrieren. Leos Präsenz war verlässlich, sie war ruhig, die war streng…alles davon blutete in Adams Instinkte ein und verursachte ihm Gänsehaut. 

„Sag mir, wofür du hier bist“, raunte Adam und kam Leo so nahe, dass er die Wärme seines Atems spüren konnte. 
„Ich will, dass du mich fickst.“ Die brutal ehrliche Erwiderung seines hauseigenen Ermittlers zwang Adam beinahe in die Knie und ebenso überraschend wie überfallend griff er sacht zu Leos Wange und zog ihn zu einem Kuss zu sich. Er ließ ihre Zungen das ausdiskutieren, was keiner Worte bedurfte und Leos Stöhnen in den Kuss machte ihn so verrückt, dass er nicht anders konnte, als ihn gegen die Wand zu pressen. 

„Sag mir, wie ich dich ficken soll.“
„Hart.“
Ein einziges Wort, das ausreichte, um Adams Schwarz halb hart werden zu lassen. „Und weiter?“
„Von hinten.“
„Und weiter?“
„Schnell und erbarmungslos.“
„Wo?“
„Bett.“

Adams Hand strich Leo von seinem Kinn aus über den Körper hinunter zu seiner Hand. Im Gegensatz zu seinen Worten verschränkte er sacht ihre Finger miteinander und hob die Hand an seine Lippen. Er küsste die Knöchel und führte Leo schweigend mit sich, sein Herz wild pochend in seiner Brust.
Das hier war definitiv anders als mit Bastian. Die leichte Vertrautheit, das blinde Wissen darum, was ein Mensch wollte und vertrug, fehlte hier und Adam erkannte, dass er schon viel zu lange mit niemand anderem mehr geschlafen hatte. 

Vielleicht wäre er dann nicht so fürchterlich nervös.

Leo ließ sich führen und ehe Adam sich auch nur überlegen konnte, wie er Leo am Besten auf seinem Bett positionieren könnte, ohne verzweifelt zu wirken, drehte dieser ihn zu sich und stieß ihn mit einem dunklen Lächeln auf den Lippen rücklings auf sein eigenes Bett. Überrascht blinzelte Adam, während er sich nach hinten fallen ließ, doch viel Zeit hatte er nicht. Leo kam ihm nach und kletterte auf ihn, setzte sich ohne viel Federlesens auf seine Körpermitte. Er beugte sich zu ihm herunter und das Lächeln wurde noch etwas dunkler, vielsprechender, lustvoller. 

Adam begriff, dass dies Leos wilde Seite war, also der Mann, denn er selten von der Kette ließ. Es war  der Mann, der aus dem Jungen entstanden war, den dieses Arschloch gequält hatte. Viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte Adam jedoch nicht, denn Leo packte seine Haare und hielt ihn damit regungslos auf seinem Kissen, während er ihn erneut küsste, seinen Mund plünderte und ihm jedwede Luft zum Atmen nahm. Dass sein Hintern sich in elendig erregenden, kreisenden Bewegungen an Adams rapide zu eng werdender Hose rieb, war da nur ein Tropfen mehr, der das Fass seiner Beherrschung zum Überlaufen brachte. 

Als Leo ihm das Atmen erlaubte, nutzte Adam den minimalen Moment, um seine Beine um Leo zu schlingen und ihn herum zu werfen. Für irgendetwas musste sein jahrelanges Kampfsporttraining gut sein, wenn nicht dafür. Wie sehr das auf Gegenliebe stieß, sah er und grinste. 

„Fürs Ficken haben wir noch ziemlich viel an“, merkte Adam an und sein Klugscheißertum wurde mit ungeduldigem Knurren entlohnt. 
„Dann aus damit.“
Adam brummte. „Ich will dich nackt sehen. Komplett.“ Bis auf den Grund seiner Seele. Bis in den letzten Winkel deines selbst. Ich will jedes Geräusch, jedes Stöhnen, was du von dir gibst sehen. Ich will dich riechen und schmecken. 

Als Antwort zerrte Leo, der sich sonst seinen Sex halb angezogen und hastig in Clubs holte, an Adams Shirt, was Adam nur zu gerne loswurde. Kaum hatte er es beiseite geworfen, waren da Leos Hände, die über seine Muskeln und seine Narben strichen, fragend, vorsichtig, aber dennoch auf seltsame Weise besitzergreifend. Und war es nicht auch so? Für jetzt gehörte Adams Körper ihm, wie auch Leos Körper Adam gehörte. 

Heute Abend waren sie eine Einheit, verbunden durch die intimste Körperlichkeit, die zwei Menschen teilen konnten. 

Leo stemmte seinen Oberkörper nach oben und Adam verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Er schob seine Hände unter das Shirt und zog es Stück für Stück nach oben. Kurz bevor er es über Leos Kopf ziehen konnte, hielt er jedoch inne, schob es nur soweit hoch, dass Leo gut atmen konnte. 

„Das bleibt vorerst da“, raunte er an das bedeckte Ohr und erntete ein überraschtes Zucken. „Farbe?“
Leo brauchte beinahe so lange zum Antworten, dass Adam von seinem Plan abgelassen hätte, doch dann perlte das patentierte Leo-Grollen über die geröteten Lippen. 
„Grün.“

Als Belohnung leckte Adam über den dargebotenen Hals und küsste sich seinen Weg nach unten zu den Brustwarzen. Leo bäumte sich ihm entgegen, brav sein Shirt über seinen Augen belassend. Bewusst blind und vertrauend, dass Adam das Richtige tat. 

Bewusst riskierend, dass er es nicht tat. 

Alleine der Gedanke daran, was das für Leos Vertrauen, aber auch für Leos Mut bedeutete, machte Adam hart und er verspürte ein Kribbeln in der Magengegend, das so noch nie dagewesen war. Sacht und überwältigt von allem biss Adam in die rechte Brustwarze und Leo keuchte. 

„Arschloch!“, proklamierte er zittrig und Adam brummte zustimmend. 
„Manchmal.“
„Immer.“
„Zuviel der Ehre.“
„Mach schon, ich bin nicht zum Quatschen hier.“

Adam lachte. Natürlich, Leo, der Ungeduldige, Leo, das Fluchttier. 

Adam tat wie ihm geheißen. Dieses Mal ließ er sich jedoch mehr Zeit und quälte Leo, aber vielmehr auch sich mit seiner lustvollen Folter. Die Reaktionen des Mannes unter ihm, der sich schnell hebende und senkende Brustkorb, die deutliche spürbare Erregung, die sich gegen den Stoff von Leos Hose drückte – all das war Aphrodisiakum in Adams Ohren und Augen. Er zitterte in Erwartung und ihm lief das Wasser im Mund zusammen bei dem Anblick, den sein hauseigener Ermittler hier bot. 

Erst, als sich Adam seinen Weg am Hosenbund entlang küsste, hatte er mit dem nonverbal bettelenden Mann ein Einsehen und befreite Leo von seinem eigenen Shirt, sodass er ihm in Augen sehen konnte, deren Pupillen so weit waren, dass sie das Grün beinahe komplett verdrängten.

Leos Wangen waren gerötet und Adam kam nicht umhin, sich erneut aufzurichten und Leo über das Gesicht zu streichen. 

„Wie wäre es, wenn ich dich jetzt von deiner Hose befreie?“, hauchte er und erntete wortlose, kaum verhohlene Zustimmung. 
„Mach endlich!“ Und Ungeduld noch dazu.
„Zu Befehl, mein Herr“, grinste Adam und schob sich nach unten, löste mit seinen Fingern den Knopf der Chino. Dass Leo keinen Gürtel trug, nahm er mit Dankbarkeit zur Kenntnis und presste seine Lippen auf die empfindliche Haut unter dem Bauchnabel, ließ sie schweifen, bis er mit seinen Zähnen den Reißverschluss der Hose zu fassen bekam. 

Während er ihn Stück für Stück hinunterzog, ließ er Leo nicht aus den Augen und labte sich daran, dass dieser mehrfach trocken schluckte und dass sich sein Schwanz aufmerksamkeitsheischend gegen das halboffene Gefängnis seiner Hose drückte. 

Als er gänzlich unten war, hob Adam fragend die Augenbraue und Leo nickte abgehackt. 

Und auch wenn Adam nicht soviel Erfahrung darin hatte, Geschenke auszupacken, schlug er sich nun ganz gut darin, Leo Stück für Stück aus sämtlicher Kleidung zu schälen und diesen schließlich gänzlich nackt vor sich zu haben. 

Nun war es Adams Hals, der trocken war und der ihn mehrfach schlucken ließ. 

„Du bist so wunderschön“, presste er überwältigt hervor und Leo nahm das Kompliment mit einem Schaudern entgegen. Langsam, eines Jägers gleich, richtete er sich auf und kam auf die Knie. Wortlos langte er nach Adams Hose und hakte seine Zeigefinger unter den Bund der Trainingshose. Auch in seinen Augen stand die stumme Frage nach Erlaubnis und Adam erteilte sie mit einem grinsenden Zwinkern voller Vorfreude.

Der Ruck war wohlkalkuliert grob und Adam fand das so geil, dass sein Schwanz sich gleich begrüßend und beinahe schon peinlich hart Leo entgegenstreckte. Das störte Leo aber nicht, ganz im Gegenteil. Nachdem Adams Hose den Weg alles Irdischen gefunden hatte, blieb Leo auf dem Bett knien und zog ihn zu einem engen Kuss hinunter. Adam schloss die Augen und wimmerte auf, als Leos harte, schwielenbewerte Polizistenhände seinen Schwanz umfassten und ihn viel zu sacht viel zu locker massierten. Nähesuchend presste Adam sich an eben jene Hände und stöhnte in den Kuss, bettelte stöhnend, fauchend und wimmernd um mehr.

Leo gab ihm mehr, löste sich jedoch schlussendlich von ihm und bettete seine Stirn an Adams.

„Du wirst mich jetzt ficken, verstanden? Ich will dich, ich will deinen Schwanz in mir, so tief, wie es nur geht.“ 

Da sprach der strenge Teamleiter, der Mann, der es gewohnt war, zu führen. Der Mann, der Leo vor Adams Eingreifen gewesen war. 

Adam warf den Kopf nach hinten, als Leo besonders hart zupackte um seinen Standpunkt klarzumachen und nickte gehorsam und hastig. 

„Gut.“
„Dann…dreh dich um“, presste Adam hervor, nicht wirklich dominant, eher bettelnd. Leo lachte und ließ seinen Schwanz los, schob sich nach hinten. Adam beobachtete ihn dabei, wie er sich aufrichtete um sich danach umzudrehen und sich genüsslich langsam hinzuknien und Adam seinen Arsch zu präsentieren, als wäre er eine verfluchte Opfergabe. Ein Tier, das bereit war, gefickt zu werden, schlug Adams eigene, animalische Seite vor und er grollte tief. 


~~**~~


Wie nervös war Leo gewesen, als er Adam heute angeschrieben hatte. Voller Zweifel, als er sich auf dem Weg hierhin befunden hatte, ob es das Richtige war, was er hier tat. Konnte er sich verletzlich machen, im wahrsten Sinn bloßgestellt, offengelegt, ohne schützende Kleidung? Konnte er sich hingeben, sich im wahrsten Sinn des Wortes auf die Knie begeben und niederringen lassen von diesem Mann? 

Ein Blick in Adams Gesicht reichte um zu wissen, dass dieser ebenfalls nervös war. Ein Blick auf Adams Körpersprache reichte um zu erkennen, dass er ihn respektieren würde, nicht verspotten. Dass er ihn einnehmen, ihm wehtun würde, aber nicht verletzen. Er würde seine Grenzen akzeptieren. 

Und Leo hatte alle Zweifel aus dem Fenster geworfen zugunsten seines schwer zwischen seinen Beinen hängenden und nach Aufmerksamkeit bettelnden Schwanzes. Er ließ jede Konvention, die ihm als Polizisten verbieten würde, mit Adam zu schlafen, hinter sich und gab sich hin. 
Er kniete, ohne entwürdigt zu werden, er bot sich dar, ohne einen geringeren Stellenwert als Adam zu haben. 

„Fick mich“, forderte er rau und warf einen Blick über seine Schulter zurück zu Adam, der ihn mit großen Augen musterte, den Mund öffnete und anscheinend wieder nach seinen Farben fragen wollte.   

„Grüner wird’s nicht!“, kam er ihm zuvor und das brachte ein befreites Lächeln auf das kantige Gesicht. Leo schnaubte und schluckte dann, als Adam sich zu ihm beugte und diese verfluchten Finger seinen Hintern massierten, bevor sie über seinen wohlpräparierten Eingang strichen. Leo war ein Planer, er sorgte vor, er bestimmte die Menge an Gleitgel, die er brauchte. 

Trotzdem holte Adam jetzt beides aus seiner Schublade und streifte sich blind das Kondom über, trug ebenfalls noch Gleitgel auf. Er positionierte sich und Leo streckte sich ihm fordernd entgegen, als Adam noch zu zögern schien. 

„Mach“, grollte er und der daraufhin entstehende Druck des in ihn eindringenden Schwanzes machte ihn beinahe so verrückt, dass er gar nicht mehr atmen konnte. Adam war sanft, viel sanfter, als er es brauchte und gewohnt war, aber er war unaufhaltsam und groß. Es war eine Herausforderung für Leo, ihn aufzunehmen und alleine der Gedanke ließ ihn beinahe schon kommen. Das Wissen, dass Adam sich gänzlich in ihm befand, als er dessen Hoden an seinem Arsch spürte, war fast zuviel für Leo und er senkte keuchend seine Stirn auf die Matratze. 

Lust konkurrierte mit so vielen anderen Dingen in ihm, dass er nicht wusste, wohin mit der Energie, aufgespießt und gefangen wie er war. Hinter ihm atmete Adam schwer, zitterte, versuchte, sich an seine Enge zu gewöhnen und so waren sie einen Moment bewegungslos in Raum und Zeit, verbunden in Eindrücken, die die überwältigten. 

Dann bewegte Adam sich und Leo stöhnte tief und überrascht auf. Erst vorsichtig, viel zu vorsichtig, dann tiefer, soviel tiefer, als Leo es beschreiben konnte. Er wurde unnachgiebig nach vorne geworfen, bevor er auch nur daran denken konnte, sich Adams Rhythmus anzupassen, ihm entgegen zu kommen, mit ihm zu harmonieren. 

„Gut so?“, fragte Adam rau und Leo nickte. 
„Mehr als. Fick mich. Komm schon. Fick mich“, ächzte er und heulte auf, als Adam ihm den Gefallen tat, mutiger wurde, gröber zustieß, den Winkel änderte, innehielt, weitermachte. Als Leo seinen Schwanz umgreifen wollte, scheuchte Adam seine Hand weg. 

„Ich mache das“, erhielt er den strengen Befehl und schauderte, stützte sich brav auf seinen Händen ab, während Adam viel zu sacht seinen nach Aufmerksamkeit schreienden Schwanz umfasste. 

Mehrfach brachte er ihn so an den Rand der Klippe und holte ihn dann mit langsamen Stößen und viel zu sachten Berührungen wieder zurück. Mehrfach stieß er Leo fast über die Klippe, ließ ihn wimmern, stöhnen, ächzen, ließ ihn seine eigenen Laute hören, die so erregend waren, dass sie beinahe ausreichten, um Leo kommen zu lassen.

Doch nur fast. 

Nach dem vierten Mal, in dem Adam in ihn nicht kommen ließ, schrie Leo erbost auf, keuchte schwer atmend und am ganzen Körper mit einem feinen Schweißfilm bedeckt. Er hatte seinen Kopf auf seine Unterarme gestützt und zitterte.
„Schürk!“, versuchte er sich an einem strengen Befehl, doch der Mann hinter ihm lachte nur zittrig. 
„Sind wir wieder bei den Nachnamen?“, fragte er und leckte Leo über den Rücken, eine Stimulation, aber nicht genug. Immer noch nicht genug. 
„Wenn du so weitermachst, dann ja!“, fauchte er und Adam brummte zustimmend. 
„Wie oft noch, ich muss ja wissen, wann ich dich kommen lasse.“

Leo versuchte sich an einem kohärenten Protest, scheiterte jedoch, als Adam ihn am Oberkörper packte und ihn ohne viel Federlesens gegen seinen Oberkörper presste und so den Winkel zwischen ihnen beiden veränderte. Sterne explodierten vor Leos Augen und er schrie auf, als Adam seine Stöße intensivierte, ihn nun gnadenlos immer und immer wieder aufspießte. Er stöhnte und keuchte an Leos Ohr, der seinen rechten Arm um Adams Hinterkopf schlang um halt zu finden, während Adam mit seiner Hand hart und beinahe schmerzhaft Leos Schwanz pumpte.

Das war es…das war der Schmerz, das Ausgeliefert sein, das er brauchte. Das war die Katharsis seiner Vergangenheit, die Kontrolle, die er abgab und doch niemals verlor. Schmerz und Lust mischten sich, verwirbelten alle Nervenenden in seinem Körper und trieben ihn nun schlussendlich und endgültig über die Klippe. 

Als Leo kam, tat er das so heftig, dass ihm die Luft wegblieb und ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Er kam so heftig, dass sein Körper sich um Adam herum verkrampfte und er kam und kam und kam, nicht mehr aufhören konnte, seine Hüften nach vorne zu stoßen, seinen Schwanz in Adams Hand. Er wimmerte, einen Moment lang nicht wirklich ein klardenkender Mensch, nur zu deutlich registrierend, wie Adam durch ihn zum Orgasmus kam, hilflos und verzweifelt seiner eigenen Lust ausgeliefert. 


~~**~~


Zu sagen, dass Adam auf Glückshormonen war, wäre die Untertreibung des Jahrtausends gewesen. 

Er schwebte, grinste glücklich, war so buttrig erschöpft wie schon lange nicht mehr, zitterte wie schon lange nicht mehr und dachte nicht daran, sich in den nächsten Minuten oder Stunden aus seinem Bett zu erheben. Und wenn dann nur um zu duschen. 

Leo neben ihm ging es nicht besser, das sah er, auch wenn sein hauseigener Ermittler gerade tapfer versuchte, diesen Umstand zu bekämpfen. Eher erfolglos versuchte er sich nun schon zum dritten Mal zu erheben, scheiterte aber auch wie die beiden Male zuvor an seinen Beinen, die anscheinend wohl nicht so wollten wie er. Seine wackligen Gliedmaßen hatten den Orgasmus wohl nicht ganz so verarbeitet wie sein Hirn, das seiner Worte entsprechend das Weite suchen wollte. Olles Fluchttier, das er war.

Adam besah sich den nächsten, ärmlichen Versuch einer Flucht und packte Leo dann um seine Körpermitte, zog ihn zu sich heran. Leo drehte sich abrupt und empört zu ihm um, seine Wangen entzückend gerötet, seine Lippen geschwollen. 

„Lass das, ich schlafe nicht hier!“, protestierte er missmutig und Adam lächelte träge. Er stellte ein müdes Bein auf, zischte ob seines empfindlichen Schwanzes und schüttelte den Kopf.
„Sollst du auch nicht, wenn du es nicht möchtest. Aber jetzt bist du noch nicht in der Lage aufzustehen und dann kannst du genauso gut neben mir liegen und mir sagen, wie gut ich war. Ich nehme nur gute Kritiken, nur dass du es weißt.“

Ungläubig musterte Leo ihn und Adam wackelte mit seinen Augenbrauen. Bis auf seinen Arm behielt er brav seine Finger für sich, in dem Wissen, dass diese, sollten sie auf zärtliche Wanderschaft gehen, den scheuen Nichtromantiker hier schneller fliehen ließen, als er gucken konnte. Vermutlich würde Leo hier noch eher herauskriechen, als Romantik zuzulassen.

Besagter Mann entspannte sich aber nun tatsächlich graduell und lehnte sich zurück, schlug aufstöhnend die Beine übereinander. 

„War okay“, sagte er und Adam schnaubte. 
„Klang eher anders.“
„Du hast was mit den Ohren.“
„Und du mit deinen Stimmbändern.“
„Arschloch.“
„Apropos, wie geht’s deinem? Soll ich das Babypuder holen?“
Wütend funkelte Leo ihn an. „Untersteh dich! Mir geht’s gut!“
„Das freut mich zu hören.“ Nun konnte sich Adam doch den seichten Kuss auf Leos Schulter nicht verkneifen, der mit einem missmutigen Seufzen bestraft wurde. 

„Ich würd’s wieder machen“, sagte Leo und das Erstaunen in seiner Stimme schmerzte Adam gleichzeitig wie es ihn unheimlich stolz machte. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 45: Drei Köche verderben den Brei

Notes:

Eine wunderbare erste Novemberwoche euch!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. 🌻Das Menü war eine Gemeinschaftsarbeit einiger Tatort Saarbrücken Menschen, vielen Dank für all eure Vorschläge! Ansonsten geht es weiter mit den beiden Helden. Habt viel Spaß beim Lesen und bis ganz bald!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Er hat die Pathologin vergrault. Ernsthaft. Leo, wann kommst du zurück? Wenn’s so weitergeht, dann ist das Team hier in alle vier Winde zerstreut. Ich weiß nicht, was mit dem los ist. So ein Arschloch.“

Leo ließ Ninas Schimpftirade über Karow zunächst unkommentiert. Er wusste, dass sie noch nicht vorbei war und dass Nina mit Sicherheit noch einiges über seinen Nachfolger zu sagen hatte, den sie nicht dahaben wollte. Weil sie ihn wiederhaben wollte. Wie immer verschaffte das Leo ein warmes Gefühl in seiner Brust, das aktuell zu seinem doch recht kühlen Badezimmer konkurrierte. In dem er nackt stand. 

„Dumm isser ja nicht und die Fälle bekommt er auch gelöst, das ist das Problem. Aber er ist eben ein Arschloch und du solltest Anna mal sehen. Karow fährt ihr ständig über den Mund und unterbricht sie. Für ihn ist sie nicht mehr als eine Tippse. Echt mal, Leo. Echt. Kommste zurück, wah?“

Leo hatte sich zum Spiegel gedreht und hob die Augenbrauen, als er die Bisspuren auf seinen Pobacken sah. Genaugenommen die Hämatome, die seine komplette Kehrseite bedeckten. 

Hitze schoss ihm ins Gesicht und in den Schwanz, als er daran dachte, wie sie entstanden waren. 
„Darf ich mal beißen?“, hatte Adam gefragt und die neugierige Seite in Leo hatte natürlich ja gesagt. Dass er in der kommenden Stunde dann abwechselnd gebissen und geleckt worden war, bis er Adam sehr deutlich darauf hingewiesen hatte, dass er auch gefickt werden wollte…das stand auf einem anderen Blatt. Es schien, als hätte der andere Mann einen unerschöpflichen Vorrat an Dingen, die er allesamt mit Leo ausprobieren wollte und von denen er glaubte, dass sie ihm gefielen. Nicht ganz zu Unrecht.

„Hörst du mir überhaupt zu?!“

Ertappt zuckte Leo zusammen und räusperte sich. „Klar?“
„Ne, gar nicht so sehr.“
„Entschuldige Nina.“
„Erlöse Anna und mich doch endlich von Karow“, beschwerte sie sich in bester Berliner Schnauze und Leo seufzte. 
„Momentan möchte ich hier nicht weg“, sagte er und es war die Wahrheit. Saarbrücken war kein Ort mehr, der Fluchtgedanken in ihm auslöste, auch wenn Leo wusste, dass dieser Frieden nur vorübergehend und mehr als brüchig war. 
„Hast du nicht noch eine Stelle für ihn?“
„Ja…“
„Ja also.“
„Ne.“
Doch!

„Ich ficke jemanden. Regelmäßig“, platzte Leo mit dem schlimmsten Themenumschwung in das Gespräch, den er ihr bieten konnte und Nina schnaubte. 
„Schön für dich. Sieht er gut aus? Ist er gut im Bett? Heiratet ihr?“
„Danke. Er entspricht meinem Beuteschema. Ja. Nein.“
„Na sowas. Schick mir ein Bild von ihm! Ich will sehen, wer dich länger als eine halbe Stunde halten kann.“

Ein Bild? Leo sah sich selbst fragend im Spiegel an. Er hatte ein Bild von Adam, aber das war eher von dem Pressefoto seiner Firma abfotografiert. Das Foto, was er damals gefunden hatte, guckte er sich nicht mehr an. Konnte es auch gar nicht, weil er nicht an den fürchterlichen Mann ihrer ersten Monate erinnert werden möchte. 

Sollte er das Bild, was er sich danach auf sein Handy gezogen hatte, Nina schicken? Sie war schließlich weit genug entfernt um nichts mit dem Schürk Syndikat zu tun zu haben. Und sie würde ihn nicht zuordnen können. 

Warum der Drang überhaupt da war, Adam zu zeigen, wusste Leo auch nicht wirklich, aber bevor er es sich versah, hatte er das Bild aufgerufen und ihr geschickt. Das Pling am anderen Ende der Leitung kündigte das Ankommen an und Nina pfiff aus den Zähnen, als sie es sich ansah. 

„Als hättest du dir dein Beuteschema gebacken“, merkte sie anerkennend an und Leo schnaubte. „Schick. Wangenknochen wir Rasierklingen. Bläst er gut? Und ist es was Ernstes?“
„Nina! Und nein, ist es nicht. Es ist unverbindlich.“
Sie seufzte. „Wie immer. Aber schön, dass du ihn mehr als einmal ranlässt.“
„Hmmh.“
„Konnten dir eigentlich die Infos weiterhelfen? Über diesen Ross?“

Leo stockte und fühlte sich plötzlich in seiner nackten Haut gar nicht mehr so wohl. Er fühlte sich erkannt in seinem Vorhaben, mehr über Vincent herauszufinden, der eigentlich gar nichts mit seinem Mordfall zu tun gehabt hatte. 

„Ja, hat es, auch wenn er sich als unschuldig herausgestellt hat. Danke dir nochmal für die Mühe, die du dir gemacht hast.“
„Klar, für dich immer!“
„Du bist die Beste.“
„Wäre ich das, würdest du zurückkommen.“

Leo stöhnte gepeinigt auf. „Nina…“
„Ich vermiss dich, Leo. Echt jetzt.“
„Ich dich auch, Nina. Wirklich.“

Und das stimmte auch. Er vermisste sie und würde jederzeit gerne wieder mit ihr zusammenarbeiten. Aber das würde sich nicht ergeben, nicht, wenn das Verfahren gegen ihn durch war und sie ihn vermutlich des Dienstes enthoben oder ins Gefängnis brachten. 

„Du könntest zu uns nach Saarbrücken kommen“, schlug er vor, weil es so absurd war, dass es schon wieder gut war. Ninas Schweigen am anderen Ende der Leitung war aber viel zu schwer, viel zu tragend, als dass danach eine Verneinung kommen würde. Als sie zustimmend brummte, wusste Leo, welchen Fehler er begangen hatte. 
„Wie ist das Nachtleben?“, fragte sie und Leo presste die Zähne aufeinander. 
„Geht so? Es ist nicht Berlin.“
„Die Menschen?“
„Sture Böcke.“
„Wohnungslage?“
„Günstiger als Berlin, aber die Stadt ist hässlich.“
„Mit hässlich kann ich. Ich komm vorbei um mir das mal anzuschauen.“
„Nina!“
„Ja was denn? Wird sowieso Zeit, dass ich dich besuche.“

Leo seufzte resigniert und stellte sich auf ein Wochenende Nina-Besuch ein. Das bekam er auch und notierte sich pflichtschuldigst ihr Treffen, sobald sie ihm aufgetragen hatte, ihr ein möglichst abwechslungsreiches Programm zusammen zu stellen und aufgelegt hatte. 

Leo starrte sich über den Spiegel in die Augen und schnitt eine Grimasse. Er musste nur irgendwie sie und Adam voneinander fernhalten. 

Was soll schon schiefgehen?, fragte er sich stumm und fuhr sich mit den Fingerkuppen über die blau unterlegten Bissspuren des beißwütigen, blonden Giftes am anderen Ende von Saarbrücken. 

Alles, lautete die einzig realistische Antwort. 


~~**~~


„Das ist alles, was du hast?“

Die Verachtung in den Worten der Dreckssau konkurrierte mühelos mit der Abneigung auf dessem Gesicht. Adam hasste den Ton, ebenso wie er die Visage des Mannes hasste, der sein Leben zu einer Hölle machte. Dass das Gefühl wieder stärker wurde, nachdem er es jahrelang hatte unterdrücken können, lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an den ständigen Versuchen seines hauseigenen Polizisten, ihm die Kronzeugenregelung schmackhaft zu machen und an Adams bröckelnden Widerstand gegen diese utopische Möglichkeit.

Bislang hatte Adam jeden dieser Versuche abgeschmettert, in dem sicheren Wissen, dass es vor allen Dingen Leo den Tod bringen würde. Natürlich war der Gedanke daran, dass es enden könnte, verführerisch und in schwachen Momenten stellte Adam sich vor, wie es sein würde, wenn er frei von seinem Vater war und weiterhin den Luxus des Kontaktes zu Leo genießen würde. Eine Wunschvorstellung sondergleichen, er selbst frei und ohne das sicherlich anhängende Strafverfahren, Leo an seiner Seite, in seinem Bett, an seinen Wochenenden. 

Die Utopie des Glücks, nannte Adam das für sich und nutzte den Gedanken zum Tagträumen, wenn er zwischenzeitlich etwas Gutes brauchte um sich aufzuheitern. Dass es dabei bleiben würde – eine Utopie und deswegen so unerreichbar, dass das Wissen um ihre Unmöglichkeit Adam noch nicht einmal traurig machte. 

Der Schlag auf seinen Hinterkopf brachte ihn nahtlos wieder zurück in seine jetzige Realität und Adam presste kurz die Lider aufeinander, als er die Schmerzen ertrug, die damit einhergingen. 

„Entschuldigung, Vater“, murmelte er pflichtschuldigst und setzte sich gerade hin. Stimmt, sie besprachen den kommenden Prozess. 

„Wisch dir deine widerlichen Sexträume aus dem Kopf. Hier geht es um Wichtigeres, auch wenn du anscheinend keinen Wert darauf legst, dass Boris freikommt.“

Schuldzuweisungen hatte sein Vater immer schon gut gekonnt. Vincent versuchte, dagegen an zu arbeiten und Adam begreiflich zu machen, dass er keine Schuld hatte, doch so ganz wollte das in Adam nicht durchdringen. Dafür war er zu nachdrücklich damit aufgewachsen, nicht gut genug zu sein, nicht folgsam genug zu sein, an allem Schuld zu sein, was schief lief. Elias nicht gut genug beschützt zu haben oder ihn überhaupt in sein Leben gelassen zu haben. 

Dass er Schuld daran hatte, dass Onkel Boris im Gefängnis saß, stimmte. Wenn er damals Leo eingehender kontrolliert hätte, hätte er es verhindern können. Adam war sich aber nicht mehr sicher, ob er das wirklich gewollt hätte. Onkel Boris war ein Mörder, egal, wie gut er zu ihm gewesen war. Dieses Wissen hatte sich mittlerweile nach einigen Gespräch mit Vincent in ihm verankert und Adam versuchte, seine positiven Gefühle für Onkel Boris dem unterzuordnen.  

Tief atmete er durch. „Natürlich lege ich Wert darauf, Entschuldigung, Vater.“ Automatische, von klein auf eingeprügelte Worte. Er hasste das Wort Entschuldigung mit Leidenschaft, weil es inhaltslos und leer war, weil es das Preisschild der Demütigung war, der er stetig unterzogen worden wurde.

Adam sah auf die Unterlagen, die Rahel ihnen mitgebracht hatte. Unterlagen des Falls zur Akteneinsicht, Verteidigungsstrategien für das kommende Verfahren, Polizeiberichte, unter denen der Name Hölzer stand. Leo hatte sie geschrieben, obwohl er da bereits unter dem Druck der Erpressung stand. Es war ein Testament des verzweifelten Mutes, das jetzt und hier zu lesen. 

„Ich habe nicht mehr als das, was ich bisher bereits übermittelt habe. Die Polizei verfügt momentan selbst nicht über mehr Informationen.“ 

Adam hatte Zarah beauftragt, ergänzende Informationen zusammen zu tragen, damit er diese als Leos Informationen verkaufen konnte. Die Sachlage war aber unverändert dünn und damit standen auch die Chancen gut, dass Boris freikam oder sie in Berufung gehen konnten, sollte der Richter sich dazu entscheiden, eine anderweitige Entscheidung zu treffen. 

„Enttäuschend.“ Die Stimme der Dreckssau war eine Warnung und Adam versuchte, seinen schneller schlagenden Puls zu beruhigen. Neben Gewaltexzessen war es die perfide, stille Wut, die Adam am meisten Angst machte, dass die Dreckssau etwas Unüberlegtes tun würde. 

„Gut für uns“, korrigierte er und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. „Wenn die unfähigen Bullen nichts haben, wird die Staatsanwaltschaft ebenso hilflos sein, wenn Rahel die Beweiskette auseinandernimmt.“

„Ich will, dass nichts dem Zufall überlassen wird. Setze den Bullen unter Druck, dass er falsch aussagt, ansonsten kümmere ich mich.“

Zum Glück hatte Adam jahrelange Erfahrungen darin, seinen Gesichtsausdruck entsprechend auf neutrale Akzeptanz zu schulen und so die Angst zu verbergen, die in ihm hochschäumte. Nicht um sich, aber um Leo und dass dieser ebenso endete wie die anderen Polizisten auch…und wie Elias. 

„Ich setze ihn tagtäglich unter Druck, Vater“, erwiderte Adam anstelle dessen mit der nötigen Portion lüsternem Sadismus und musste daran denken, dass die Wahrheit nicht ferner liegen konnte. „Er wird keine Gefahr darstellen, er macht nur dann Männchen, wenn ich es erlaube.“

Adam wusste noch nicht wie, aber irgendwie musste er Leo davon überzeugen, seine Aussage im Fall Linz zurück zu ziehen oder zu ändern. Wie er das schaffen sollte, stand in den Sternen und Adam hoffte, dass die bittere, beängstigende Wahrheit da weiterhelfen würde. 


~~**~~


„Das kann man auch geschnitten kaufen“, schnarrte Adam mit entsprechend vielsagendem Lächeln und in besten Bemühungen, seinen hauseigenen Polizisten an ihrem samstäglichen Treffen ein bisschen aus der Reserve zu locken. Vincent war nicht dabei, also hatte er freie Bahn, was den einen oder anderen Kommentar anbetraf, der sonst Opfer eines missfallenden Blickes werden würde. 

Nur der Riesenköter war da, aber der konnte nicht halb so strafend gucken wie Vincent. Im Gegenteil. Seitdem er die Wohnung betreten hatte, ließ der olle Sabberer ihn nicht in Ruhe, als wäre er plötzlich zu Vincent mutiert. Gerade eben saß er neben Adam…lehnte sogar an ihm um seinen massigen Schädel an seiner Hüfte zu platzieren. Als wenn der nicht auch Leo anschmachten könnte. 

Leo ließ ihn deutlich sehen, was er von seiner Variante des vorgeschnittenen Gemüses hielt und stellte ihm vielsagend den Messerblock vor sein fein säuberlich positioniertes Arbeitsbrett. Partnerschnippeln, natürlich. Das gehörte zum Erlebnis dazu anscheinend.

Das heutige Hobby ihrer Wahl war kochen. Er hatte die Wahl zwischen Wandern und Kochen gehabt und mit einem Blick aus dem Fenster auf die Regenbäche, sie sich Saarbrückens Straßen hinunterstürzten, hatte Adam sich kurzfristig für Kochen bei Leo entschieden. Vincent war weit weg bei seiner Mutter und so konnte er Leo ganz ungestört auf den Zahn fühlen. Während sie schnippelten und vorbereiteten um das dann heute Abend genüsslich zu verspeisen. 

Geradezu häuslich, merkte Adam wohlversteckt für sich selbst an, wenn man außen vor ließ, worüber er mit Leo nach dem Essen noch sprechen musste. Nett war’s alle Male und Leo schien sehr entspannt zu sein. Noch. Trotz seiner anstrengenden Arbeitswoche, wie Adam durch die zähneknirschende Erzählung nach seiner Ankunft wusste. 

Das Nötigste, immer noch, Details nur auf Nachfrage. Dabei wusste Adam doch durch seine anderen Quellen bestens Bescheid und konnte zielgerichtet nachfragen. Wie denn jetzt der Gutschein für einen Bungeesprung bei der ausscheidenden Vorzimmerdame seines Abteilungsleiters angekommen war. Ob die Kaffeemaschine beim Raub immer noch defekt war, nachdem sie gebrannt hatte. Ob der Rohrbruch im Nebengebäude das SEK immer noch unter Wasser setzte. Sowas eben. 

Adam suchte sich eines der scharf geschliffenen Messer aus dem Block und ließ seinen Blick über die fein säuberlich sortierten Gemüsesorten und Zutaten schweifen. Drei Gänge, alles selbstgekocht. Feldsalat mit Himbeervinaigrette und Focaccia, Beef Wellington mit selbstgemachten Herzoginkartoffeln und grünen Bohnen und zum Nachtisch Tiramisu. Alles in allem sehr lecker und Adam lief schon das Wasser im Mund zusammen, wenn er nur an das Endergebnis dachte. 

„Ich hätte auch Bastian Bescheid geben können, der wäre mit Sicherheit gerne vorbeigekommen.“
Leo hob vielsagend seine rechte Augenbraue und musterte ihn lakonisch. „Was bringt dich zur Annahme, dass ich ihn reingelassen hätte?“
Oh. Oha. Adam kannte den Unterton. Er kannte ihn wirklich. Er und der Unterton waren manchmal quasi Zwillinge. „Hmm, Eifersucht, köstlicher Aperitif, das“, schnalzte er genießerisch mit der Zunge.
„Was?!“
„Du hast mich schon verstanden.“

Empört schürzte Leo die Lippen und wenn heute nicht Samstag gewesen wäre und sie sich nicht in Leos Wohnung befinden würden, hätte Adam ihn jetzt schon gegen die nächste Wand gepresst und ihn solange geküsst, bis sie beide außer Atem gewesen wären.  Aber Deal war Deal, also behielt er seine Finger bei sich. Und seine Lippen. Von seinem Schwanz ganz zu schweigen, der schon Anstalten gemacht hatte, sich bei Leos Anblick an der Tür zu recken. Adam hatte das eisern untersagt. 

„Ich bin nicht eifersüchtig.“
„Aus welchem anderen Grund solltest du Bastian ablehnen außer dem, dass du befürchtest, dass er mir hier einen bläst, sobald du nicht hinguckst?“, forderte Adam das Schicksal namens Leo Hölzer heraus und labte sich an der weitreichenden Entrüstung des anderen Mannes. 
„Nicht in meiner Wohnung!“, protestierte er, als wäre es allen Ernstes eine denkbare Möglichkeit. 

„Natürlich nicht in deiner Wohnung.“ Adam grinste und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen und griff zu dem großen, dicken, weißen, länglichen Rettig. „Der muss gewaschen werden, nehme ich an?“
Leo nickte und Adam machte sich daran, das Gemüse so gründlich mit seinen Händen von jedwedem Schmutz und Dreck zu befreien, dass es nachher weiß und samtig war. Unter vierfachen Argusaugen trocknete er den Rettich ebenso sorgfältig Stück für Stück ab und legte ihn beiseite. 

„Als wenn du so etwas mögen würdest?“, fragte er die schmatzende Dogge und Herbert maulte unzufrieden. Adam nickte und sah von den Möhren fragend zu Leo, der den Rettich nachdenklich in seinen Fingern hielt und anscheinend mit einem eine stumme Zwiesprache hielt. Über Adams Finger? Seine Hand? Er hoffte es. Er legte ihn beiseite, anscheinend für später. 
„Müssen die auch gewaschen werden?“
Leo brummte und Adam machte sich daran, unter verstohlenen Seitenblicken alles brav abzuwaschen und ebenfalls auf den Stapel an später zu schneidendem Gemüse zu legen. 

Gleiches tat er mit den Bohnen, dem Fleisch und den Kartoffeln, während Leo mit seinen Händen den Teig für die Foccacio knetete und zu einer runden, dicken Kugel formte. Das an ich war noch viel schlimmer als ihr Töpferkurs und nun war es Adam, der auf die Finger starrte, die sich tief in die Teigmasse gruben. 

Sie kochten hier Essen, rief sich Adam in Erinnerung und atmete die aufkommende Lust weg. Es war, als hätten ihre Sextreffen seinen Körper jetzt schon darauf gepolt, Erregung in Leos Bewegungen und seinem ganzen Sein zu finden, dass er mit seiner Unterscheidung zwischen Wochenende und Woche nicht mehr hinterherkam. Aber er respektierte Leos Wunsch und somit stand es außer Frage, dass er den anderen Mann hier und jetzt über seine Anrichte beugen und ficken würde, bis sie beide außer Atem waren und zufrieden den Nachwehen ihrer Orgasmen nachspürten. 

Leo war soviel mehr als das und so erregt Adam durch die Präsenz des anderen Mannes auch war, so sehr schätzte er auch die Schlagabtäusche und Diskussionen. Die simple, verbindliche Gegenwart des Ermittlers

„Aber du hast das schonmal gemacht?“, fragte er und die Hand mit dem Messer verharrte. 
Kritisch schürzte Leo die Lippen. „Was?“
„Das alles hier. Oder soll ich schonmal einen Pizzalieferdienst für später raussuchen?“

Vielsagend und vor allen Dingen ohne hinzusehen, griff Leo sich den Rettich und schnitt saubere Scheiben ab, während er Adam dunkel in die Augen starrte und nichts sagte. 

Und da sollte jemand nochmal sagen, er wäre der Diktator…

„Wie klein möchtest du deine Möhren denn haben?“, fragte Adam, bereit dazu, sich dem strengen Regime des sie kritisch musternden Kochs zu unterwerfen. 
„Bisschen kleiner“, bekam er die eindeutig uneindeutige Anweisung, mit der so gar nichts anfangen konnte. Wo war die präzise Ausdrucksweise seines hauseigenen Polizisten? Wo waren die Zentimeterangaben, wenn er sie brauchte?
„Wie klein?“
„Klein.“

Adam hob seine Augenbrauen und haschte nach Leos Hand, legte sie auf seine auf dem Küchenmesser. 

„Zeig’s mir“, grinste er und Leo sah für einen Moment so aus, als würde er seinen Kopf lieber in die Spüle tunken. Dass er sich dann aber so eng an Adam schob, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte und Adam nun eingekesselt war zwischen Hund und Herrchen, die ihm beide ihre vollste Aufmerksamkeit schenkten, war schon etwas, das Adam gerne öfter hätte. 

Leos warme Finger umschlossen unnachgiebig Adams Hand und drückten sie sacht herunter. Um das nächste Stück zu schneiden wurden sie wieder hochgeführt und wieder hinuntergedrückt. Adam ergab sich beinahe butterweich seiner Führung und genoss Leos Nähe und seine Wärme. 

„Alles klar?“, murmelte Leo viel zu intim an sein Ohr und Adam schauderte. 
„Nein? Kannst du’s nochmal machen?“

Leo schnaubte und stahl sich ein frisch geschnittenes Stück Möhre. Vielsagend löste er sich von Adam, kaute laut krachend darauf herum und widmete sich unverschämterweise wieder seinem eigenen Gemüse und den doofen Kräutern.

Überließ Adam seinem einsamen, kalten Schicksal des selber Schneidens, nur weil heute Samstag war!  


~~**~~


„Hörst du auf, die Löffelbisquits zu essen?“, versuchte Leo nicht wirklich erfolgreich ihren Nachtisch zu retten und konnte Stand jetzt nicht sagen, wer ihn hier mehr sabotierte: der gierige Herbert oder der noch viel gierigere und dazu noch verschlagene Adam. Beide im Team waren eine ernsthafte Bedrohung für das drei-Gänge-Menü, was es heute Abend eigentlich geben sollte. Wenn Leo sich auf den Einen fixierte, versuchte der Andere zu naschen und umgekehrt. Es war zum verrückt werden.

Da konnte Leo nur froh sein, dass das Fleisch schon sicher vor Hundeschnauze und provozierenden Menschenfingern im Ofen war. 

Er presste die Packung Bisquits an sich und drehte sich weg, als Adams übereifrig gierige Finger danach langten, während er einen schon im Mund hatte. Einer weniger, den Leo mit Kaffee tränken konnte um die Creme darauf zu verteilen. Schon wieder. 

„Nein!“, grollte er und hob gleichzeitig seinen warnenden Zeigefinger in Richtung Herbert, der sich schon an einem Viertel des rohen Rinderfilets gütig getan hatte und nun in Richtung Cremeschüssel schielte, anscheinend in perfekter Harmonie und Abstimmung mit Adam. 

Dass er nun von hinten eingekesselt wurde, während er versuchte, Herberts Schnauze von der Schüssel wegzuhalten, war ein Akt des Krieges, der Provokation, den Leo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für unentschuldbar hielt. 

„Adam! Lass das“, grollte er unzufrieden und das Lachen des anderen Mannes kroch warm und hell in sein Ohr. 
„Dann halt mich auf.“
„Darauf kannst du Gift nehmen!“

Sie kämpften und kebbelten sich um die Packung und Leo wehrte sich heldenhaft gegen den an ihn gepressten Körper. Er wand sich, blockierte Zugriffs- und Flirtversuche gleichermaßen und konnte sich des Lachens, das dabei in ihm hochwallte, kaum erwehren. Adams Nähe, so eng sie auch war und so sehr sein Körper sich auch an die Male außerhalb ihrer Wochenenden erinnerte, wo ihre Nähe eine ganz andere war, war beruhigend und angenehm. Der spielerische Kampf um etwas wirklich Harmloses war es. 

So hatte er sich mit Caro immer gekebbelt, früher, als er noch nicht von Detlef verprügelt worden war, und es hatte gut getan. Es tat auch jetzt wieder gut und schlussendlich obsiegte Leo mit roten Wangen und einem warmen Blubbern im Magen. Auf dem Weg dorthin hatte drei weitere Löffelbisquits eingebüßt und musste eine beinahe zu Boden gefallene Schüssel in Kauf nehmen musste um sich schlussendlich einen grinsenden Adam mit dicken Backen und einen wild mit dem Schwanz wedelnden Herbert mittels erhobenen Zeigefinger vom Leib zu halten. 

„Aus! Alle beide“, sagte er streng und befand, dass das für beide reichen musste. Zumindest Herbert setzte sich beinahe sofort auf sein Hinterteil und heulte ihm triumphierend entgegen. Adam war da nicht ganz so zahm, sondern funkelte ihn mit leuchtenden, blauen Augen an, der Mund voll mit den drei Bisquits.  
„Wuff“, entkam es ihm undeutlich und Leo hatte noch nie so schnell die unterste Schicht mit Kaffee bedeckt, damit auch keiner der beiden auf weitere dumme Ideen kam. 


~~**~~


„Nein!“
„Es dient deiner Sicherheit und der deiner Familie. Schieb dir deine Sturheit in den Arsch!“
„Ich sagte nein und dabei bleibe ich!“

Wie schnell doch ihr entspannter Tag voller Foppen und Necken in einen handfesten Streit und Ärger kippen konnte, grollte Adam innerlich und starrte dem unwilligen Ermittler wütend in die grünen, vor Zorn funkelnden Augen. Neben ihm winselte Herbert leise und Adam legte ihm ohne Nachzudenken die Hand auf den Kopf. Das hatte er heute öfter getan und es fühlte sich von Mal zu Mal leichter an, den Hund als ein ungefährliches Lebewesen zu behandeln.

Er legte frustriert seine Karten auf den Tisch und ließ das Spiel Spiel sein, was sie nach ihrem wirklich leckeren und sättigenden Essen angefangen hatten. Natürlich hatte es keinen Kerzenschein gegeben, dafür aber Musik und Wein. Ja, auch Leo hatte ein Glas getrunken, wenngleich er in Adams Gegenwart damit noch immer vorsichtig war. Wie in allen Momenten dieses Überlegens, hielt Adam still und gab keinen externen Reiz von sich, bis Leo eine Entscheidung getroffen hatte. 

Die wieder einmal zu seinen Gunsten ausfiel. 

Adam hatte extra gewartet um seine dringend notwendige Forderung zu platzieren. Nicht beim Kochen, nicht beim Essen, jetzt, wo sie vollgefressen und träge waren. Also zumindest er. Leo hatte anscheinend noch Energie, sich aller Vernunft und Sorge zu verweigern. 

„Es ist zu deinem Besten. Ich kann nicht garantieren, dass er nicht versuchen wird, sich an dir zu vergreifen oder dir Schlimmeres anzutun. Das ist die Aussage nicht wert.“ Herbert schmiegte sich aufgrund seines strengen Tons hilfesuchend an ihn und Adam verlor für einen Moment seinen Fokus auf Leo, als er dem über den Schädel strich. 
„Und deswegen soll ich eine bewusste Falschaussage treffen, bei der meine Eignung als Ermittler auf der Kippe steht?“
Adam rollte mit den Augen über soviel Sturheit. „Besser das, als deine Eignung zum Leben!“
„Nein!“

Sacht schob Adam Herbert von sich und erhob sich. Wütend lehnte er sich über den Tisch, ebenso zornig, störrisch und stur starrte Leo zurück. Unglaublich, wie unvernünftig der Mann war! 

„Dann denk dir was aus, sei krank, geh in Urlaub, mach irgendetwas um nicht auszusagen. Was an „ich kann dich nicht hundertprozentig schützen“ hast du nicht verstanden?!“
„Ich habe alles daran verstanden, aber zur Not fordere ich Polizeischutz für meine Familie an.“
„Es geht um dich, du Hornochse! Wie dein kluges Köpfchen bereits festgestellt hat, ist er kein Kind von Traurigkeit, was das Töten von Polizisten anbetrifft. Er macht gerade nur vor dir Halt, weil ich dich vermeintlich unter enger Kontrolle habe. Was, wie wir beide wissen, nicht der Fall ist.“

Wo zur Hölle war Vincent, wenn man ihn brauchte?, knirschte Adam innerlich mit den Zähnen. Vincent hätte mit Sicherheit durch seine Psychotricks mehr Erfolg als Adam gerade. Vermutlich hätte er Leo auch innerhalb von Minuten soweit, dass dieser das tat, was er tun sollte – nämlich nichts. Schon gar nicht seinen verdammten Job. 

„Ich werde ihm nicht dabei helfen, das Rechtssystem ad absurdum zu führen, Adam, das kannst du vergessen! Wenn es eine konkrete Bedrohungslage gibt, dann werde ich mit den Kolleginnen und Kollegen sprechen, damit sie reagieren. Aber ich werde nicht lügen oder eine Falschaussage treffen!“
„Teilaussage, nicht Falschaussage!“
„Und mein Bericht, der bereits Teil der Ermittlungsakte ist? Habe ich mir den zusammengeträumt?“
„Dann schaffst du eben die Beweise weg!“
Leo knurrte wild. „Schon wieder?“
„Na mit der Uhr hast du es ja auch hinbekommen!“

Dass seine absolut nicht diplomatische Art dazu führte, dass Leo sich jetzt nun auch ruckartig erhob und seine zuckenden Hände mit Mühe bei sich behielt, kam Adam ganz gelegen, konnte er sich und seinen Frust doch so an seinem hauseigenen Ermittler reiben. Mental. Körperlich… 

Adam schauderte. Nein, jetzt daran zu denken, wäre fatal und wenn er Leo richtig einschätzte, dann hätte der jetzt auch alles andere als das im Sinn. Was auch richtig so war, denn sie brauchten eine Lösung hierfür. 

„Wenn ich eine Falschaussage treffen soll, wirst du dich ins Zeugenschutzprogramm begeben und gegen das Syndikat auspacken“, bestimmte der Mann der Unmöglichkeiten und Adam schnaubte verächtlich. Er verschränkte die Arme, weil er sich so unwohl mit dem angebotenen Deal – der Erpressung - fühlte.  
„Immer noch nicht. So wie du deinen Beruf nicht verraten wirst, werde ich keine diesbezügliche Aussage machen!“
„Dann kannst du es vergessen!“

Dieser selbstgerechte Zorn ließ gleich mehrere Sicherungen in Adam durchbrennen, allem voran die seiner dünnen Selbstbeherrschung mit uneinsichtigen Menschen. Aber auch die, die dafür verantwortlich war, dass er eben nicht alles sagte, was ihm auf der Zunge lag, sondern auch erkannte, wann er einfach mal den Mund halten sollte. Für gewöhnlich hieß die Sicherung Vincent und während Adam um den Tisch herumkam, fragte er sich, wie überhaupt eine Sicherung durchbrennen konnte, die heute gar nicht anwesend war. Da half auch Herbert nicht, der ihm auf dem Fuß folgte und ihn mit seiner kalten Schnauze anstubste.

Die zwei Zentimeter, die er größer als Leo war, reichten, damit dieser minimal zu ihm hochsehen musste, als Adam ihm so nahe kam, dass er Leos Atem auf seinem Gesicht spürte. Herbert drängte sich zwischen sie und jaulte auf. Dieses Mal war es Leos Hand, die ihn beruhigte, ohne, dass der andere Mann hinsah. Dafür fixierte er sich viel zu sehr auf Adam, der ihn nun dunkel musterte.

„Wir machen das anders. Ich lasse dich einfach solange wegsperren, bis das Verfahren durch ist. Danach kannst du wieder deiner geregelten Arbeit nachgehen. Was hältst du davon?“

Dass auf seine Worte kein Schubsen oder kein Grollen folgte, führte Adam auch darauf zurück, dass er teuflisch lächelte, während er das sagte. Er wusste, dass es eines seiner alten Lächeln war, eines derjenigen, die Angst einflößen sollten. Lange geübt und perfektioniert. Zu perfekt, wenn er sich eine Sekunde Zeit nahm, darüber nachzudenken. 

Leo schluckte hörbar und verhielt sich so still, als wäre er in der Zeit eingefroren. Seine Wut erlosch, sein Zorn ebenso. Er erwiderte nichts, dafür huschten seine Augen unstet über Adams Gesicht und Adam sah etwas, was ihm schon lange nicht mehr in der Mimik seines hauseigenen Ermittlers über den Weg gelaufen war: Angst. In Polizeimanier unterdrückt, aber für ihn deutlich erkennbar. Leo nahm seine Worte ernst und Adam fragte sich, wie ernst er sie wirklich gemeint hatte. Eigentlich nicht, aber sein Unterbewusstsein flüsterte ihm gar nicht hilfreich zu, dass er es durchaus als Möglichkeit sah, Leo außer Landes zu bringen und solange von Saarbrücken fernzuhalten, bis es ein Urteil gab. 

Dass er sich danach nicht mehr bei seinem hauseigenen Ermittler blicken lassen konnte, weil dieser ihn für Entführung, Freiheitsberaubung, Nötigung und vermutlich noch zehn andere Delikte jagen würde, stand auf einem anderen Blatt. Nicht auf diesem. 

Auf diesem stand Angst, dass er es wirklich tun würde – wie am Anfang, nur dieses Mal mit mehr Gewalt. Mit mehr Zwang. Ohne die Möglichkeit für Leo, Stärke bei seinem Team und seiner Familie zu finden.

Herbert jaulte erneut und machte Anstalten, an Leo hochzuspringen, weil er dessen Emotionen vermutlich tausendmal intensiver wahrnahm als ein Mensch es je konnte. Zumindest hatte Adam das nachgelesen vor zwei Wochen. Der Köter würde ja sowieso bleiben, da konnte er sich auch einfach informieren. 

Adam seufzte, entspannte sich willentlich. Als Geste der Versöhnung legte er ebenfalls eine Hand auf Herberts Kopf, direkt neben Leos. Nur sein Daumen berührte Leos Handfläche und auch das nur ganz leicht. 

„Nein, Leo. Das werde ich nicht tun“, sagte er so fest, wie er konnte und zwang sich, das Misstrauen in dem bärtigen Gesicht solange auszusitzen, bis etwas von dem hart erkämpften Vertrauen einzog. Oder zumindest die Bereitschaft, das Misstrauen etwas herunter zu schrauben. 

„Ich verspreche es dir. Ich werde dich nicht gegen deinen Willen irgendwo hinbringen und dich festhalten, okay?“

Dass Leo immer noch schwieg, war kein gutes Zeichen und Adam verfluchte sich, dass er seiner durchgebrannten Sicherung überhaupt nachgegeben hatte. Es war noch lange nicht genug Zeit vergangen, dass Leo hatte vergessen können, was die Basis ihres Kennenlernens war, da war die Erinnerung daran schon eher ein Schlag ins Gesicht gewesen. 

„Und auch niemand, der für mich arbeitet“, spezifizierte er, was Leo endlich aus seiner Starre löste. Kaum merklich nickte der Ermittler und löste seine Hand von Herbert, ballte sie dann zur Faust, nur um sie dann wieder zu entspannen. Adam langte nach ihnen und Leo ließ ihn, starrte nachdenklich auf ihrer beider Verbindung. Seine Finger waren kalt, klamm gar und gaben Adam einen Einblick auf den Teil der Angst, der ungesehen von ihm geschah, den Leo so gut verdecken konnte, dass er sich körperlich manifestierte. 

Sacht strich er über die Fingerknöchel und seufzte. „Entspann dich, dir wird nichts geschehen, okay? Ich mache mir nur Sorgen um dich, das ist alles. Da liegt der Gedanke doch nahe, dich aus der Schusslinie zu bekommen.“
„Ich bin zäh“, murmelte Leo störrisch und Adam schnaubte. 
„Ach? Sag bloß, hätte ich nie vermutet, du Saarbrücker Unkraut, das man nicht klein kriegt.“

Seine humorvollen Beleidigungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie brachten Leo nach weiteren Sekunden des Grübelns und sich Verweigerns tatsächlich zum Lächeln und vorsichtig zuckte dieser mit den Schultern, sich dabei sichtlich entspannend.  

„Kann ich damit dein Zierrosenbeet unterwandern?“, fragte er im Versuch eines Witzes und Adam hob die Augenbrauen. 
„Du darfst jederzeit mein Beet umpflügen, wenn dir danach ist“, grinste er lüstern und rief damit zielsicher den Abwehrmechanismus des anderen Mannes auf den Plan.   
„Heute ist Wochenende!“, wehrte Leo ab, als würde es alles erklären und eigentlich tat es das auch. Ihre Vereinbarung war eine andere. Wenngleich sie sich zu zweit trafen, so behielt Adam brav seine Finger bei sich. Denn heute war immer noch Samstag, seit Stunden schon, und damit Wochenende, gevögelt wurde erst an einem anderen Tag der Woche. Dafür hatte er heute aber genug an Karotten genuckelt und den Rettich sehr liebevoll gewaschen. Und wenn Leo ihm Glauben machen wollte, dass er ihn nicht dabei und beim Fleischklopfen beobachtet hatte, dann würde Adam ihn übers Knie legen. Er wusste zwar noch nicht ganz, was er dann tun würde, aber pro forma einfach schonmal. 

Trotz allem war Adam glücklich über die Regelmäßigkeit, mit der sie sich trafen. Und wenn Adam daran dachte, wie enthusiastisch Leo ihn auf dem Boden seines Flures geritten hatte, weil er nach einem anstrengenden und frustrierenden Arbeitstag nicht bis zum Schlafzimmer hatte warten wollen, lief ihm schon durchaus das Wasser im Mund zusammen. 

„Heute ist Wochenende“, seufzte Adam bestätigend und legte den Kopf schief. Er lächelte erneut, dieses Mal jedoch ohne teuflischen Unterton. Gut, vielleicht…anders teuflisch. Er beugte sich zu Leo und flüsterte verschwörerisch „Nächste Woche beuge ich dich über meinen Esstisch um dich ganz tief zu spüren. Was hältst du davon?“

Leo schauderte und warf einen Blick auf seinen eigenen, als wäre er in diesem Moment ein Substitut für Adams blank weiß polierten. Oder aber er überlegte, ob er es schlussendlich auch hier wollte? Dass Leo sich dem Gedanken aber grundsätzlich nicht sperrte, war ein gutes Zeichen für Adam. Leo glaubte ihm sein Versprechen, dass er ihn nicht verschleppen würde.  Wenngleich der sture Bock einfach die Gefahr nicht wahrhaben wollte, in der er schwebte und Adam deswegen zwang, andere Wege zu gehen zu müssen. 

Vielleicht sollte er einfach Herbert entführen um Leo so zur Vernunft zu bringen. 

Mit einem Blick in die großen, braunen, vertrauensseligen Hundeaugen, die ihn neuerdings auch anhimmelten, stellte Adam fest, dass ihm der Gedanke daran gar nicht so sehr schmeckte.


~~**~~


„Er hasst seinen Vater, aber er hat Angst vor ihm, also wird er das Syndikat auch nicht auffliegen lassen. Er verweigert sich nach wie vor einer Kronzeugenregelung. Er denkt noch nicht einmal über die Möglichkeiten nach. Nein, er verweigert sich ihnen vollkommen.“

Leo spielte mit seinem Wasserglas und musterte den Holztisch, der anscheinend brandneu war. Zumindest war der alte verschwunden und der ganze Vernehmungsraum in der Staatsanwaltschaft roch nach neuen Möbeln. Holz gemischt mit Kunststoff und wenn er sich nicht täuschte, gab es auch noch ein paar neue Bilder an den Wänden. Nicht seine Art der Kunst, aber er verbrachte ja auch für gewöhnlich wenig Zeit hier. 

Pia saß neben ihm und Esther hatte sich auf den Stuhl am Kopf des Tisches fallen lassen. Sie war klüger als Leo und hatte ihren eigenen Kaffee mitgebracht, während Pia dankend auf alles verzichtete und Leo sich mit einem Wasser begnügte, aus Angst, dass ihm Weiersbergers Kaffee wieder so Magenschmerzen bereiten würde wie beim letzten Mal. Kein Wunder, bei dem Teer, den der andere Mann ausschenkte. 

Nicht noch mehr Magenschmerzen als jetzt schon, hieß das. Er war trotz eines entspannten und nahezu vertrauten Samstags mit Adam kein Stück weitergekommen und er wusste nicht mehr, wie er den anderen Mann noch davon überzeugen sollte, sich freiwillig auf ihre Seite zu stellen und auszupacken, damit sie seinen Vater endlich hinter Gitter bringen konnten. 

Nach ihrem letzten Treffen und Adams Bereitschaft, ihn wegzuschaffen, damit er außer Gefahr war, war Leo klar geworden, dass er den blonden Mann nicht umstimmen konnte. Noch nicht einmal jetzt, wo sie sich auch anders nah waren. Adam vertraute ihm nicht genug um seine Angst vor seinem Vater zu überwinden. Er war in Adams Augen nicht stark genug und damit war Leo gefühlt am Ende seines Lateins, was seine Aufgabe in der SoKo anbetraf. Womit er auch seinen Wert aufgebraucht hatte – egal, wie er es drehte und wendete. 

Lieber er sagte es jetzt, als dass er es aus Angst vor Konsequenzen noch länger hinauszögerte, was ihm als Wissen so schwer im Magen lag, dass er seit Samstagnacht nicht mehr richtig hatte schlafen können. 

„Ich glaube nicht, dass ich ihn umstimmen kann“, merkte er tonlos an ohne seinen Blick zu heben. „Er sieht immer nur meinen Schutz im Vordergrund und der Mord an Elias Schiller hat ihn so traumatisiert, dass er sich einen Verrat nicht traut. Damit ist meine Aufgabe hier obsolet. Weil ich es nicht schaffe und auch nicht schaffen werde.“

Wäre Leo ein unehrlicherer Mensch, hätte er diesen Umstand länger vor den Dreien verborgen, damit er weiterhin in Amt und Würden bleiben würde. Das war er aber nicht und deswegen fielen ihm die Worte auch umso schwerer, die seine Nützlichkeit widerlegten und ihn zwar zu einem gradlinigen, aber eben auch nutzlosen Menschen machten.

Zu jemandem, der verurteilt gehörte für das, was er getan hatte. 

 

~~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Ich will hier nochmal betonen, dass sowohl Leo als auch Adam natürlich ganz klar und deutlich unterscheiden können zwischen der reinen Körperlichkeit und den Treffen am Wochenende. Und alles ist vollkommen unverbindlich. nur damit das klar ist. 😁😎

Chapter 46: Von Drohungen und Mistkröten

Notes:

Eine wunderbare Weihnachtswoche wünsche ich euch!

Endspurt - am Wochenende ist Weihnachten und bald darauf schon Silvester. Das Jahr ist fast vorbei und wie schnell ist es verflogen! Krass. Ich möchte mich an dieser Stelle und weil dieses Kapitel mit Sicherheit das letzte für dieses Jahr sein wird, bei euch allen bedanken, die ihr hier kommentiert (sogar mit Sprachnachrichten - ich liebe es!), kudotiert, geklickt und grundsätzlich mitgelesen habt. Es war und ist mir immer noch ein Fest, die ganze Geschichte mit euch zu erleben und euch damit auf Achterbahnfahrten und in Fluchtäler zu schicken. ❤️🌻

Man kann sagen, dass die Anatomie jetzt in die heiße Phase geht und dass wir über dem Berg sind - wir haben bereits mehr als die Hälfte zusammen geschafft. Da ich berüchtigt schlecht im Schätzen bin, wage ich keine Prognose, wie viele Kapitel noch kommen werden.

Also, gehabt euch wohl und feiert schön im Kreis eurer Lieben oder alleine oder feiert auch gar nicht - das, was euch am Besten passt. Wir sehen uns zumindest in dieser Geschichte im neuen Jahr wieder. ☃️

Triggerwarnungen für diesen Teil gibt es auch: Homophobe Sprache und Drohungen

Außerdem ist der Teil partiell nsfw.

P.S.: Schuld an gewissen Entwicklungen sind im Übrigen Stabatmater und Quelquun, die unermüdlich gemeine Dinge in den Ring werfen. Danke danke danke euch beiden. ❤️

Chapter Text

 

„Deinen Schutz?“, echote Pia langsam und Leo nickte unglücklich. Er sah hoch und das, was auf ihrem Gesicht stand, entsprach bei weitem nicht dem, was er gedacht hatte, dort vorzufinden. Nicht nur auf ihrem Gesicht stand Überraschung. Esther starrte ihn kritisch an und Weiersberger hatte beide buschigen Augenbrauen gehoben. 

„Warum ist Ihr Schutz für ihn so wichtig?“, hakte der Staatsanwalt nach und Leo erkannte, dass seine Normalität nicht in das Spektrum der anderen Drei passte. Wie auch? Sie waren nicht dabei, wenn er sich mit Adam traf. Sie hatten nicht direkt gehört, was er gehört hatte. Sie sahen nicht die Veränderungen, die Leo in Adam sah. 
 
„Vermutlich denkt er, dass er etwas wieder gut zu machen hat“, mutmaßte Leo, wenngleich er ahnte, dass es etwas Anderes war. So bewusst Adam auf seine Zustimmung und sein Wohlbefinden beim Sex achtete, so sehr, wie er sich sonst um Leo bemühte, ging es über reine Schuldgefühle hinaus. Das, was an Stelle dessen trat, war jedoch etwas, das Leo sich nicht eingestehen wollte. 

Er sollte Adam nicht das Herz brechen, hatte Vincent verlangt und was, wenn nicht das, war ein eindeutiges Indiz für Gefühle, die nicht dahingehörten. Egal, wie sie geartet waren. Adam durfte das genauso wenig für ihn empfinden wie Leo für ihn. 

„Oder er will mehr von dir.“
Das bekommt er schon, erwiderte Leo in Gedanken und presste die Lippen aufeinander. Das konnte er nicht sagen. Noch nicht. Vielleicht würde er es auch nie müssen. Oder er würde ehrlich sein, wenn er verurteilt worden war. 
„Selbst wenn, wird es nichts bringen.“ Gelogen war das nicht, hielt er sich vor Augen. So oft er auch mit Adam schlief, so wenig rückte dieser von seiner Tätigkeit ab. 
„Was wäre, wenn Sie ihm mehr geben würden?“

Leo blinzelte. 

„Mehr?“, echote er, sich nicht ganz sicher, was Weiersberger ihm damit sagen wollte. Wusste er etwas? War Leo nicht diskret genug gewesen? Sah man ihm an, dass er an manchen Tagen zufriedener in den Tag startete als an anderen? Oder schlug Weiersberger gerade allen Ernstes vor, dass er seinen Hintern für eine Ermittlung ficken lassen sollte?
 
„Freundschaft, Vertrauen, Zuneigung. Einen Grund, sich an Sie zu binden und Sie zu retten. Emotionen über Ihre Bereitschaft heraus, sich mit ihm zu treffen.“

Weiersberger wusste doch nichts von ihrem Sex, stellte Leo erleichtert fest, aber das machte seinen Vorschlag mitnichten besser. Er sollte Adam Emotionen vorspielen um ihn noch mehr an sich zu binden? 
Leo dachte an den verwundeten Mann, der die Woche bei ihm verbracht hatte. Er dachte an den weinenden Mann, der ihm schluchzend von dem Mord an Elias Schiller berichtet hatte. 

Er würde Adam nicht emotional ausnutzen. Nicht so, wie Weiersberger sich das vorstellte. 

„Ich weiß nicht, ob ich ihm das vorspielen kann“, erwiderte Leo ehrlich und versuchte zu ergründen, wie es denn mit seinen eigenen Emotionen aussah. Adam war nicht mehr der Teufel, der er vor über einem Jahr gewesen war. Er gehörte für das bestraft, was er getan hatte, ja. Aber der Zweck heiligte hier definitiv nicht die Mittel. 
Leo runzelte die Stirn, als er erkannte, dass das wenig mit seinen eigenen Emotionen zu tun hatte. Sein Gerechtigkeitsdrang wollte Strafe, ja. Aber er selbst? Was wollte der Mensch, den Adam nun mehrfach dazu gebracht hatte, ihn zu grollend und stöhnend zu verfluchen, während Welle um Welle an Lust durch seinen Körper fegte? 

Die Antwort lag nicht mehr ganz so versteckt in Leos Innerem, aber er scheute sich vor ihr. 

„Das musst du unter Umständen auch gar nicht“, merkte Pia an, verständnisvoll und sanft. „Bisher hat es auch ausgereicht, dass du du selbst bist, Leo. Er will deine Gegenwart auch so, deine Nähe und deine Aufmerksamkeit. Ich habe doch gesehen, wie sehr er dich ansticht um dich zu provozieren und um eine Reaktion von dir zu erhalten. Du musst ihm nichts vorspielen, du musst nur so weitermachen wie bisher. Zeige ihm, dass er dich schützen muss vor seinem Vater. Nutze seine Vorliebe für dich um ihn an Integrität und Gesetzestreue zu binden.“

„Ich werde nicht weit kommen“, widersprach Leo seufzend. „Nicht weiter als jetzt.“

„Durch den Prozess wird Bewegung in das Syndikat kommen und das wird ihn in Zugzwang bringen“, sagte Esther und die Kälte in ihrer Stimme ließ Leo aufhorchen. Er begriff, was sie ihm eigentlich sagen wollte. 

„Ich bin also der Köder?“, fragte er lakonisch und sie schüttelte den Kopf.
„Nein, der Anreiz.“
„Das ist das Gleiche, Esther.“
„Du bist sein Grund, zu uns zu kommen.“
„Wenn sein Vater mich genauso umbringt wie Elias Schiller auch?“ Leo konnte sich die Bissigkeit absolut nicht verkneifen, mit der die Worte aus seinem Mund kamen. Er war sich bewusst, in welcher Gefahr er schwebte, wenn es zu weit ging. Er hatte schon jetzt auch nur ein sicheres Gefühl, weil er wusste, dass seine Familie in Sicherheit war. Er selbst lebte seit über einem Jahr im Ausnahmezustand.

„Wir schützen dich.“

Das taten sie, das konnte er nicht verneinen. Leo presste unwillig die Lippen aufeinander und ballte seine Hände zu Fäusten.  

„Du bist wichtig für uns, Leo“, ergänzte Pia. „Wir werden dich nicht einfach fallen lassen, nur weil Schürk zu stur ist, den letzten Schritt zu tun. Du bist auf einem guten Weg, der noch nicht vorbei ist.“

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. Nach kurzem Zögern drückte Leo sie zurück. 

Ein guter Weg, der noch nicht vorbei war? Er hatte das Gefühl, dass das für seine Emotionen auch galt. 


~~**~~


Wie unangenehm entwürdigend ihn doch die braunen, kalten Augen von Roland Schürk musterten. 

Äußerlich ruhig verharrte Vincent, innerlich rasten seine Gedanken jedoch von Möglichkeit zu Möglichkeit. Bisher hatte Schürk Senior ihn nur einmal alleine sehen wollen, zur Einführung. Da war er ihm zu weibisch, zu schwul, zu weich gewesen und sparte seitdem nicht mit Hass und Kritik an ihm. Vincent machte das kein gutes Gefühl, aber bisher war die scheinbare Sicherheit der Distanz zwischen ihnen eine willkommene Barriere. 

Die gab es heute nicht. 

„Was kann ich für Sie tun, Herr Schürk?“, fragte er neutral, aber das Zittern in seiner Stimme verriet ihn. Vielleicht war es auch gut, denn die stechenden braunen Augen des älteren Mannes labten sich an Schwäche. Solange Roland Schürk glaubte, dass Vincent keine Gefahr für ihn war, würde er ihn am Leben lassen, auch wenn er an Adams Seite war. Und weil er seine Nützlichkeit noch nicht überreizt hatte. 

Roland Schürk ließ ihn stehen, während er hinter seinem Schreibtisch saß. Vincent hatte auch nichts anderes erwartet und so verharrte er beinahe bewegungslos. Bloß keine Angriffsfläche bieten, bloß keine Provokation. Ruhig bleiben, um Roland Schürk nicht zu verärgern. Sonst würde Adam um Vincent Willen ausrasten und das hatte Vincent ihm verboten. 

So wie sich Adam nun einmal etwas verbieten ließ.

Vincent war mit dem Versprechen gegangen, dass er wiederkommen würde und nur das hatte Adam wie befohlen in seiner Wohnung gehalten. 

Je länger Roland Schürk ihn musterte, desto kälter wurde es Vincent. Die Wände und die Decke aus Beton waren dazu gedacht, einzuschüchtern und das gelang auch mühelos. Das Terrarium mit Roland Schürks Lieblingen stand hinter ihm und warf einen unwirklichen Lichtschein auf den dunklen Raum. Gifttiere. Seine willigen Helfer bei seinen Morden, ein Spaß, den er für sich entdeckt hatte. 

„Dein Auftrag ist es, meinem Syndikat zu dienen“, eröffnet der Senior, was er von ihm wollte. „Deine Art, Geschäfte zu machen, ekelt mich genauso wie du selbst an, aber sie hat Vorteile. So hast du trotz deines ekelhaften Daseins auch einen Nutzen.“

Vincent schluckte. Das waren die Worte eines mordenden Psychopathen, der nicht davor zurückschreckte, seinen eigenen Sohn jahrelang emotional, geistig und körperlich zu missbrauchen. Er schwieg, presste die Lippen fest aufeinander. Es roch nach Alkohol, erkannte Vincent und das ekelte ihn beinahe noch mehr an als die latente Gewalt, die in Roland Schürks Stimme mitschwang. 

„Du bringst meinen Nichtsnutz von Sohn auf Spur. Gemeinsam seid ihr eine fast akzeptable Schwuchtel.“

Eine fast akzeptable Schwuchtel…

Vincent war schlecht bei dem Gedanken an das Schweigen, was er bewahren musste. Niemand sollte so mit ihm sprechen dürfen. Auch und gerade so jemand wie Roland Schürk nicht. 

„Kommen wir zu meinem missratenen Fleisch und Blut, das es mal wieder geschafft hat, mich zu enttäuschen.“

Das war normal und seitdem Boris Barns weg war, fast an der Tagesordnung. Vincent machte sich so große Sorgen um Adam, dass er morgens mit Bauchschmerzen wach wurde. Jeden Tag hoffte er, dass Roland Schürk seine unkontrollierte, ungezügelte Wut nicht an Adam ausließ. Dass Adam nicht mit blau und grün oder blutig geschlagenem Rücken zurückkam oder auf seinem Bett lag und zitterte. 

Seitdem er sich ein zweites Mal in der Woche mit Leo traf, war die Verzweiflung geringer geworden, das konnte Vincent spüren und es stimmte ihn so froh, wie es ihm auch Angst bereitete. Es war ein zweifelhaftes, brüchiges Glück.

„Hinsetzen.“

Vincent wurde heiß, als sich die Angst in seinem Magen wie ein Feuerball durch seinen Körper fraß. Angst um Adam war berechtigt, aber Angst um sich? Die sollte er definitiv auch haben. Er nahm Platz, heute in Hose, wie immer, wenn er auch nur in die Nähe von Roland Schürk kam. Doch sein Kleidungsstil passte dem Patriarchen auch so nicht, ganz und gar nicht. Das sah er an den kalten, braunen Augen, die ihn missbilligend musterten und an den verächtlich verzogenen Lippen. 

Roland Schürk erhob sich und kam langsam um ihn herum, jeder seiner Schritte ein dumpfes Grollen auf dem Teppich seines Arbeitszimmers. Ein Herzschlag in Vincents Brust, der mehr und mehr in seinen Hals hüpfte, flach und schnell wie der Flügelschlag eines Kolibiris. 

Hatte Roland Schürk seine Waffe bei sich? Würde er ihn wie Elias Schiller auch erwürgen? 

Vincent atmete flach und beinahe lautlos. Er durfte keine Angriffsfläche bieten. 

Die krallenartigen Hände auf seinen Schultern ließen Vincent gewaltsam zusammenzucken. 

„Du bist nur aus einem Grund in der Nähe meines nichtsnutzigen Sohnes. Um ihn auf Spur zu halten. Um in sein verdorbenes Leben voller Idiotie so etwas wie Ordnung zu bringen. Und das wirst du auch jetzt tun. Er schwächelt, mehr als sonst. Er ist ungehorsam, unkonzentriert, weich. Er wird wieder zu der ekelhaften Schwuchtel, die er durch die Erziehung seiner Mutter geworden ist. Du wirst ihn zurück auf Spur bringen und eure blöde, verweichlichte Verknüpfungskacke kannst du vergessen. Ich will, dass es läuft und ich will, dass Boris aus dem Knast kommt. Er soll sich anstrengen. Und du wirst dich anstrengen. Hast du mich verstanden?“

Roland Schürks Finger krallten sich harpyienartig in Vincents Schulterblätter. Es tat weh und Vincent wollte nichts lieber, als dieser Berührung entkommen. Er traute sich nicht, keinen Zentimeter konnte er sich von dem Patriarchen wegbewegen. 

„Erfüllst du deinen Zweck nicht, dann knöpf ich mir deinen schwanzlutschenden Bullen vor, den du so gerne besuchst.“

Entweder die Welt oder sein Herz blieb stehen und im zweiten Moment spielte weder das Eine noch das Andere eine Rolle. Roland Schürk bedrohte Adam. Seinen Adam. Seinen Adam aus Świecko. Nein. Das durfte nicht sein. Wieso wusste Roland Schürk von ihm? Vincent öffnete den Mund um irgendetwas zu sagen, doch nichts kam heraus. Er fand keine Worte, nichts für den Schrecken, der ihn überkam bei der Vorstellung, dass Adam etwas passieren könnte. Er kannte die Mordlust des Patriarchen und Adam wäre dem schutzlos ausgeliefert. Vollkommen. 

„Glaube ja nicht, ich hätte dich nicht durchleuchten lassen, Ex-Bullenschwein. Mach, was ich dir sage, oder deine Verbindungen nach Świecko liegen ganz schnell tot und kalt unter der Erde. Wäre mein fünfter Bulle…hübsches Jubiläum, meinst du nicht auch?“

Nein. Nein! Meinte er nicht! Vincent schluckte panisch, auch wenn seine Kehle wie ausgedörrt war. 

„Also, habe ich dein Wort?“

Vincent nickte überhastet, nur zu bereit, dem anderen Mann alles dafür zu geben, dass er Adam außen vor ließ. Jetzt. Er musste sich Zeit erkaufen um seinen Adam hier davon in Kenntnis zu setzen. Und sich etwas für seinen Adam in Świecko zu überlegen. Irgendetwas…irgendwas…es musste doch…

„Dann hau ab, ich will deinen widerlichen Anblick nicht mehr sehen.“

Vincent war erleichtert, als sich die Klauen aus seinem Körper lösten und er aufstehen konnte. Er floh regelrecht panisch aus dem Haus zu seinem Wagen, kaum in der Lage dazu, sich durch den mittäglichen Straßenverkehr zu lotsen. 


~~**~~

  
Fuck. Fuck fuck fuck. 

Adam tigerte durch seine Wohnung wie ein gefangenes Raubtier. Er hatte seine Hände in seine Haare gekrallt und zog so schmerzhaft daran, dass es den restlichen Schmerz in seinem Inneren ein bisschen auslöschte. 

Ein Bisschen. Ein My. Minimal. 

Vincent alleine bei seinem Vater war eine nicht beherrschbare Situation, die ihm derart panische Angst verursachte, dass er nicht richtig atmen konnte. Wieder und wieder kamen Erinnerungen an Elias in ihm hoch, Bilder seines Todeskampfes. Adams Verzweiflung vor fünfzehn Jahren, dass die Liebe seines Lebens tot war und dass er ihn nicht retten konnte, war so präsent, dass sie ihm das Herz zusammenquetschte und seinen Magen in einen Klumpen Stein verwandelte. 

Das Klingeln seines Handys war da wie der erste Donnerschlag der Welt und Adam brauchte einen Moment, um überhaupt den Mut zu finden, nachzuschauen, wer es war. Vincent, um ihm zu sagen, dass er noch lebte oder um anzurufen, während er umgebracht wurde oder die Dreckssau…

Es war Vincent und Adam presste schob zittrig in grünen Hörer nach links. Er brachte kein Wort heraus und erst Vincents Stimme erlaubte seinem Herzen weiterzuschlagen. 

„Adam, ich komm zurück. Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.“

Seine Kehle verließ etwas, das wenig vielversprechend war und mit Mühe krächzte Adam ein „Ja“ heraus. 

„Mir geht es gut, er hat mir nichts getan“, schob Vincent nach und Adam presste seine Lider so brutal aufeinander, dass sie wehtaten.

„Ja“, flüsterte Adam rau. „Komm nach Hause, Vince.“

Alleine der einfache Satz kostete ihn alle Kraft, die er zur Verfügung hatte, und Vincent verstand. Natürlich tat er das. Vincent kannte ihn, vielleicht sogar noch tiefer, als es Elias getan hatte. Vincent liebte ihn – anders als Elias, aber genauso gefährlich und der Anruf der Dreckssau von heute Morgen hatte Adam das deutlich vor Augen geführt. 

„Pass auf dich auf, Adam. Ich komme gleich.“


Die Minuten bis zu Vincents Eintreffen waren eine qualvolle Ewigkeit für Adam und erst, als er seinen Freund in Fleisch und Blut und lebend vor sich stehen hatte und ihn so eng umarmte, als würde er in ihn hineinkriechen wollen. 

„Ich bin da, Adam. Ich lebe“, murmelte Vincent weich und Adam murrte in seine Halsbeuge. Das war besser als der große Kloß in seinem Hals, der sich erst nach Minuten verkleinerte und ihm das Sprechen erlaubte. 

Auch Adams brachiale Angst trat in den Hintergrund und erlaubte ihm, klarer zu denken. Langsam löste er sich von Vincent und sah ihm in das bleiche, sorgenvolle Gesicht. 

„Ich soll dich auf Spur bringen, Adam. Er sagt, du schwächelst und arbeitest nicht zu seiner Zufriedenheit. Er denkt, dass du nachgiebiger wirst. Er bedroht mich mit Adams Wohlergehen, falls ich keinen Erfolg mit dir habe. Er weiß um meine Verbindung zu Adam und…“

Adam zuckte so gewaltig zusammen, dass er beinahe körperlichen Schmerz spürte. Sie waren zu unvorsichtig gewesen. Adam hätte niemals nach Saarbrücken kommen dürfen. Vincent hätte ihn geheim halten müssen. Adam selbst hätte alles tun müssen, damit die beiden nicht in Gefahr gerieten durch ihre Beziehung. 

Vincent wie auch Adam hatten Angst um einen geliebten Menschen, Angst vor brutaler, letaler Gewalt. Boris‘ Gefängnisaufenthalt machte die Dreckssau unberechenbar. Er machte ihn sadistischer als sonst und Adams brüchige Waage aus eigenem Leben und Arbeit im Syndikat geriet aus den Fugen. Das, was er sich in den letzten fünf Jahren Stück für Stück zurückerobert hatte, stand auf dem Spiel. 

Vincent stand auf dem Spiel mit ihm, sein Adam. 

„Was sollst du genau tun?“
„Das hat er offen gelassen.“

Sie musterten sich, als ihnen beiden klar wurde, was das bedeuten konnte. 

„Der gewonnene Prozess gegen Adams Unversehrtheit.“ Vincents Worte waren sanft, weniger sanft jedoch seine Mimik. Härte wie bei ihren Verbindungen, gnadenlos und unnachgiebig. Vincent war bereit zu tun, was nötig war um Adam zu schützen. Seine beiden Adams. Deswegen gab es ihr System und um weitere Morde zu verhindern. 

„Oder das Zeugenschutzprogramm“, erwiderte Adam, eigentlich eher dazu gedacht, des Teufels Advokaten zu spielen als als realistische Möglichkeit zu dienen, doch an Vincents Innehalten sah er, dass dieser ihm durchaus Ernst unterstellte. Und war es nicht auch so? Vincent würde fast jeden Weg mit ihm gehen, je rechtskonformer er war, desto besser. Je erfolgversprechender, desto besser. 

„Oder das“, stimmte er zu, aber überzeugt war er von der Möglichkeit nicht. 

Wie auch? Es wäre russisch Roulette mit drei Kugeln anstelle von einer. 

Adam zog Vincent erneut in eine Umarmung.

„Ich weiß nicht, ob ich den Mut dazu habe“, gestand er und Vincent nickte.


~~**~~


Leo warf den Kopf nach hinten und presste ihn auf das Kissen, während ihn seine Lust so unausweichlich und gewaltsam überrollte, dass er Sterne vor seinen Augen tanzen sah. Er presste die Lider zusammen und stöhnte wimmernd auf, während Welle um Welle seines Orgasmus über ihn hinwegwusch und er Adam mit seinen um ihn geschlungenen Schenkel noch tiefer in sich hineinpresste. 

Adam, der seinen Kopf in Leos Halsbeuge presste und am ganzen Körper zitterte, während seinem eigenen Orgasmus nachjagte und seine Stöße unregelmäßig wurden, als er jedwede Konzentration verlor. 

Es war grober gewesen als die letzten Male. Leo wollte es so, weil ihm das Gespräch mit der SoKo immer noch nachhing. Er brauchte die an Schmerz grenzende Lust um sich zu bestätigen, dass das, was er tat, auch das Richtige war. Sich weiter Adam zu nähern, ihm mehr zu geben, als jetzt schon zwischen ihnen stand.

Es hatte zwei Tage des Grübelns und Vorstellens bedurft, damit Leo überhaupt den Gedanken zulassen konnte, länger als für den Sex bei Adam zu bleiben. Alles in ihm hatte sich dagegen gesträubt. Sowas machte er nicht. Das brachte viel zu viel Vertrautheit mit sich. 

Also noch mehr als jetzt. 

Leo atmete flach und presste seine Lippen auf Adams Schläfe, als dieser keine Anstalten machte, sich nach seinem Orgasmus aus ihm heraus zu lösen. Die richtigen Worte dafür fand er aber noch nicht, so hielt er Adam noch mit seinen Schenkeln umschlungen und genoss den schweren, nackten, verschwitzten Körper auf sich. 

„Wenn du mich nicht bald loslässt, dann schlafe ich auf dir ein, das ist dir klar, oder?“, murrte Adam und sein Atem tanzte kitzelnd über Leos empfindliche Haut am Hals. Er lachte und hob seine Hüften, entlockte Adam damit ein hilfloses Aufstöhnen. 

„Arschloch!“

„Der Ort, in dem du dich gerade befindest, ja.“

Adam hob seinen Kopf und verzog hilflos das Gesicht. Es war so menschlich, dass es Leo tief in seiner Brust zog. Adam war ein Mensch, er hatte Vorlieben, er hatte Wünsche. Er hatte geliebt. 

„Der Ort, in dem Unfälle passieren werden, wenn du mich weiterhin dazu missbrauchst, dein persönlicher, mobiler Buttplug zu sein.“

Zweifelnd hob Leo die Augenbrauen, gab Adam aber nach einem stummen Blickduell frei. Er löste seine Schenkel und Adam zog sich Stück für Stück aus Leo heraus, während er ihn nicht aus den Augen ließ. Keine Sekunde lang wandte er sich ab und Leo schauderte, als er plötzlich nicht mehr die Enge und das Gewicht des ihn füllenden Schwanzes spürte und seine Muskeln enttäuscht zuckten. Er fühlte sich leer und befriedigt, gesättigt, aber doch noch hungrig. 

Adam streifte das Kondom ab und warf es mit blinder Präzsion in den Papierkorb am Fußende. Dann ließ er sich neben Leo auf die Matratze gleiten und stützte seinen Kopf auf die Hand. Er sah auf Leo hinunter und behielt seine Finger bei sich. Wie immer nach dem Sex, weil Leo es so wollte. Nicht angefasst werden, nicht beschmust werden, nicht romantisch zusammenliegen. 

Leo schob seine Beine zusammen und streckte sie auf dem Bett aus. Er sah an die Decke und stählte sich für das Kommende. Duschen, in Adams Dusche. Ohne sexuellen Kontext. Und danach? Die Übernachtung? Hier? Es war schon einmal passiert, aber jetzt? Nach dem Sex? Freiwillig? 

Du hast das durchgekaut. Du kannst das. Du bist der Köder, sagte er sich. Derjenige, der den Fall des Syndikats einleiten kann. 

Adam brach seine Regel, indem er ihm mit dem Finger gegen die Nase schnippte. Es war nicht zärtlich, also gerade noch so okay. 

„Worüber denkst du nach? Warum kannst du überhaupt noch denken?“

„Du warst eben nicht gründlich genug“, gab Leo zurück, sein Mund schneller, als seine Gedanken und das Lächeln auf Adams Gesicht wurde sekündlich dunkler und unheilvoller, während er bedeutungsschwanger schwieg. 
„…nicht gründlich genug“, wiederholte er langsam, gar schleppend und Leo erkannte seinen Fehler. „Du willst es also gründlicher…?“

Leo schluckte. Dieser Ton, diese Stimme, diese Augen…das bedeutete nichts Gutes. Ganz und gar nicht. 

„So meinte ich das nicht“, knurrte er – bereits auf verlorenem Posten, wie er ahnte. 

„Gar kein Problem, mein hauseigener Polizist. Du wirst es gründlich bekommen.“

Er war nicht Adams hausei… 

Besser, er konzentrierte sich auf das gerade Wesentliche, befand Leo, als Adam seine Hand hauchzart auf seinen empfindlichen Schwanz legte. Es war Versprechen und Drohung zugleich und trotz des gerade erlebten Orgasmus war da schon wieder minimales Interesse in Leos Schaft. Unmögliches, ungestilltes Interesse. Unfassbar war das. 

Gründlich hieß eine zweite Runde. Gründlich hieß mehr Reizung. Gründlich hieß keinen Gedanken mehr zu schöpfen. 

„Ab in die Dusche mit dir“, nickte Adam vielsagend in Richtung angrenzendem Raum und Leo schluckte. Er wollte widersprechen, irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Und warum denn auch nicht? Bis auf die Tatsache, dass Adam seinen unbedachten Kommentar vermutlich dazu nutzen würde, ihn so lange fertig zu machen, bis er nicht mehr stehen könnte. 

Leo blieb für einen Augenblick lang störrisch, bevor seine eigene Lust obsiegte und er sich von Adam stolpernd und auf wackligen Beinen in die weiträumige Dusche ziehen ließ. 

„Ich habe gehört, die Regendusche soll phänomenal sein“, riss Leo weiterhin seine große Klappe auf und Adams lachte erfreut. 
„Wer sagt dir denn sowas?“
„Irgendein Angeber.“
„Ach.“
„Ja, war so ein Wichtigtuer.“
„Ach?“
„Eine Rotznase.“
Ach?!

Nun grinste Leo dunkel und Adam nutzte die Gelegenheit, seine Lippen mit einem innigen Kuss zu verschließen und ihn gegen den kalten Fliesenspiegel zu pressen. Leo zuckte und zischte ob der plötzlichen Kälte und Adam langte hinter ihn, stellte besagte, phänomenale Dusche auf warm. 

Regen prasselte auf sie beide nieder und Leo schob seine Hüften an Adams, presste ihre empfindlichen Schwänze so eng aufeinander, dass es beinahe schmerzte. Er schauderte und stöhnte auf, als Adam ihm nur zu gerne entgegenkam. 

Dass der blonde Mann sich nun Zeit ließ, das Duschgel mehr schlecht als recht auf seinem Körper zu verteilen, wunderte Leo so gar nicht. Dass er ihn mehrfach einschäumte, wieder abwusch, dann wieder einschäumte…kein Bisschen. Wenn seine Berührungen dazu gedacht waren, Leo zu entspannen, dann verfehlte er sein Ziel meilenweit.

Am Ende von Adams ausdauernden Bemühungen lehnte Leo schwer atmend und erregt an ihm und zitterte unter den versierten Händen, kaum mehr in der Lage dazu, sich aufrecht zu halten.

Adam dachte nicht daran, ihn zu erlösen. Das hob er sich anscheinend für die zweite Runde in seinem Bett auf, als er sich seinen Weg über Leos Eichel, seine Hoden, bis hin zu seinem Arsch leckte und seinen entspannten Muskelring solange reizte, bis Leo nur noch ein wimmernder, bettelnder und fluchender Mann war, der kommen wollte, es aber nicht konnte und durfte, je nachdem, wie er Adams Tun auslegte.  

Selbst wenn er gewollt hätte, Leo hätte keinen Fuß mehr vor den anderen setzen können, nachdem Adam zum zweiten und schlussendlich auch zum dritten Mal mit ihm fertig war, seine Haare zerzaust, die Lippen geschwollen und rot, die Wangen glühend vor Wärme und Freude. Während Leo mit Mühe Luft bekam, sah Adam beinahe unverschämt entspannt auf ihn herab und leckte sich wie eine zufriedene Katze über die durchbluteten Lippen. 

„Gründlich genug…?“, fragte er jungenhaft grinsend und Leo fand noch nicht einmal die Kraft zu antworten. Schwach hob er die linke Hand zeigte Adam mit letzter Kraft seinen Mittelfinger. Alles an seinem Körper war Butter, weich und nachgiebig, aber auch unfähig, irgendetwas Sinnvolles zu tun. 

Adam nahm seinen Mittelfinger in den Mund und lutschte daran, seine Augen voller tiefer Versprechen von Dingen, die da noch kommen mochten und die Leo mehr als überfordern würden. 

Er schauderte und öffnete die Lippen um Adam zu sagen, dass er nicht mehr konnte, doch da war mit einem Mal nur noch Zärtlichkeit auf seinem Gesicht. Zufriedene Zärtlichkeit ohne Lust oder die Dunkelheit, die Leo vorher dort gesehen hatte. 

„Ich weiß, du willst es nicht, aber du solltest wirklich liegen bleiben“, murmelte er und pustete angenehm kühle Luft um seinen angespeichelten Mittelfinger. Leo grunzte erschöpft, weder ablehnend noch zustimmend. 
„Zumindest, bis du wieder unfallfrei laufen und Auto fahren kannst. Auf heißen Krankenhaussex hätte ich zwar Lust, aber das Pflegepersonal guckt immer so komisch, wenn man in diesen Betten was anderes macht außer schlecht schlafen.“

Leo brummte, dieses Mal eindeutig zustimmend. 

„Okay“, sagte er dann das, worauf er sich einigen konnte und hoffte, dass es in Anbetracht der Umstände nicht ganz so schlimm werden würde. Vielleicht konnte er zwei oder drei Stunden schlafen, bevor er sich dann auf den Weg machte. 

„Darf ich dich mit einem Waschlappen saubermachen?“, fragte das plötzlich ganz züchtige Spielkind, das Leo die letzten Stunden über schier verrückt gemacht hatte und er grollte streng. 
„Wehe du erregst mich schon wieder.“
„Zu Befehl, du Möchtegerndiktator. Keine Erregung mehr. Der Herr muss ruhen. In dem Alter nicht auszudenken, wenn da noch mehr passiert.“
„Leck…“, begann Leo, verbot sich aber ganz schnell das Sprechen, was auch gut so war, wie er an dem viel zu amüsierten Gesichtsausdruck des anderen Mannes sah. „Los, Waschlappen jetzt!“
„Zu Befehl.“

Ganz im Stil des besagten Diktators ließ Leo sich reinigen und schob nur zu bereit seine Beine auseinander, damit Adam ihn sanft von Schweiß und Sperma befreien konnte. Dem Versprechen folgend waren seine Berührungen neutral und sorgsam. Er flößte Leo einen halben Liter Wasser ein und zu guter Letzt bedeckte Adam Leos erschöpften Körper noch mit einer leichten, weichen Decke. Er war klug und überlebenswillig genug, sich nach einer schnellen Katzenreinigung unter seiner eigenen zu vergraben und nicht meinen zu müssen, mit unter Leos kriechen zu können. 

Zum Glück. 

Leo seufzte und blinzelte, bereits die bleierne Müdigkeit in seinen Knochen spürend. 

„Sag mal, Superman…“
Leo schloss einen kurzen Moment die Augen, bevor er sie wieder aufriss. „Mal.“ 
Adam stützte sein Kinn auf den aufgestellten Arm. Vielsagend hob er die Augenbrauen und schnaubte. „Okay, Boomer. Also mal angenommen, der Zeugenschutz wäre eine wirkliche Alternative. Wie würde der aussehen?“

Blinzelnd versuchte Leo, sich auf die Worte zu konzentrieren, die ihm fast wie eine Fata Morgana schienen. Zeugenschutz? 
Konzentrier dich, Leo. Konzentrier dich!, herrschte er sich an und kämpfte mit Gewalt gegen seine Müdigkeit an. War das die Nachdenklichkeit, die er am Anfang des Abends auf Adams Gesicht gesehen hatte? Waren das die mehrfach begonnenen, aber nie geäußerten Sätze? 

„Wie immer?“, versuchte Leo Zeit zu schinden um zumindest einen Großteil der Müdigkeit und Erschöpfung abzuschütteln. „Denkst du darüber nach?“
„Das war nicht die Frage, Superman.“ Er sah keinen Spott auf Adams Gesicht. Nichts deutete darauf hin, dass Adam seine Späße mit ihm trieb. 
Wenn Leo gekonnt hätte, er hätte Adam Paroli geboten. So begnügte er sich damit, seinen Kopf in das weiche Kissen zu drücken und so seinem Frust eine Geste zu verleihen. Nicht, dass es ihm viel brachte. War so klar, dass Adam das jetzt aufbrachte. Nachdem er ihn nach allen Regeln der Kunst…war SO klar. 

„Du gibst uns Informationen und wir schützen dich vor dem Syndikat“, sagte er frei heraus, was sich im nächsten Moment als Fehler herausstellte. Wir. Was Leo meinte: die SoKo und er. Was Adam nicht wissen durfte. Verfluchter Mist. Warum hatte er sich nicht gut genug im Griff um so etwas zu vermeiden? Er durfte doch nicht…

„Du persönlich und die Staatsanwaltschaft?“, hakte Adam amüsiert nach und Leo war dankbar darum, dass der andere Mann seinen Faux-pas anscheinend nicht mitbekommen hatte. 
„Die zuständigen Kolleginnen und Kollegen unseres Hauses und die Staatsanwaltschaft in Verbindung mit dem zuständigen Richter.“
„Und woher willst du wissen, dass wir den nicht geschmiert haben? Also den Staatsanwalt und den Richter?“

Adams Frage war reine Provokation und Leo schwieg. Alles, was er darauf sagen konnte, würde die SoKo und ihn verraten. Vielleicht war die Frage als solche schon eine Fangfrage. Vielleicht wusste Adam schon davon und wollte ihn so überführen. 
Leo presste seine Lippen aufeinander und schwieg eisern. Vielleicht sollte er auch einfach aus dem Bett kriechen und fahren. Das wäre sicherer, bevor Adam ihm noch weitere Geheimnisse entlockte. 

Wieder machte der Drang zu spielen einer Zärtlichkeit und Sanftheit Platz, die Leo ganz tief im Magen wehtat. Adam hob seine Hand und schnippte ihm wieder sanft gegen die Nase.
„Alles gut, ich mache nur Spaß. Vielleicht. Vermutlich. Wahrscheinlich. Also mit dem Bestechen und dem Zeugenschutz.“

Leo glaubte das nicht. Adam hatte das Thema noch nie von sich aus aufgebracht. Noch nie. Es war immer Leo gewesen. Wollte er wirklich? Bestand wirklich noch Hoffnung?

Seine Gedanken glitten in die unmöglichen Möglichkeiten ab, die das hatte. 

Dass Leo darüber einschlief, wusste er erst, als er am nächsten Morgen aufwachte, gerädert und doch entspannt, mit schmerzendem Hintern und butterweichen Muskeln. 

Und zwei Stunden zu spät für Dienstbeginn. 

„Scheiße! Scheiße scheiße scheiße!“, fluchte er, als er unter lautem Poltern aus dem Bett stolperte und seine Sachen zusammensuchte, die irgendwo in der Wohnung zerstreut waren. „Verflucht, hättest du mich nicht wecken können?!“, fauchte er in Richtung des viel zu selbstverliebten, zufriedenen Syndikatssprösslings, der entspannt am Kopfteil seines Bettes lehnte und bei dem nicht viel fehlte, um Ähnlichkeit mit einer Großkatze zu haben. 

„Sehe ich so aus, als würde ich die Exekutive nicht behindern? Und wenn ich einen hübschen Vertreter eben dieser beim seligen Schlafen zu beobachten kann, umso besser.“

„Arschloch!“, fluchte Leo herzhaft, während er versuchte, sein Handy zum Laufen zu bekommen und sich gleichzeitig anzuziehen. Das funktionierte eher schlecht als recht und so landete er mit einem unfreiwilligen Abgang auf seinem wunden Hintern, ganz zum Spott und zur Belustigung des Mannes, der für diese ganze Misere verantwortlich war. 

Die olle blonde Mistkröte!

 

~~~~~

Wird fortgesetzt.  

 

Chapter 47: Liebe, die keine ist?

Notes:

Einen wunderbaren Abend euch allen!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie, frisch nach dem neuen Tatort. ❤️ Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Dieser Teil enthält Triggerwarnungen: Gewalt, Roland, Erinnerungen an einen Mord

Sehr viel Dank geht raus an Stabamater und Quelquun, auf deren Kappe das Ende dieses Teils geht. 🥰😋 Merci, Mesdames! Und natürlich vielen lieben Dank euch allen für eure Kommentare, Klicks, Kudos und Sprachnachrichten! 🌻❤️🥰

Chapter Text

 

„…oder ist das zuviel für dein Spatzenhirn?“

„Nein, Vater, selbstverständlich nicht“, presste Adam heraus, jede Silbe eine Herausforderung. Er richtete sich vorsichtig auf und schwankte, weil sein dummer, schwacher Körper meinte, genau in diesem Moment aufgeben zu müssen. Nach all den Jahren sollten die täglichen Prügel vom Alten, die er seit vier Tagen erhielt, doch nichts Neues mehr sein und schon gar nicht etwas, das ihn so belastete wie jetzt. 

Stur kämpfte Adam gegen den Schmerz und den Schwindel an und langte zu seinem Rollkragenpullover. Auch wenn es für Oktober untypische zwanzig Grad hatte musste er diesen tragen – dank der Dreckssau, die es sich nicht hatte nehmen lassen, ihn vorgestern zu würgen und somit Spuren der Misshandlung sichtbar zu machen, die Adam nicht mehr verdecken konnte. 

„Du wirst dich um die Idioten aus dem Baudezernat kümmern, hast du mich verstanden? Ich bekomme unsere Genehmigungen nicht schnell genug, die Fotzen sollen sich gefälligst beeilen. Und sieh zu, dass du da heute hinkommst.“

Langsam zog Adam sich an, noch viel langsamer kam er in seine schwarzen Anzugschuhe. Das Jackett war eine besondere Herausforderung und schlussendlich stand Adam mit rasendem Puls und Rauschen in den Ohren vor dem Mann, der behauptete, sein Vater zu sein, der ihn aber Zeit seines Lebens gehasst hatte.

Heute, an Elias‘ Todestag, war das besonders schlimm. 

Adam hatte die Nacht über schon nicht geschlafen und sein Zustand wurde durch die morgendliche Prügelrunde mit Sicherheit nicht besser. 

„Auf was wartest du dann noch? Verpiss dich, du Nichtsnutz.“

Adam verpisste sich nur zu dankbar, für heute den Fäusten und Gürteln der Dreckssau entkommen zu sein und überlegte, ob er sich heute Abend überhaupt mit Leo treffen sollte. Ausgemacht hatten sie nichts und wenn er ehrlich war, dann wollte Adam sich heute Abend alleine in seinem Elend suhlen. Elias Tod betrauern, an seinem Grab sitzen bis tief in die Nacht und ihm von allem erzählen, was sich das letzte Jahr über so getan hatte und was dieser verpasste. 

Aber zuerst… das Baudezernat. Wenn er es überhaupt bis dahin schaffte. 


~~**~~


Adam schaffte es tatsächlich, was aber nicht hieß, dass es ihm damit gut ging. Er hasste sich, seinen schwachen Körper, die Dreckssau, sein Leben, alles, was ihn davon abhielt, vielleicht ein bisschen glücklich zu sein. Er hasste selbst seine Anwesenheit hier und verspürte mit jedem Schritt, den er in die Kommunalverwaltung tat, mehr Widerwillen vor seiner Aufgabe, die Mitarbeitenden hier unter Druck zu setzen. 

Die Personalabteilung hatte heute ihren Betriebsausflug, deswegen konnte Adam sich unbeobachtet über deren Flur an Hölzer Seniors Büro vorbeischleichen, das sonst auf seinem Weg liegen würde. Auf Kontakt mit dem anderen Mann war Adam heute wirklich nicht scharf. Echt nicht. 

Er hatte Kressmanns Büro beinahe erreicht, als jemand den Flur betrat, den Adam zunächst mit einem arroganten Blick aus dem Weg scheuchen wollte – bis er sah, wen genau er vor sich sah. 

Nein.

„Schürk“, knurrte Hölzer Senior und versperrte mit seiner bloßen Anwesenheit den Gang und blockierte damit seinen Auftrag. Er musste heute mit Kressmann sprechen oder die Dreckssau würde noch mehr ausrasten. Aber wenn er sich Hölzers Entschlossenheit ansah, würde der ihn nicht vorbeilassen, nicht einfach so. Nicht ohne, dass Adam Gewalt anwandte. 

„Und da dachte ich, der Tag könne nicht mehr schlimmer werden“, schnaubte er deswegen so  verächtlich wie es ihm möglich war, in der Hoffnung, dass Hölzer sich von seinem Weg zu ihm abbringen ließ. Weit gefehlt. Der andere Mann kam tatsächlich auf ihn zu und wollte reden. Seine Vorwürfe über ihn ausschütten wohl eher.

Und war es nicht auch berechtigt? Adam hatte ihm wehtun wollen und war sehr erfolgreich damit gewesen. Wort für Wort hatte er ihn in die Verzweiflung getrieben und sich an dessen Schmerz gelabt. Weil der Mann ihn gesehen und erkannt hatte, weil er wusste, wie verzweifelt Adam einmal gewesen war. 

Dieses Mal konnte er sich diese Art des Konfliktes nicht erlauben, weil er damit mit ziemlicher Sicherheit einen plötzlich sehr keuschen Leo auf den Plan rufen würde, der einen weiten Bogen um sein Bett machen würde. Und seine Wohnung. Vielleicht auch das Viertel, in dem Adam wohnte. Sonderurlaub ohne Fortzahlung seiner Dienstbezüge in Italien vielleicht.

„Was wollen Sie hier?“
„Das Übliche, wenn Sie mir nicht im Weg stehen würden.“
Hölzer bleckte die Zähne, als würde er ihm drohen wollen. „Verschwinden Sie von hier. Sofort.“

Mutige Worte für einen Verlierer, begehrte etwas in Adam auf, das verdächtig nach der Dreckssau klang. Adam unterdrückte es, so gut es ging, denn Hölzer war alles andere als das. Er hatte Leo erzogen und aus dem Mann den gemacht, der er jetzt war. Er schlug seine Kinder nicht und bot ihnen eine gute Familie. Das war nur in den Augen der Dreckssau eine Niederlage. In den Augen der Dreckssau war aber auch Elias verachtenswert gewesen, schwach, eine Schwäche für Adam. Doch Elias war der Mensch gewesen, den er geliebt hatte, also sollte Adam wohl nichts auf die Stimme in seinem Inneren geben, die jahrelang in ihm gehetzt hatte.

„Nein“, entgegnete er deswegen schlicht und schob die Hände in die Hosentaschen, plusterte sich seinerseits auf, auch wenn er Schmerzen dabei hatte. 
„Sie haben hier nichts verloren mit Ihren illegalen Geschäften und Ihren Verbrechen auf Kosten unseres Staates.“

Recht hatte er, befand Adam, aber wer war er, dass er es sagte? Anstelle dessen zuckte er nur mit den Schultern und lächelte – so arrogant und herablassend wie nur irgendwie möglich. Wenn er den anderen Mann frustrierte, würde dieser mit Sicherheit gehen

„Wenn Ihr Sprössling es schon nicht schafft, mir meine illegalen Geschäfte nachzuweisen, dann dürfte es für Sie nochmal schwieriger werden, das zu beurteilen.“

Fast hatte Adam Erfolg damit, wenn er Hölzer Seniors pochende Halsschlagader betrachtete. „Lassen Sie meinen Sohn daraus!“

Und wie schnell Adam damit Wut in Hölzer Senior erzeugen konnte – einzig und allein, dass er Leo erwähnte. Familie… schön, wenn man eine hatte. Schrecklich, wenn man eine hatte. 

„Warum sollte ich?“, fragte Adam entsprechend ungnädig in Gedanken an die Dreckssau, die alles war, aber kein Vater. Oder nicht der Vater, den Adam sich gewünscht hätte. 

„Weil Sie ihm genug Leid verursacht und ihm genug wehgetan haben!“

Die Verzweiflung, die bei den Worten unter der Wut lauerte, war ihm nicht neu, aber sie schmeckte Adam auch nicht sonderlich. Er winkte ab, ein Unding in der Situation, aber passend zu dem Arschloch, das er war. 

„Da muss ich Sie enttäuschen, momentan ist er ziemlich glücklich bei mir. Zumindest kann ich mich nicht darüber beschweren, dass er mit irgendetwas, das ich ihm antue, unzufrieden ist“, schwächte Adam seine eigentlichen Worte ab, die Leo mit Sicherheit in die Adam-Abstinenz getrieben hatte. Er lächelte böse, als er seinen eigentlich guten Worten einen teuflischen Anstrich gab und genoss die Hilflosigkeit, die er in der älteren Version von Leo nur zu deutlich sah, mehr als gedacht. 

Vor ihm stand in diesem Moment noch nicht einmal wirklich Leos Vater, sondern auf seine eigene Plage. Er projizierte, das wusste Adam, hätte ihm auch Vincent gesagt, wenn dieser nun neben ihm gestanden hätte. Vielleicht hätte dieser ihm auch mitgeteilt, dass das Anstechen von Hölzer Senior keine gute Idee war. 

Ganz sicher. 

Das merkte Adam vor allen Dingen auch daran, dass der Mann auf ihn zukam, schnell, abrupt, ohne Adam die Möglichkeit zu lassen, zurück zu weichen. Schneller, als er damit rechnete, hatte er die Hände des anderen Mannes an seinem Kragen und wurde mit seinem wunden Rücken, seinem wunden Körper gegen die Wand gepresst. 

„Antun? Was tun Sie ihm an?“, wurde er regelrecht angeknurrt und einen Moment lang genoss Adam die Wut ohne Gewalt. 

…mit weniger Gewalt, denn die Hände um sein Revers packten zu, als wollten sie sein Jackett zerreißen und ihn würgen. 

Adam schnaubte und verzog seine Lippen zu einem minimalen, zufriedenen Lächeln. Er dachte an jeden Einzelnen von Leos Orgasmen, an jedes geflucht-geflüsterte Adam, jede Verwünschung, die Leos Lippen verließ, wenn Adam ihm seine Wünsche im Bett nicht sofort erfüllte. Er dachte auch an Leos entspannten Körper, wenn dieser am Wochenende bei ihm war. 

„Nur das Beste. Es gefällt ihm im Übrigen sehr.“

Vincent hätte seine wahre Freude an Adams traumatisierten Rachegelüsten, aus denen heraus er es genoss, ältere Männer voller Verzweiflung zu sehen. Falsch war es dennoch, das wusste er und das sagte ihm eine Stimme, die verdächtig nach Leo klang, beinahe schon gnadenlos.

Sie sagte es zu deutlich, als dass Adam sie überhören könnte. Fast sah er Leo, wie er hinter seinem Vater stand und ihn missbilligend ansah. 

Bevor Hölzer Senior ihn noch ein weiteres Mal schmerzhaft an die Wand pressen konnte, machte Adam sich los und stieß den anderen Mann mit letzter Kraft von sich. Er schwankte mit, taumelte nach vorne und schnaubte über seine eigene Schwäche. Adams Hand zitterte, als er sich an der Wand festhielt und die Zähne bleckte, damit Leos Vater bloß nicht auf dumme Gedanken kam. 

„Und jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich jetzt nicht weiter belästigen würden, Herr Hölzer. Ihrem einzigen und heißgeliebten Sohn geht es gut unter meinen schmierigen Fingerchen und wenn Sie Zweifel daran haben, können Sie sich gerne an ihn wenden.“ 

Adam richtete sich auf und kämpfte sich Schritt für Schritt an dem stocksteif dastehenden Mann vorbei, dessen Blick zwar in Adams Nacken brannte, der ihm aber nicht nachkam. 

Gut. Umso schneller wurde er hier fertig. Umso schneller konnte er zu Elias‘ Grab. 


~~**~~


Georg ging es nicht gut. Schon seit Monaten nicht. Seit er wusste, was seinem Jüngsten angetan wurde. 

Er war unkonzentriert, machte Fehler, war öfter abgelenkt oder geistig abwesend. Er vergaß Dinge. Ob er den Grund kannte, hatte Claudia ihn im Rahmen ihres harten Kritikgespräches von Vorgesetzte zu Mitarbeiter gefragt und Georg hatte ihr wahrheitsgemäß geantwortet, dass er gerade Familienstress hatte, der sich nicht so einfach abbauen ließe. 

Gelogen war das nicht. 

Er machte sich ernsthafte Sorgen um Leo, immer noch, nach heute Mittag sowieso. Auch wenn sein Jüngster mit jeder Woche, die verging und die er bei ihnen zum Kaffee und Kuchen und zum Helfen im Haus vorbeikam, gelassener, ruhiger und zufriedener wurde… und damit Schürks spöttischen Worten gerecht wurde. 

Dass Leo sich wohlfühlte. Ausgerechnet in der Gegenwart seines Erpressers. Das konnte und wollte Georg einfach nicht glauben. 

Wie schlimm es für ihn gewesen war, dem arroganten Verbrecher gegenüber zu stehen, war Georg seitdem bewusst geworden. Wie schlimm es war, den Peiniger seines Sohnes nicht anzeigen zu können – ebenfalls. Nur weil Babsi ihn darum gebeten hatte, hatte er nichts getan, das hieß aber nicht, dass er einfach sang- und klanglos akzeptieren würde, was Schürk Leo antat. 

So hatte Georg jeden Tag Beweise gesammelt. Er kam früh und durchwühlte die Akten der Kolleginnen und Kollegen. Er ging spät und durchsuchte ihr Laufwerk. Bislang hatte er eine ansehnliche Sammlung an Beweisstücken vorzuweisen, die er für sich kopiert und abgespeichert hatte. Immer wieder stieß er auf Unregelmäßigkeiten und seltsam getroffene Entscheidungen, die allesamt dazu passten, dass Schürk Kolleginnen und Kollegen terrorisierte. 

Und seinen Sohn. 

Was, wenn er sie alle erpresste?

Immer wieder tauchten Namen wie Roland Schürk, Heide Schürk und Boris Barns auf und immer wieder hingen sie mit den Besuchen von Schürk Junior zusammen. 

Wie dem heutigen. 

Georg würde Leo noch nicht gefährden, indem er ihn mit seinem Wissen konfrontierte und Schürk ihn dann zwang, es preiszugeben. Das nicht. 

Aber…

„Wie geht es dir, mein Sohn?“, fragte er seinen am Tee nippenden Jungen, der auffällig schweigsam ihm gegenüber in ihrem Wohnzimmer im Sessel saß und in Gedanken versunken Herbert anstarrte, der unweit von ihm lag und auf seinem Knochen kaute. Babsi war heute mit ihren Kegelfrauen unterwegs und so hatte er genug Zeit, mit seinem Jüngsten zu sprechen, den er kurzfristig hier hergebeten hatte. Um mit ihm über Schürks Worte zu sprechen und über das, was wie ein Horrorszenario in seinem Kopf umhergeisterte.

„Gut geht’s mir“, sagte Leo und sah hoch. Das Lächeln auf seinen Lippen war ehrlich, befand Georg kritisch und musterte ihn. „Die Woche war anstrengend, wir haben viel zu tun.“
„Und außerhalb der Arbeit?“

Die Frage war offensichtlich und das hörte man nur zu deutlich. Georg hätte anstelle dessen auch fragen können, was Leo mit Schürk erlebt hatte, das wäre ehrlicher gewesen. Direkter. Aber er wollte nicht, denn Leo mauerte, je direkter er das Thema ansprach. Nach heute konnte Georg allerdings nicht mehr ignorieren, was war. Nicht nachdem, was Schürk ihm gesagt hatte. 

„Es ist alles okay, Papa“, erwiderte Leo versöhnlich wie auch ausweichend und Georg seufzte. Er sah zu Boden, biss sich regelrecht an Herbert fest, der vollkommen zufrieden damit war, an Leos Seite zu sitzen und sich von ihm kraulen zu lassen.

„Leo…du würdest mir doch sagen, wenn Schürk dich körperlich zu etwas zwingt, oder?“

Sein Polizistensohn witterte schneller, dass etwas im Busch sein könnte, als Georg es vermutet hatte. Misstrauen kroch über das plötzlich alarmierte Gesicht seines Jüngsten und kritisch verengte er die Augen. 

„Wieso fragst du das, Papa?“ Verflogen war die Entspannung und Georg sah zu deutlich, dass Leo ihm etwas verheimlichte. Denn auch wenn dieser ein guter Polizist war… lügen konnte er nicht. Zumindest nicht gut genug für Georg, der ihn seit damals mit Argusaugen beobachtete. 
„Macht er körperlich etwas mit dir, was du nicht willst, Leo? Du musst dich auch nicht schämen, das zuzugeben. Nicht hier, nicht vor mir. Wirklich nicht.“

Georg bat, ja, flehte fast. Er beugte sich nach vorne und legte Leo eine Hand auf den Unterarm. „Wenn er dir etwas antut oder wenn er dich anfasst, dann sprich mit mir. Friss es nicht in dich hinein, Leo. Ich bin doch da. Für dich.“

Schweigend musterte Leo ihn, sein Gesicht ein Wechselspiel an Emotionen. Erstaunen, allem voran. Scham, ebenfalls. Aber da waren auch kurz aufflammende Erinnerungen und ein schlechtes Gewissen und starke Röte, die nun über Leos kompletten Halsansatz über die Ohren bis zu den Wangen kletterte.

„Papa…wieso kommst du auf den Gedanken?“, fragte Leo rau und Georg schluckte. Herbert spürte ihre Unruhe und richtete sich winselnd auf. Beruhigend stieß er erst Leo, dann Georg an. Sanft legte Georg ihm seine Hand auf die Flanke und zog ihn zu sich, klopfte sacht auf das seidige Fell. 
„Schürk war heute da“, sagte er dann so neutral wie er konnte und abrupt richtete Leo sich auf. 

Adam?! Wieso? Was hat er gemacht?“, fragte sein Sohn beinahe panisch und Georg musste erst einmal den so selbstverständlich ausgesprochenen Vornamen des Syndikatssprösslings verdauen, bevor er sich den Fragen widmen konnte. Das Adam klang vertraut, es klang oft benutzt und selbstverständlich. 

„Er wollte heute zu uns ins Baudezernat und ich bin ihm über den Weg gelaufen. Ich habe ihm gesagt, dass er sich von dir fernhalten soll und er meinte, dass… du glücklich bei ihm seist... und dass du zufrieden mit dem seist, was er dir antue.“

Georg kämpfte mit jedem einzelnen der fürchterlichen Worte. Er kämpfte mit der Bedeutung, die das für Leo haben würde, das Leid, was sich dahinter verbarg. 

„Leo, zu was zwingt er dich? Kommt er dir körperlich nahe?“

Die Röte auf den Wangen seines Sohnes vertiefte sich. Leo schluckte, leckte sich über die Lippen, schluckte erneut. Er sah zu Herbert, der zu weit weg war um eine Ablenkung zu sein. Vielleicht ballte er deswegen seine Hände wieder und wieder zu Fäusten und entspannte sie mehrfach.

Georg erhob sich und stieg über Herbert, der ihm auf dem Fuß folgte und Leo mit ihm zusammen abwartend anstarrte. Er kam zu seinem Sohn und ging vor ihm in die Hocke, umfasste sacht die nun wieder angespannten Fäuste. „Leo, sprich mit mir“, beschwor er ihn und holte tief Luft. „Zwingt er dich zu sexuellem Kontakt?“
Wild schüttelte dieser den Kopf. Die Adern links und rechts an seinem Hals traten dick hervor und Georg sah sie energisch schnell pochen.  
„Nein, Papa. Das stimmt nicht. Er tut das nicht.“
„Sondern? Leo, die Art, wie er es betont hat…was macht er?“

Leo wand sich, er knirschte mit den Zähnen, lehnte sich in dem Sessel zurück. Sein Vorsatz, Georg nichts zu sagen, brach sichtbar nach ein paar weiteren Sekunden auseinander. 

„Ichmachsfreiwilligweilicheswill“, presste er so schnell hervor, dass Georg Mühe hatte, den Worten zu folgen. Gepeinigt starrte er ihm in die Augen. „Er wollte nicht und ich war derjenige, der darauf bestanden hat. Also er wollte schon, aber nicht so. Er wollte nicht mit mir f…schlafen, weil er mir in den Monaten davor so wehgetan hat. Aber ich…ich habe drauf bestanden, dass…und es macht Spaß. Papa, ich mach das freiwillig.“

Georg erinnerte sich noch gut an ihr stockendes, leises Gespräch über Leos Sexualität und an Leos leises, furchtsames Eingeständnis, dass er auf Jungen stand und nicht auf Mädchen. Für Georg gab es da keinen Unterschied…er liebte seinen Sohn, egal, wen dieser liebte. 
Doch genau wie damals auch war da jetzt Angst – wieder Angst davor, dass Georg seinen Sohn ablehnte für das, was er tat. 

Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier verharrte Leo auf dem Sessel, angespannt bis zum Äußersten, erkannt und doch nicht verurteilt. 

Sacht strich Georg die Arme auf und ab. 

„Warum er?“, fragte er schlicht und Leo brauchte lange Zeit um zu antworten. 
„Weil er er ist.“
„Aber er hat dir wehgetan.“
„Das bereut er.“
„Bist du dir sicher?“

Leo nickte energisch und ohne zu zögern. „Ja, Papa. Ganz sicher. Adam ist anders als vorher. Er ist immer noch ein Arschloch, aber er ist auch ein Mensch, der trauert und traumatisiert ist. Er ist ein Mensch, der in der Lage dazu ist, Mitleid und Mitgefühl zu empfinden. Oder Freundschaft.“

Nun brauchte Georg etwas länger für seine Antwort, weil Leos Worte in so einem konträren Gegensatz zu dem standen, was Schürk ihm an den Kopf geworfen hatte. Heute und vor Monaten. Weil sie eine Vergebung implizierten, die Georg niemals für möglich hielt. 

„Aber er hat dich erpresst, er hat dir wehgetan. Er hat dich beinahe dazu gebracht, dich umzubringen. Wie kannst du das vergeben, Leo?“
Hinter der Stirn seines Sohnes arbeitete es gewaltig. Leo kämpfte mit sich und auch mit seiner Antwort, vermutlich ebenso mit den schlimmen Erinnerungen. 
„Weil er…er ist“, erhielt Georg eine derart hilflose, aber auch sanfte Antwort, dass es ihn schauderte. Er hörte viel in ihr – Hass war nicht dabei.
„Empfindest du Liebe für ihn, Leo?“, fragte er, jede Silbe ein Kampf. 
„Nein“, kam die vehement abweisende Antwort beinahe augenblicklich, noch nicht einmal eine Sekunde später.

Georg kannte seinen Sohn. Er wusste, wann er log und wann er die Wahrheit sagte. Er wusste aber auch, wann er sich etwas vormachte.  


~~**~~


„Hey, deine Mama lässt dir Grüße ausrichten, du olle Nuss“, murmelte Adam und setzte sich auf den durch den kalten Boden vor dem kleinen, unscheinbaren Grabstein. Wie jedes Jahr besuchte er ihn, erzählte ihm, was das Jahr über passiert war und was er für die Zukunft plante. 

Nur Schlimmes. Und Überleben. Aber auch etwas Schönes. Leo war ihm passiert und irgendwie war aus etwas gewohnt Dunklen eine Katastrophe und von dort aus zu etwas Schönem geworden. 

Ich möchte, dass du endlich Glück in deinem Leben findest, hatte Elias gesagt und neben Vincent hatte Adam jetzt nun auch eine zweite Quelle des Glücks. Irgendwie. 

„Ich bin unvernünftig, weißt du. Es gibt da jemanden. Einen Polizisten, eine Verknüpfung. Er ist so wie du. Hat keine Angst vor mir mehr und keine Berührungsängste. Er ist bossy und wird ungnädig, wenn es nicht nach seiner Pfeife geht.“ Adam schnaubte und blinzelte die aufkommenden Tränen weg, als er an Elias dachte und an die mit den Jahren verblassende Erinnerung an ihn. 

Die Dreckssau hatte ihm damals alles genommen, was ihn an Elias erinnern könnte. Als er aus dem Keller freigelassen worden war, war da nichts mehr gewesen, kein einziges Erinnerungsstück an den Mann, den er geliebt hatte. 

Der erste Jahr hatte Adam sich nicht getraut, Elias Mutter anzurufen oder auch nur in die Nähe des Hauses zu kommen. Aus Angst, dass sie ihn hassen würde. Aus Angst, dass die Dreckssau sie auch umbringen würde. 
Im zweiten Jahr hatte sie ihm aufgelauert und ihn nicht aus ihren Händen gelassen, bis Adam schlussendlich weinend vor ihr zusammengebrochen war und ihr alles gestanden hatte. Er hatte sie zu seiner Komplizin gemacht und nur dank ihrer Hilfe die nächsten Jahre überstanden. 

So gebührte ihr auch die Uhr, die Elias soviel bedeutet hatte. 

Nun kitzelten Adams Wangen doch noch vor den dusseligen Tränen und er bettete seinen Kopf in seine Hände. 

Was war schon sein körperlicher Schmerz gegen die seelischen Qualen in seinem Inneren? 

Eine Frage, die sich Adam nicht zum ersten Mal stellte.

Schritte hinter ihm ließen ihn hochschrecken und herumfahren. Wenn die Dreckssau ihn hier erwischte, würde es Ärger geben und ob er sich dann diese Woche noch um Leo…

Oh.

Unweit von ihm verhielt der Ermittler mitten im Schritt und sah ihm in die Augen. Stumm musterten sie sich und Adam erkannte Überbleibsel von Wut in den hübschen, grünen Orben. Ach ja, sein Zusammentreffen mit Leos Vater. 

Nein, der Tag wurde mit Sicherheit nicht besser. 

Adam drehte sich wieder zurück. „Gleich lernst du ihn kennen, in seiner vollen Pracht“, sagte er leise verschwörerisch zu Elias und wischte sich die Tränen von den Wangen. Leo kam langsam näher und blieb schließlich neben ihm stehen. 

Adam schwieg, dieses Mal verlegen um alles, was er Leo an Sprüchen drücken konnte. Er hatte wieder den Konflikt mit Leos Vater gesucht und wieder im Zorn das Maul zu weit aufgerissen. Er würde sich dafür entschuldigen müssen, aber nicht heute. Heute würde er nichts dergleichen über die Lippen bringen. 

„Warum kannst du meinen Vater nicht in Ruhe lassen?“, fragte Leo ruhiger, als Adam es von ihm gedacht hatte, aber auch voller unterdrücktem Zorn. Vermutlich, weil sie auf dem Friedhof waren. Oder weil er Adams dumme Tränen gesehen hatte. Beides war sentimentaler Unsinn und sollte Leo nicht bremsen – befand Adams destruktive Seite. 

„Warum musstest du andeuten, dass wir miteinander schlafen?“ Hatte er das? Eigentlich doch nicht so, oder?
„Ich habe es ihm gesagt. Ich habe ihm gesagt, dass wir es tun.“ Vielleicht würde Adam morgen über den Impact nachdenken, den Leos Worte bei ihm hatten. Gehörte er jetzt quasi zur Familie, wenn er den Stammhalter vögelte? Konnte er Hölzer Senior bald Schwiegerpapa nennen? 

„Ich wollte es ihm nicht sagen. Und wieder musste ich es, weil du deinen Mund nicht halten konntest.“

„Woher wusstest du, wo ich bin?“, fragte Adam, ohne auf die Worte des Mannes neben ihm zu reagieren. So langsam wurde sein Arsch taub, von Kälte und hartem, kalten Boden gleichermaßen. 
Leo schnaubte. „Ich habe Vincent so lange unter Druck gesetzt, bis er mir deinen Zeitplan für heute gegeben hat.“
Natürlich. Also würde Adam am Ende des Abends auch noch mit Vincent darüber sprechen müssen. „Dann weißt du auch, dass der Alte mich trotz seines vorherigen Plans gleich noch sehen will.“
„Ja.“

Adam brummte. „Entschuldigung kommt morgen.“
„So lapidar siehst du das?“

Adam presste seine Lippen aufeinander. Er wollte keine Vorwürfe, nicht hier, nicht heute, nicht bevor er wieder zur Dreckssau musste, anstelle wie immer am Grab sitzen zu können. Ja, er war selbst schuld, aber gerade jetzt…

„Heute ist Elias‘ Todestag. Ich kann’s heute nicht, Leo.“

Wie weit sie beide doch schon gekommen waren, dass Adam es so freimütig vor seinem hauseigenen Polizisten zugab. Etwas nicht zu können. Eine Schwachstelle zu haben. Nicht, dass der andere Mann seine Schwachstellen nicht schon kennen würde, aber dennoch.

Die Hand in seinen Haaren überraschte ihn dann doch genauso wie der Oberschenkel, an den er plötzlich gelehnt wurde. Es war unter der Woche, aber Adam glaubte nicht, dass Leo ihn plötzlich dazu bringen wollen würde, ihm den Schwanz zu lutschen. Also war es eine Berührung, die rein dazu diente, ihm etwas Gutes zu tun. Auch wenn er mal wieder ein Arschloch gewesen war. Mal wieder. 

Leo strich ihm über die Haare, spendete ihm Nähe, blieb schweigend an seiner Seite. Er spendete Trost und Adam nahm diesen nur zu gerne an. Er ließ sich in die Berührung und in die Nähe fallen. 

„Ich werde ihn für den Mord dingfest machen, Adam, ich verspreche es dir“, murmelte Leo schließlich leise. Adam schwieg, brachte es nicht über sich, etwas zu sagen und das war auch nicht nötig. Er widersprach nicht und das musste genügen.


~~**~~


„Komm morgen zu mir, dann bekommst du deine Entschuldigung.“

Morgen war Donnerstag und damit nicht Samstag, also wäre es ein sexuelles Treffen. Leo war sich dementsprechend unsicher, ob er den Kontext wollte und hatte nur zögernd zugestimmt, bevor er sich in sein Auto gesetzt hatte und in Richtung Saarbrücken weggefahren war. 

Alles in ihm war wieder einmal chaotisch und in Aufruhr. Er schämte sich in Grund und Boden für das Gespräch, das er mit seinem Vater geführt hatte. Als wäre er pubertierend und brachte als braver Junge den Sohn des örtlichen Gangsterbosses mit nach Hause. 

Nur dass er jetzt nicht mehr pubertierend war und Adam auch nicht freiwillig mit nach Hause gebracht hatte. 

Leo brachte seinen Wagen durch das Einbahnstraßenwirrwarr von Saarbrücken sicher nach Hause und parkte unweit seiner Wohnung. Gähnend stieg er aus und schloss ab. Es war spät und beinahe schon unwirklich menschenleer auf der Querstraße. Nur eine Gruppe von feixenden Männern kam ihm entgegen, die ihn zwar abschätzig musterten, aber ansonsten nicht auf Stress aus zu sein schienen. Leo ging mit einem Nicken an ihnen vorbei und runzelte die Stirn, als sein Polizeiinstinkt bei dem letzten an ihm vorbeiziehenden Mann alarmiert ausschlug und ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend bescherte. 

Abrupt drehte Leo sich um und keine Sekunde später drückte sich etwas Metallenes scharf und schmerzhaft gegen seine rechte Niere und die Männer umschlossen ihn wie eine eingeübte Einheit, kesselten ihn ein. Der Anführer, ein kantiger, bulliger Mann, grinste ihm teuflisch ins Gesicht.  

„Schön die Fresse halten und mitkommen, Arschloch, sonst kassierst du hier ein paar Messerstiche, bevor du deinen eigentlichen Aufenthaltsort erreichst, ist das klar?“

Er sah mit rasendem Puls in das bärtige, grobe Gesicht des Mannes und prägte sich dann soweit es ging die Gesichter der anderen ein. Sie waren zu fünft und mit dem Messer als Drohung gegen seinen Körper hatte Leo keine Chance. Sie sahen nicht so aus, als würden sie ihm eine zweite Chance geben, wenn er es nicht schaffte, sie zu überwältigen und die Chance dazu war verschwindend gering.

„Wer sind Sie?“, presste Leo hervor und erntete nur ein spöttisches Lächeln, während ein Kleintransporter neben ihnen hielt. Für ihn, begriff Leo. Sie würden ihn entführen. Oder Schlimmeres. 

„Geht dich `nen Scheißdreck an. Steig in den Wagen oder ich stech dich hier und jetzt ab.“

Zwei Männer packten Leo an seinen Armen, zerrten ihn mit sich. Er stemmte seine Füße in den Boden, wehrte sich jetzt doch gegen den dunklen Schlund, in den sie ihn verschleppen wollten, hoffte auf eine Gelegenheit zur Flucht. Belohnt wurde er dafür nicht, ganz im Gegenteil. Kaum, dass das Messer seine Seite freigab, holte einer der Männer aus und schlug ihm die Faust in die Nieren. 

Aufkeuchend vor brennendem Schmerz klappte Leo zusammen und wurde in den Wagen gestoßen. Für einen Moment lang sah er Sterne, dann explodierte seine linke Gesichtshälfte voller Schmerz, als einer der Männer ihm zusätzlich noch einen Kinnhaken verpasste. 

Es raubte Leo kurzfristig die Orientierung, während er schmerzhaft auf den Bauch gedreht und brutal gefesselt wurde. Einer der Männer schob ihm ein stinkendes Stück Stoff zwischen die Lippen und für einen Moment glaubte Leo, dass er ersticken würde an dem brutal zugeknoteten Lappen.

Atme, atme langsam, sonst stirbst du, herrschte er sich an, so wie früher auch und presste zitternd die Lider aufeinander. Atme, Leo, atme. Du kannst das. Atme.  

Er atmete um zu leben und um einen klaren Kopf zu behalten. Er atmete, weil er noch nicht tot war und damit noch eine Überlebenschance für ihn bestand. 

Er atmete, auch wenn er sich bewusst wurde, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach Roland Schürks Männer waren.

Das wird nicht gut für dich ausgehen, sagte eine ängstliche Stimme in seinem Inneren, die Leo einfach nicht zum Schweigen bringen konnte. 

 


~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 48: Alles Gute stirbt an Tagen wie diesen

Notes:

Einen wunderbaren Mittwoch wünsche ich euch allen! ❤️

Hier nun der neueste Teil zur Anatomie, frisch aus der "wie mache ich Dinge noch viel dunkler, als sie es vorher waren"-Schmiede, gesponsort by Quelquun. 😚

Vorab jedoch noch ein bisschen Dank von meiner Seite. Diese Geschichte hier hat Stand heute 343 Kommentare bekommen, 803 Kudos und geistert bei so vielen von euch in den Tags herum und wurde so oft angeklickt, dass sie mittlerweile über 13.000 Klicks hat. Das ist Wahnsinn und ein Wahnsinn, der mich irre freut und sehr glücklich macht. Danke euch dafür. Vielen. Lieben. Dank. ❤️🌻Und danke, dass ihr nach 48 Kapiteln dieser OK-Telenovela immer noch, schon wieder und gerade erst neu mitlest!

Zu diesem Teil. Ihr habt es bereits geahnt, der wird schlimm. Deswegen gibt es Triggerwarnungen: Körperverletzung in Form von Schlägen, Folter in Form von Waterboarding, Fesseln, homophobe Sprache, Vergewaltigungsandrohung, Roland Schürk.

Die Warnungen beziehen sich auf diesen Teil, wer sie überspringen möchte, kann im nächsten wieder einsteigen.

Viel Spaß euch trotzdem! 🌻

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie mich schon getötet.

Wieder und wieder sagte Leo sich das. Während der Fahrt, mit einem schmerzhaften Stiefel in seinem Nacken. Als sie hielten und ihn brutal mit sich zerrten, über Kies, Treppenstufen und Fliesenboden. 

Leo stolperte und wurde mit einem schmerzhaften Schlag in die Magengrube für sein Ungeschick belohnt.

Er stöhnte dumpf in den Knebel, doch Zeit, sich von dem Schmerz zu erholen, hatte er nicht. Wieder zerrten sie ihn mit und dieses Mal ging es Treppenstufen hinunter. Mit jedem Schritt wurde es kälter und Leo ahnte, dass sie ihn in einen Keller brachten. 

Es gibt einen Grund, warum du noch lebst. 

Adams Worte kamen Leo in den Sinn, dass sein Vater Elias Schiller vor seinen Augen umgebracht hatte. Heute war Schillers Todestag. Was, wenn Schürk Senior dahintergekommen war, dassVor ihm lag Leo auf dem Boden und Adam wusste nicht mehr, ob er überhaupt noch atmen konnte.  Adam ihn fickte und ihn jetzt ebenfalls tötete? 

Vor Adams Augen. 

Angst kroch in Leos gesamtes Nervensystem, schloss sich wie eine Faust um sein Herz und drückte zu. Für einen Augenblick konnte er nicht atmen, konnte sich nicht darauf konzentrieren, am Leben zu bleiben, konnte nicht kooperieren. 

Er geriet in Panik und wehrte sich trotz der Dunkelheit, die ihn umgab. Es war ein aussichtsloser Kampf und einer der ihm dieses Mal nicht nur einen Schlag in den Magen einbrachte, sondern gleich noch ein Tritt in die Kniekehlen, der ihn auf den kalten, harten Fliesenboden schickte. 

„Bleib unten Arschloch oder ich schlag dir jeden einzelnen deiner Zähne aus“, knurrte der Mann, der ihn mit dem Messer bedroht hatte, und Leo verharrte, sich mit aller Macht zusammenreißend. Eine Drohung, es war nur eine Drohung. Aber eine, die leicht wahrzumachen zu sein würde.

„Du hast dich mit dem Falschen angelegt, Bulle. Dumm, wirklich dumm.“

Teuflische Belustigung kratzte an Leos überreizten Hörnerven. Roland Schürk, tatsächlich. Seine Überlebenschancen sanken. 

Sie zogen ihm die Kapuze ab und gleißende, weiße Helligkeit brannte sich in Leos Augen. Aufstöhnend presste er seine Lider zusammen und hatte doch nur Sekunden, bevor er sie wieder aufreißen und sehen musste, was um ihn herum war. 

Seine Augen tränten und verschwommen erkannte Leo die weißen Kacheln, die sich unter ihm und an den Wänden befanden. Drei Männer waren mit ihm anwesend und ein Vierter betrat gerade den Keller. 

Roland Schürk. Es war Roland Schürk, dessen sadistisches Lächeln sich wie Säure in Leo hineinbrannte. 

Er schluckte panisch und plötzlich war sein schmerzender Körper nicht mehr sein größtes Problem. Auch nicht der chronische Luftmangel durch den Knebel. Auch nicht sein immer wieder verschwimmendes Blickfeld. 

Der Mann, der Adam soviel angetan hatte, schloss nun die Tür und kam zu ihm. Einer der Männer vergrub seine Hand schmerzhaft in Leos Haaren und zog seinen Kopf daran zurück. Höllischer Schmerz schoss seinen Nacken entlang und Leo folgte dem Zug, in der Hoffnung, dass der Mann aufhörte zu zerren, doch das fand kein Gehör. 

„Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, Herr Kriminalhauptkommissar Hölzer“, schnarrte Schürk Senior und bleckte seine Zähne. Das hagere Gesicht glich mehr einem Dämon als einem Menschen und Leo erkannte mit eiskalter Klarheit, mit welcher eiserner, zerstörerischer Hand er Adam misshandelte und jahrzehntelang missbraucht hatte. Er erkannte auch, dass dieser Mann weder Skrupel noch Mitleid kannte und dass Mord für ihn nur eines seiner Werkzeuge war. 

Panisch atmete Leo gegen den Knebel an. Wie ein bitterer Spiegel kam ihm die Situation vor. Er kniete, vor dem Sohn wie auch dem Vater. Er war hilflos, damals wie heute. Damals waren es aber Scham und Demütigung, die er verspürt hatte, heute hingegen hatte er Todesangst. 

„Es freut mich, endlich denjenigen kennen zu lernen, der glaubt, er könne in mein Imperium fuschen. Der für die Verhaftung meiner rechten Hand verantwortlich ist. Der immer noch glaubt, dass es ihm erlaubt ist, eine Aussage vor Gericht zu machen. Man sollte meinen, dass mein Stammhalter Ihnen das letzte Jahr über genug Respekt vor uns beigebracht hat, aber anscheinend ist dem nicht so.“

Panik, so alt und vertraut wie zu Schulzeiten, kämpfte mit allen rationalen Gedanken in Leo. Er verstand eine Todesdrohung, wenn er sie hörte. Damals, aus Detlefs Mund, waren das aber nur leere Drohungen gewesen, mit dem Ziel, ich, Angst zu machen. Damals hatte er es geglaubt, dass Detlef ihn umbringen würde, wenn er seinen Kopf in die Toilette tränkte. Er hatte Angst vor dem Luftmangel gehabt und Ekel und beides war ihm mit der Zeit ausgetrieben worden. Als er im Studium war, hatte Leo begriffen, dass die meisten Mobber und Peiniger ihre Opfer nicht umbrachten, weil sie sonst niemanden mehr hatten, den sie tyrannisieren konnten. 

Nicht so Roland Schürk. 

Roland Schürk tötete Polizisten. Roland Schürk ermordete Zivilisten. Er war ein Psychopath und heute hatte Leo keine Garantie, hier lebend rauszukommen. 

„Und das ist ärgerlich, weil Bullen wie Sie müssen wissen, wo ihr Platz ist und der ist ganz weit unter meinem Stiefel.“

Schürk Senior grinste hyänenhaft und Leo wich instinktiv zurück, als dieser auf ihn zukam und auch die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte. Weit kam er nicht, gefangen durch brutale Hände und seinen eigene Nackenwirbelsäule, die sich weigerte zu brechen. 

Schürk langte nach ihm und riss ihm brutal und schmerzhaft den Knebel aus dem Mund. Panisch zog Leo Luft in seine Lungen. Das war nicht das Beste, was er tun konnte, ganz und gar nicht, aber er brauchte es. Er brauchte den Sauerstoff.

„Ich hasse Bullen, die sich meinem Willen widersetzen“, spuckte Schürk ihm ins Gesicht und schlug zu. Schmerz explodierte in Leos linker Gesichtshälfte und er kippte unter brennendem Reißen seiner Haare auf seine rechte Schulter. Ungebremst kam er auf dem harten Boden auf und hustete. Er schmeckte Blut auf der Zunge und war für einen Moment versucht, seine Stirn auf den kalten Boden zu pressen. 

Ein Tritt in seinen Bauch belehrte ihn eines Besseren und Leo krümmte sich aufstöhnend zusammen. 

„Ich hasse Bullen, die sich mir in den Weg stellen.“

Wieder trat Schürk zu und Leo spuckte jetzt wirklich Blut auf die weißen Fliesen. 

„Ich…mache…seit Monaten, was Sie wollen…“, presste er hervor, als er wieder genug Luft in seine Lungen bekam, verzweifelt und in einem lächerlichen Versuch, sein Leben zu retten. Schürk schnaubte abfällig und packte Leo an seinem Hals, zog ihn daran schmerzhaft und luftabschnürend hoch. 

Wie der Vater, so der Sohn, schoss es Leo bitter durch den Kopf, als Adams Vater ihn mit Gewalt ohne Rücksicht auf seine gefesselten Arme an die Wand presste. Verzweifelt schnappte Leo nach Luft und kämpfte gegen das schmerzinduzierte Rauschen in seinen Ohren an.

„Wenn dem so wäre, würdest du Männchen machen, wenn ich es dir befehle und nicht noch gegen meine rechte Hand aussagen, Schwuchtel.“ 

Schürks Hände drückten mehr und mehr zu, solange, bis Leo gar keine Luft mehr bekam und panisch versuchte, sich von ihm loszumachen, ihn zu treten, irgendetwas, damit er überlebte. 

Belohnt wurde das nur mit weiterer Gewalt und fast war Leo schon froh, dass es nur Schläge waren, die ihn zu Boden schickten. Zuerst mit seinen Fäusten, dann mit einem Gürtel, vor dessen peitschender Gewalt sich Leo so gut es ging zu schützen versuchte. 

Vergebens.


~~**~~


Bastian warf Adam ein wohlverstecktes Zwinkern zu, als er hinter der Dreckssau stand und ihm den Teller mit gutem, deutschem Braten servierte, den es zur verhassten Feier des Tages gab. Adam hob minimal seine Augenbrauen, ließ Bastian in seinen Augen allerdings das Funkeln sehen. Sie hatten sich lange nicht gesehen und das war nur Adams Schuld. Schließlich hatte er Kopf und Bett voll von Leo gehabt und Bastian dabei schändlich vernachlässigt. Auch etwas, über das er mit ihm sprechen musste. Über Bastians künftige Bezahlung, wenn Leo ihn so sehr beanspruchte, dass er Bastian nicht mehr regelmäßig in sein Bett holen konnte. 

Regelmäßig. Einmal die Woche. Eigentlich wäre an allen anderen Tagen noch Zeit für Bastian, befand Adam und erkannte, dass es nicht daran lag, dass ihn sein hauseigener Polizist so sehr forderte, dass er sich für den Rest der Woche nicht mehr bewegen konnte.  

Bastian hatte ihm zusammen mit Vincent das Leben gerettet, wenn Adam es genau betrachtete. Dafür verdiente er alles Geld der Welt und dazu noch ein gutes Leben ohne den ganzen Scheiß hier. 

Adam sah auf seinen Teller, bevor seine Mimik zu verräterisch wurde und die Dreckssau Lunte witterte. Er hasste Braten und das wusste das Arschloch vor ihm natürlich auch. Wie alles an diesem Tag diente es dazu, ihm diesen Tag zu vermiesen. Noch mehr als sonst. Der Alte hasste ihn. Verachtete ihn. Zeigte ihm besonders heute, wie schwach er war. 

„Wo ist Mutter?“, fragte er und das verächtliche Schnauben seines Erzeugers ließ ihn hochsehen. 

„Der Heulsuse geht es nicht gut. Sie fühlt sich nicht in der Lage, heute Abend zu essen.“

Er hatte sie also wieder geschlagen. Hilflose Wut kroch in Adam hoch und er musterte den selbstgefälligen Patriarchen, dessen Hände blutig waren, wie er jetzt erst erkannte. 

„Dann ist das ihr Blut an deinen Händen?“

Der Alte sah auf seine Finger, als sähe er die Gewaltspuren zum ersten Mal. Er lachte und das Lachen rann Adam eiskalt über den Rücken. 

„Nein. Jemand will nicht spuren und lernt es gerade.“

Das machte es nicht besser, auch wenn Adam erleichtert war, dass es nur das Blut eines armen Schweines war, das gerade an seinen Händen klebte. Nicht das seiner Mutter. Nicht seins. Und trotzdem waren auch sie genauso Opfer der Gewalt wie der namenlose Typ, der unglücklicherweise in die Fänge des Arschlochs geraten war. 

Vermutlich einer der Dealer. Vermutlich wieder einer, der dachte, dass die Regeln nicht für ihn galten. Wieder einer, der klebrige Finger bekommen hatte. Wie sehr Adam das alles doch hasste. Wie sehr es doch Leos Angebot mehr und mehr verlockend schien, in den Zeugenschutz zu gehen.

„Nach dem Essen wirst du mitkommen. Wir werden ihm gemeinsam eine Lektion erteilen. Wenn er nicht schon winselnd in der Ecke liegt, die Schwuchtel.“

Ah, die Lieblingsbeleidigung seines Erzeugers. Schwuchtel als Schimpfwort für etwas Schwaches, etwas Widerliches, etwas Bespuckenswertes. Schwuchtel stand für alles, was das Arschloch nicht wahr und so war es für Adam mehr eine Auszeichnung als eine Beleidigung. Jetzt mehr denn je und Adam war sich bewusst, wie sehr er Leo als Leuchtfeuer in seiner Dunkelheit sah.  


~~**~~


Zittrig holte Leo Luft und hustete das Wasser aus seiner Luftröhre. Der Speichel, den er auf die Fliesen spuckte, war blutig, wie er verschwommen erkannte. Vermutlich kam daher auch der Geschmack nach Eisen in seinem Mund. 

Wie früher, versicherte er sich nicht das erste Mal in den letzten Stunden. In der Ewigkeit, in der sie ihn schlugen und ihn zu der Liege zerrten um…

Du kannst das. Du hast es früher auch überlebt, sagte Leo sich, als er alleine anhand des Wortes in Panik verfallen wollte. Ob nun der Kopf in der Toilette durch Detlef oder das Tuch über seinem Gesicht durch die namenlosen Männer hier…das war einerlei. Redete er sich ein. 

Noch klappte die Begründung, aber Leo wusste nicht mehr wie lange noch, bevor sie ihn weichgekocht hatten mit ihrem Zyklus aus Waterboarding, Tritten und Schlägen. Und war das nicht das Ironische? Selbst jetzt gab es ein Muster. Selbst jetzt wusste Leo nach dem x-ten Durchgang, was als Nächstes kommen und wie lange er Zeit haben würde, Luft zu holen, zu atmen, bevor er wieder geschlagen wurde. 

Nicht, dass es den Schmerz, der brennend durch seinen Körper wütete, auch nur in Ansätzen besser machte. Oder die Angst, dass sie seine inneren Organe beschädigten. Dass sie ihn so am Kopf erwischten, dass es zu einem Schädel-Hirn-Trauma kam. Oder dass er doch noch an dem Wasser, das sie ihm über sein Gesicht gossen, ertrank.

Aber vielleicht war das der Plan. Ihn so lange leiden zu lassen, bis er das Bewusstsein verlor und nie wieder aufwachte. 

Jetzt, in diesem Moment, in dem sie ihn an seinen Haaren vom Boden hochzerrten und Leo sich in den Schlag in seinen Bauch krümmte, ahnte er, dass sein Widerstand gegen das Syndikat mit seinem Tod enden würde.  


~~**~~


An Elias' Todestag eben jenen Raum zu betreten, in dem sein Freund gestorben war, war immer wieder eine Herausforderung für Adam. Nicht jedes Jahr beschloss der Alte, ihn auf diese Art und Weise zu foltern, nein, dafür war die Palette an anderweitigen Möglichkeiten zu groß. Doch anscheinend war es wieder einmal so weit und Adam stählte sich für den inneren Schock und die Erinnerungen, die ihn überkommen würden.  

Bereits als sie den Flur betraten, hörte Adam das unterdrückte Stöhnen des armseligen Würstchens, während ihm anscheinend das Leben aus dem Leib geprügelt wurde. Natürlich. Die Männer seines Vaters klopften den Idioten weich, bis er eine neue Runde mit dem Chef des Syndikats erhielt, der sich währenddessen den Wanst vollgeschlagen hatte.  

Zynisch zog Adam die Nase hoch. Bisher hatte er sich zumindest soweit speziell gefühlt, dass es nur sein Blut und das seines Geliebten war, das die Wände der Schlachtbank benetzte. Dass an seiner Statt dort nun jemand anderes verprügelt wurde, war irgendwie…antiklimatisch. Normalisierend. Er fühlte sich gar nicht mehr besonders in seinem Leid. 

Als er den Raum betrat, legte Adam sein zynischstes, gemeinstes Lächeln über die kurz aufflammende Panik und die Erinnerungen an Elias Todeskampf. 

Er hatte einen Ruf zu verlieren, als hoffnungsvoller Syndikatsspross. Als Sadist, der in die Fußstapfen des Alten trat. Er hatte eine Rolle zu spielen, damit der Alte ihn aus seinen Fängen ließ und er endlich nach Hause konnte. Um zu trauern. Um an eine Zukunft zu denken, die bis vor Leos Ankunft in seinem Leben undenkbar gewesen war. 

Adam sah, dass sie bereits die Waterboardingliege ausgepackt und benutzt hatten. Autsch. Das würde mit Sicherheit hängenbleiben. Schläge kannten die Meisten, aber das Gefühl zu ersticken, das war für viele nicht wirklich verkraftbar.  

Einer der Schläger seines Vaters trat zur Seite und gab den Blick frei auf das arme Würsten, das gekrümmt auf dem Boden lag, die Hände hinter seinen Rücken gefesselt. Oh da hatte sich jemand gewehrt. Mutig. 

Adam runzelte die Stirn und noch bevor er darüber sich darüber klar werden konnte, wo er das Shirt des Mannes schon einmal gesehen hatte, drehte der Bullige den vermeintlichen Dealer um und zwang ihn auf die Knie, sodass Adam in das blutige, nasse Gesicht des Mannes sehen konnte und seine Welt mit allem, was er jemals als fest erachtet hatte, aus den Fugen geriet.

Vor ihm kniete Leo auf und Adam wusste nicht mehr, ob er überhaupt noch atmen konnte. 

Leo. Leo war hier. Er war von den Männern seines Vaters gefoltert worden. Es war Leos Blut an den Fingern der Dreckssau. Leo, der schon seit Stunden…

Leo war Elias, nur sechzehn Jahre später. Sein Vater wusste von ihnen und er würde…wie damals…wie Elias…er würde…

Nein, hör auf, du darfst nicht in Panik geraten, herrschte er sich mit einer Stimme an, die verdächtig nach Vincent klang. Du weißt nicht, warum Leo hier ist. Du weißt nicht, ob der Alte davon weiß und zu unvorsichtig warst. Du weißt noch gar nichts, außer, dass du Leo hier lebend rausbekommen musst.

Wozu Adam sich gerade nicht in der Lage fühlte, so hilflos, wie er sich fühlte. Wie an dem Tag, an dem Elias vor seinen Augen erwürgt worden war, während die Männer seines Vaters ihn festgehalten und nicht losgelassen hatten. 

Adam räusperte sich, musste es, um seine Stimme halbwegs fest klingen zu lassen. Rotzig und scheinbar unbeteiligt nickte er in Leos Richtung, auch wenn sein Puls raste und seine Hände so sehr zitterten, dass er sie in die Taschen seines Anzugs stecken musste. 

„Was soll das denn?“, fragte er rotzig. „Ich denke, der Bulle ist meine Verantwortung. Was macht der hier?“

„Das mein Sohn, ist eine Lehrstunde, wie man jemanden auf Spur bringt.“

Jemanden. Ihn. Sein Vater wusste davon. Er wusste, dass Leo regelmäßig zu ihm kam und dass er mehr war als eine Verknüpfung. Er wusste es. Adam versuchte, ruhig zu atmen, als er die Dreckssau ansah, sich der Männer im Raum mehr als bewusst. Drei und der Alte gegen ihn und einen gefesselten, gefolterten Leo. Keine gute Quote. 

„Wen? Ihn? Warum das denn?“, versuchte er den Schein aufrechtzuerhalten und analysierte jeden Muskel im Gesicht der Dreckssau, seine gesamte Körpersprache und die der anderen Männer. Er fragte sich, ob er Leo aus dem Raum rausziehen und drauf hoffen konnte, dass dieser floh, während er die anderen aufhielt. Ob es überhaupt eine Chance gab, das zu tun. 

„Weil der Bulle nicht begreift, dass er sein verdammtes Maul zu halten und Männchen zu machen hat, wenn wir es ihm sagen“, fletschte der Alte die Zähne und Erleichterung durchflutete Adam so stark, dass er beinahe aufgestöhnt hätte. 

Es ging nicht um ihn. Es ging nicht darum, dass er mit Leo schlief. Es ging um die Aussage. 

Es gab noch Hoffnung, so gering sie auch sein mochte. 

Adams Gedanken rasten, als er versuchte, Möglichkeiten durchzuspielen. Seine oberste Prämisse war, Leo hier lebend herauszuholen und das zu jedem Preis. Er durfte seine Tarnung nicht auffliegen lassen und schon gar nicht durfte sein Vater Verdacht schöpfen. Er musste alles tun um Leo am Leben zu halten und lebend hier rauszubringen. 

„Sieht so aus, als hätte er es“, zuckte Adam mit den Schultern. „Zumindest macht er den Eindruck, als könne er die nächsten Wochen nicht mehr das Maul aufbekommen.“

Mit Mühe starrte er Leo ins blutige Gesicht, sah dort Verzweiflung und Hoffnung zu gleichen Teilen. Leo flehte stumm, dass er ihm half und das zersplitterte Adam unsauber das Herz. Er hatte hierfür keinen Plan, nichts, was ihn hätte drauf vorbereiten können. Zur Not würde er Leo Gewalt antun müssen, damit sein Vater nicht auch noch diesen Menschen in seinem Leben umbrachte.  

Leo konnte sich nicht auf ihn verlassen, dass er ihm nicht wehtat und das war die schrecklichste und bitterste Erkenntnis, die Adam haben konnte. 

Die Dreckssau erwiderte nichts, sondern ging zu Leo und Adam machte einen Schritt nach vorne, bevor er sich eines Besseren besann. 

Als sein Vater Leo schmerzhaft an den Haaren packte, ballte Adam seine Hände zu Fäusten und zwang sich, weiterhin hinzusehen. Leo sah fürchterlich aus, Blut glänzte auf seinem Gesicht und war teilweise schon getrocknet. Sein Oberkörper war nass vom Waterboarding und Adam schluckte schwer. Nein…verfluchte Scheiße…nein. Nicht Leo. Nicht so. Das durfte nicht sein. 

„Sagen Sie mir, Herr Hölzer, haben Sie begriffen, wer hier das Sagen hat?“, grinste die Dreckssau und Adam wollte nichts mehr, als ihn schlagen, seinen Kopf so lange gegen die Wand zu Donnern, bis dieses Arschloch endlich ein sabbernder Idiot war. 

Kooperiere!, herrschte er Leo in seinen Gedanken an. Gib ihm das, was er hören will, damit er dich in Ruhe lässt! Er darf dich nicht umbringen! Adam hoffte mit allem, was er hatte, dass Leo genug Angst hatte um keinen Widerstand zu leisten, sondern um nachzugeben. 

Doch Leo schwieg. Er starrte Roland Schürk in die Augen, senkte nicht seinen Blick, zeigte keine Unterordnung, sondern schwieg einfach und das Schweigen erdrückte den Raum, als wäre es tonnenschwer. 

„Mach’s Maul auf, Bulle, und sag ihm, dass du es begriffen hast“, hörte Adam sich knurren und er ekelte sich in dem Moment vor sich selbst. Es fehlte nicht viel und der ganze, widerliche Braten würde hochkommen. 

Doch Leo sagte nichts, bewegte sich nicht, sondern starrte nur. Adam wollte ihn schütteln, er wollte ihn zur Vernunft bringen, er wollte ihn an sich ziehen und vor der Dreckssau beschützen. Er wollte das, was Elias widerfahren war, wieder gut machen und seinem Vater nicht noch jemanden ausliefern, der diese Gewalt nicht verdient hatte. 

„Verstehe.“

Lauernd legte sein Vater den Kopf schief und grinste. Er ließ Leo los, doch das war mitnichten eine Erleichterung, als er sich zu dem Sarg umdrehte. Das, was Adam sowieso schon Atemnot bereitete, sorgte nun dafür, dass er einen Schritt zurücktaumelte. Ungesehen von dem Alten, aber dennoch verräterisch. 

Wie betäubt sah Adam zu, wie sein Vater den Deckel zurückklappte und das Loch, kaum groß genug für einen erwachsenen Mann freilegte. 

Aus dem Augenwinkel heraus sah Adam, dass Leos Kopf zu ihm ruckte, von ihm zurück zu dem Loch und zu seinem Vater.

„Nein…“, presste er hervor und die eine Silbe schien schon zu viel für ihn zu sein. „Nein“, wiederholte er beinahe unhörbar und Adam fiel auf, dass er Leo nie hatte betteln hören. Selbst nicht zu ihrer Anfangszeit hatte Leo nie…

„Bring ihn her“, befahl der Alte eiskalt und Adam erkannte, dass er gemeint war. „Er ist dein scheiß Bulle, deine Verantwortung, jetzt lernt er, was auf Ungehorsam wirklich steht. Los, rüber mit ihm.“

Adam nickte automatisiert. Sein Vater wünschte keine Verzögerungen bei seinen Befehlen und Adam galt immer noch als der hoffnungsvoll-herzlose Syndikatssprössling, der den Bullenhass seines Vaters geerbt hatte. Diese Rolle musste er spielen, um Leos Leben zu retten. Auch wenn Leo ihn dafür hassen würde. Und wäre das nicht poetische Gerechtigkeit? Dass trotz der Vertrautheit, die sie entwickelt hatten, dieser Tag das Ende eben jener sein würde. 

Leo würde nicht sterben, aber dafür alles, was zwischen ihnen gewachsen war.

Alles Gute starb an Tagen wie diesen. 

Und Adam würde es in Kauf nehmen, um ein Leben zu retten. Das war das Mindeste, was er tun konnte. 

Er sah zu Leo und trat auf ihn zu. Leos grüne Augen hefteten sich voller Hoffnung und Verzweiflung auf ihn und Adam konnte einen Moment seinen Hass auf seinen Vater nicht Herr werden. Leos Gesicht war blutig, seine Lippe aufgeplatzt. Er atmete unregelmäßig und in seinen Augen standen Angst, Panik, aber auch Wut und Verzweiflung. Sie sahen sich an und der stumme Hilferuf seines hauseigenen Ermittlers bohrte sich so tief in Adams Herz, dass er glaubte, daran zu ersticken. 

Leo flehte ihn stumm an, dass er ihm half. Dass er ihn vor der Kiste und vor stundenlanger Enge und Dunkelheit bewahrte. Vor dem Gefühl, lebendig begraben zu sein. 

„Hoch“, presste Adam hervor und seine Stimme war nur deswegen voller Verachtung, weil er seinen Vater und all das, was dieser tat, hasste. Er fasste Leo an seinem Oberarm und zog ihn mit sich. Leicht war es nicht, denn Leo wehrte sich, stemmte seine Füße in den Boden, auch wenn es ihm deutliche Schmerzen bereitete. 

„Nein…nein…bitte nicht…nein…“, wisperte er panisch und alles in Adam brach bei der Angst, die er in Leo hervorrief. Er zog und zerrte ihn trotzdem weiter, in Richtung Abgrund, in den Schlund, auf den sie beide zusteuerten.

Leo stemmte sich dagegen, mit mehr Kraft, als Adam sie ihm nach der Folter noch zugeschrieben hätte. Er flehte, leise und rau und seine Worte verätzten Adams Gehörgänge. 

Zurecht. Denn Adam hatte hierfür alles Schlimme verdient. 

Du wirst mich hassen, aber am Leben sein, um das zu tun, sagte Adam sich immer und immer wieder und packte Leo, um ihn in das Loch zu zwingen, als ihm eine Idee kam. Bitter und schlimm, mitnichten das, was er wollte. 

Adam hielt inne, Leo im festen Griff seiner Hände. 

„Ich habe eine andere Idee Vater“, verbalisierte er seinen Einfall. Er sah zu Leo und verzog die Lippen zu einem verächtlichen Grinsen, ein Unding angesichts Leos Angst. „Los, runter mit dir, auf den Platz, auf den du gehörst“, herrschte er Leo an und zwang ihn mit aller Macht auf die Knie. Dumpf stöhnte Leo auf, seine Atmung abgehackt, der Körper zitternd wie Espenlaub.

Leo würde ihn dafür hassen und das war gut so. Adam war kein guter Mensch, er riss andere Menschen mit sich in den Abgrund durch seinen Egoismus, auch glücklich sein zu wollen. Gerettet werden zu wollen. 

Warnend presste er seine Finger in Leos zitternden Nacken und strich einmal mit seinem Daumen die Haut auf und ab. Er hoffte, dass Leo seine vertraute Geste erkannte, und wusste, was es bedeutete. Er hoffte, dass Leo das Bekannte in all der Dunkelheit erkannte und spürte, dass er auf Leos Seite war und nicht auf der Seite der Dreckssau. 

„Es gibt etwas, das unserem ungehorsamen Neuzugang noch mehr Angst macht, als das da.“ Knapp nickte Adam in Richtung des Sarges, der ihm soviel Unbehagen bereitete. „Unser guter Polizist hat Angst vor einem wunden Arsch. Den habe ich ihm bisher erspart, aber ich denke, die Zeit ist reif, ihn genau das spüren zu lassen. Lassen wir ihn doch wählen…das Loch hier oder seinen Arsch. Hm?“

Unter seiner Hand zuckte Leo so gewaltig zusammen, dass Adam fester zufassen musste. Es öffnete noch ein Tor mehr für Adams Plan, Leo hier heraus zu holen.

Stumm maßen sein Vater und er sich und Adam sah das auf dem hageren Gesicht hochkriechen, auf dass er gehofft hatte. Ekel. Angewiderheit. Aber auch die Gier nach dem Leid von Polizisten, die er so sehr hasste.  

Sein Vater überlegte und wenn Adam eins gelernt hatte in den Jahrzehnten, in denen er sich in der Gewalt des Patriarchs befunden hatte, dann war das Hinzuschauen, auf kleine Details zu achten, jede Gefahr zu erkennen. Jetzt erkannte er, dass die körperliche Grausamkeit, die er vorgeschlagen hatte, Gehör fand in den Ohren der Dreckssau. 

Er hasste Adam, weil er schwul war. Er hasste seinen Sohn, weil die Vorstellung, dass er anderen Männern seinen Schwanz in den Arsch schob, so ekelhaft und widernatürlich für ihn war, dass er ihn am Liebsten umbringen würde. 

So war eine Vergewaltigung für einen nicht spurenden Polizisten vermutlich genau das Richtige.  

„Dann fick ihn auf deine ekelhafte Art. Reiß ihm den Arsch auf und wenn er dann nochmal das Maul aufmachen sollte, werde ich ihn in Stücke reißen.“ 

Das war keine Drohung, das war ein Versprechen und Adam nickte lächelnd. Es war nicht schwer, denn alles, was er in diesem Moment fühlte, war bodenlose Erleichterung. Aus der Idee war eine Chance, und daraus eine handfeste Möglichkeit geworden. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt. 

Grob stieß Adam Leo an. Sie waren noch nicht fertig hier. Er musste noch den letzten Akt dieses Theaters hinter sich bringen, bevor er Leo in Sicherheit bringen konnte. Er packte Leo an den blutigen Haaren und zog den braunhaarigen Schopf in seine Richtung. 

„Kommen wir zu dir, Bulle. Was sagst du dazu, hm? Das Loch oder deinen Arsch?“

Leo erschauerte und presste eisern die Lippen aufeinander. Mitnichten konnte Adam es ihm verdenken… das Vertrauen zwischen Leo und ihm war brüchig und in so einer Situation mit keinen oder wenigen Anzeichen dafür, dass Adam auf seiner Seite stand, konnte es schnell so sein, dass das wenige, was da war, vollkommen verschwand. 

Vermutlich dachte er, dass Adam es tatsächlich tun würde. Für den Moment war das gut. 

Adam ruckte an den Haaren und starrte auf Leo hinunter. „Mach’s Maul auf, Bulle. Wähle. Deinen Arsch oder das Loch?“, grollte er schärfer und Leo holte zittrig Luft.

„Das Loch“, presste er hervor, leise und voller unterdrückter Emotionen und konnte Adam es ihm verdenken? Hatte Leo nicht von Anfang an Angst davor gehabt, von ihm sexuell missbraucht zu werden? 

Adam lachte so böse, wie er nur konnte. „Alles klar, Hübscher. Damit gehört dein Arsch mir. Loch ist Loch, nicht wahr?“ Er grinste lüstern in Richtung seines Vaters und noch nie war der Ekel auf dem hyänenartigen Gesicht so schön zu sehen wie in diesem Moment. „Gute Wahl, mein Bester, ich hoffe, dein Arsch ist so eng wie deine Moralvorstellungen. Wenn du erlaubst, Vater, werde ich ihn mir in seiner eigenen Wohnung vorknöpfen. Das wird er lieben, nicht wahr?“

Leo glaubte ihm jedes Wort, das erkannte Adam an der allumfassenden Panik, die er in den grünen Augen sah, noch bevor Leo sich seinen Griff wehrte. 

„Ich will das nicht, nein! Nein…bitte…“, presste er hervor und jede Silbe davon war ernst gemeint, kein Schauspiel. Leo glaubte es ihm und das war so fürchterlich wie es lebensrettend war. 

„Oh doch. Und während ich dich ficke, kannst du darüber nachdenken, wie groß deine eigene Schuld daran ist, Bulle. Und jetzt halt den Mund.“

Adam zerrte Leo hoch, hielt ihn am Nacken und an einem seiner Oberarme, das Flehen seines hauseigenen Polizisten wie Säure in seinen Ohren. Es stellte seinen Vater zufrieden, das erkannte er und das war gut so. 

Zumindest redete sich Adam das ein. 

Gut war hier gar nichts und ob es jemals wieder gut werden würde, bezweifelte er doch stark.

Adam zog Leo mit sich in Richtung Ausgang. Er sah die schwarze Kapuze, mit der sie Leo anscheinend hierhergebracht hatten, und streckte fordernd die Hand aus. Der Bullige reichte sie ihm und Adam stülpte sie Leo unwirsch über den Kopf. 

„Ich halte dich über den Fortschritt auf dem Laufenden, Vater. Ich bin mir sicher, das Vögelchen hier wird nie wieder singen.“     

Der Ekel auf dem Gesicht des Alten war noch nie so erleichternd zu sehen gewesen wie jetzt in diesem Moment. „Hau ab und nimm den Dreck mit.“

Mit Vergnügen.

Adam zog Leo aus dem Keller und warf die Tür hinter sich zu. Führte ihn Schritt um Schritt in die Unversehrtheit. Er fasste ihn enger, damit er nicht stolperte und hielt vor den Treppenstufen nach oben an, bevor er ihn Stufe um Stufe ins Tageslicht führte. Erleichterung ließ ihn zittrig atmen, doch noch waren sie nicht außer Gefahr. Erst musste er Leo in sein Auto schaffen und wegfahren, Vincent und Zarah anrufen, um Leo in eine verschwiegene Klinik bringen zu können. Um den Fallout danach würde er sich dann kümmern. Wenn er in Ruhe Zeit hatte, nachzudenken und sich mit Vincent zu besprechen. 

Erst, als er ihn über den Kies führte und sich der Kofferraum seines Autos öffnete, gestattete sich Adam ein erleichtertes Aufatmen.

„Bitte nicht…tu mir das nicht an. Bitte nicht“, wisperte Leo, der vermutlich mit wachen Ohren gehört hatte, was er tat und der nun noch einen letzten, verzweifelten Versuch unternahm, sich vor einem körperlichen Übergriff zu schützen.  

Eingedenk der Augen, die dieses Haus hatte, zwang Adam Leo grob, sich zu setzen und beugte er sich zu ihm. Scheinbar brutal hielt er für einen Moment seinen Kopf. 

„Leo, ich hol dich hier raus. Halte durch. Ich hol dich hier raus und du bist gleich in Sicherheit. Ich fahr ein paar Kilometer, dann löse ich deine Fesseln und die Kapuze, versprochen. Dir wird nichts geschehen“, murmelte er und wartete nicht auf eine Antwort, sondern schob den Mann bestimmt in den Kofferraum. Er musste das dumpfe, flehende „Nein, bitte“ aus seinen Gedanken und seinem Gehör blocken, denn sonst würde er sie beide verraten. Er musste hart sein und entsprechend energisch schlug er die Kofferraumklappe seines Wagens zu und fuhr vom Grundstück. 

Weg. Nur weg hier. Weg in Richtung Sicherheit. Weg in Richtung Wald und Landstraße, nach Frankreich, dort, wo er Leo hoffentlich sicher wähnen konnte. 

Panisch wählte Adam Zarahs Nummer. Zweimal klingelte es, dann nahm sie mit ihrem typischen Brummen ab.

„Ich brauch dich, du musst meinen Standort orten und gleich mit einem anderen Fahrzeug kommen. Ich fahr nach Frankreich zu unserer Notfallklinik, du fährst meins zu Hölzers Wohnung. Deine Leute sollen die Arschlöcher meines Vaters im Auge behalten und schauen, was sie machen und wohin sie sich bewegen. Außerdem musst du Licht in Hölzers Wohnung machen und jemanden ins Schlafzimmer schicken. Schick zwei Leute, die sollen so tun, als ob sie ficken. Meinetwegen für Stunden. Meinetwegen sollen sie auch ficken, es muss nur so aussehen, als wäre es brutal. Zahl gut dafür, sie sollen sich in der Umgebung unauffällig verhalten. Schalte vorher die Kameras in Hölzers Wohnung aus.“ 

Wie immer nahm Zarah das schweigend zur Kenntnis und Adam wusste, dass sie alles genauso ausführen würde, wie er es gerade angewiesen hatte. „Alles klar, Chef. Sonst noch was?“

„Bring was zu trinken und eine Decke mit.“

„Wird gemacht, bis gleich.“

Adam legte zitternd auf und rief Vincent an. 

„Vince, ich brauch dich. Die Dreckssau hat Leo gefoltert und ich…“ Schon während er das sagte, spürte Adam, wie ihm mehr und mehr die Luft zum Atmen wegblieb. „Ich brauch Hilfe, ihm geht es nicht gut und ich weiß nicht…er muss…Vince, bitte komm.“

Adam krampfte seine Hände ums Lenkrad. Nur noch ein bisschen weiter, weg vom Bunker, weg in die Sicherheit. Nur weg von seinem Vater, der Leo… Adam schluchzte trocken. Er musste Leo sicher nach Frankreich bringen. Leo musste am Leben bleiben.  

„Wo bist du?“, fragte sein bester Freund und Rettungsanker ruhig und Adam holte tief Luft. Versuchte es zumindest, scheiterte. Atmete einfach weiter, damit er zumindest ein bisschen Luft bekam. Er zitterte so stark, dass er kaum noch das Lenkrad halten konnte und fuhr nur dank seines Fahrassistenten nicht in den Straßenrand. 

„Ich schicke dir meinen Standort. Bitte Vincent, komm. Ich kann das nicht alleine. Ich habe Angst!“ Adam war sich bewusst, dass er flehte und dass er in einem kindlichen Glauben annahm, dass alles gut wurde, sobald Vincent hier war. Dieser hatte doch alles gerichtet, auch, als Leo mit einer Waffe erst auf sie, dann auf sich selbst losgegangen war. Vincent hatte es geschafft, dass alles gut wurde. Dann musste das doch auch jetzt klappen, oder?

„Ich beeile mich, Adam. Ich bin gleich da. Halte durch. Okay? Kannst du das für mich tun? Durchhalten?“

Adam nickte und quetschte dann einen schwachen, gepressten Laut hervor, der vielleicht eventuell als Zustimmung gelten konnte. 

„Fahr an den Rand, Adam. Such dir einen Platz, an dem man das Auto nicht sofort sieht. Kümmere dich um Leo, ich komme.“

Verbindliche Weisungen, das waren Vincents Worte und das brauchte Adam jetzt gerade mehr als alles andere. Sie beruhigten ihn, gaben ihm eine Leitlinie vor, einen Weg zum Handeln. 

Er suchte sich eine gute Stelle zum Stehenbleiben und fuhr den Wagen einen uneinsehbaren Forstwirtschaftsweg. Er versuchte durchzuatmen, schaffte das aber immer noch nicht. 

Sie hatten Leo mit Kabelbindern gefesselt, also brauchte er ein Messer. Das hatte er hinten drin. Wasser und eine Decke würden gleich kommen und jetzt musste er erst einmal… er musste… 
Adam strauchelte nach hinten und machte seinen Kofferraum auf, der viel zu langsam aufging. Leo lag dort, wie er ihn platziert hatte, mit angezogenen Beinen und möglichst weit hinten. Immer noch in Angst vor ihm.  

„Leo, ich nehme dir die Kapuze ab“, sagte Adam zittrig und griff danach, auch wenn das körperdurchdringende Zucken seines hauseigenen Polizisten ihn beinahe zurückfahren ließ. Er war schuld. Er hatte Leo in diese Situation gebracht und ihm dann noch damit gedroht, ihm Gewalt anzutun. Glaubwürdig genug, dass Leo alles vergaß, was zwischen ihnen war. Alles, was Adam ihm versprochen hatte. 

Der Augenblick, als Leos Augen panisch seine suchten, war einer der schlimmsten seines Lebens.

Zu Beginn ihres Kennenlernens hatte Leo auch Angst vor ihm gehabt. Er hatte sich zu dem Zeitpunkt mehr als unwohl und bedroht in seiner Gegenwart gefühlt. Aber nichts, absolut gar nichts, bereitete Adam auf den Moment vor, in dem Leo ihn nun so ansah, als würde er sein Versprechen wahrmachen wollen und als wäre er derjenige gewesen, der Leo gefoltert hätte. 

„Ich bin da…alles ist gut“, sagte Adam und fühlte sich durch und durch hilflos, maßlos überfordert. „Komm, ich schneide dir die Fesseln durch, okay? Dann kannst du die Arme bewegen und gleich kommt eine Decke und was zu trinken und…komm, ich mach…“

Adam war sich bewusst, dass er brabbelte. Er war sich bewusst, dass er unbeholfen versuchte zu helfen und zu retten, was vielleicht schon längst zerstört war. Er schluckte schwer und zog das Messer aus der Seitentasche. Es verschreckte Leo, doch erst das Herausspringen der Klinge ließ ihn zurückweichen, als würde er weder Adam erkennen, noch seine Worte gehört haben. 

„Leo, ich tu dir nichts“, war nun er es, der flehte. „Die Kabelbinder. Sie schnüren dir das Blut ab. Ich muss sie lösen.“

Sekunden lang geschah nichts, rührte Leo sich nicht, sondern starrte ihn nur stumm an, und in Adam wurde die Befürchtung laut, dass er Leo ein weiteres Mal zwingen müsste. Doch dann drehte dieser sich gerade so weit unter deutlich sichtbaren Schmerzen auf den Bauch, dass Adam die Kunststofffesseln lösen konnte, die sich schon tief in die Haut geschnitten hatten. Selbst als sie aufsprangen, lösten sie sich nicht von Leos Handgelenken und vorsichtig entfernte Adam sie. Er trat zurück, überließ es Leo, seine Arme zu bewegen oder sich selbst zu bewegen, auch wenn er am Liebsten großflächig gefühlt hätte, was alles nicht in Ordnung war. 

Adam schwieg, auch wenn er Leo am Liebsten versichert hätte, dass er nichts von dem, was er gesagt und getan hatte, so meinte und dass alles nur dazu gedient hatte, Leos Leben zu retten. In dem kindlichen Glauben, dass Worte wieder gut machen konnten, was Taten zerstört hatten. 


~~**~~


War es vorbei? 

War es doch, oder? Leo war sich nicht sicher. Nicht mehr. Er hatte Mühe zu begreifen, was geschah und was für ihn gut war und was nicht. 

Nichts, hätte er gesagt, bevor Adam ihn in den Kofferraum seines Wagens gezwungen hatte. Ein ewiger Kreislauf aus Schmerz, Todesangst und Hilflosigkeit. Dann war da wieder Dunkelheit gewesen und Leo hatte nicht atmen können vor Angst, dass das wahr wurde, was Adam ihm angedroht hatte. Doch die Dunkelheit verschwand und auch seine schmerzhaften Fesseln. Er lag im Schatten des Kofferraums und sah den Himmel, nicht die weiße Decke des Kellers. 

Das war doch gut, oder? Leo wusste es nicht mehr und er hatte keine Kraft zu fragen…und schon gar nicht zu hoffen. Er hatte ja noch nicht einmal die Kraft zu begreifen, was passiert war. 

Adam sagte etwas, doch Leos Gedanken weigerten sich einfach zu verstehen, welche Worte den Mund des Syndikatssprösslings verließen. Es wäre vermutlich wichtig, aber Leo…wollte nicht. Konnte nicht. Seine Gedanken waren zum Erliegen gekommen und waren nur auf eines gerichtet: Dort, wo er sich gerade befand, tat ihm niemand weh. Niemand schlug oder trat ihn, niemand schüttete ihm Wasser auf ein Tuch über seinem Gesicht. Und niemand zwang sich ihm auf. Er hatte nur Schmerzen, aber das war er gewohnt, das kannte er von früher. Er konnte seine Arme zwar nicht richtig bewegen, aber dafür war etwas in seinem Rücken, das ihm Schutz gab. 

Im Gegensatz zu vorher war das eine Verbesserung und so wollte Leo nichts Anderes gerade. 

 


~~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

Notes:

Faule Tomaten! Faule Eier! Sonderpreis! Tomaten! Das Kilo nur einen Euro!

P.S.: Und ihr kennt den Drill: Kritik, Kommentare, Kudos, alles ist immer sehr erwünscht!

Chapter 49: Ein scheues Tier namens Vertrauen

Notes:

Ein frohes Osterfest euch allen, die ihr es feiert! 🐣

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. Es geht aufwärts mit den Dreien und doch auch in unvorhergesehene Richtungen. ❤️ Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen!

An dieser Stelle auch noch einmal herzlichen Dank an alle, die lesen, hier kudotieren, die mir Sprachnachrichten schicken, auf Tumblr liken und teilen etc etc. Ich freue mich über jede einzelne Reaktion und über jeden einzelnen Kommentar! Habt dabei keine Scheu, auch wenn Deutsch nicht eure erste Sprache ist. Es ist krass mutig, dann einen Kommentar zu hinterlassen und der ist in jedem Fall very much appreciated 😉🌻❤️ .

Ach ja, und die 300k habe ich mit dem letzten Teil auch noch geknackt. Danke, dass ihr nach dieser Endloszeit immer noch an Bord seid! 🎉

Tatkräftige Hilfe bei den medizinischen Fakten hatte ich von Feli. Vielen lieben Dank!

Chapter Text

 

„Oh Leo…“

Langsam ging Vincent vor dem Kofferraum in die Hocke und musterte Leo sorgenvoll. 

Der Ermittler war wach und bei Bewusstsein, aber auf seinem Gesicht standen ungezügelte Angst und Sorge, was in Vincent den Verdacht aufkommen ließ, dass Leo ihn nicht wirklich erkannte. Oder dass er nahtlos wieder zurück an den Anfang ihres Kennenlernens zurückkatapultiert worden war durch Roland Schürks Folter. 

Vincent war sich nicht sicher, ob Leo ihnen noch weiterhin vertrauen würde. Jetzt, morgen, aber auch in einer Woche oder einem Monat. Oder ob nun alles implodieren würde. 

Auch das war etwas, das in Vincents Gedanken seinen Platz gefunden hatte. Es konnte sein, dass ihr Notfallplan greifen musste. Es konnte sein, dass alles, was Adam bisher erkämpft hatte, am heutigen Tag zerbrochen worden war. 

Langsam streckte er seine Hand zu dem liegenden Mann aus, berührte ihn aber nicht. Leos Augen fixierten sich auf sie und nahmen sie definitiv als Bedrohung wahr. Es war auch das, was Adam ihm erzählt hatte, der sich vom Kofferraum fernhielt, als würde ein Dämon darin hausen. Der aber Vincent in hastigen leisen Worten und einer schraubstockartigen Umarmung alles gesagt hat, was er hatte wissen müssen. 

„Leo, ich bin es, Vincent. Ich bin hier um dir zu helfen und nicht, um dir wehzutun. Ich möchte dich in ein Krankenhaus bringen, wo dir geholfen wird“, begann Vincent leise. Er schulte seine Stimme auf die größte Sanftheit, die er bieten konnte und die Leo nicht daran erinnerte, welchen Gehorsam er am Anfang von ihm erzwungen hatte. „Es ist vorbei, du bist außer Gefahr und in Sicherheit. Ich möchte dich zu einer Ärztin bringen, die sich deine Verletzungen ansieht.“

Er wurde gehört, das erkannte Vincent. Auch seine Hand, die nun vorsichtig Kontakt zu Leos zitternden Fingern suchte, wurde akzeptiert. Vincent lächelte. 

„Ich ahne, dass es schlimm war, Leo, und es tut mir sehr leid, dass du das durchmachen musstest. Aber jetzt ist es vorbei und ab jetzt wird es besser, in Ordnung?“

Leo zögerte, dann nickte er unmerklich. 

„Dir geht es nicht gut und du hast Schmerzen. Und du hast auch Angst. Wenn du mir…nein, wenn du uns vertraust, können wir dir helfen, dass es dir besser geht, Leo. Komm bitte aus dem Kofferraum. Niemand, weder Adam noch Zarah noch ich, wird dir etwas tun.“

Leo blinzelte und bewegte sich – was ein Fortschritt zu vorher war, den Vincent nicht kleinreden konnte. Er nickte und lächelte. 

„Komm, Leo. Du bist in Sicherheit.“ Wenn er musste, dann würde er das noch hundertmal sagen, damit der andere Mann es ihm glaubte, soviel stand fest. 

Stumm bewegte der Polizist seine Lippen und schloss sie nach einem ersten, fruchtlosen Versuch wieder. Erst im zweiten Anlauf war er ein bisschen erfolgreicher damit. 

Vincent lächelte und schob seine Hand über Leos. „Gut so, mach weiter. Was willst du mir sagen?“ Es war, als wäre der Körperkontakt mehr Stütze als Schrecken für den im Kofferraum liegenden Mann. Er räusperte sich. 

„Hilf mir“, presste er schließlich so leise hervor, dass es Vincent beinahe überhört hätte, wären da nicht die beiden Worte gewesen, die sich in sein Innerstes brannten und ihm den Magen umdrehten. Selbst als sie Leo erheblich in der Mangel gehabt hatten, war er nicht so verzweifelt gewesen wie jetzt.  

Vincent seufzte leise. „Natürlich, Leo. Das werde ich. Du bist in Sicherheit.“

Er strich langsam und vorsichtig über Leos Unterarm, von dort über den Oberarm. Die Haut unter der Kleidung fühlte sich heiß an und erinnerte Vincent nahtlos an Adams Verletzungen, die ihm wieder und wieder und wieder von Roland Schürk zugefügt worden waren. Dass dieser keine Gnade kannte, weder mit seinem Sohn noch seinen Feinden, war bekannt. Wäre er nicht so mächtig, hätte Vincent ihn auch schon längst vor die Staatsanwaltschaft gezerrt für das, was er Adam angetan hatte. Doch so… seine Aufgabe, Adam zu stärken und im Gleichgewicht zu halten, schien sich dem Ende zuzuneigen. Das, was ein fragiles Gleichgewicht gewesen war, war nun mit dem Angriff auf Leo an den Rand des Zusammenbruchs geraten. Vorhersagen, was nun passieren würde, konnte Vincent nicht. 

Er straffte seine Schultern. Darüber würde er sich Gedanken machen, wenn er Leo sicher in der Klinik wusste. 

„Wenn du kannst, dreh dich und richte dich auf. Dann reiche ich dir meine Hände und ziehe dich dann vorsichtig aus dem Kofferraum. Ich helfe dir beim Aufstehen, in Ordnung? Ich werde dich dann zur Rücksitzbank des anderen Autos führen und von dort aus fahre ich mit dir zum Krankenhaus. Nicht mehr lange, Leo.“ 

Leo sagte nichts dazu. Anstelle dessen bewegte er sich unter offensichtlichen Schmerzen, schob sich langsam nach vorne und richtete sich auf. Sacht unterstützte Vincent ihn dabei und ebenso sacht hielt er Leo davon ab, sich den Kopf zu stoßen. Besorgt machte er dabei eine Bestandsaufnahme der blutverkrusteten Haare und des teilweise geschwollenen, blutigen Gesichts. Leos Pupillen sahen normal aus, soweit Vincents nichtmedizinische Diagnose, doch alles andere musste die bereits kontaktierte Ärztin vor Ort klären. 

Leo konnte seine Arme nicht richtig bewegen und Vincent vermutete, dass die Schultermuskeln durch erzwungene, gefesselte Haltung und Gewalt ihren Dienst verweigerten. Es machte das Heraushieven aus dem Kofferraum zu einer schmerzhaften Angelegenheit, die Leo mit zusammengebissenen Zähnen ertrug, auch wenn er schwankte, kaum, dass Vincent ihn auf die Beine gestellt hatte. Schwer lehnte er sich an ihn und Vincent umfasste ihn sanft, aber bestimmt. 

Adam war fast augenblicklich an seiner Seite, hielt Leo vorsichtig. Vincent befürchtete, dass Leo Adam wegstoßen würde, doch dieser hob nur minimal den unleserlichen Blick. Gemeinsam führten sie den zitternden Polizisten zu ihrem anderen Wagen, legten ihn vorsichtig auf die Rücksitzbank. Zarah trat zu ihnen und reichte ihm die Deck. Vincent nickte dankbar und bedeckte Leos Körper langsam mit dem weißen Fleece. Hoffnungsvoll und intensiv starrten ihn die grünen Augen an, als würde Leo damit rechnen, dass Vincent jetzt jederzeit sein Versprechen brach.

Doch das würde er mitnichten tun. Vincent lächelte. „Das hast du sehr gut gemacht, Leo. Nur noch ein bisschen durchhalten, okay?“ 

Leo schloss schweigend die Augen und Vincent nickte Adam und Zarah zu. „Wir fahren. Zarah, bring du bitte Adams Wagen zurück.“

Dreißig Minuten dauerte die Fahrt zu der kleinen, aber gut ausgestatteten Privatklinik, die Adam vor Jahren ausgemacht hatte. Dreißig lange Minuten, in denen er immer wieder nach hinten starrte, sich versicherte, dass Leo noch atmete und dass er bei Bewusstsein war. Dreißig Minuten, bis sie endlich vor der Einfahrt des Klinikums hielten und Adam aus dem Auto sprang, noch bevor Vincent den Wagen ausgemacht hatte. 


~~**~~


Leo wusste nicht, wo er war. 

Aber Vincent war da und Leo vertraute ihm. Vincent hatte es auch gerichtet, nachdem er versucht hatte, sie alle Drei zu töten und dann würde er Leo mit Sicherheit durch das Chaos seiner Gefühle und seiner Gedanken führen. Vincent war keine Bedrohung, aber sehr wohl die anderen Menschen, die Leo nicht kannte. Mittlerweile war es dunkel und beim Aussteigen aus dem Auto erkannte Leo den hell scheinenden Mond am Himmel. Es war beruhigend, ganz im Gegensatz zu dem Eingang, den Leo nun wahrnahm, der seinen Augen mit seinem grellen LED-Licht wehtat. Es war fast wie… 

Leo scheute vor dem Vergleich, der so offensichtlich vor ihm lag. 

Er wusste nicht, wo er war. Vincent hatte doch gesagt, dass sie ihn ins Krankenhaus brachten, warum also war er nicht auf dem Winterberg? Das Klinikum sah anders aus, das wusste er aus unzähligen Besuchen.

Vincent führte ihn in diese Helligkeit und Leo spürte Angst und Widerwillen in sich hochkriechen. Er war weder gefesselt noch bewegungslos, aber wirklich wehren konnte er sich nicht, dazu stand sein Körper in zu schmerzhaften Flammen. Vincent zog ihn nicht mit sich, sondern unterstützte und führte ihn sanft zu einem Tresen. Adam war bei ihnen und sprach mit den Frauen dort. Es dauerte, bis Leo den Gedanken fassen konnte, dass es Französisch war. Er versuchte sich auf die Sprache zu konzentrieren, doch so recht wollte ihm das nicht gelingen. 

Vincent führte ihn in einen Raum, der ebenerdig war und verstohlen musterte Leo ihn und Adam. 

Adam, der ihn…

Leos Gedanken scheuten sich vor den Erinnerungen, die hinter seiner Taubheit lauerten. Er scheute sich davor, sich dem zu stellen, was sie ihm Stunden angetan hatten. Oder der Gewalt, die er jetzt in jeder Faser seines Körpers spürte. Er zitterte unkontrolliert und die Frau im weißen Kittel, die nun den Raum betrat und ein paar schnelle, leise Worte mit Adam und Vincent wechselte, machte es da nicht besser. Auch weil sie über ihn aber nicht mit ihm sprachen. 

Ich sperr dich weg, bis alles vorbei ist, hatte Adam ihm mal gesagt und diese Erinnerung lag nun präsent und bitter vor seinen Augen. Und damit verknüpfte Leo, dass er in Frankreich war, in einer Klinik, die er nicht kannte, mit Menschen, deren Sprache er nicht richtig sprach. Er war nicht in Saarbrücken und damit weit ab von Pia und Esther, die ihm helfen konnten. 

Umso vorsichtiger musterte er da Vincent, der zu ihm kam und ihn sacht an seiner Hand berührte. 

„Wir lassen dich einen Moment alleine, Leo. Wir kommen aber gleich wieder, okay? Du musst dir keine Sorgen machen.“

Leo nickte automatisch. Wenn sie ihn nicht bewachten, ergab sich für ihn eine Fluchtgelegenheit. Wenn sie ihn alleine ließen, konnte er fliehen. Weg hier, zurück nach Deutschland. 

Vincent hielt sein Versprechen und sie gingen in ein Nebenzimmer. Kaum, dass er alleine war , kämpfte Leo sich mühevoll zur Tür. Er öffnete sie vorsichtig und sah, dass der Gang leer war. Hinten leuchtete Tageslicht, was vielleicht auf einen Notausgang schließen ließ. Zumindest meinte Leo das verschwommen zu erkennen.

Du musst weg hier, sagte er sich. Zurück nach Saarbrücken. Zu deiner Familie. Zu Pia und Esther. Bei ihnen bist du in Sicherheit. 

Schritt für Schritt kämpfte Leo sich den Flur voran, die Glastür fest vor Augen. Sein schmerzender Körper wollte nicht so wie er und so brauchte Leo viel zu lange, um einen Schritt vor den anderen setzen zu können und sich in Richtung Ausgang zu kämpfen.

Bevor er jedoch die letzten Meter überwinden konnte, umfasste eine Hand seinen Arm und hielt ihn vorsichtig, aber eindeutig an Ort und Stelle. Leo erstarrte und der Besitzer der Hand kam um ihn herum, ein dunkler Schatten an seiner Seite. Leo schreckte instinktiv zurück und presste sich an die Wand hinter ihm. Nicht, dass es ihm in dem hellen Raum etwas genutzt hätte.  

Adam, flüsterten Leos Gedanken, noch bevor er sich vollständig ein Bild gemacht hatte und vor dem anderen Mann zurückschreckte, der ihn von seiner Freiheit fernhielt. Leo wusste, dass er momentan nicht stark genug sein würde um sich zu wehren. Nicht mit einem Körper, der vor kurzem noch um jeden Atemzug gekämpft hatte. Oder der Schläge und Tritte hatte hinnehmen müssen, ohne sich wehren zu können. Einem Körper, der schmerzte, was Leo zwar schon kannte, aber ihn dennoch schwächte.

„Was tust du hier?“, fragte der Mann an seiner Seite und seine Stimme war mitnichten so hart und grausam wie in dem Keller. Leo schluckte, sprach sie doch Hoffnung an. Vertrauen. Zuneigung. Alles, was er nicht haben sollte und was ihn daran hinderte vor Adam zu fliehen.  

„Ich will auf die Toilette“, sagte Leo nach zu langem Überlegen und Zögern, darauf hoffend, dass seine Lüge durchging, so verschwindend gering die Chance dazu auch war. 

„Die ist in der anderen Richtung“, korrigierte ihn der Syndikatssprössling und Leo taumelte hilflos, beinahe schon verzweifelt. Er schloss die Augen und Adam fing ihn auf, umfasste ihn mit seinen Händen und verhinderte, dass Leo gehen konnte. 

„Nein!“, drang es ehrlich und ungefiltert aus Leo heraus, bevor er sich beherrschen konnte. „Lass mich! Ich will hier weg. Ich will gehen! Ich will…“ 

Leo versuchte, sich mit roher Gewalt von Adam loszumachen und zum Ausgang zu kommen, doch wieder wurde er zurückgehalten, wieder waren da Hände, die ihn festhielten, die ihn… 

„Lass mich, ich…“ 

Mit jeder Sekunde wurde Leo verzweifelter, sah er den Ausgang wie einen Rettungsanker, der sich immer weiter von ihm entfernte und ihn trudeln ließ. Wieder zurückgezogen wurde in eine Situation, die er nicht verkraften oder kompensieren konnte. In der er hilflos der Gewalt und des Zwangs von Menschen ausgeliefert war, die ihm nichts Gutes wollten. 

„Leo, stopp!“ 

Zu seinem vollkommenen Horror umfasste Adam sein Gesicht und zwang ihn sacht, ihn anzusehen. Ihm in die Augen zu sehen, war etwas, das Leo in diesem Moment nur schwer ertrug, weil es die Worte zurückbrachte, die ihm so viel Angst machten. Drohungen, das lebendig begraben werden vor Augen. Die degradierenden Worte. Die Implikation dieser.

„Leo, du wirst dich versorgen lassen. Du bist verletzt, dir wurde wehgetan. Du kannst jetzt nicht gehen“, beschwor Adam ihn und es war nichts, was Leo auch nur in Ansätzen hören konnte.

„Aber ich will hier weg“, krächzte er und hasste die Hilflosigkeit in seinen Worten mehr als alles andere.

„Nein. Sei vernünftig. Du-“

„Ich will nach Hause.“

„Das geht jetzt nicht. Du bleibst hier und lässt dich versorgen. Du-“

Adam stockte inmitten seines Satzes und Leo ahnte, dass das, was er auf Leos Gesicht las, einen maßgeblichen Teil dazu beitragen musste. Vermutlich standen Angst und Panik deutlich sichtbar auf seinem schmerzenden Gesicht und in seinen Augen. Vermutlich verriet ihn seine Atmung, denn das hatte Detlef immer gesagt. Dass er so schön schnaufte und nach Luft schnappte, wenn er Angst hatte. 

„Leo.“ Im Gegensatz zu vorher war die Stimme des Mannes wieder sanft und weniger bestimmend. Fast schon beschwörend sagte Adam seinen Namen und strich sacht über sein Gesicht, das sich so geschwollen und heiß anfühlte. „Leo, bitte. Doktor Josserand kann dir helfen.“

Leo sah zur Seite, an Adam vorbei. Den Kopf konnte er nicht drehen, denn Adam ließ ihn nicht. 

„Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich kann mich nicht auf das konzentrieren, was sie sagen. Oder was sie tun. Wir sind nicht in Deutschland und du hast gesagt, dass du mich wegsperrst, bis…“ 

Verzweiflung hielt ihn zunehmend im festeren Griff und kämpfte gegen die anscheinend auferzwungene Ruhe an. Er zitterte am ganzen Körper, weniger vor Kälte, denn eher vor Erschöpfung und Angst, dass Adam seine Drohung wahrmachte, ihn nicht zurück zu lassen in sein Leben.

Wie der Vater, so der Sohn, wisperte eine gehässige Stimme in seinem Inneren und Leo schauderte. 

„Du hast gesagt, dass du mich…“ Weiter kam er nicht, als seine Stimmbänder vor Schock blockierten und ihm Angst den Hals zuschnürte. Nun waren sie doch da, die Worte und Leo wurde ohne Vorankündigung in den Abgrund aus Schmerz, Angst und Erniedrigung geworfen. Er schluchzte trocken, wimmerte unterdrückt. Adam hatte ihn wählen lassen – entweder eine Vergewaltigung oder eingesperrt werden in einem engen Loch im Boden. 

Eben jener Mann ließ ihn los, doch die Erlösung war nur von kurzer Dauer. Adam schloss ihn in seine Arme, umarmte ihn vorsichtig und löste damit in Leo eine Beinahekatastrophe aus, die im ersten Moment absolut unerträglich war. Selbst wenn die Umarmung nicht so eng gewesen wäre, hätte Leo das Gefühl gehabt, zu ersticken. 

„Niemals werde ich dir das antun, Leo. Niemals. Das war nur Show für die Dreckssau. Nur Show. Damit er dich gehen lässt, damit er dich nicht umbringt oder in den Sarg sperrt. Leo, ich meinte das nicht ernst. Ich wollte dich da nur rausholen. Ich wollte, dass du lebst. Niemals würde ich mich dir aufzwingen. Niemals.“

Worte wie vergiftete Pfeilspitzen, die in Leo um Glauben und Wahrheit kämpften. Bittere Magensäure stieg in ihm hoch, als er die Möglichkeit in Betracht zog, dass Adam die Wahrheit sagte und nicht log. Als eine kleine Stimme in Leo wisperte, dass er nie einen Grund gehabt hatte, an Adams stetigen Versicherungen zu zweifeln. 

Zumindest was das anging.

Adam holte Luft und es hörte sich genauso erstickt an, wie Leo sich fühlte. „Ich hatte Angst, dass er dich genauso wie Elias umbringt. Dass wir aufgeflogen sind und er dich jetzt ebenfalls erwürgt. Ich hätte alles getan um dich da rauszuholen Leo, alles. Wenn mir nichts eingefallen wäre, hätte ich dich auch dort einsperren müssen, um Schlimmeres zu verhindern.“

Fürchterlich schlimm waren sie, die Worte. So schlimm, dass Leo noch nicht einmal mehr reagieren konnte. Er zitterte unkontrolliert und es war so schlimm, dass er mit seinen Zähnen klapperte. Leos Körper bebte ohne sein Zutun und seine Augen brannten. 

„Er hat mich foltern lassen“, sagte er und seine Stimme brach unsauber auseinander. Ungefiltert kamen die schlimmen Stunden, die brutale Gewalt, die auf ihn projiziert worden war durch Leos Weigerung, sich ihnen zu stellen. Es war so wie früher bei Detlef – ohne, dass er die Möglichkeit gehabt hatte, sich zu wehren. 

„Das sehe ich. Ich spüre es unter meinen Fingern. Ich höre es in deiner Stimme.“ Gnadenlos ehrlich waren Adams Worte und Leo erschauderte. 

„Er hat…“ Weiter kam Leo nicht, als es zu schlimm wurde und er keine Worte für das fand, was geschehen war. Als er Angst hatte, dass es noch einmal passieren würde, wenn er es aussprach. 

„Er hat, aber er ist nicht hier. Hier sind nur Menschen, bei denen du in Sicherheit bist und die dir helfen wollen. Ich passe darauf auf, dass dir niemand wehtut, Leo, versprochen. Und wenn du mir nicht glaubst, dann glaube wenigstens Vincent. Bitte.“

Leo schloss gepeinigt die Augen.  

„Ich hatte solche Angst“, gestand er eher sich selbst als Adam ein, doch dieser war mit einem Satz bei ihm und umfasste erneut mit größter Vorsicht sein Gesicht, dirigierte es zu sich. Mühevoll hielt Leo den blauen, durchdringenden Augen stand, die so emotional waren, wie er sie selten gesehen hatte. So verzweifelt. 

„Aber Superman hat doch gar keine Angst vor den Bösen. Eben weil er so stark und schlau ist. Schlau genug, sie alle zu vernichten.“

Was…? Leo brauchte einen Moment, um die hoffnungsvollen Worte zu verstehen, die so absurd schienen in der momentanen Situation. Superman? Er? Was denn für einer? Ein gefesselter, geknebelter Supermann, der vom übermächtigen Syndikat gefoltert wurde? 

„Das bin ich nicht.“

„Und ob, Mr. Kriminalhauptkommissar Leo „ich leiste immer und überall Widerstand und die Bösen gehören bestraft“ Hölzer. Und ob.“ 

Die beinahe schon kindliche Logik ließ Leo angesichts der Ehrlichkeit in Adams Gesicht hilflos und wehrlos zurück. Er spürte, dass mit den Worten eine Ruhe kam, die er vorher nicht gespürt hatte. Er spürte Akzeptanz, wo vorher Angst gewesen war.

„Du warst es schon von Anfang an. Aber jetzt brauchst du jemanden, der sich um dich kümmert und dieser jemand sind ich und Vincent. Ich werde dich nirgendwo hinbringen, wo du nicht hinwillst, versprochen. Aber du brauchst eine gute Versorgung und ein Alibi, dass ich genau das tue, was ich dir angedroht habe. Deswegen bleiben wir erst einmal hier und sind nicht auf dem Winterberg. Er soll nicht wissen, dass…“

Adam verstummte und Leo wurde schwindelig vor der Bedeutung, die das alles hatte. Was sein Vater annahm und in Kauf nahm, nur damit ihm eine Lektion erteilt wurde. 

„Komm mit zurück. Ich bleibe auch bei dir und halte das Händchen, wenn sie dir mit ihren Nadeln zu nahe kommen.“

Der Versuch eines vorsichtigen, dummen Witzes half mehr, als Leo es wirklich wahrhaben wollte. Er kämpfte nicht mehr ganz so hart gegen die Panik und die seinen Körper durchziehenden Schmerzen an. Er hielt Adams Nähe nicht nur aus, sondern akzeptierte sie Stück für Stück auch. 

Leo zögerte und wagte erneut einen Blick in Adams Augen. „Versprich mir, dass du mich nirgendwo gegen meinen Willen hinbringst und dass ich nach Hause zurückkehren kann, wenn ich das will.“

Sanftheit, so schmerzhaft für Leo wie die Folter, die er die letzten Stunden erlitten hatte, kroch über Adams Gesicht. „Mach ich nicht, großes Indianerehrenwort.“ Er wackelte dabei mit zwei Fingern und lächelte so vorsichtig glücklich, dass Leo es nach ein paar Sekunden unmöglich fand, hinzuschauen. Er starrte auf das Kliniklinoleum mit seinem gepunkteten Muster und hörte Adam, bevor er dessen Lippen auf seiner Schläfe spürte. 

„Ich sorge für dich, mein hauseigener Polizist“, murmelte Adam und ein einziges Mal widersprach Leo dem nicht. 


~~**~~  


„Komm, ich helfe dir.“

Leo musterte sehr betont einen Fleck hinter Adam auf dem Boden, wieder in sein Schweigen verfallen. Er stand mit geballten Fäusten vor ihm und hatte sehr wohl gehört, was Adam gerade gesagt hatte.

Sein hauseigener Polizist sollte sich freimachen, damit die Ärztin ihn abtasten und sich ein Bild von seinen Verletzungen machen konnte. Nachdem sie ihm schon einen Zugang gelegt und ihm Schmerzmittel und Beruhigungsmittel darüber gegeben hatte. Leise hatte Leo seine Übelkeit und seinen Schwindel gestanden und die Ärztin hatten ihnen allen versichert, dass es bald vorübergehen würde. Das war es und innerhalb von Minuten war Leos Körper taub und er selbst unheimlich ruhig geworden. 

Bisher stand nur das Shirt zur Debatte, doch schon das war ein Problem. Selbst in seinem jetzigen Zustand.  

„Leo?“

Ich will nicht, stand in der Anspannung des zusammengepressten Kiefers. Angst mischte sich kurz darunter und kumulierte sich zu Widerwillen. Es erinnerte Adam an Leo zu Beginn ihres erzwungenen Kennenlernens und vielleicht war Leo auch genau in dem Mindset.

„Hey, Leo.“

Sein hauseigener Polizist presste die Lippen aufeinander und nickte dann unmerklich. Er hob die Arme gerade so weit an, um Adam klar zu machen, dass er helfen durfte. Ganz einfach ging die Bewegung nicht und der Schmerz setzte sich anscheinend selbst durch die Opiate durch. 

Tief atmete Adam ein und straffte die Schultern. Leo wollte, dass er ihm half. Leo hatte Angst und vertraute ihm doch genug, dass Adam ihn unterstützte. 
Alleine der Gedanke reichte, damit Adams Kehle eng wurde. 

Ganz vorsichtig hob er Leos Arme und noch viel vorsichtiger zog Adam ihm das blutige Shirt vom Körper. Eingedenk Leos Ordnungssinn warf Adam es nicht wütend und achtlos zur Seite, sondern legte es über den Stuhl neben Leo, bevor er ihm sanft half, seine Arme zu senken. 

Leo konnte ihm wieder nicht in die Augen sehen und Adam verlor sich einen Augenblick lang im Anblick von Leos zerschlagenem Oberkörper. Bereits jetzt zeigten sich dunkle, rote Schatten und ohne Mühe erkannte Adam die Spuren eines Gürtels. 

Das, was für ihn normal war, an sich zu sehen, löste beim Anblick von Leos Haut unbändige und heiße Wut in Adam aus. Es brachte Hass mit sich, den Adam schon lange nicht mehr gefühlt hatte. 

Dr. Josserond nickte Leo lächelnd zu und bedeutete ihm, sich auf die Liege zu legen. Dass Leo nicht wollte, war offensichtlich und die Bedeutung dessen tat nichts, um Adams Wut zu mildern. Im Gegenteil. Waterboarding. Nicht nachweisbar, wenn man nicht wusste, was passiert war. Schlimm für die Opfer. Traumatisierend. 

Wie es sich auf Leo auswirken würde, stand in den Sternen und Adam war sich sicher, dass das, was Leo und er gehabt hatten, der Vergangenheit angehörte. Doch das wäre ein Gespräch für ein anderes Mal. Für später. Wenn es nach Adam ging, für nie, weil er sich dem nicht stellen wollte, was seine Blase an minimalem Glück zerplatzen lassen würde.

„Es ist okay. Sie wird dir nichts tun, Leo. Sie ist hier um zu helfen“, bekräftigte er noch einmal und wieder ließ Leo sich von seinen Worten beruhigen. Vorsichtig legte dieser sich hin und ließ sie gewähren, als sie ihn abtastete und seine Pupillenreaktion kontrollierte, als sie seinen Schädel vorsichtig in ihre Hände nahm und die Schädelknochen abtastete. 

Adam wachte mit Argusaugen über jede Bewegung und hielt seine rechte Hand in Leos Richtung, damit er zugreifen konnte, wenn er wollte. 

Leo wollte nicht. 


~~**~~


Die Lage war nicht ungefährlich, aber stabil. 

Zumindest erkannte Vincent keine akute Gefahr für Adam und auch nicht für Leo. Zarah hatte die Gegebenheiten vor Ort geregelt und die Schläger von Roland Schürk auf die falsche Fährte geführt. Durch ihren Autotausch waren sie nicht aufgeflogen und bislang kooperierte Leo. Zum Glück, denn es war nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er sich zu Fuß auf die Flucht gemacht hätte, ohne Orientierung, ohne Handy, ohne eine Möglichkeit für Adam und Vincent, ihn zu finden. 

Erstaunlicherweise hatte das, was Roland Schürk und seine Männer getan hatten, keine schlimmen Auswirkungen gehabt. Das CT war unauffällig gewesen und Leo hatte trotz der Vielzahl an Schlägen mit Fäusten und dem Gürtel nur eine leichte Gehirnerschütterung davon getragen. 

Nur. 

Von seinen seelischen Wunden ganz zu schweigen. 

Nichts würde so sein wie vorher und Vincent hatte, während Adam auf Leo aufpasste, bereits seine Kontakte bei der Staatsanwaltschaft und Richterschaft bemüht. Leo würde nicht akzeptieren, was ihm angetan worden war und Vincent konnte es ihm nicht verdenken. 

So stumm und folgsam er jetzt auch war, so sehr würde sein Gerechtigkeitssinn wiederkommen, wenn er sich sicherer als jetzt fühlte. Damit würde er Dinge anstoßen, die unaufhaltsam zu einer Konfrontation mit der Exekutive und Legislative führen würden. 

Adam kam in dem Moment aus Leos Zimmer, in dem Vincent sein Handy in die Tasche steckte um ein paar Sekunden durchatmen zu können. 

„Er will alleine sein“, presste Adam hervor und Vincent runzelte besorgt die Stirn. „Er wird aber nicht versuchen, sich aus dem Fenster abzuseilen, das hat er mir versprochen.“

Vincent seufzte. Er hoffte es – sie befanden sich im vierten Stock, das konnte nicht gut ausgehen. 

„Wie geht es dir?“, fragte Vincent und überbrückte die Distanz zwischen Adam und sich. Sacht schloss er ihn in die Arme und spendete ihm Ruhe und Wärme. Dem leichten Zittern in Adams Muskeln nach zu schließen, war das auch bitter notwendig. 

„Er lebt“, murmelte Adam an seine Schulter und Vincent nickte. 

„Dank dir.“

„Nein. Ich habe ihn erst in dieses Verderben geführt.“

Abwehrend schnaufte Vincent und fasste enger zu. „Das ist Unsinn, Adam, hörst du mich? Absoluter Unsinn. Dein Vater ist schuld, niemand anderes. Du bist nicht schuld.“

„Aber…“

„Nein. Nichts aber“, unterbrach Vincent streng. „Du bist nicht schuld. Dein Vater ist es und dein Vater ist derjenige, der dafür zur Rechenschaft gezogen werden wird.“

„Wann?“

Vincent seufzte. Wenn sie ihr Konstrukt aufgaben, dann mussten sie vorsorgen. Dann mussten sie ihre Flucht planen. Alleine bei dem Gedanken merkte Vincent, wie sehr er sich an sein Leben in Saarbrücken gewöhnt hatte. An sein Leben mit seinen beiden Adams. Er merkte, wie sehr er gehofft hatte, dass alles sich in Wohlgefallen auflösen würde. 

Ein trügerischer Gedanke, der seinen Anfang mit Leos Verknüpfung in ihr System genommen hatte. 

Vincent schluckte den bitteren Geschmack hinunter. Er würde alles hinter sich lassen müssen von jetzt auf gleich. Fliehen, mit Adam zusammen, in ein Land, das kein Auslieferungsabkommen hatte. Weg aus Deutschland, weg von dem Mann, den er liebte. Weg aus einem Leben, das er sich bequem eingerichtet hatte. 

Zu bequem, wie er jetzt wusste. 

„Du weißt, dass wir über unsere Pläne sprechen müssen. Spätestens, wenn Leo entlassen wird und wieder zur Arbeit geht, wird es gefährlich.“
 
Adam erstarrte in seinen Armen, reagierte aber nicht. 

„Ja“, flüsterte er schließlich und machte damit die Situation keinen Deut besser. 


~~**~~


Es war vorbei. 

Mit jeder Minute, die verstrich, wurde sich Leo mehr bewusst, dass er hier in Sicherheit war. Versorgt, untersucht, die Verletzungen versorgt. Der Krankenhausschlafanzug war weich und bedeckte seinen Körper, während seine eigenen Sachen von den Schwestern in eine Wäscherei gebracht worden waren um sie von dem Blut zu reinigen. Die Opiate wirkten ebenso wie die Beruhigungsmittel, die ihm vor kurzem nochmal gegeben worden waren und verhinderten eine tiefgreifende und zerstörerische Panik. Sie ermöglichten ihm relativ klares Denken und Leo nutzte die Ruhe und Einsamkeit der Nacht, um sich bewusst darüber zu werden, dass es vorbei war. 

Dass er sich im Danach befand. Nach der Entführung. Nach der Folter. Nach den Dingen, die ihm Angst machen würden in der Dunkelheit seiner Wohnung. Wenn er überhaupt dorthin zurückkehren können würde. 

Bislang war die Vorstellung nicht gangbar für ihn. Bisher war alleine der Gedanke daran, dass er noch einmal den Weg zu seiner Wohnung gehen und durchstehen musste, nicht möglich. Was, wenn sie ihn erneut holten? 

Aber das hatte Adam doch unterbunden, oder? Adam hatte doch gesagt, dass…

Leo schluckte. Seine Aussage im Prozess stand noch aus und er musste der SoKo sagen, warum er nicht…und falls doch, wie sie…

Müde rieb er sich übers Gesicht und schauderte. 

Vielleicht hatte Adams Vater doch das erreicht, was Adam die ganze Zeit versuchte: Leo zweifelte daran, ob er weiterhin mutig genug war, eine Aussage zu machen. 

Die Tür öffnete sich und Leo schreckte aus seinen Gedanken hoch. Es war Adam, der den Kopf in sein indirekt beleuchtetes Zimmer steckte, das für ein Krankenhaus viel zu luxuriös war. Leo beschlich der Verdacht, dass er sich in einer Privatklinik befand – einschließlich Stuck an den hohen Decken, Fernseher und einem Bett, in dem vermutlich zwei Personen Platz hatten. 

Schweigend musterte Leo den blonden Mann und ebenso wortlos schob Adam sich in sein Zimmer, kam zu seinem Bett und blieb davor stehen, als wüsste er nicht, was er tun sollte. 

Da waren sie schon zu zweit.

„Hast du Schmerzen?“, versuchte sich Adam dann an einer ungelenken Frage und Leo schüttelte vorsichtig den Kopf. Wenn er eins nicht hatte, dann Schmerzen. 
„Gut.“
Stille waberte zwischen ihnen und Adam grub seine Zähne in die Unterlippe. Er schob seine Hände in die Taschen seiner Anzughose und zuckte dann mit den Schultern. Eine seltsame Geste, befand Leo.  
„Ich bleibe hier. Also in deinem Zimmer. Damit du nicht alleine bist.“

Leo schnaubte und schüttelte den Kopf. „Du bewachst mich.“ Damit er nicht floh. Wohin auch immer. In den dunklen Wald vermutlich, durch den sie gefahren waren. 

„Damit du dich sicher fühlen kannst.“

Adams Worte erschreckten sie beide, zumindest interpretierte Leo die geweiteten, blauen Augen so. Er selbst wusste nicht, was er daraus machen, wie er sie drehen und wenden sollte. 

Sich sicher zu fühlen.

Tat er das in Adams Gegenwart?

Die schlimme Antwort war: in Grundsätzen schon. Leo schluckte und die Enge in seinem Hals kam mit Sicherheit nicht nur von der körperlichen Gewalt, die Roland Schürk ihm angetan hatte, während er ihn gewürgt hatte. 

Leo drehte seinen Kopf weg und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. Tiefste Vollmondnacht war es und so langsam zollten Gewalt, Angst und Panik ihren Tribut an seine Kraft und seinen Willen, noch weiterhin wach zu bleiben. 

„Wie lange war ich da?“, fragte er und in der Spiegelung der Scheibe sah er, wie Adam seine Hände zu Fäusten ballte und die Lippen aufeinanderpresste. Er schwieg beharrlich und Wut durchdrang Leos Gleichgültigkeit. 
„Wie lange, Adam?“
„Vermutlich fünf Stunden.“

Also fünf Stunden Folter. Fünf Stunden Gewalt, Drohungen und Angst, dass er sterben würde. 

Leo schloss seine Augen. Fünf Stunden, die sein Leben genommen, zerkaut und ihm vor die Füße gespuckt hatten.

„Darf ich zu dir kommen?“

Leo nickte, bevor er den bewussten Gedanken dazu gefasst hatte. Das Alleinesein gerade hatte ihm nicht nur gut getan und erst Adams Anwesenheit gab ihm eine tiefliegende Ruhe, die ihm die Beruhigungsmittel nicht geben konnten. 

„Darf ich mich zu dir legen?“

Abrupt ruckte Leos Kopf herum. Die gerade noch gefühlte Ruhe löste sich in Sekundenschnelle in Angst auf. Ins Bett? Jetzt? „Ich will keinen Sex“, platzte es aus ihm heraus und unsicher musterte er Adam. 

Unglücklich schürzte der blonde Mann die Lippen und zum ersten Mal sah Leo, wie dunkel und tief auch die Augenringe unter seinen Augen waren. Wie bleich und erschrocken Adam war. 

Er erinnerte sich. Elias Schillers Todestag. Der Tag, an dem der Mensch, der Adam geliebt hatte, umgebracht worden war. 

„Du weißt schon, dass man in einem Bett nicht nur miteinander schlafen muss“, hakte Adam mit vorsichtigem, aber ungläubigem Zynismus nach und Leo blinzelte, als er den Fehler in seinen Gedanken erkannte. Dumm, schimpfte er sich selbst. Natürlich wollte Adam jetzt nicht. Adam war nicht so, Adam war anders. 

„Also nur liegen?“, hakte er rau nach und ein kleines Lächeln huschte über Adams Lippen.

„Umarmen wäre auch gut, ist aber Bonus.“

Leo grub seine Zähne in die Unterlippe. Adams scharfe, böse Worte in dem hellen Raum kamen ihm ungebeten in den Sinn. Leo konterte sie mit dessen leisen, beinahe schon verzweifelten Worten, kurz bevor er ihn in den Kofferraum gesperrt hatte. Seinen Versicherungen hier. Seinem eigenen Vertrauen in den anderen Mann. Adam hatte ihn retten wollen und Leo glaubte ihm das. Etwas in ihm zog aufgrund dessen wie wild in Adams Richtung und wollte den Kontakt, die Nähe, das Beisammensein. 

Er drehte sich um, drehte Adam den Rücken zu. „Anlehnen ist okay.“ Und das war es wirklich. 

Über die Scheibe beobachtete Leo, wie Adam sich in seinen Schuhen auf das Bett legte und sich schließlich der Länge nach vorsichtig an Leo schmiegte. Rücken an Brust, seine Beine sacht an Leos Beine gelehnt – gerade so weit, dass es nicht wehtun konnte und so nah, dass Leo ihn deutlich spürte. 

Wortlos akzeptierte er Adams Nähe und schob sich nach einer Sekunde Zögern an den hinter ihn liegenden Mann. Müde schloss er die Augen und spürte, wie er endlich die Ruhe und den Mut fand, loszulassen und seine Welt in ein Dunkel zu tauchen, das ihm Kraft geben würde.  

Denn, so hatte er gelernt, so böse beißende Helligkeit war, so heilsam war die darauffolgende Dunkelheit. 


~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 50: Kafkas Zwiebelsuppe, wahrheitsgemäß serviert

Notes:

Hallo und einen wunderbaren Sonntagabend euch allen! ❤️🌻,

ich erlaube mir, den 50. Teil zur Anatomie mit euch zu feiern! 🎉 Wuppwupp, da sind die Jahre wie im Flug vergangen. Es tut mir leid, dass ich momentan ein Posttempo an den Tag lege, das eher einer Schnecke als einem D-Zug gleicht, aber real life... ich hoffe, es wird sich schütteln und finden und ich hoffe, ihr haltet die Wochen zwischen den Kapiteln aus! ❤️ Auf weitere 50 Kapitel sage ich lieber nicht, denn so viele werden es auf jeden Fall nicht mehr werden.

Im Worddokument habe ich mit diesem Kapitel die Seite 666 geknackt. Was auch immer es bedeuten mag, ich wollte es nicht unerwähnt lassen. 😎

Ich danke euch allen für eure Kommentare hier und auf anderen Kanälen, eure Sprachnachrichten, eure Kudos und Klicks, grundsätzlich euer Mitfiebern und Mitlesen! Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und noch ein schönes Restwochenende!

Es gibt Triggerwarnungen: Erwähnungen von Folter, Vergewaltigung, Roland Schürk

Chapter Text

 

„Rein da, na los, rein da!“

Unsichtbare Kräfte zogen Leo in Richtung des tiefen, engen Schlunds, zerrten ihn erbarmungslos mit sich. Er wehrte sich, stemmte seine Füße in den Boden, nur um festzustellen, dass der Boden aus eiskaltem Morast bestand und er keinen Halt bekam, egal, wie stark er strampelte, sich wehrte, versuchte, sich loszureißen. Wegzukommen aus der Enge, die ihn begraben würde.

So sehr Leo sich auch wehrte, es fruchtete nicht und das „Rein da!“ wurde zu einem steten, immer lauter werdenden Pulsieren, das alles andere schluckte und keinen anderen Gedanken mehr zuließ, bis er-

Verzweifelt schnappte Leo nach Luft und riss die Augen auf. 

Wärme umfing ihn und sie stand so diametral zur Kälte aus seinem Traum, dass er instinktiv wusste, zumindest vor den Schrecken seines Traumes in Sicherheit zu sein. Doch mit der Wärme stach auch Helligkeit in sein rechtes Auge und unwirsch presste Leo seine Lider aufeinander. Er zog sich enger an die Wärme und vergrub sein Gesicht in der rettenden, warmen, menschlichen Dunkelheit.

Menschlich…?

Eine Sekunde brauchte es, damit Leo die Falschheit der Situation bewusst wurde. Ein paar weitere, damit die Erinnerung an den vergangenen Tag zurückkehrte, mit ihr Angst und Schmerz und die Panik vor…

Leo riss die Augen auf und sah abrupt nach oben. 

Adam. 

Müde, aber wachsam musterten die blauen Augen ihn und Leo fragte sich, ob Adam überhaupt geschlafen hatte. Seine Haare lagen strubbelig auf dem Kissen und er sezierte Leo, als wäre er eine tickende Zeitbombe. 

„Guten Morgen, Dornröschen.“

Leo hielt es nicht für möglich, aber gerade die sachte Provokation in der Stimme des anderen Mannes verankerte ihn beinahe in Sekundenschnelle im Hier und Jetzt, zog ihn wieder zurück aus dem grell erleuchteten Raum, in dem er gefoltert worden war. Das hier war bekannt, das war Adam. Es war vor allen Dingen der Adam, der ihm nicht gedroht hatte, ihn… 

„Ich habe gesagt, ich will keine Umarmungen“, sagte Leo ungnädig, aber auch, um sich aus seinen Erinnerungen zu lösen, und Adam schnaubte. 
„Dafür spielst du hier aber ganz schön überzeugend Klammeräffchen.“

Unwirsch runzelte Leo die Stirn und sah an ihnen Beiden herunter. Es stimmte, er hatte Adam fest im Griff seines Armes komplett halsabwärts an sich gepresst. Da passte kein Blatt Papier zwischen sie und eher aus der Not heraus hatte Adam vermutlich seinen Arm um ihn gelegt. Leos Bein zwischen Adams war auch kein Zeichen von Abstand, so ganz und gar nicht.  

„Also?“

Leo presste die Lippen aufeinander und spürte, wie seine Wangen warm wurden. Die Antwort war, dass trotz seiner Worte das Gefühl der menschlichen Nähe ein schönes war und dass ihn der Geruch des anderen Mannes anscheinend so sehr beruhigt hatte, dass er sich im Schlaf an ich gepresst hatte. Die Antwort war, dass Leo natürlich keine Antwort darauf geben können würde. Nicht, wenn er nicht gleichzeitig seinen Prinzipien untreu werden wollte.
 
Er schwieg und hörte Adams Bewegung noch bevor er den sachten Kuss auf seiner Stirn spürte. 

„Schlaf weiter, Superman. Ruh dich aus. Ich bin da und weglaufen kann ich dir grad sowieso nicht.“

Leo schauderte und seufzte. Adams ruhige, leicht ironische Worte taten ihm gut. Sie besänftigten seine aufkommenden Gedanken und flattrigen Nerven. Dennoch war da etwas, das er klären musste, dringend sogar. 

„Ich muss meinen Kolleginnen Bescheid sagen. Sie werden sich Sorgen machen.“ Sie und sein Personenschutz, der vermutlich jetzt schon auf der Suche nach ihm war. Vielleicht hatten sie sein Handy bereits geortet und würden hierherkommen und dann würde alles noch chaotischer werden. 

„Vincent hat ihnen heute Nacht noch von deinem Handy aus in den Gruppenchat geschrieben. Für sie bist du krank mit fürchterlichem Magen-Darm-Virus. Übermorgen geht eine Krankmeldung von deinem Hausarzt an die Dienststelle und du schreibst ihnen, dass du keinen Besuch bekommen kannst, weil du ansteckend bist. So haben wir Zeit gekauft.“

Leo schürzte unglücklich die Lippen. Es störte ihn, dass Vincent immer noch an sein Handy kam, in seine Kommunikation hinein. Es machte ihn immer noch gläsern und transparent.

„Sie werden sehen, dass das eine Lüge war“, merkte er anstelle dessen an, was ihm auf der Zunge lag. Es war das Augenscheinlichste. Das Naheliegendste. 

Das zwischen ihnen eintretende Schweigen war bleiern und schwer. „Das überlegen wir dann, Leo. Jetzt musst du erst wieder auf die Beine kommen, okay? Dazu sind Schlaf und Ruhe wichtig.“

Der alte Leo hätte nicht gewollt. Derjenige, der nie bei den Männern übernachtete, mit denen er schlief. Der Leo, der durch den Verlust von Matthias so geprägt worden war, dass er vor jedweder engeren, emotionalen Bindung in Richtung Partnerschaft zurückschreckte.

Aber es gab einen neuen Leo, der seine Prinzipien über Bord geworfen hatte und der nun mit den Auswirkungen dessen konfrontiert worden war. Es fiel Leo noch schwer zu begreifen, was geschehen war abseits des Überlebensinstinktes, der ihn immer noch antrieb und es fiel ihm schwer, das dem neuen Leo zuzuordnen, der seit dem Danach existierte. Er wusste nur zu gut, dass er mit den psychischen Auswirkungen dessen zu kämpfen haben würde, so wie damals bei Detlef auch. Er hatte seine Strategien gefunden damals. 

Sich von Adam zu entfernen, ihn von sich zu stoßen, das kam dabei nicht in Frage. Zumindest das wusste Leo mit Sicherheit. 


~~**~~


„Mund auf, hier kommt das Flugzeug!“, grinste Adam und wurde ermordet. Von grünen Augen in einem grün und blau geprügelten, teilweise geschwollenen, aber definitiv kalkweißen Gesicht. 

Er hatte solche Verletzungen schon häufig gesehen und sie durchaus auch schon verursacht, doch in Leos Gesicht hatten sie noch eine andere Bedeutung. Sie waren schlimmer. Persönlicher für Adam. Erleichternder gleichzeitig, dass die Augen noch in der Lage dazu waren, ihn so anzufunkeln, wie sie es jetzt taten.

Der Drang nach Wiedergutmachung loderte in Adam und er spürte konstant etwas, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte: brennende Sorge. Da war die Erleichterung, dass er Leo aus den Klauen der Dreckssau gerissen hatte, zweitrangig. Er sorgte sich um all das, was danach kommen würde. Wie er Leo weiterhin in Sicherheit haben konnte ohne ihn gegen seinen Willen wegzusperren. Wie er ihr System aufrechterhalten konnte, ohne dass Leo seine Kolleginnen informierte und das LKA Ermittlungen gegen seinen Vater einleitete, die unweigerlich zu Leos Tod führen würden.  

Er hatte heute Mittag, während Leo gegen sich, seinen Körper und das Badezimmer kämpfte, mit Vincent über die nächsten, nötigen Schritte gesprochen und bei jeder ihrer Varianten war Leo der unsichere Faktor. Dass Leo ihn versuchen würde zum Handeln zu zwingen, war so sicher wie die nächste Runde Prügel von der Dreckssau, die er für was auch immer kassieren würde.

Es war gut, dass Leo nicht wusste, wohin sie ihn gebracht hatten, denn ansonsten würden vermutlich morgen bereits ein SEK-Team und dutzende Beamtinnen und Beamte das Anwesen des Alten stürmen, nichts finden und der Alte würde Leo daraufhin auch in dieser Version aus dem Weg räumen. 

Doch bisher hatte Leo nichts als vorsichtige, nachdenkliche und misstrauenserregende Ruhe gezeigt und dagegen hatte Adam ein Patentrezept: Provokation. 

Was damals funktioniert hatte, war ihm jetzt nur recht und billig. 

„Na los, auf mit den hübschen Lippen“, gurrte er und Leo tat natürlich genau das Gegenteil. Wütend presste er seine Lippen aufeinander und seine Kieferknochen bewegten sich, als würden sie Adam diesen Widerstand noch einmal verdeutlichen wollen. 

„Dir ist klar, dass ich mich damals nicht so angestellt habe, als du mich gefüttert hast, oder?“, wackelte Adam mit den Augenbrauen und kam sich vor wie ein Toreador, der dem ohnehin schon angestochenen Stier ein rotes Tuch vor die Nase hielt. 

„Du konntest dich damals nicht bewegen, ich schon.“

Stimmt, konnte er. Wie ein alter Mann und kurze Reisen zum Bad und zurück erschöpften und frustrierten ihn. Was auch dazu führte, dass er seine Hände gerade nicht dafür gebrauchen konnte, die gute, französische Zwiebelsuppe mit Käsehaube zu löffeln. Franzosen…mussten selbst im Krankenhaus schmausen. Seine Frage nach dem dazugehörigen Glas Rotwein war mit gleich zwei Augenpaaren vernichtend negativ beschieden worden. 

„Gönn mir das Vergnügen, dir deine liebevolle Fütterung zu vergelten. Außerdem kannst du solange noch deine Arme schonen.“ Zumindest wollte Adam, dass Leo seine Arme schonte. Wann immer er einen Blick auf dessen rotumringte, immer noch nicht verschorfte Handgelenke warf und sich vor Augen rief, dass die Kabelbinder so tief in seine Haut geschnitten hatten um Blut hervorzubringen, wurde er wütend und sein Herz zog sich vor Sorge zusammen.

Dass die Verletzungen so aussahen wie Elias Einschnitte der Würgedrähte um Hals, dessen Anblick sich in Adams Erinnerungen gebrannt hatte, daran versuchte er nicht allzu oft zu denken. Mit mäßigem Erfolg.

Hinter der kritischen Stirn seines hauseigenen Polizisten nahm eine ganze Schwerindustrie ihre Frühschicht auf und schlussendlich kam der stolze Mann dann doch zu einem positiven Ergebnis. Nicht jedoch bevor Adam so etwas wie verständnisvolles Mitleid über sein Gesicht huschen sah. Er konnte sich denken, warum.

„Flugzeug?“, lenkte er nicht nur deswegen ab.

Mit bedeutungsschwangerer Missbilligung öffnete Leo seine Lippen und Adam fütterte ihn, Löffel um Löffel. Schweigend brachte er den ganzen Teller sämige Suppe und sogar das dazugehörige Brot in Leo. 

Erst, als er die Suppenschale zugunsten des Wasserglases absetzte und es an Leos Lippen hielt, dieser den ersten Schluck auf seiner Zunge hatte, wurde innerhalb von Sekundenbruchteilen klar, dass der brüchige Frieden genau das war: zu brüchig, als dass sie sich lange ein vollumfängliches Happy-End vormachen konnten.

Leo schreckte abrupt und gewaltsam zurück, plötzliche Angst auf seinem Gesicht. Er wehrte sich so sehr, dass Adam das Glas Wasser aus den Händen fiel und klatternd über das Krankenhauslinoleum rollte.

Flüchtig ging sein Atem und der zitternde Oberkörper hob und senkte sich schnell. Leos Augen waren geweitet und angsterfüllt auf ihn gerichtet.  

Adam fror ein und mit ihm die Zeit. Er sah, wie Leo kämpfte, wie er sich vor so etwas Notwendigem wie Wasser fürchtete. Wie sehr ihn das erschreckte und verängstigte. Er sah, wie er in den ersten Sekunden nicht er selbst für Leo war, sondern einer der Männer seines Vaters. 

Ganz langsam löste Adam sich aus seiner Starre und noch viel vorsichtiger legte er seine Hand auf Leos zitternden Arm. 

„Du bist nicht mehr bei ihnen“, sagte er leise und hoffentlich beruhigend. „Sie können dir hier nichts tun.“

Es war keine Lüge, aber weit entfernt von einer versichernden Wahrheit. Unstet atmete Leo ein, strich nervös über die weiße Bettdecke. Er ließ Adam nicht aus den Augen und nur langsam verschwand die Angst dort. Es brauchte ebenso viel Zeit, bis er genug Kraft fand zu antworten und in seinen Worten spiegelte sich Adams bitteres Gefühl wieder. 

„Aber in Saarbrücken“, erwiderte Leo rau, mit einer Stimme, die kurz davor stand zu brechen. 

Adam schüttelte den Kopf, mit wenig Hoffnung, dass Leo ihm Glauben schenken würde „Er wird dich in Ruhe lassen. Er hat seinen Standpunkt klargemacht und denkt, dass ich die Zeit jetzt dazu nutze, diesen noch einmal zu bekräftigen. Er wird dich nicht anrühren, wenn du den Kopf unten hältst, Leo. Wenn du nicht aussagst und wenn du nicht weiterhin offiziell im Fall von Elias ermittelst. Du musst jetzt der sein, der du vor einem Jahr gewesen bist, Leo.“

Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt, um das anzusprechen. Vielleicht war Leos Angst ein unfairer Vorteil für Adam in einer solchen Situation. Doch er würde sich jederzeit wieder dazu entscheiden, egal, wie sehr gerade Widerstand Leos Gesicht verhärtete. Es war die lebensrettende Wahrheit, nichts anderes als das. 

„Ich bin nicht Polizist geworden um den Kopf unten zu halten“, sagte Leo mit mehr Angst als Mut in der Stimme und Adam lächelte bedauernd. 

„Nein, aber du bist groß geworden um zu überleben. Nur dieses eine Mal, Leo. Versprich es mir. Versprich mir, am Leben zu bleiben, unter allen Umständen.“

Leo schnaubte zittrig. „Versprichst du mir dann auch, ihn zu Fall zu bringen?“

Adam presste seine Lippen aufeinander und sah aus dem Fenster, hinaus in die bunten Bäume. Ein Jahr hatte gereicht, sein Leben auf den Kopf zu stellen und den Gedanken an Verrat am Syndikat zuzulassen. Doch den Schritt, es wirklich zu tun, sich wirklich gegen seinen übermächtigen Vater aufzulehnen, den wagte Adam nicht. Noch nicht. Nicht, nachdem er froh war, dass er Leo lebend aus den Klauen des übermächtigen Arschlochs gerissen hatte.  

„Irgendwann“, sagte er. „Wenn ich mutig bin. Wenn er nicht übermächtig ist. Das ist aber nicht jetzt.“ Nicht mit der so nahen Erinnerung an Elias‘ Tod oder der Gewaltbereitschaft seines Vaters gegenüber Leo. 

Nun langte eben jener nach ihm, doch sein Griff war nicht sanft. Seine kalten und klammen Finger krallten sich überraschend stark in Adams Unterarm.

„Irgendwann wird er dich und mich umgebracht haben, Adam. Das lasse ich nicht zu. Wir müssen handeln und das zeitnah.“

Wir. Noch nicht einmal er alleine. Trotz allem, was die Dreckssau Leo hatte antun lassen, wollte dieser sich immer noch gegen ihn auflehnen. Mutig war das, mutig ebenso wie dumm. 

„Was willst du tun? Strafanzeige gegen ihn stellen? Er wird ein Alibi haben, Leo. Er wird es so hinstellen, als würdest du lügen und dann wird er dich in einem Autounfall oder mittels Gift töten lassen. Oder sich eine noch viel perfidere, schlimmere Art einfallen lassen. Sein Hass auf die Polizei kennt keine Grenzen und deswegen musst du den Kopf unten halten.“

Das schmeckte seinem hauseigenen Polizisten ganz und gar nicht, der hin- und hergerissen war zwischen der attestierten Superman-Kraft und anscheinend seinem eigenen Rachedurst. 

„Wie lange, Adam? Etwa bis er stirbt?“ Wütende Herausforderung grollte ihm entgegen und Adam war mehr als hilflos angesichts der Frage. 

„Ich weiß nicht, Leo. Ich weiß es wirklich nicht.“
„Im Zeugenschutz wärst du sicher.“
„Und du? Kommst du mit? Deine Familie auch? Wollen wir gemeinsam in einem kleinen, netten Haus irgendwo weit weg wohnen, mit anderen Namen, ohne eine Verbindung zu dieser Stadt, diesem Bundesland? Ein neues Leben? Vincent, sein Adam, auch. Eine große, glückliche Familie.“

Adam spielte unfair, das wusste er, aber mit jeder Silbe, die Leos Lippen verließ, hatte er mehr Angst um diesen und um das, was Leo tun würde um seinen Vater zur Strecke zu bringen. 

„Du nennst mich Superman und hast mich nicht zuletzt gestern noch einmal daran erinnert. Aber du lässt nicht zu, dass ich dich rette, Adam. Warum nicht?“

Adam öffnete die Lippen, um etwas zu erwidern. Er holte Luft um die Zeit zu überbrücken, in der er denken musste. In der ihm Wahrheiten ins Hirn und Herz drangen, die er eigentlich so gar nicht so klar hatte haben wollen. 

„Du hast mich doch schon längst gerettet, Superman“, sagte er mit einem schrägen Lächeln und das geschundene Gesicht seines hauseigenen Polizisten verzog sich überrascht und unwirsch zugleich, weil es eine deratige Nichtantwort und Umgehung der eigentlichen Problematik war, dass Leo die Worte versagten. 

Zum Glück für Adam. Zumindest jetzt. 


~~**~~


„Kann ich dich nach draußen begleiten?“

Zähneknirschend verharrte Leo am Eingang zum weitläufigen Park und warf einen langsamen Blick über seine Schulter zurück. 

Die Ärztin hatte gesagt, dass er sich vorsichtig wieder bewegen dürfte und gerade jetzt hatte Leo wirklich genug davon gehabt, im Bett zu liegen, französisches Netflix zu schauen und nichts zu tun außer zu schlafen, aus Alpträumen hochzuschrecken und festzustellen, dass Adam immer noch an seiner Seite war. Mal mit mal ohne Vincent.

So hatte er Adams kurze Abwesenheit dazu genutzt, sich aus dem Staub zu machen – zumindest bis zum Park, denn die Sonne schien und Leo wollte frische Luft tanken. Dass sein zweiter Wächter – nichts anderes war Vincent – aufmerksam genug war um ihn an seinem Spaziergang zu hindern, machte Leo noch wütender als alles Übrige heute. Seit heute Morgen schon spürte er Zorn in sich, so wütend, dass er ihm Magenschmerzen bereitete.  

„Ich laufe schon nicht weg“, presste Leo zwischen seinen Zähnen hervor und verfluchte seine Weigerung, weiterhin hochdosierte Schmerzmittel zu nehmen, die seine Gedanken träge machten und ihm Übelkeit verursachten. Sein ganzer Körper schmerzte und auch wenn es Heilungsschmerz war, so hatte Leo keine Geduld mehr mit sich und seinem Körper. Nicht nach drei Tagen Bettlägerigkeit. 

„Das wollte ich dir auch nicht unterstellen. Aber der Tag ist schön und ein Spaziergang tut dir sicherlich gut.“

„Ja, wird er.“

Vincent sah ihn erwartungsvoll an und Leo war wirklich versucht, nein zu sagen. Den anderen Mann zum Teufel zu wünschen. Der Schmerz, aber nicht nur der, machte ihn wütend und unleidlich und trotz Adams Versicherung, dass seine Familie in Sicherheit war, schwelte immer noch undefinierte Unsicherheit in Leos Hinterkopf. Dieser musste er weglaufen und wenn er mit seinem lädierten Körper schon nicht joggen gehen konnte, dann musste der gepflegte Park herhalten. 

Er fragte sich, wie viele Synonyme er noch für den eigentlichen Zustand seines Körpers finden konnte, bevor ihm der Wortschatz ausging und er sich dem stellen musste, was ihm angetan worden war. 

Leo wandte sich ab und schnaubte nicht ablehnend, aber auch nicht bestätigend. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, ließ sich die warme Herbstsonne auf das Gesicht scheinen. 

Vincent hatte ihm Kleidung mitgebracht, die nicht seine war. Eine Trainingsjacke, die er leicht anziehen konnte und eine Trainingshose, die viel zu weich war, um nicht bequem zu sein. Dazu dicke Socken, Unterhosen, die er vielleicht schon einmal bei Adam gesehen hatte und seine eigenen Sneaker. Sonst war da nichts von seiner ursprünglichen Kleidung und Leo fühlte sich dadurch noch viel weniger in seinem eigenen Leben verankert. 

Nicht, dass er seine Kleidung weiter getragen hätte, auch wenn sie gereinigt worden war.

Der Park war ruhig und bis auf wenige Patienten waren sie alleine. Vincent hielt auf gleicher Höhe Abstand, während sich Leo Schritt für Schritt nach vorne kämpfte, eisern und verbissen.

„Möchtest du über das sprechen, was Roland Schürk dir angetan hat?“, fragte Vincent schlussendlich unverblümt, als Leo weiterhin schwieg, die Stimme ruhig und die Intonation vorsichtig abwartend. Zunächst reagierte Leo nicht, ging weiter, als hätte er nichts gehört, nicht in der Stimmung, die Erinnerungen aus den Untiefen seines Geistes zu holen. 

„Worüber sollte ich denn mit dir sprechen, was du nicht schon weißt und mit Sicherheit schon einmal mitbekommen hast?“, fragte er dann entsprechend ungnädig und Vincent machte eines seiner kleinen Geräusche, mit denen er leise, sanfte Missbilligung ausdrückte. 

„Ja, ich weiß, wozu er fähig ist, Leo. Das hast du richtig erkannt. Aber es geht mir um dich und wie du dich damit fühlst.“

„Zum Kotzen fühle ich mich. Wie auch sonst?“

Nun seufzte Vincent offen und überholte ihn, damit er Leo in die Augen sehen konnte und damit Leo seine Missbilligung sehen konnte. 

„Leo, er hat dir sehr wehgetan. Ich möchte versuchen, dir dabei zu helfen, es zu verarbeiten.“

Was genau Leo letztendlich an diesen Worten so wütend machte, war ihm nicht klar. Er konnte aber auch nicht verhindern, dass heißer Zorn in ihm hochschoss und ihn Vincent gegenüberstehen ließ, als hätte dieser selbst Hand an ihn gelegt. 
 
„Detlef hat mir da mehr geholfen als du. Der hat mich wenigstens auf das Erlebnis vorbereitet, scheinbar zu ertrinken“, presste Leo hervor, unfair in dem Moment, in dem die Silben seinen Mund verließen. 

Vincent zuckte zurück und das zu sehen befriedigte Leo in der ersten Sekunde zunächst mehr, als er es wirklich zugeben wollte. In der zweiten Sekunde war es eben jene Wut, die einen schalen Geschmack hinterließ und Leo sich wieder in Bewegung setzen ließ. Weg von Vincent, weg von der Möglichkeit, ihn weiter mit etwas zu verletzen, was er ausnahmsweise nicht zu vertreten hatte. 

Es brauchte etwas, bis Vincent ihm dieses Mal folgte, aber er hatte Leo schneller aufgeholt, als er die rettende Parkbank erreichen konnte, auf die er sich langsam niederließ. Er wäre gerne weitergegangen, doch sein Kreislauf war noch nicht auf der Höhe und die Erinnerungen an die Momente voller Angst vor einem möglichen Ertrinken und an die schmerzhafte, brutale Gewalt taten ihr Übriges. 

Leo starrte an Vincent vorbei auf die Rasenfläche, auf der bunte Blätter im Wind tanzten. Es raschelte leise, beinahe schon heimelig und er hielt sich an dem Geräusch fest, das ihm so viel Ruhe vermittelte. 

Vincent ließ ihn und Leo kämpfte gegen seine Wut, kämpfte sie nieder, damit er die Worte herauspressen konnte, die unter seiner Oberfläche lauerten und seine Haut kribbeln ließen. 

„Das Komische ist…nachdem Adam und du mich erpresst habt, nach dem ersten Zusammentreffen, da war ich geschockt und verzweifelt. Ich war panisch und hatte Angst. Noch Tage danach ging mir das so. Ich habe mich übergeben und konnte nicht schlafen. Aber jetzt, wo…“ Leo stockte und schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo das passiert ist, ist da nur Taubheit. Es kribbelt und ich bin konstant angespannt, ich bin wütend, durchsetzt von schlechten Erinnerungen. Ich schlafe, in Anwesenheit seines Sohnes. In seinen Armen, was du mit Sicherheit schon weißt.“

Leo schüttelte über sich selbst frustriert den Kopf. „Wenn du also darüber sprechen möchtest, was mir angetan wurde, dann beantworte mir die Frage, warum das Eine schlimmer als das Andere ist, obwohl es eigentlich umgekehrt sein sollte.“

Dieses Mal ließ sich Vincent Zeit mit der Antwort. Er beobachtete die Menschen, die ihre langsamen Runden drehten und sein Gesicht glättete sich zu einem Ausbund an Neutralität. 

„Beides ist auf seine Art und Weise schlimm, Leo. Was wir dir angetan haben, hat Spuren in dir hinterlassen. Was Adams Vater dir angetan hat, wird ebenfalls Spuren hinterlassen.“

„Das beantwortet meine Frage nicht“, erwiderte Leo ungnädig und Vincent wandte sich ihm zu.

„Es wird deine Frage auch nie beantworten können, Leo. Nur du wirst auf deine Frage eine Antwort finden.“

Leo wusste nicht, ob es Vincents Ton oder seine Worte waren, die erneut Zorn in ihm hochkochen ließen, die ihm im ersten Moment die Luft zum Atmen raubten. Er musste sich zurücklehnen, heraus aus Vincents Reichweite. Leo schnaubte verächtlich und nichts daran war sanft oder nachgiebig oder verständnisvoll. 

„Schön, wie du mich damit alleine lässt, nachdem das alles hier eure Schuld ist“, zog Leo höhnisch seine Lippen zurück, jedes Wort ein Angriff, eine Kugel, die dazu gedacht war, Vincent zu verletzen und ihm seinen eigenen Frust deutlich zu machen. 

Vincent tat ihm auch den Gefallen und zuckte zurück, als hätte er sich an Leos Worten verbrannt. An der Wahrheit. Es war eine derart ehrliche Reaktion, dass Leo ahnte, wie schlimm seine Worte gewesen sein mussten. Oder wie nah sie an der Wahrheit waren. 

„Wäret ihr mir nicht passiert, wäre er mir nicht passiert“, schob er nach, unfair, aber in der Unfairness befreiend und dadurch den inneren Schmerz besänftigend. 

Vincent fing sich schneller, als es Leo jedoch lieb war. Wut durchzog sein Gesicht und verzerrte es für den Bruchteil einer Sekunde zu etwas, das Leo trotz aller Vertrautheit doch Angst machte. Dann nahm Vincent sich willentlich zurück und die darauffolgende Ruhe war um ein Vielfaches schlimmer. 

Er kam einen langsamen Schritt auf Leo zu und musterte ihn missbilligend. „Wären wir nicht, wärst du schon längst tot, denn du warst Adams Vater schon immer ein Dorn im Auge. Das hat Adam dir bereits vor Monaten gesagt. Er hätte dich getötet und wenn du glaubst, dass er Adam in den Monaten, in denen er dich unter Kontrolle gehabt hat, nicht für deine vermeintlich dummen Taten bestraft hat und ihn an deiner statt geprügelt hat, dann bist du blind, Leo. Ja, Adam und ich haben dir schlimme Dinge angetan, das stimmt. Dafür werden wir uns auch verantworten, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versucht haben, dich vor seinem Zugriff zu schützen.“

Es musste vom Flüssigkeitsmangel kommen, dass Leos Mund plötzlich trocken wurde. Ganz sicher musste es das. Vielleicht fehlten ihm auch deswegen die Worte, mit denen er Vincent seine Wahrheit zurückzahlen konnte. 

Wieder veränderte sich Vincents Mimik und was auch immer Leos Unterbewusstsein dort sah, es machte ihm nun wirklich Angst. Unwohl schob er sich auf der Bank hin und her, Vincents blaue, kajalumrandete Augen eine stumme Sezierung seiner unsicheren Bewegungen. 

„Und wenn ich dich um eins wirklich eindringlich bitten werde, Leo Hölzer, dann dass du Adam das nie sagst. Adam leidet, seit er klein ist, unter seinem Vater. Er hatte nicht das Glück, ihn erst diese Woche richtig kennengelernt zu haben. Er hatte das unheimliche Pech, in diese Familie geboren worden zu sein und von klein auf einer unvorstellbaren Gewalt ausgesetzt zu sein, die ihn bis heute prägt. Erst jetzt, ausgerechnet dank dir, lernt er wieder, was ein Leben außerhalb seines missbräuchlichen Kosmos sein könnte. Du wirst ihn brechen, wenn du ihm die Taten seines Vaters anlasten wirst. Insbesondere jetzt, wo er sich ohnehin schon Vorwürfe macht, weil er dich nicht rechtzeitig genug aus den Klauen seines Vaters hat lösen können, wird ihn ein solcher Vorwurf verzweifeln lassen.“

Leo konnte nichts sagen, er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Stumm verharrte er an Ort und Stelle, bewegungslos versuchte er, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er fühlte sich fürchterlich mit den Worten und mit Vincents Eingeständnis, was er Adam mit einem Satz antun könnte. Mit der Macht, die er in seinen Händen hielt und die er vor einem halben Jahr problemlos genutzt hätte um sich zu rächen. 

„Warum hilfst du ihm nicht in den Zeugenschutz, wenn er dir so viel bedeutet und du weißt, was sein Vater ihm antut?“, fragte Leo schließlich rau und Vincent schüttelte den Kopf. 

„Glaubst du allen Ernstes, das hier ist etwas Kleines? Glaubst du, dass sich das Netzwerk, was Roland Schürk aufgebaut hat, nur auf Saarbrücken erstreckt? Adam würde noch nicht einmal den Zeugenschutz überleben, Leo. Er würde sterben und dieses Mal würde Roland Schürk keine familiäre Gnade und Hoffnung walten lassen. Dein Zeugenschutz ist der naive Versuch des Staates, einen Wall aufzubauen, den kriminelle Strukturen schon längst unterwandert haben. Und doch, Leo, ich würde Adam lieber in Sicherheit wissen, als weiter in den Händen seines Vaters. Aber dein Versuch ist der falsche. Zumindest jetzt, wo Roland Schürk so stark ist und sein Imperium so fest im Griff hat.“

Leo öffnete seinen Mund um zu widersprechen und schluckte dann doch fruchtlos und trocken alle Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. Vergeblich auf der Zunge lagen, denn Vincent hatte in einem Recht. Er ahnte noch nicht einmal, wie tief die Korruption und die Erpressung im Syndikat wucherten. 

„Und deswegen ist es auch so wichtig, dass du niemandem etwas darüber erzählst, was dir angetan wurde, Leo. Tust du es, weihst du dich dem Tod. Gehst du zu deinen Kolleginnen und Kollegen, wird Roland Schürk es schneller erfahren, als du denkst und dann wird er dich umbringen. Und vielleicht nicht nur dich, so sehr, wie er sich aktuell vergisst. Dein Schweigen in jeglicher Hinsicht schützt dich und deine Familie, aber auch Adam und mich. Mach dir das bewusst.“

Sein Schweigen gegen das Leben der Anderen? Wenn er Vincent nicht jedes Wort glauben würde, dann wäre das fast schon pathetisch. Ein schlechter Film. So? Bittere Realität und Leo schmeckte ebenso bittere Magensäure. 

„Also wird es keine Gerechtigkeit geben“, sagte er tonlos und Vincent seufzte tief. Langsam ging er vor Leo in die Hocke und noch viel langsamer streckte er seine Hände aus, legte sie auf Leos zu Fäusten geballte Finger. 

„Doch Leo. Nur nicht jetzt. Ich kann dir nicht versprechen, wie bald, aber es wird nicht ewig so weitergehen.“

Leo blinzelte, als ihm bewusst wurde, was Vincent so eben angedeutet hatte. „Du sprichst von seinem Tod“, hakte er nach, flüsterte es fast, als könne jemand sie hören. 

„Ja, aber von seinem natürlichen Tod. Wir sind keine Mörder, Leo.“

Keine Sekunde seit ihrem ersten Zusammentreffen hatte Leo jemals so ein starkes Gefühl von trostloser Hoffnung gehabt wie in diesem Moment. Natürlich wäre ein Mord an Roland Schürk verdammenswert. Natürlich würde Leo alles daran setzen um seinen Mörder zu verhaften. Aber das, was es gleichzeitig bedeutete, nämlich, dass es für immer so weitergehen würde, war eine ebenso schlimme Katastrophe. Vincent strahlte alles aus, nur keine Zuversicht. Fahle Zuversicht, so wie ein blassgelber Himmel an einem trüben Tag, das war es, was sich ihm hier entgegendrängte und Leo begriff.

Viele Puzzlestücke fielen in diesem Moment an ihren Platz und Leo hatte mit einem Mal trotz allem das Gefühl, freier durchatmen zu können. Mit weniger Wut auf Vincent und Adam, dafür jetzt aber auf Roland Schürk. 


~~**~~


„Und während Gregor dies alles hastig ausstieß und kaum wußte, was er sprach, hatte er sich leicht, wohl infolge der im Bett bereits erlangten Übung, dem Kasten genähert und versuchte nun, an ihm sich aufzurichten. Er wollte tatsächlich die Tür aufmachen, tatsächlich sich sehen lassen und mit dem Prokuristen sprechen; er war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihm verlangten, bei seinem Anblick sagen würden. Würden sie erschrecken, dann hatte Gregor keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hatte auch er keinen Grund sich aufzuregen, und konnte, wenn er sich beeilte, um acht Uhr tatsächlich auf dem Bahnhof sein.“

Adam legte das Handy auf seinen Oberschenkel und hob den Blick, als er einen Absatz machte und sich wieder einmal davon überzeugte, dass Leo sowohl am Leben war als auch seine Gegenwart weiterhin wollte. 

Seit seinem Spaziergang im Park, der Adam in den ersten Sekunden des panischen Suchens den Puls hochgetrieben hatte, war Leo anders. Nicht so wütend wie direkt nach dem Aufwachen. Nicht so ungnädig. Er war aufmerksam und nachdenklich, allerdings immer noch deutlich erschöpft. 

So hatte Adam die Gelegenheit ergriffen und sich gerächt. Leo kam nicht aus dem Bett weg, also las er Kafka. Hin und wieder sah er hoch und begegnete Leos grünen Augen, die anscheinend an seinem Gesicht festgeheftet waren. 

„Brennt da noch Licht bei dir?“, fragte Adam entsprechend foppend und Leo schnaubte. 

„Sieht so aus, als wäre es dunkel?“

„Vielleicht ist der Inhaber ein bisschen weiter weg vom Fenster.“

Leo rollte mit den Augen und es war tatsächlich Amüsement, das Adam auf dem nur langsam abheilenden Gesicht sah. 

„Bald geht’s nach Hause“, sagte er und in der Tat konnte Leo, wenn er denn wollte, in einem Tag die Klinik verlassen. Er wäre auch länger hier willkommen, aber Doktor Josserand hatte Leos Frage nachgegeben, wann der frühestmögliche, vertretbare Zeitpunkt wäre. 

Vorsichtig nickte Leo und die positive Emotion in seinem Gesicht wurde überschattet von einer Angst, die Adam nur zu gut kannte. 

„Er wird dir nichts tun. Er wird dich jetzt nicht noch einmal holen, das verspreche ich dir“, bekräftigte er entsprechend ruhig. „Er will jetzt sehen, dass du dich daran hältst, was er dir aufgezwungen hat. Du bist sicher, wenn du ihn nicht antagonisierst. Und ich lasse die Gegend um deine Wohnung beobachten.“

Eine Information, die Leo gar nicht zu schmecken schien, so säuerlich, wie er einen Moment lang aussah. 

„Was soll ich meinem Team sagen? Oder meinen Eltern? Sie werden Verdacht schöpfen und ich kann nicht ehrlich zu ihnen sein. Und wenn ich nicht aussage…wie soll ich das begründen?“

Leos Hilflosigkeit schmerzte Adam so sehr, dass sein Magen sich wie eine Faust zusammenzog. Instinktiv haschte er nach Leos Hand und drückte die Finger, versicherte sich eins ums andere Mal, dass der Mann vor ihm noch lebte und dass es ihm gelungen war, ihn aus den Klauen der Dreckssau zu retten. 

Während Leo stiften gegangen war, war Adam eine Idee gekommen, wie er Leo ein weiteres, sicheres Standbein geben konnte. Es war riskant und musste gut geplant werden, aber Leo selbst hatte da gute Vorarbeit geleistet. Nicht, dass Adam es ihm je sagen würde, denn er liebte seinen Kopf dort, wo er war – auf seinen Schultern, in der Lage dazu, Leo zu sehen, zu riechen, ihn zu schmecken. Wenn er denn durfte, was nach wie vor in den Sternen stand. 

„Ich habe eine Idee.“ Er lehnte sich vor und hauchte einen Kuss auf die ebenfalls mit Hämatomen verfärbten Finger. 

Das überraschte Unwohlsein, welches beinahe augenblicklich über Leos Gesicht kroch, war schon fast eine Beleidigung, befand Adam. 
„Was für eine?“, fragte Leo nahezu alarmiert und Adam fühlte sich dieses Mal mit Sicherheit beleidigt vom mangelnden Vertrauen seines hauseigenen Polizisten. Er stahl sich einen schnellen, flüchtigen Kuss von dessen Stirn. 

„Vertrau mir“, wagte er das Unmögliche. Niemals, stand in den grünen Augen, ein erster Impuls, der zu einem „Möglicherweise“ wurde, dann zu seinem „Vielleicht“, und schlussendlich war da ein „Ich habe sowieso keine andere Wahl“. 

Leo dachte an Detlef, das letzte Mal, als Adam Vertrauen von ihm gefordert hatte. Das sah Adam nur zu deutlich und entsprechend überrascht war er, dass Leo nicht mehr weiter nachbohrte, sondern akzeptierte. 


~~**~~


„Hey Zarah.“
„Vincent.“

Adams Frau fürs Grobe nickte knapp und nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Sie hatte ihre Jacke bis nach oben hin zugezogen und schniefte anscheinend gegen eine kommende Erkältung an. 

„Ich hab‘ was beobachtet bei der Wohnung vom Polizisten.“

Vincent antwortete ihr nicht direkt, sondern sah sich scheinbar interessiert auf dem Waldweg um. Für die Fußgängerin mit Hund, die gerade an ihnen vorbeizog und freundlich grüßte, waren sie vermutlich nicht anders aus als ein Städterpaar auf der Suche nach etwas romantischer Einsamkeit. Das war in Ordnung so, verschleierte es doch den wahren Sinn ihres Treffens. 

„Was hast du beobachtet?“

„Kundschaft, in der Nähe seiner Wohnung. Keine des Seniors. Keine von meinen.“

„Sondern?“

Schulterzuckend hob sie die Augenbrauen. „Weiß ich noch nicht.“

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es herausfand, befand Vincent. Er wusste, dass sie gut darin war, Dinge heraus zu finden. Schließlich hatte sie ihm auch geholfen, Leos Leben bis ins letzte Detail transparent zu machen. Sie war ihm gefolgt, über Wochen, unauffällig und im Verborgenen. So würde sie auch der neuen Kundschaft folgen. 

Vincent hatte kein gutes Bauchgefühl bei der Sache. Ganz und gar nicht. Wer waren die Menschen? Warum hatten sie ein Interesse an Leo? 

„Behalte das noch für dich. Ich will erst wissen, wer die Leute sind“, sagte er und sie nickte. 

„Ich sag dir Bescheid, sobald ich was weiß.“

„Danke dir.“


~~**~~


„Spurt er?“

Es war Adam noch nie so schwer gefallen, sein widerlichstes Grinsen aufzulegen. Es war ihm noch nie so schwer gefallen, sich zurückzulehnen und die Beine zu spreizen. Adam klammerte sich an seinen Hass seinem Alten gegenüber, der ihn funktionieren ließ. Hass und Wut auf den Mann, der ihm das Leben zur Hölle gemacht, die Liebe seines Lebens umgebracht und sich an Leo vergriffen hatte.

„Mein Schwanz war für zwei Tage wund, wenn es das ist, was du fragst, Vater“, erwiderte Adam so befriedigt und dunkel, wie er nur konnte. „Ich habe ihn solange gefickt, bis er nur noch gewimmert hat. Dann hab ich weitergemacht. Und danach habe ihm die Frage gestellt, ob er nochmal was plant oder ob er vorhat, sein Maul aufzureißen.“

Angewidert verzog der Alte sein faltiges Gesicht und Adams Lächeln verkam zu etwas Humorlosem. Noch nie war er so angeekelt von seinen eigenen Worten gewesen. Selten war die Wahrheit so weit weg von dem, was er der Dreckssau vorlog, wie gerade jetzt. 

Leo wurde in dieser Minute von Vincent nach Hause gebracht und Adam wäre am Liebsten bei ihm um jeden Schritt zu bewachen und sicherzustellen, dass es ihm gut ging. Dr. Josserond hatte ihn schließlich ziehen lassen und so war Leo immer noch vorsichtig und mit langsamen Bewegungen in die Kleidung gestiegen, die Adam ihm aus seinem eigenen Kleiderschrank mitgebracht hatte. Das war nur fair angesichts der Tatsache, dass Leos Pullover gut versteckt in seinen Sachen thronte. 
 
Auch Adam hatte Leo nicht davon überzeugen können, zu bleiben, und so war der Anruf der Dreckssau gerade richtig gekommen um das erste Paar Pflöcke einzuschlagen, die Leo am Leben erhielten.

Um das zweite Paar wurde sich in diesem Moment gekümmert. Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger würde der zweite Pflock Leo gefallen, ganz und gar nicht, aber es war eine weitere Rettungsleine. Und es wäre nicht so, als würde es damit einen Unschuldigen treffen. Zarah hatte den Vorschlag gemacht und ihre Gnadenlosigkeit beeindruckte Adam eins ums andere Mal. 


~~**~~


Je näher sie seiner Wohnung kamen, desto nervöser und flattriger wurden Leos Nerven. Trotz Vincents Anwesenheit und der minimalen Versicherung, die daraus erwuchs, zitterten seine Hände und Vincent warf ihm mehr als einen nachdenklichen und besorgten Blick zu. 

Leo ignorierte ihn und starrte anstelle dessen auf die belebte Straße. Er hielt die Augen nach einem Transporter offen und zuckte zusammen, als tatsächlich einer um die Ecke bog, viel zu schnell und zu rasant. Erst, als der Amazon-Fahrer mit einem Paket vom Fahrersitz sprang und zu einem der Nachbarhäuser lief, entspannte er sich signifikant, erleichtert und gleichzeitig wütend auf sich, dass er so schreckhaft war und so dumm. 

„Die Umgebung ist sauber, wir haben sie überprüfen lassen“, sagte Vincent, in der Form auch nicht zum ersten Mal auf ihrem kurzen Weg aus Frankreich hierhin, dieses Mal jedoch mit einem Unterton, den Leo schwer lesen konnte. Abwartend, vielleicht. Mit einem Hang zum Fragenden, den Leo nicht ganz analysieren konnte und wollte. Lieber konzentrierte er sich auf die Umgebung und damit auf das Wesentliche. Es war Samstagmorgen und entsprechend belebt, sonnig und warm dafür, dass es Herbst war. Die Blätter an den Bäumen waren in den vier Tagen seiner Abwesenheit aber schon ordentlich gefallen und kündigten so den nahenden Winter an. 

Leo fragte sich, ob sein Personenschutz auch irgendwo hier sein und sie sehen würde. Wenn sie ihn so sehen würden, würden sie mit Sicherheit Bericht erstatten und dann würden Pia und Esther bei ihm klingeln. Leo fürchtete sich jetzt schon vor dem Moment, in dem er aussprechen musste, was ihm angetan worden war. 

Vincent hielt an und zog somit Leos Aufmerksamkeit zu sich und weg von den Problemen, die kommen würden. 

„Möchtest du in deiner Wohnung alleine bleiben?“, fragte er und nickte in Richtung Eingangstür. Bevor Leo schon den konkreten Gedanken dazu gefasst hatte, nickte er stumm und hatte seine Hand am Türgriff. Eigentlich wollte er nicht, doch er konnte und durfte nicht zulassen, dass er von der erlebten Gewalt gelähmt und verkrüppelt wurde. 

Ohne ein Wort des Abschieds verließ er den Wagen und kämpfte sich Schritt um Schritt zu seiner Haustür. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich trotz Vincents Anwesenheit immer wieder umsah, immer wieder im Zwang, sich zu versichern, dass ihn sich niemand greifen und in ein Auto zerren würde. 

Erst, als Leo die schwere Holztür hinter sich geschlossen hatte, atmete er durch und kämpfte seinen wunden Körper die Stufen nach oben, bis er seine Wohnungstür erreichte. 

Adam hatte ihm gesagt, was dort geschehen war und dass die Männer, die darstellen sollten, was nicht geschehen war, schon längst weg waren. Trotzdem fühlte es sich falsch an, als er seine Wohnung betrat, hinter sich abschloss und als das nicht reichte, die Kette noch in das Schloss rammte. 

Mit dem Geräusch kam die Erkenntnis, dass es ein Fehler gewesen war. 

Leos Bedürfnis, alleine in seiner Wohnung zu sein, war ein Fehler. Leos Bedürfnis, weder Vincent noch Adam zu sehen, war einer, wie er mit jedem Schritt in seine Wohnung hinein erkannte. 

Dass er nun durch seine Räume lief, die nach fremden Menschen und Rauch rochen, dass er sein Bett zwar gemacht, aber die Bettwäsche knittrig vorfand, bestätigten seine Angst und sein Unwohlsein mit jeder Minute, die er hier war und bei jedem Geräusch aus seinem Flur und im Haus zusammenzuckte. 

Vincent und Adam hatten gesagt, dass er erst einmal sicher sei, wenn er den Kopf unten halten würde. Leo glaubte es ihm – zumindest partiell. Er wusste nicht, ob Roland Schürk nicht doch die Gelegenheit nutzte und ihn umbrachte, aber er traute sich auch nicht, Pia oder Esther zu kontaktieren und sie hier in seiner Wohnung um Schutz zu bitten. Wer wusste, ob sein Handy noch abgehört wurde? 

Adam und Vincent hatten es getan und was, wenn dem immer noch der Fall war? Seine Zugangsdaten hatten sie noch.

Dass er zu Pia fuhr, wenn sie nicht von alleine zu ihm kam, schloss sich aus. Er hatte zwar mit seinen Sachen auch seine Autoschlüssel zurückerhalten in der Klinik, aber Leo glaubte nicht, dass er genug Kraft und Mut finden würde um seine Wohnung heute zu verlassen. Also musste er bis Montag warten, in der Hoffnung, dass er dann stark genug sein würde. 

Die Einzige, die er gefahrlos anrufen könnte, wäre Caro. Caro war seine große Schwester, sie war früher schon für ihn dagewesen und hatte gegenüber ihren Eltern gegenüber geschwiegen, wenn Leo sie darum gebeten hatte. Wenn sie da wäre, würde er sich sicherer fühlen. Wenn sie da wäre, könnte er ihr eine halbgare Lüge über einen tätlichen Angriff erzählen. 

Leo entsperrte sein Handy und starrte auf seine Handgelenke und auf die verschorften Wunden dort. Nahtlos huschten seine Gedanken von dort aus zurück zu den Stunden in dem weiß gefliesten Raum und zu der schmerzhaften, brutalen Gewalt, die er nicht hatte verhindern können. Er lebte noch, war nicht ertrunken, aber das würde nicht bedeuten, dass er sich nicht mit jeder Faser seines Körpers an das Gefühl des vermeintlichen Ertrinkens erinnerte. Oder dass er nicht in jeder Minute, die er hier in der Stille seiner Wohnung auf der Couch saß und sich fürchtete, den Hohn und die Brutalität der Männer hören würde. 

Blind wählte Leo Caros Nummer. Es brauchte zwei Klingeln, dann nahm sie ab und erleichtert atmete er auf. Wenn sie das tat, hatte sie keine Schicht. Vielleicht hatte sie auch noch nichts vor. Vielleicht konnte sie da sein und die bedrohliche Stille vertreiben.

„Hast du Lust, das Wochenende hier zu sein?“, fragte er mit rauer, krächzender Stimme und Caro enttäuschte seine Hoffnungen in sie nicht. Vier Sekunden brauchte sie, um ihre eigene Überraschung zu schlucken. 

„Ich komme“, erwiderte sie entschlossen im schwesterlichen Ton, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Die, so war sich Leo sicher, würden später mit Sicherheit gestellt werden.

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

Chapter 51: Das doppelte Lottchen

Notes:

Einen wunderbaren Freitagmorgen euch allen!

Hier nun der neue Teil zur Anatomie. Nach einer etwas längeren, arbeitsintensiven Strecke, kann ich mir nun auch wieder Zeitfenster freischaufeln. Daher mit latenter Verspätung, aber annähernd 15 Seiten der neueste Teil der beiden Helden. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! 🤗

Vielen lieben Dank auch an dieser Stelle für all eure Kommentare, Sprachnachrichten, Likes, Reblogs, Kudos, etc etc.! ❤️🌻

Chapter Text

 

Caro kannte ihren kleinen Bruder, schon seit er ein knubbeliges, quietschfideles Baby war, das ihren Eltern in den ersten zwei Jahren keine Nacht Ruhe gegönnt hatte. Sie wusste, wie er tickte, was er brauchte, was ihm gefiel und was nicht. Und so hatten sie zwar ihre Geschwisterstreits gehabt, mal mehr, mal weniger heftig, aber sie war immer für ihn dagewesen. 

Was sie damit auch konnte, war, jede einzelne Nuance aus seiner Stimme herauszuhören. Ihr teils verschlossener, kleiner Bruder war nämlich nicht wirklich in der Lage dazu, die Emotionen aus eben jener herauszuhalten und alle Gefühle, Freude wie Schmerz, lagen ihm quasi wortwörtlich auf der Zunge. 

Genau das war auch der Grund, aus dem sie bei ihren Eltern vorbeifuhr und einen ekstatischen Herbert einpackte, bevor sie zu Leo fuhr. Die besorgte Frage ihrer Mama, ob es dem jüngsten Hölzer gut ging, bejahte sie in dem Wissen, dass dem nicht so war, denn Leos Stimme hatte fürchterlich geklungen. Mit Sack und Pack und einer aufgeregten, deutschen Dogge fuhr sie zu Leo und seufzte schwer, als sie schlussendlich vor ihm stand und sah, warum er sich am Telefon so schlimm angehört hatte. 

Caro sah in sein von Hämatomen verunstaltetes Gesicht. Sie sah die Angst in seinen grünen Augen und die absolute Anspannung um seine Schultern herum. Dass er hinter ihr und einem winselnden Herbert die Tür abschloss und die Kette in das Schloss schob, passte zu dem Eindruck, den Caro durch ein kurzes Scannen seines Zustandes gewonnen hatte und der sich nun auch verfestigte, als Leo nun seinerseits Herbert vorsichtig herzte und ihn beschmuste, sich steif versuchte, seiner Aufmerksamkeit zu erwehren und nicht hinten rüber zu fallen. 

Erst, als der Hund sich beruhigt hatte und Leo zugunsten von Leos Couch wie eine treulose Tomate im Stich ließ, traute Caros kleiner Bruder es sich, zu Caro hochzusehen und ihr so einen ungehinderten Einblick auf seine Verletzungen zu geben. 

„Was ist passiert“, fragte sie sorgenvoll und ein Schatten huschte über Leos Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ihr nichts zu sagen und sie anzulügen, das erkannte Caro genau, doch dann wurde der zum Scheitern verdammte Vorsatz zugunsten von Entschlossenheit zurückgebannt. 

„Ich wurde geschlagen“, sagte er und ein Zittern durchlief ihn. Er kämpfte mit sich und seinen Worten, wie auch mit den Erinnerungen, die dahinterstanden. Caro warf einen Blick auf seine Hände, die unstet versuchten, Fäuste zu ballen. Mitleid machte Caro das Herz schwer. Wieder einmal äußerte er den Satz, den er schon als Jugendlicher zu ihr gesagt hatte – nachdem sie ihn erwischt hatte, wie er sich nach der Schule den Dreck und den Rotz aus seinem Gesicht waschen wollte. 

Damals, geschlagen von Detlef. Heute? 

„Hat sich jemand deine Verletzungen angesehen?“, fragte sie leise in dem Wissen, dass Leo manchmal nicht ganz pfleglich mit seinem Körper umging, und er nickte wortlos. 

„Adam hat mich in eine Privatklinik nach Frankreich gebracht, damit man sich dort um mich kümmern kann. Frau…Frau Doktor Josserand. So hieß sie.“

Caro blinzelte. Adam war ebenfalls beteiligt gewesen? Das war nicht ganz das, was sie erwartet hatte, wenn sie es sich ehrlich eingestand. Mit dem Wissen kam aber auch ein unschöner Verdacht und kritisch runzelte sie die Stirn, musterte Leo eindringlich.

„War es Adam? Hat er dir das angetan?“, fragte sie ins Blaue hinein und wortlos schüttelte Leo den Kopf. Er war größer als sie, aber seine Schultern sanken so sehr in sich zusammen, dass Caro wenig von ihrem großen, kleinen Bruder erkannte, der manchmal so verbissen stark war, dass sie ihn nur dafür bewundern konnte. 

„Nein, aber jemand aus seinem Umfeld und der etwas dagegen hat, was Adam und ich teilen.“

Leos Stimme war beinahe unhörbar und Caro sah, wie sehr ihn diese Worte anstrengten. Sie überhaupt hervorzupressen kostete ihn anscheinend viel zu viel Kraft. „Weißt du, ich kenne da fähige Polizistinnen und Polizisten in Saarbrücken, die helfen dir weiter, wenn dir etwas angetan wurde.“ Sachter, liebevoller Spott hatte ihnen beiden schon immer weitergeholfen und schlimme Dinge etwas weniger schlimm gemacht. So hoffte Caro auch jetzt darauf, doch Leo ließ sich noch nicht wirklich davon einfangen. 

„Ich habe keine Anzeige erstattet“, gestand er fernab des beliebten Spotts in einer bitteren Ehrlichkeit, die Caro das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sacht strich sie ihm über die unversehrte Handoberfläche.

„Leo, warum?“

Ihr großer Polizistenbruder schluckte schwer, kämpfte mit sich und brauchte zwei Anläufe. Leo, der sich geschworen hatte, dass solche die Detlef niemals mehr ungeschoren davonkamen.  

„Adam…er ist…kennst du seinen Nachnamen?“

Caro schüttelte den Kopf. Tatsächlich hatte sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht. Dafür war sie zum Einen zu fasziniert von diesem Mann, zum Anderen war das, was ihr Bruder und er teilten, zu fragil, wenngleich es Leo gut tat, was wiederum sehr offensichtlich war. Caro gönnte ihrem Bruder sein Glück, auch wenn dieser den Teufel tun würde, es als solches zu bezeichnen. 

„Adam ist der Sohn von Roland Schürk. Sein Vater hat mich durch seine Männer zusammenschlagen lassen.“

Caro blinzelte. Natürlich musste sie nicht nachfragen, wer Roland Schürk war. Jeder Mensch in Saarbrücken kannte ihn, den Großunternehmer, der es weit gebracht hatte – mit Immobilienan- und -verkauf. Halblegal, illegal, alles. Dass er ebenfalls im Drogengeschäft und der Organisierten Kriminalität ein großer Name war, war ein offenes Geheimnis. Dass viele der minderjährigen Patientinnen und Patienten, die Caro hatte und die noch nicht einmal das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatten, ihm zu verdanken waren, machte sie immer wieder wütend. Bis aufs Blut.

„Adam? Dein Adam?“

Leo sah kopfschüttelnd zur Seite. „Er ist nicht mein Adam.“ 

Caro war versucht zu seufzen, bis ihr bewusst wurde, warum Leo so vehement verneinte, was zwischen ihm und dem blonden Mann schon seit Monaten war. Wenn dieser tatsächlich der Sohn vom Schürk war, dann war Leos Beziehung zu ihm nicht unproblematisch. Ganz und gar nicht. Es konnte ihn den Dienstposten kosten, wenn ihm seine Dienststelle die Verbindung negativ auslegte. 

„Okay, Leo. Aber er ist der Sohn von Roland Schürk. Und der hat dir das angetan?“

„Er und seine Männer“, bestätigte Leo rau mit deutlicher Angst in seiner Stimme, ungewohnt hilflos. 

„Warum haben sie das getan?“

Ihr Bruder schnaubte. „Weil ich ein Polizist bin“, sagte er und Caro spürte, dass das nicht die ganze Wahrheit war. „Gewalt ist das Mittel seiner Wahl um Dinge zu verdeutlichen. Er hat damals auch Adam so zugerichtet. Er hat mich ebenfalls mit einem Gürtel geschlagen und…“

Leo verstummte und Caro erinnerte sich noch zu gut an Adams Verletzungen, die sie behandelt hatte. Die rohe Gewalt auf Adams Körper. Die Schmerzen, die er offensichtlich hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit der er erzählt hatte, mit was ihm diese Verletzungen zugefügt worden waren. Dass nun Leo ebenso misshandelt worden war, erschreckte sie und machte sie gleichzeitig auch so wütend, dass sie tief durchatmen musste, um ihren Zorn im Zaum zu halten und Leo dadurch nicht zu verschrecken. Zumal es sicherlich das letzte war, was Leo brauchte, dass sie ihre Wut darüber über ihn auskippte.

„Ach, Mensch…“ Sanft, aber bestimmt zog Caro ihren Bruder in ihre Arme, hielt ihn, während er nach und nach weicher wurde, schier Trost suchte. 

„Komm, ich mache uns gleich einen Kakao und verfrachte dich auf die Couch. Also falls da noch Platz ist mit Herbert, der schon sehnsüchtig wartet, dass er sich auf dich legen kann. Und dann erzählst du mir das, worüber du reden möchtest.“

Im Gleichklang zu ihren Worten war da wieder etwas, das er in sich einschloss, bevor es an die Oberfläche seiner Reaktionen kommen konnte, das spürte Caro, auch wenn Leo nichts sagte, sondern sich nur von ihr löste. Kurz sah er ihr in die Augen, dann trottete Leo gehorsam nach einem versichernden Nicken zur Couch. Caro hörte, wie er seine Position kurz mit Herbert diskutierte, die Diskussion verlor und es sich schlussendlich anscheinend doch auf einem Stück Couch gemütlich machte. 

Unterdes ging Caro in die Küche, um den versprochenen Kakao zu kochen, der ihrem Bruder schon als Teenie immer gut getan hatte. Und um ihre eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen. Sie verspürte bittere Wut, dass Leo wieder hatte leiden müssen. Sie verspürte Zorn auf Menschen wie Roland Schürk, die ohne Rücksicht auf andere Menschen mit Sadismus durchs Leben gingen und andere Leben zerstörten. Sie verspürte Trauer, dass Leo sich ausgerechnet in den Mann verguckt hatte, der eine solche Familie hatte. 

Adam Schürk, ausgerechnet. Ein spannender Mann, hatte Caro nach dem ersten Zusammentreffen gemutmaßt. Spannender Kleidungsstil und jemand, der Leo ordentlich durcheinanderbrachte und anscheinend aus seiner Verkopftheit herausholte. 

Auch die Art, wie Leo ihn bei sich aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatte, hatte viel über die Natur der Beziehung der Beiden gesagt. Dass Leo als LKA-Ermittler sich mit Adam Schürk einen Partner an Land gezogen hatte, dessen Vater eindeutig dem kriminellen Milieu zuzuordnen war, war jedoch… wo die Liebe hinfiel, sagte Caro sich und versuchte nicht, an die Nachteile dieser Verbindung zu denken. Oder an die Herausforderungen. Oder daran, wie schief es gehen konnte.

Caro seufzte und rührte den Kakao um, brachte ihn zum Kochen und füllte ihn schließlich in zwei große Tassen. Sie kam zu Leo zurück, der sich vorsichtig neben Herbert platziert hatte und nun mit angespanntem Gesicht verharrte. 

Sie reichte ihm seine graue Lieblingstasse und ließ sich neben Leo auf die Couch fallen. Er nahm die Tasse in beide Hände und schwenkte sie nachdenklich, trank nach ein paar Mal Pusten zwei vorsichtige Schlucke. 

Auch das schien seinen unsteten Geist nicht zur Ruhe zu bringen. 

„Caro…ich…“, begann Leo und verzog so unwirsch das Gesicht, als würde ihm etwas wehtun. 

Caro verharrte stumm, hatte schon als Teenager gelernt, dass Leo Zeit brauchte, um schlimme Dinge für sich zu verbalisieren und dass er nicht gut auf Druck reagierte. Das hatte sich bis heute bewährt. So saß sie aus, was er ihr sagen wollte, aber nicht konnte. 

„Ich habe Adam nicht freiwillig kennengelernt.“

Sie hatte mit vielem gerechnet, vielleicht auch sogar mit einem Geständnis, dass Leo doch durch Adam wehgetan worden war, aber das? Mitnichten hatte sie das erwartet. 

Fragend zog Caro ihre Augenbrauen hoch und hilflos sah Leo ihr ins Gesicht, bevor er sich wieder Herbert widmete, der sich schamlos auf den Rücken gelegt hatte und mit großen Augen Bauchstreicheleinheiten forderte, während Leo versuchte, seinen Pfoten auszuweichen, die seinem Gesicht gefährlich nah kamen.

„Ich war wegen einer Ermittlung bei ihm. Eigentlich ging es nur um eine Informationsbeschaffung, doch er hat sich vorher auf meinen Besuch vorbereitet. Vorher schon hat er Informationen über mich eingeholt und meine Sachen durchwühlen lassen. Dabei hat er mein Tagebuch gefunden, in dem ich den Spatenschlag an Matthias‘ Vater gestehe. Er hat mich damit erpresst, damit ich das mache, was er will. Beruflich und privat. Das ging Monate so und schlussendlich hat er soviel Druck auf mich ausgeübt, dass ich kurz vor Weihnachten ausgerastet bin. Ich konnte nicht mehr und ich war so fertig…da bin ich ausgerastet. Und erst dann hat er begriffen, was er tut.“ 

Caro war nicht oft sprachlos, das gab weder ihr Wesen noch ihr Umfeld her. Sie war schlagfertig, nie um ein freches Wort verlegen und hatte ein Mundwerk wie eine Droschgenkutscherin. Sagte ihr Papa immer. 

Das war jetzt anders, als sie vollständig begriff, was Leo ihr gerade gestanden hatte. 

Sie erinnerte sich an das erste Treffen mit Adam. Leos Anspannung, die Caro seiner Zurückhaltung zugeschrieben hatte, andere Männer in seiner Wohnung zu haben. Ja gar Schüchternheit, dass ein potenzieller Kandidat auf seine Schwester traf. Schüchternheit, weil Leo sich seit Matthias‘ Tod in keiner Beziehung mehr befunden hatte aus Angst verletzt zu werden. 

Dass die Anspannung auch Angst gewesen sein könnte, hatte sie damals ausgeschlossen. Das war damals. Jetzt begriff sie, dass ihr erstes Treffen genau in den Zeitraum gefallen war. 

„Er hat dich erpresst“, echote sie um zu verstehen, was das alles für Leo bedeutet hatte. Mit Sicherheit war da noch mehr, was er ihr gerade nicht sagte. Mit Sicherheit hatte Adam Schürk mehr getan und Leo verschwieg es ihr, weil er sie nicht belasten wollte. 

Caro atmete tief durch, dreimal, bevor sie für einen Moment die Luft anhielt. Sie hatte sich die Technik angeeignet, als es darum ging, die schlimmen Fälle so neutral wie möglich betrachten zu können. 

Langsam ließ sie ihre Tasse sinken, stellte sie mit Bedacht auf ihrem Oberschenkel ab. Leo hatte Angst gehabt. Vermutlich über Monate. Es war das passiert, was ihm mit Detlef schon einmal passiert war und wieder hatte Caro nicht helfen können. 

Sie schluckte. 

„Was hat er dir angetan?“, fragte sie so leise, dass sie sich beinahe vor ihrer eigenen Stimme fürchtete. Mit großen Augen sah er zu ihr und lächelte schräg. 

„Ich musste für ihn dienstliche Dinge besorgen und mich privat mit ihm treffen. Er hat mich dazu gezwungen, mit ihm Filme zu schauen und mit ihm zu essen. Ich musste Beweismittel beiseite schaffen und ihm meine Ermittlungsergebnisse zeigen. Erst nach Weihnachten wurde es besser, als er begriffen hat, dass ich nicht mehr kann.“

Caro presste bestürzt die Lippen aufeinander. „Oh Gott. Und ich habe ihn noch in unser Haus geholt, weil ich dachte, dass es dir gut tun würde. Und er hat es noch gesagt. Er hat noch gesagt, dass ihr einen Streit hattet, aber ich wollte es nicht hören und sehen. Es tut mir so leid, Leo. Es tut mir wirklich so leid! Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte…“

Sacht haschte Leo nach ihren Fingern und drückte sie. „Du wusstest nichts davon. Keiner wusste etwas. Und nach Weihnachten ist es auch wirklich besser geworden. Er…ist nicht mehr so wie vorher. Er erpresst mich nicht mehr. Und dann irgendwann…als ich die Aussage vor Gericht gemacht habe, hat sein Vater ihn so sehr geschlagen, dass er sich kaum bewegen konnte. Du erinnerst dich? Ich habe ihn da mit nach Hause genommen und dich um Hilfe gebeten. Das hat etwas in mir angerichtet, Caro. Ich…habe irgendwann aufgehört, ihn zu fürchten und zu hassen, weil ich gesehen habe, warum er so ist, wie er ist und warum er manche Dinge getan hat und mittlerweile…“

Leo verstummte und sah auf seine vernachlässigte Tasse. Röte kroch unmissverständlich auf seine Wangen und Caro legte fragend den Kopf schief. Wie konnten sie von Erpressung zu etwas kommen, das Leo peinlich war? Was verschwieg er ihr alles?

„Mittlerweile haben wir mehrfach miteinander geschlafen. Weil ich es wollte. Er erst nicht, aber ich war es, der es wollte. Also er wollte es auch, ich habe ihn zu nichts gezwungen, aber… es tut mir gut. Seine Aufmerksamkeit tut mir gut und es ist damals wie bei Detlef, nur, dass Adam wirklich bereut und sich sorgt und ich…er ist einfach er und ich… Und jetzt hat er mich auch vor seinem Vater gerettet und alles ist roh und tut weh, innen wie außen, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, aber ich weiß, dass ich ihm keine Schuld daran gebe, was sein Vater mir angetan hat.“

Caro hörte zu, allerdings war sie nicht sicher, ob das, was sie hörte, auch das war, was sie verstanden hatte. Wie versteckte Kamera kam es ihr vor. Wie ein Film, wie dieser schlimme Film über einen Gangsterboss, der die Frau entführt und gefangen gehalten hatte, damit diese sich in ihn verliebte. 

Doch das hier war Realität. Bittere, schlimme Realität zu Lasten ihres Bruders. 

„Er hat dir wehgetan“, konzentrierte sie sich auf das Wesentliche und Leo nickte leicht. 
„Zu Anfang, ja.“
„Er hat dich erpresst. Er hat dir Angst gemacht.“
„Ja.“
„Er hat dich gezwungen, ihm zu Willen zu sein. Er hat…“ 

Caro fehlten die Worte um das zusammen zu fassen, was in ihr kreiste. Ihr fehlten die Worte für den Horror in ihrem Herzen. 

„Wie konntest du ihm vergeben und ihn nicht anzeigen? Leo, er hat sich strafbar gemacht. Du bist sein Opfer. Warum hast du…?“

„Am Anfang, weil ich Angst hatte, dafür ins Gefängnis zu gehen und meinen Beruf zu verlieren. Ich wollte nicht und ich war feige. Mittlerweile…weil er zwar ein Arschloch war, aber keins mehr ist. Ich verstehe, warum er einige Dinge getan hat. Ich verstehe, wie traumatisiert er ist. Und… er mag mich. Vincent hat mich sogar gebeten, dass ich ihm nicht das Herz brechen soll, weil er mich nicht nur mag, auch wenn ich das nicht glaube.“

Vincent? Adams Freund? Caros Augen weiteten sich. Auch da war sie vollkommen blind gewesen. 

„Hat er auch etwas damit zu tun?“

Leo bejahte erneut fast unmerklich. „Vincent ist seine rechte Hand. Er hat die Informationen über mich beschafft, mit denen Adam mich erpressen konnte. Er hat mich auch weiterhin beobachtet…am Anfang.“

Entschieden stellte Caro ihre Tasse ab und rückte zu ihm. Sacht strich sie ihm über die immer noch deutlich gezeichnete Wange. „Das ist doch fürchterlich, Leo. Das ist ganz ganz schlimm.“

„Das war es, ja.“
„Wie lange geht das jetzt schon so?“
„Über ein Jahr.“

Herbert, der mit seinen Hundesinnen tausendmal besser als Menschen darin war, Stimmungen zu erspüren, winselte und fuhr Leo mit seiner Zunge über die ihn streichelnde Hand. Probeweise hob er die Pfote und patschte Caros Bruder damit ins Gesicht, als wolle er ihn von seinen dunklen Gedanken abhalten. Traurig lächelnd fing Leo sie ein und schmatzte einen Kuss darauf. 

„Weißt du…Herbert liebt Vincent. Seitdem er ihn kennengelernt hat, bin ich abgemeldet, sobald Vincent im Raum ist. Und er freundet sich sogar mit Adam an. Herbert hat doch ein Gespür für schlimme Menschen, wie können die Beiden dann schlecht sein?“

Wortlos und vor allem geschockt beobachtete Caro ihn. Ein Jahr und mehr und sie hatte nichts gemerkt. Hatte Leo im Gegenteil dazu noch von Anfang an unterstellt, dass er eine Beziehung zu Adam hatte. 
Gepeinigt schloss sie die Augen, kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr hochstiegen. 

„Es tut mir leid, dass ich nichts gemerkt habe, Leo. Es tut mir so leid. Es tut mir leid, dass ich dir damit so wehgetan habe.“

Hilflos sah Leo ihr in die Augen und lächelte traurig. „Ich hab doch nichts gesagt, wie solltest du es da wissen können?“

„Ich bin deine große Schwester, Leo. Ich muss sowas wissen. Ich muss das spüren und nicht denken, dass es dir damit gut geht.“
 
Anstelle einer Antwort lehnte Leo seinen Kopf gegen ihre Schläfe und seufzte.

„Ich war immer schon gut darin, Dinge zu verheimlich und ich nehme dir es nicht übel, dass du gedacht hast, er und ich wären zusammen. Du konntest es nicht wissen und ich möchte auch nicht, dass du mit jemandem darüber sprichst, Caro. Bitte. Es ist wichtig. Niemand darf wissen, dass du es weißt. Auch Mama und Papa nicht.“

„Aber…“

„Bitte, Caro. Versprich es mir. Versprich mir, dass du nichts Dummes machst und mir vertraust. Ich versuche Adam vom richtigen Weg zu überzeugen. Ich verspreche dir, dass ich Gerechtigkeit fordern werde und dass alle Verbrechen bestraft werden. Aber bis dahin…bitte… mach nichts. Bring dich nicht in Gefahr. Mach dir keine Sorgen.“

Caro seufzte. „Und jetzt soll ich mir nicht doppelte Sorgen um dich machen?“ Sie verzog kurz die Lippen vor Unbill und drückte Leo dann einen Kuss auf die Handoberfläche. „Du bist mein kleiner Bruder, natürlich mache ich mir immer Sorgen um dich, du Held. Schon seit du mit dem Gestank deiner Windeln unser Haus verpestet hast.“

Verzweifelter Humor brachte Leo zum Lächeln und es erhellte Caros Dunkelheit schon mehr, als sie es zunächst gedacht hatte. „Caro!“
„Ja ist doch so.“
„Doofe Nuss.“
„Idiot.“

Sie lächelte schmerzlich, aber versöhnlich und er spiegelte die Geste. 

„Soll ich wirklich nicht zur Polizei gehen und Anzeige gegen ihn und seinen Vater erstatten?“
„Nein, Caro.“
„Ganz sicher?“
„Ja.“
„Aber wenn ich Adam das nächste Mal sehe, darf ich ihn boxen?“

Leo kräuselte verschnupft seine Nase. „Nein.“

Wenn Caro nicht gerade auf vollster Linie versagte, ihren Bruder zu lesen, war sie eigentlich ganz gut darin, auf Nuancen zu hören. So wie jetzt gerade, wo sie das Besitzergreifende aus seinem Ton heraushörte.

„Wie fühlst du dich denn mit ihm in deiner direkten Nähe? Und wenn du mit ihm geschlafen hast?“, testete sie daher vorsichtig an und Leo zuckte mit den Schultern. 

„Gut irgendwie…ich mag es.“

„Und andere Alternativen? Die beiden hübschen Dänen?“

Die Röte auf Leos Wangen vertiefte sich nur noch. 

„Nicht so gut wie Adam“, murmelte er und Caro hob ihre Augenbrauen. Sie blinzelte. Nicht so gut wie Adam. Das war angesichts dessen, was Leo durchlitten hatte, eine nicht zu unterschätzende Wertung. 

„Du magst ihn wirklich…“

Leo verneinte noch nicht einmal. Er konzentrierte sich nur auf Herbert und Herberts Bauch, als wäre der das Wichtigste auf der Welt. Gut, in Herberts Augen schon, wenn Caro raten müsste, aber nicht jetzt und hier. „Er gibt mir das, was ich brauche.“

Das, was Leo brauchte, war durchaus manchmal auch zerstörerisch, wusste Caro. Sie hatten schon häufig darüber gesprochen und sie tat ihr Bestes, Leo da ein Gegengewicht zu bieten. Es klappte oftmals, aber manchmal auch nicht. Sorge ballte eine eiskalte Faust in ihrem Magen. 

„Leo, bist du dir sicher, dass es das ist, was dir gut tut?“, fragte sie vorsichtig und er nickte langsam und bedächtig. 

„Adam hat sich mehrfach entschuldigt. Er bereut, was er getan hat. Und jetzt ist er…er ist Detlef, nur mit einem guten Herz. Mit guten Vorsätzen und genau dem, was ich brauche.“

Dass Leo seine eigenen Worte erschreckten, sah sie nur zu deutlich. Es war, als hätte er sie zum ersten Mal geäußert und musste jetzt mit den Konsequenzen damit leben. 

„Hat sein Vater herausgefunden, dass ihr beiden miteinander schlaft?“, kam Caro behutsam zum eigentlichen Thema zurück, als Leo nichts weiter sagte, und anscheinend brachte die Frage so viele unschöne Erinnerungen auf, dass Leo für eine lange Zeit die Verankerung in die Realität verlor. Das kannte sie von den Kindern auf Station, von denjenigen, die Traumata erlebt hatten. Immer dann, wenn das innere Auge das äußere überwog, wurde der Körper still. So wie jetzt bei Leo. 

„Hey“, holte Caro ihn deswegen mit einer Hand auf seiner Wange zurück und abrupt ruckte Leos Kopf zu ihr. „Komm wieder zu mir, Leo.“

Das tat er, aber es war kein schönes Zurückkommen. „Er hat mich dafür gefoltert, dass ich Polizist bin“, sagte er und seine Stimme brach. Sie brach so sehr, dass Caro ihren kleinen Bruder in den Arm nahm und für eine lange Zeit dort hielt. Ihn und Herbert, der Teil ihres Rudels sein und Leos Trauer und Verzweiflung alleine mit seiner Nähe und seiner Zunge wieder wettmachen wollte. 

Sie musste darauf vertrauen, dass Leo das Richtige tat und schlussendlich Gerechtigkeit für das erhielt, was ihm angetan worden war. 

Wofür wäre denn Familie da, wenn nicht dafür? Um zu vertrauen, aber auch, um akribisch drauf zu achten, dass es schlussendlich ein gutes Ende geben würde?


~~**~~


Vincent starrte das Icon des Überwachungsprogramms an, sein Finger über der linken Maustaste verharrend. 

Er fühlte sich nicht gut damit, das zu tun und ebenso wenig gut damit, es vor Adam zu verheimlichen, dem er den Laptop aus dem Arbeitszimmer gestohlen hatte - wo er in der hinterletzten Ecke gelegen hatte. Er verstand, dass Adam Leo nicht mehr überwachen wollte, er verstand, dass er ihm vertrauen wollte. Er verstand das alles, umso bitterer war das, was er nun vorhatte. 

Vincent atmete tief durch und machte einen Doppelklick auf das Icon. Es dauerte etwas, bis sich die Verbindung aufbaute, aber dann hatte er eine gute optische und akustische Verbindung zu Leo Hölzer, aus der hoffentlich nichts herauskommen würde. 

Sein Handy pingte und Vincent stellte den Laptop zur Seite. 

~Ich freue mich auf heute Abend, mein Schöner.~

Vincent seufzte. Adam, sein Świecko-Adam, der nichtsahnend seiner Polizeiarbeit nachging, der ihn liebte und nicht wusste, was er tat und wie viele Gesetze er mit seinem Tun brach. Vincent liebte ihn und es schmerzte ihn, dass das, was sie hatten, auf so unsicheren Beinen stand, vor allem bedroht von Roland Schürk. 

~Ich freue mich auch sehr. Liebe dich.~

Vincent lächelte und warf einen Blick auf den Laptop. Leo befand sich gerade mit seiner Schwester in seiner Küche. Sie kochten gemeinsam und Herbert war auch dort, stahl sich in einem unbeobachteten Moment ein Stück Gemüse, unerkannt von dem Geschwisterpaar. 

Leo sah so aus, als hätte er geweint und mit ungutem Gefühl setzte sich Vincent Kopfhörer auf. 

„Liebst du ihn, trotz allem, was er dir angetan hat?“, fragte Leos Schwester just in diesem Moment und Leo versteifte sich. Vincent tat es ihm gleich, als er sich bewusst wurde, dass Leo oder Leos Eltern nun auch seine Schwester eingeweiht hatten. Diejenige aus der Familie, die noch nichts Leos und Adams eigentlichen Kennenlernen gewusst hatte. Von der Natur ihrer Verbindung.

Leo schüttelte den Kopf, seine Augen groß und seine Lippen für einen Moment hilflos geöffnet. 

„Nein, warum sollte ich, nach allem, was geschehen ist?“

Vincent schloss die Augen. Als wenn mehr Mitwisserinnen nicht schon schlimm genug wären, wusste er, dass Adam anders darüber dachte. 

Das hier konnte nur in einer Katastrophe enden. 


~~**~~ 


Nervös nestelte Leo an den Ärmeln seines Pullovers, den er sich heute Morgen stur und störrisch angezogen hatte. Um sich zu beweisen, dass er in der Lage war, ein normales Leben zu führen. Um sich zu beweisen, dass sein Körper nicht mehr bei jeder Bewegung schmerzte. Um zu vergessen, was seine Träume und die stillen Sekunden heimsuchte. 

Sein Blick fiel auf das Glas mit Strohhalm, was nur ein Auswuchs dessen war, was von nun an auf unbestimmte Zeit sein Leben bestimmen würde. 

Erneut. 

Es war Nachmittag und Leo fühlte sich schmutzig und kalt genug, um noch einmal duschen zu gehen…was auch daran lag, dass Caro überraschend ins Krankenhaus gemusst hatte und ihn vorzeitig verlassen hatte – zumindest für heute, denn sie hatte sich noch bis Mittwoch einquartiert. Jetzt gerade war Leo mit Herbert alleine und damit kamen auch die dunklen Gedanken wieder. Der Geruch des brutal hellen Raumes, die Geräusche der Männer, ihre Worte und ihre Gewalt.

Adam hatte sich nicht mehr bei ihm gemeldet, seitdem er sich in Frankreich von ihm verabschiedet hatte und Leo fühlte sich seltsam unsicher durch die Funkstille. 

Er erhob sich und ging ins Bad, zog sich aufstöhnend den Pullover vom Oberkörper. Mittlerweile juckten und ziepten die Striemen, die seinen Oberkörper säumten und die Caro so wütend gemacht hatten, dass eine steile, tiefe Sorgenfalte auf ihrer Stirn erschienen war. Wann immer das Thema auf Adam gekommen war, hatte sich trotz seiner Worte ihr Blick verdunkelt und sie hatte Leo den nächsten gute Laune-Film ohne Gewalt aufgeschwatzt. 

Wie ein alter Mann bückte er sich und entledigte sich auch seiner restlichen Kleidung, stieg langsam unter die Dusche. Herbert kam ihm hinterhergetrottet und besah sich prüfend das Badezimmer. Mit unter die Dusche kam er nicht, dafür legte er sich aber halb auf Leos Klamotten, halb auf seinen Badvorleger und sah aufmerksam zu, während Leo seinem Körper externe Wärme zuführte und somit seine innere Kälte vertrieb. 

Die und den Geruch des Raumes. 

Erst, nachdem das ganze Bad neblig war vor warmem Wasserdampf und Herbert mit hochgezogenen Lefzen ausgiebig und gewaltig nieste, stellte Leo das Wasser ab und trocknete sich vorsichtig ab. Herbert rappelte sich auf und kam mit seiner Nase nahe an ihn heran, schnupperte neugierig an einem der Striemen. 

„Alles wird gut“, murmelte Leo und wickelte sich langsam das Handtuch um die Hüften. Vorsichtig ließ er sich auf den Badhocker nieder und lächelte, als Herbert das zum Anlass nahm, auf Augenhöhe mit ihm zu sein…vielleicht sogar auch ein bisschen größer. Er nahm es ebenso zum Anlass, sich wieder an Leo zu kuscheln und sich mit seinem massigen Körper an ihn zu drängen – als wisse er, was Sache war. 

Leo umarmte ihn und schmatzte ihm einen Kuss auf den Schädel. 

„Die SoKo wird es richten“, sagte er zu Herbert, aber auch irgendwie zu sich selbst. Als Versicherung. Als Mutmachung. Als Beruhigung seiner Angst. 

Herbert maulte leise. 


~~**~~


SoKo. 

Zwei Silben, vier Buchstaben. Ein Akronym, eine Abkürzung, zusammengesetzt aus zwei Worten. 

Aus Leos Mund etwas, das Vincent das Blut in den Adern gefrieren ließ. 

SoKo.

SoKo konnte alles bedeuten, doch Leo war ein Ermittler. Er hatte einen beruflichen Kontext, der eindeutig war. Leo hatte Adam wieder und wieder versucht, den Zeugenschutz schmackhaft zu machen. Eben jener Leo, der Vincent Bauchschmerzen verursachte und der erstarkt war trotz ihrer Anwesenheit. Bei dem immer irgendetwas in Vincents Nacken gekribbelt hatte.

Er saß an seinem Schreibtisch, starrte den Laptopbildschirm an und verharrte mit dem Finger über der Enter-Taste. 

SoKo, stellvertretend für den Beginn vom Ende. Wenn Vincent mit seiner dunklen Vermutung wirklich Recht hatte, dann waren Leos Gefühle für Adam alles andere als echt. Dann war Leo ein verdeckter Ermittler, der sich die Nähe zur kriminellen Szene zunutze machte um an Informationen zu gelangen. 

Wenn Vincent Recht behalten sollte, dann würde Leo Adams Herz nicht nur brechen, sondern es regelrecht zerschmettern. 

Mit unsteten Fingern wählte Vincent Zarahs Nummer.

Es klingelte vier Mal, dann nahm sie ab. 

„Du musst etwas für mich überprüfen“, sagte Vincent rau in das Mikrofon und sie brummte zustimmend. 

  
~~**~~


„Oh Gott, Leo! Was ist passiert?“

Die nichtssagende Antwort, mit der Leo die Kolleginnen und Kollegen vom Empfang unten abgespeist hatte, war nichts für sein Team, das wusste er. 

Autounfall für unten, die Wahrheit für ihr Büro in der vierten Etage. Nicht, dass Leo ein My damit weitergekommen war, was nun geschehen würde. 

Adam hatte ihm das Versprechen abgerungen, ihm zu vertrauen und nichts war schwieriger als das. Durch seine fehlende Präsenz machte er Leo Angst und diese bestimmte sein Leben. Er hatte Angst, wenn er Geräusche in seinem Hausflur hörte. Er hatte Angst, wenn sein Telefon mit einem anderen Ton als denen für seine Familie pingte oder wenn es Nacht wurde. Er hatte ja selbst Angst davor gehabt, auf den Bürgersteig vor seiner Wohnung zu treten und von dort aus in seinen Hausflur. Angst, mit Herbert spazieren zu gehen.

Leo wusste, dass er sich wie ein alter Mann bewegte und so aussah, als hätte ihn ein LKW überrollt. Er konnte seinen Körper nicht ansehen, der übersäht von Spuren an Gewalt war. So wie früher. Fast war er Detlef dafür dankbar, dass er ihn so oft in der Mangel gehabt hatte – denn nichts hatte Leo so viele Verdrängungstaktiken beigebracht wie die Gewalt, die Detlef wieder und wieder auf ihn projiziert hatte. 

So wusste er auch, dass er Wasser für die nächste Zeit nur mit Strohhalmen trinken würde, am besten mit etwas Geschmack gemischt. Oder dass er beim Duschen aufpassen musste, sein Gesicht nicht in den Strahl zu halten oder kein Wasser in die Nase zu bekommen, wenn er sich verschluckte. 

Leo hatte das Überleben bereits gelernt und würde auf das Wissen jetzt wieder zurückgreifen müssen, das sich so sehr in ihn gebrannt hatte. 

Er hielt inne und brauchte einen Moment, um Pia und Esther ansehen zu können. 

„Lasst uns nach oben…in den Raum“, sagte er leise und ging vor. Die Treppe war eine Herausforderung, aber besser die als der Aufzug. Zumal Herbert ohnehin Aufzüge hasste. Die besorgten Blicke von Pia und Esther auf seinem Rücken reichten ihm schon und erst, als sie die Tür zu ihrem Befragungsraum geschlossen hatten, gestattete Leo sich ein erleichtertes Aufatmen. 

„Ich…“

Wie begann man? Leo wusste es nicht und das Schweigen zwischen ihnen wog schwer und vielsagend. Vielleicht so, wie er es damals seinen Eltern gebeichtet hatte? Pflaster ab und mit dem Schock und dem Mitleid arbeiten, dem er begegnen würde? 

Als Pia einen Schritt auf ihn zutrat, wich Leo zurück und grub seine Hand in Herberts Fell. Adam hatte ihn beschworen, dass er einen nicht existenten Unfall im Haushalt vorschob. Gegen den Türrahmen gestolpert. Die Treppe heruntergefallen. Er hatte ihn beschworen, nichts zu sagen um sich nicht zu gefährden und Leo hatte zähneknirschend zugestimmt, die Augen abgewandt, damit Adam nicht sah, dass er log. Er hatte zugestimmt, weil er der SoKo in jedem Fall davon berichten musste, das war von Anfang an klar gewesen. 

„Roland Schürk hat mich gefoltert“, sagt er so schnell und leise, zog das Pflaster mit einem Ruck ab, auf dass es ihn nicht noch mehr schmerzen würde, als es jetzt schon der Fall war. „Er hat mich vor fünf Tagen in der Nähe meiner Wohnung entführen lassen, mich festgehalten und foltern lassen. Ich war in einem Krankenhaus in Frankreich, Adam hat mich dort hingebracht, er hat mich auch vor seinem Vater gerettet. Ich konnte nicht eher kommen und hatte auch keine Magen-Darm-Grippe. Die Nachricht hat Vincent geschrieben und ich…“

Leo verstummte, weil er nicht wusste, wie er weiter fortfahren sollte, weil er wirr und ungefiltert mit Wahrheiten um sich schoss, die Pia und Esther vermutlich erst einmal verarbeiten mussten. Er verstummte, weil alles Wesentliche heraus war und weil er die Erinnerungen kaum ertrug, die mit den Worten kamen. 

Absolute Stille folgte seinen Worten, nur durchbrochen von Herberts leisem Hecheln. 

Es brauchte und dann war es Esther, die sich leise räusperte. „Leo, darf ich zu dir kommen?“

Am Liebsten würde Leo nein sagen, aber das ging nicht. Er wusste, dass das nicht gehen würde. Außerdem würde sie ihm doch nichts tun. Oder?

Vorsichtig sah Leo hoch und ihr Gesicht war sorgsam neutral. Sie lächelte sanft und das machte es einfach für ihn, auszuharren, während sie auf ihn zukam. 

„Wurde sich um dich gekümmert? Wurdest du medizinisch versorgt?“, fragte sie leise und er nickte. „Du bist hier jetzt in Sicherheit, okay?“

Das war eine Lüge und das wussten sie beide. Der Personenschutz war nicht in der Lage gewesen, einzugreifen. Schürks Männer hatten ihn abgefangen, noch bevor er seine Straße hatte erreichen können. 

„Was passiert jetzt?“, stellte Leo die wesentliche Frage. „Meine Verletzungen sind schon ein paar Tage alt und ich weiß nicht genau, wo sie mich gefangen gehalten haben, aber vielleicht reicht es…?“

„Leo, stopp!“

Pia, die gute Seele. Die sanfte Seele. Trotzdem schmerzte ihre Hand auf seinem Arm und Leo zog mit entschuldigendem Blick seinen Arm zurück. 

Er tat das, was er auch seinen Eltern gegenüber getan hatte, damit sie ihm glaubten. Langsam schob er die Ärmel seines Shirts nach oben und gab den Blick auf die immer noch roten Fesselspuren frei. Noch viel zögerlicher hob er den Saum seines Shirts und präsentierte ihnen die übriggebliebenen Spuren der Schläge und des Gürtels, drehte sich einmal um seine eigene Achse. 

Erst dann ließ er das Shirt wieder fallen und lehnte sich vorsichtig an den Befragungstisch. 

„Er hat gedroht, mich in eine Kiste zu sperren, damit ich weiß, dass ich nicht gegen Barns auszusagen habe. Er hat gedroht, mich beim nächsten Mal umzubringen. Ich habe Angst, dass er meiner Familie etwas antut.“

Leo sah hoch, wagte den Blick in Pias gepeinigtes und Esthers entschlossenes Gesicht. 

„Das wird er nicht, Leo. Er wird nicht noch einmal Hand an dich legen. Das schwöre ich dir.“ Sie knurrte die Worte, die Leo nicht wirklich ein Gefühl von Sicherheit vermittelten. Im Gegenteil. 

„Wir werden jetzt zu Weiersberger fahren und alles Weitere mit ihm besprechen. Das werden wir ihm nicht durchgehen lassen, da kannst du sicher sein.“ 

Selten hatte Leo Esther so aufgebracht wie jetzt erlebt und er musste sich erst einmal vor Augen halten, dass diese Wut nicht ihm galt. Sondern Schürk Senior. Dem Syndikat. 

„Geht es denn überhaupt, Leo? Du hast offensichtlich noch Schmerzen.“

Leo warf Pia ein flüchtiges Lächeln entgegen und schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann das. Es ist okay.“ Hier fühlte er sich in der Tat sicher. Sicherer. Unter Menschen, die ihm nicht wehtun wollten und die ihn nicht schlugen und traten. Ihn nicht glauben ließen, dass er ersticken würde. Oder ihn würgten. 

Er wandte sich zur Tür und in der gleichen Sekunde klopfte es. Grote vom LKA 3 riss ohne das Herein abzuwarten die Tür auf, warf einen prüfenden Blick in den Raum und sah aus, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. 

„Sorry Leute, ich habe gehört, dass ihr hier seid.“ Sie ließ ihren Blick über Leo schweifen und verzog das Gesicht. „Üble Veilchen hast du da, Hölzer. Schande über das, was es verursacht hat. Anyway, unten ist etwas, das ihr euch ansehen sollet. Das gehört zu eurem Mordfall. Dem Dealer, wie hieß er noch? Linz.“

Alarmiert drehte Leo sich zu Pia und Esther um, die ihn ebenso überrascht musterten. 

„Wo?“, stellte Esther die wesentliche Frage und Grote nickte nach unten. „Bei euch im Befragungsraum. Zwei der diensthabenden SchuPos sind bei ihm.“

Ihm? 

Leos Puls beschleunigte sich. Saß Adam dort, bereit auszusagen und sich in den Zeugenschutz zu begeben? War nun der Moment gekommen, in dem Adam… würde er ihm endlich vertrauen, dass er ihn da herausholte? 

So schnell es möglich war, ging Leo zusammen mit Esther und Pia die Treppen hinunter zu ihrem Befragungsraum, während Grote sich eine Etage früher verabschiedete. Sein Körper brannte und seine geschundenen Lungen schrien nach Luft, als er dort ankam und erst einmal zehn Sekunden brauchte um sich wieder zu fangen. Um sich zu überlegen, wie er reagieren würde. Wie er Adam ansehen und ihn befragen würde, Herbert an der Leine in seiner Hand. Wie er…

Esther öffnete die Tür und hielt noch in der Bewegung inne. Leo sah ihr seitliches Profil, das Stirnrunzeln, was ihre Überraschung ankündigte. 

Er schob sich hinter Pia in den Raum und erstarrte, als dort nicht Adam saß, sondern ein Mann, der Boris Barns zum verwechseln ähnlich sah. Vielleicht zehn Jahre jünger, aber genauso drahtig, genauso kahlköpfig. Ein Spiegelbild. 

„Kriminalhauptkommissarin Baumann, guten Tag. Was können wir für Sie tun?“, übernahm Esther, wo Leo die Stimme versiegte.

Der Mann lehnte sich zurück und verschränkte die Arme defensiv vor seiner Körpermitte. Sein Gesicht verdüsterte sich und er knirschte mit den Zähnen, als würden ihm die Worte, die nun seine Lippen verließen, nicht gefallen. 

„Mein Name ist Tobias Möller und ich will ein Geständnis ablegen. Ich hab‘ Mirko umgebracht. Mirko Linz. Ich habe ihn erdrosselt, weil er mir Sachen gestohlen hat, das Wichserarschloch.“

Leo blinzelte. Er sah ungläubig von Esther zu Pia. Er sah zu dem angeblichen Mörder im Fall Linz. Vergessen war ihr Vorhaben, zu Weiersberger zu fahren. Was auch gar nicht nötig wäre, denn Weiersberger müsste hierhin kommen. Sie würden einen Anwalt holen müssen. Sie würden…

Sie hatten von jetzt auf gleich zwei Tatverdächtige. 


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

 

Chapter 52: Sein Name ist Adam

Notes:

Einen wunderbaren Donnerstagabend euch allen!

Hier ist nun der Auftakt des kommenden Dramas. 😉 Stay tuned, jetzt geht es ins Eingemachte!

Vielen lieben Dank an dieser Stelle - ich kann es gar nicht genug betonen - für all eure Nachrichten: sprachlich, textlich, für eure Kudos, eure Likes, eure Klicks, eure Weiterempfehlungen. Es freut mich und macht mich unheimlich stolz, dass ihr immer noch, schon wieder und gerade erst an Bord seid! ❤️🌞🌻

Viel Spaß euch beim Lesen!

Chapter Text

 

Leo wusste nicht, was er denken und fühlen sollte. Verwirrung, weil alles, was sie bisher ermittelt hatten, nun noch einmal aufgerollt werden würde? Wut, weil er genau wusste, woher dieser Mann kam und warum er sich gestellt hatte? Noch mehr Zorn, weil nun ein Unschuldiger ins Gefängnis gehen würde oder im schlimmsten Fall beide freikamen, weil sie keine eindeutige Beweislage hatten? Bestürzung, weil anscheinend genau DAS Adams Plan gewesen war. 

Ihn zu schützen und seinem Vater gerecht zu werden. 

Das Schlimmste an Leos Wut war, dass sie sich für einen Moment lang als eine wohlige Wärme in seiner Magengegend ausbreitete. Was Leo, als er sich bewusst wurde, was er da eigentlich fühlte, noch viel wütender machte. 

Er trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Er musste weg von diesem Mann, der anscheinend Adams Plan für ihn war. Präsentiert wie ein Geschenk mit Schleifchen und buntem Beiwerk. Eine Lösung, so brachial und brutal direkt, dass es nur eine Möglichkeit gab, wer ihm diese tote Maus vor die Haustür gelegt haben konnte. 

Herbert maulte an seiner Seite und Leo sah auf ihn hinunter. Blind starrte er auf die sich an ihn pressende, deutsche Dogge und fixierte sich auf die großen, braunen Hundeaugen. Pias und Esthers Blicke brannten in seinem Nacken und Leo zuckte hilflos mit den Schultern. Er bedeutete den begleitenden Beamten, die Tür zum Verhörraum zu schließen und ließ sich gegen die Außenwand fallen, als hätte man einer Marionette die Fäden abgeschnitten. 

„Er hat es wegen mir getan“, flüsterte Leo in bitterer, schlimmer und schrecklicher Erkenntnis. Hilflos sah er erst Pia, dann Esther in die ratlosen, ja auch beinahe fassungslosen Gesichter und wurde dadurch noch unruhiger.

„Er?“ Unglauben beherrschte Esthers Stimme und Leo nickte betäubt.

„Er weiß, dass ich nicht anders kann als auszusagen. Er weiß, dass ich Angst habe, jetzt, wo sein Vater…wo er…mich…er hat gesagt, er hat einen Plan und ich soll ihm vertrauen. Aber ich wusste nicht, dass…ich wusste es nicht.“

Unruhig rieb sich Leo über seine Unterarme und Herbert fuhr mit seiner Zunge und dem Versuch, ihn zu trösten hinterher. Leo lächelte, auch wenn ihm lieber zu vielen anderen Dingen zumute gewesen wäre. 

„Er?“, wiederholte Esther und Leo hielt inne, bemerkte erst jetzt, dass sie gar nicht wusste, worüber er sprach.

„Adam. Er war es. Er hat gesagt, dass er einen Plan hat.“ Nur langsam traute er sich, ihr ins Gesicht zu sehen.

„Adam…?“, echote Esther und ihr Ton war Leo mehr als eine Warnung. Er schluckte, denn so selbstverständlich, wie er Adam mittlerweile beim Vornamen nannte, war es für sie nicht. Für sie war Adam natürlich auch der Gegenstand ihrer Ermittlung und ein Krimineller, der bestraft gehörte. Für Leo doch auch…und dass er mit Adam schlief, hatte damit nichts zu tun. Er musste doch dem Syndikat ein Ende bereiten und Adam hatte sich auch schuldig gemacht. 

„Leo, hey“, brummte Pia beruhigend und kam langsam auf ihn zu. Noch viel langsamer legte sie ihre Hand über seine auf Herberts Fell und drückte sie. „Leo, alles wird gut. Mach dir keine Vorwürfe. Alles wird gut. Wir schaffen das. Und wenn wir hier fertig sind, sprechen wir über das, was dir passiert ist, okay? Dir geht es doch nicht gut. Wir müssen ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.“

Entschlossen schüttelte den Kopf. „Das muss warten. Wir können doch Barns nicht einfach laufen lassen. Adam hat gesagt, dass er schuldig ist. Er hat es gesagt und wir können doch keinen Mörder frei herumlaufen lassen. Das geht nicht. Ich glaube nicht, dass der Mann der Mörder war. Das ist doch nur ein Trick um…damit ich sicher bin.“

Die letzten Worte waren eigentlich nicht beabsichtigt und sobald Leo sie äußerte, bereute er das auch schon. Pia und Esther sahen ihn an, als würden sie ihm nicht glauben, als hätte er eine Fehleinschätzung getroffen. Aber er war sich doch so sicher, dass Adam genau aus dem Grund gehandelt hatte.

„Leo, er hat dir wehgetan. Das kann nicht warten. Und bist du sicher, dass er dich nicht angelogen hat, damit du jetzt nicht so zielgerichtet ermittelst wie sonst auch?“

Leise Zweifel machten sich in Leo breit, die er nur mit Mühe wieder klein bekam. Angst vor seinen Erinnerungen, die er mit Mühe wieder dorthin zurückschob, wo er so tun konnte, dass er nie gefoltert worden war. 

Adam war ehrlich zu ihm, das wusste er. Das glaubte Leo ihm. Adam würde doch nicht…Nein. 

„Leo.“ Pia, die Sanfte. Leo kannte diesen Ton, er wusste, was er bedeutete. Leo war gerade nicht der Teamleiter, sondern derjenige, der durch die SoKo beobachtet wurde. Pia ermahnte ihn und Leo ließ sich zurechtweisen, weil er durcheinander war und roh und verwundbar von innen. 

„Leo komm, du beobachtest die Vernehmung von außen, während Esther und ich uns den Mann vorknöpfen. Du setzt dich in Ruhe hin und leistest Herbert Gesellschaft, während wir ihn verhören.“

Mit eng zugeschnürter Kehle spürte Leo der Bedeutung ihrer Worte nach. „Ich bin zurechnungsfähig“, murmelte er schließlich und Pia nickte. 

„Ja, Leo, das bist du. Aber du wurdest von dem Mann gefoltert, dessen Sohn uns jetzt diesen potenziellen zweiten Täter geschickt hat. Das sind Verstrickungen, die uns alle zu Fall bringen können. Halte dich hier zurück, beobachte, analysiere, aber das Verhör führen wir.“

Leo sah ein, dass Pia Recht hatte mit ihren Worten. Im schlimmsten Fall würde das ganze Verfahren hinterfragt und dann wäre niemandem geholfen. Dann würden sie niemals beweisen können, dass Schürk Senior ein Mörder und Folterer war. 

Leo nickte leicht. Besser wäre es, wenn Pia und Esther die Vernehmung durchführen würden. 


~~**~~


„Es sind die Bullen.“

Vincent sah von den aktuellen Unterlagen über ihre Verknüpfungen auf und ließ die Einsortierung der Unterlagen für einen Moment außer Acht. Zarah stand mit verschränkten Armen vor ihm und schürzte die Lippen. Sie war unzufrieden, das erkannte Vincent nur zu gut. 

„Wer genau?“

„Klassisches MEK, kommt aus Rheinland-Pfalz.“

„Wie bist du darauf gekommen?“

Freudlos lächelte Zarah. „Ich habe deren Auto checken lassen und bin über die Dienststellen gegangen, die die Herkunft verschleiern sollten. Gehört zu den klassischen Wegen. Leasing über das LKA, gehört aber nicht in den Bereich, für den es beschafft worden ist.“

Vincent atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Er lehnte sich zurück und versuchte, seinen inneren Ruhepunkt zu finden. Leo Hölzer wurde also von der Polizei bewacht. Das geschah nicht einfach so. Das hatte einen Grund. Wusste Leo es oder nicht? 

Vincent mochte seine Hand nicht mehr für Letzteres ins Feuer legen. Sein Bauchgefühl sagte ihm etwas Anderes. 

„Wer hat die Bewachung in Auftrag gegeben?“

Zarah schnaubte. „Der ortsansässige Staatsanwalt – Weiersberger.“

Vincent blinzelte. „Der für Mordfälle zuständige?“

Grimmig nickte Zarah und ließ sich auf den Stuhl fallen, den Vincent für Adam hierhergebracht hatte, wenn dieser wieder nicht gut und lange stehen konnte. Er war bequem und knarzte. Details, mit denen sein Gehirn sich so eben beschäftigte, die aber nicht wichtig waren. 

Wichtig war Weiersberger, der Staatsanwalt, der sich regelmäßig mit Leo und seinem Team traf. 

„Nimm ihn genauer unter die Lupe. Hast du denn etwas über eine mögliche SoKo herausgefunden?“, fragte er mit flauem Gefühl im Magen, doch Zarah schüttelte den Kopf, wippte auf dem Stuhl. Ihre nervöse Energie beunruhigte Vincent mehr, als er es sich eingestehen wollte. Er musste Vorbereitungen für den worst case treffen. Sie hatten Pläne für solche Gegebenheiten, aber bisher hatten sowohl Adam als auch er sie umschifft.  

„Noch nicht. Aber ich habe meine Informationsquellen bereits aktiviert und erwarte heute Nachmittag erste Rückmeldungen.“

Wenigstens das, war Vincents erster Impuls. Sein zweiter war aber deutlich kritischer und nachdenklich zog er Leos Akte hervor. Alles, was sie damals über ihn und seine Umgebung hatten finden können, war darin abgeheftet. Es war einiges, vieles davon hatte er nie wieder gebraucht, aber nun folgte Vincent einem Gefühl, einem leisen Gedanken. 

Leo sprach von einer SoKo, aber sie fanden nichts darüber. Was aber, wenn sie zu weit weg suchten? Wenn Weiersberger dazu gehörte? Oder…

Vincent schlug die Akte auf und seine Finger drehten Datenblätter um, während er die einzelnen Berichte zu Leos Privatleben und Leos dienstlichem Leben überflog, penibel aufgelistet. Er suchte nach den Daten von Leos Team und fand sie schließlich. 

Pia Heinrich und Esther Baumann. Sie waren ein Jahr vor Leo Hölzer gekommen, beide zum gleichen Zeitpunkt. Neue Beamtinnen, die vorher an unterschiedlichen Dienststellen in Bayern und in Rheinland-Pfalz gearbeitet hatten. Versetzt auf eigenen Wunsch nach Saarbrücken. Tauschdienstposten. 

Zufall? So wie Weiersbergers Auftrag an das MEK für Leo Hölzer?

Vincent drehte die Akte und deutete auf die Bilder der beiden Ermittlerinnen. „Überprüf Weiersberger und die Beiden noch einmal genauer. Wo kommen sie her, wo haben sie ihr Studium gemacht? Welche Lehrgänge haben sie besucht, was sagen ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen über sie? Gib mir alles, was du findest.“ 

Zarah nickte und holte ihr Smartphone hervor. Im Gegensatz zu Vincent hielt sie nichts von analoger Aktenführung. Sie machte sich Bilder, die Meldeadressen hatte sie in ihren digitalen Unterlagen noch. 

„Ich kümmere mich.“

„Danke, Zarah. Aber behalt es erst einmal für dich. Ich möchte Adam erst informieren, wenn wir etwas sicher haben. Ich möchte nicht, dass er Leo zu früh damit konfrontiert oder dass er etwas Unüberlegtes tut.“

Zarah verstand und für den Bruchteil eines Augenblicks wurde ihr Blick weich. Sie mochte Adam, wenngleich ihr Verhältnis von je her professionell gewesen war. Sie hatte zwar keine Schwäche für ihren exzentrischen Auftraggeber, aber sie sah, was Roland Schürk seinem Sohn antat. Das Missfallen, das sie spürte, kanalisierte sie ihn stringent durchgezogene Aufträge und in sauber erledigter Schmutzarbeit, die nur eins zum Ziel hatte: Adam zu schützen. 

Vor äußeren Einflüssen. Vor der Wut seines Vaters. 

Sie konnte nicht alles abwenden, aber einiges. 

Vincent sah in ihren Augen jetzt das, was er auch in seiner Magengegend deutlich spürte. Die Sorge, dass Adam das ganz und gar nicht gut aufnehmen würde. 

Nicht mit Gewalt gegen Leo, sondern mit einem gebrochenen Herzen. 


~~**~~


„Du nennst ihn Adam.“

Leo saß auf dem Dach ihrer Dienststelle, seine Jacke eng um sich geschlungen. Herbert lag zufrieden brummelnd auf seinem Schoß und genoss die spätnachmittäglichen Sonnenstrahlen, die sich seit einer halben Stunde durch die Wolkendecke geschoben hatten, während Leo dem Rauschen der Autobahn zuhörte und seine Gedanken mit den vorbeizischenden Autos davonfahren ließ. 

Es war viel gewesen heute. Sowohl das Verhör von Tobias Möller als auch das Gespräch mit Weiersberger, Pia und Esther danach. 

Leo war körperlich wie geistig wund, erschöpft und ausgebrannt. Seine Welt stand erneut auf dem Kopf und er hatte wieder und verstärkt das Gefühl, nichts gegen das Syndikat tun zu können. 

Im Anschluss an die Vernehmung hatte Leo mit Fokus auf Herbert alles hervorgepresst, was Roland Schürk ihm hatte antun lassen. Von der Entführung bis hin zur Folter und Rettung durch Adam. Schlussendlich der Krankenhausaufenthalt in Frankreich. Er hatte es geschafft, seine Stimme fest klingen lassen zu können, was nicht auf die Emotionen in seinem Inneren zutraf. 

Sie hatten Fotos gemacht von seinen heilenden Verletzungen und Weiersberger hatte verdeckte Ermittlungen in Auftrag gegeben, was mögliche Zeugenaussagen seiner Entführung anbetraf. Es würde zunächst alles unter dem offiziellen Radar laufen, bis sie genug Material zusammen hatten, um Roland Schürk dingfest zu machen. 

Wenn er es sich ehrlich eingestand, hatte Leo Angst davor. Um seine Familie und sich selbst…davor, dass es noch schlimmer werden würde und dass das, was sie mit ihm gemacht hatten, Roland Schürk nicht ausreichte.

Dass Pia und Esther um ihn besorgt waren, war unübersehbar und es kratzte an Leos Wunsch, das alles tief in sich zu vergraben und nie wieder vor zu holen.

„Leo?“

Er zuckte zusammen und straffte seine Schultern. Beinahe schon scheu sah er hoch zu ihr, fürchtete das, was er auf ihrem Gesicht sehen würde. 

„Ja. Ich nenne ihn so.“

„Deine Stimme klingt anders als vorher, wenn du das tust.“

Leo presste seine Lippen aufeinander. Tat sie das? War es so offensichtlich? 

„Er hat mir geholfen.“

„Er ist ein Straftäter und er gehört verurteilt.“

Gehörte er das? Leo war sich mittlerweile nicht mehr so sicher. Gerade eben war es auch schwer, seine Emotionen auseinander zu halten und zu sortieren und zu erkennen, ob die Dankbarkeit und Sicherheit, die er Adam gegenüber empfand, auch wirklich echt waren. Oder die Anziehung, die zuließ, dass er mit Adam zusammen in einem Bett schlief und sich an ihn presste, als wäre dieser seine Rettungsleine. 

Leo nickte, jedoch war wenig Elan dahinter und das Misstrauen in Esthers Gesicht war unübersehbar. 

„Oder denkst du anders darüber?“, stellte sie die Gretchenfrage. 

Ja, war Leos Antwort aus dem Bauch heraus. Vielleicht, war sie es nach ein paar Sekunden. 

„Ich glaube, er ist kein schlechter Mensch“, lautete die Finale nach weiteren Sekunden des Überlegens und Esther schnaubte. 

„Selbst wenn. Auch gute Menschen treffen strafrechtlich relevante Entscheidungen. Macht die Tatsache, dass er dich nicht mehr schlecht behandelt, alles wett, was er dir davor angetan hat? Oder was er all die Jahre zuvor für seinen Vater getan hat?“

Es wäre schlimmer gewesen, wenn Esther wütend gewesen wäre, befand Leo. Aber die Ruhe in ihren Fragen kratzte umso mehr an Leos eigenen Zweifeln: an sich, an Adam, an dem, was er geglaubt hatte zu verkörpern. 

Was war Recht ohne Gerechtigkeit?

„Ich weiß, Esther. Ich weiß.“ 

Leo lächelte mit einem Hauch Bitterkeit in sich.     


~~**~~


Chat

 

Adam warf sein Handy auf die Couch und rieb sich über das Gesicht. Er hatte nicht gewagt, bei Leo vorbei zu schauen…am Wochenende nicht, in der Woche nicht...aus Angst, dass sein Vater doch etwas ahnte, aber aus noch größerer Angst, dass Leo ihn von sich stieß, weil er es nicht ertragen konnte, was geschehen war. Weil er ihn an seinen Vater erinnerte und ihn deswegen verachtete. 

Doch nein, Leo wollte ihn sehen und das nicht nur, weil er seinen Plan, Möller dazu zu bringen, für Onkel Boris in den Knast zu gehen, durchgezogen hatte. 1.147.668 Schweizer Franken hatte ihn das gekostet, umgerechnet 1,2 Millionen Euro auf ein sicheres Konto in der Schweiz. Es tat weh, war aber zu verschmerzen, wenn er daran dachte, dass es als weiteres Standbein Leos Leben retten würde. Außerdem brauchte er nicht soviel Geld zum Leben. 

Das einzig Positive daran war, dass er Leos Wut sehen durfte, also die wunderbar hellgrün funkelnden Augen, die ihn so sehr aufspießen würden für das, was er getan hatte. Den strengen Zug um die schmalen, sinnlichen Lippen. Die Anspannung in den ausgeprägten Muskeln. Das Grollen, das so freimütig von den schönen Lippen perlte. 

Alleine deswegen würde es sich schon lohnen und so war primär Vorfreude Adams Motivator, während er sich von der Dreckssau für den nur halbwegs erfolgreichen Deal mit den Marrokanern in Paris verbal demütigen ließ. Oder während er zusammen mit Vincent ihre regelmäßigen Besuche bei den übrigen Verknüpfungen absolvierte und finster im Hintergrund stand, während Vincent die feinsinnig psychologische Arbeit machte. 

Als er Vincent vor seiner Wohnung absetzte, zögerte eben jener, bevor er ausstieg und schien etwas sagen zu wollen, was er sich schlussendlich anders überlegte. 

„Sei vorsichtig und pass auf dich auf“, seufzte Vincent anstelle dessen. „Leo ist mit Sicherheit wütend.“

Adam grinste. „Oh ich hoffe doch“, wackelte er mit den Augenbrauen und Vincent ließ ihn deutlich erkennen, was er von diesem Ansatz hielt. Missbilligung und Sorge standen ihm quer übers Gesicht geschrieben, wie immer, wenn Vincent anscheinend an Leo in Kombination mit ihm dachte. 

Schelmisch hauchte Adam ihm einen Kuss auf die Wange. 

„Danke, dass du dich so um mich kümmerst“, sagte er und was genau an seinen Worten derartig schmerzhafte Emotionen in Vincent auslösten, konnte er nicht genau sagen. Vermutlich waren es ganz klassisch das Drama mit der Dreckssau und die Situation mit Leo. 

„Immer, Adam. Ich werde mich immer um dich kümmern.“

So schmerzhaft die Worte auch waren, so ehrlich kamen sie von Vincents Lippen. 

Adam hielt ihm seinen kleinen Finger hin und Vincent hakte sich ein. „So wie ich mich um dich.“

Es war ein Schwur, und mehr als das. Ein Versprechen, das sie beide sich vor sechs Jahren gegeben hatten, unumstößlich, unbrechbar, unwiderruflich.

„Viel Spaß mit Adam. Grüß ihn von mir und er soll es dir so richtig besorgen“, zwinkerte Adam, schon alleine um seine eigenen, melancholischen Gefühle loszuwerden und nickte in Richtung Haus. Vincent verdrehte die Augen, schnaubte und verließ seinen Wagen, machte es Adam schließlich möglich, zu Leo und in die Ungewissheit von dessen Reaktionen zu fahren. 


~~**~~


„Er wird sein blaues Wunder erleben, das sage ich dir!“, grimmte Leo und spülte seine Kaffeetasse unwirsch ab. Herbert stand neben ihm und hörte seinen Worten – wie auch seiner Tirade zuvor – geduldig mit ab und an erhobenen Ohren zu. Seit einer halben Stunde ging das so und Leo wurde nicht müde zu betonen, was für einen dummen Plan sich Adam da ausgedacht hatte. 

Nur, wenn der Name Vincent auftauchte, war da ehrliches Interesse in Herberts Augen, ansonsten war es anscheinend der Klang seiner Stimme, die die Deutsche Dogge zuhören ließ. Auch gut, denn Leo war mit jeder Minute, die verstrich, aufgeregter und wütender geworden. Er wusste nur nicht, auf was mehr: ihren Nachrichtenverlauf, Adams Plan oder die Dreistigkeit des anderen Mannes, sich nicht bei ihm zu melden. Ihn mit seinen schlimmen Gefühlen und den Erinnerungen alleine zu lassen. 

Entsprechend zornig machte Leo jetzt auch auf, als es klingelte und er sich davon überzeugt hatte, dass es Adam war. Wütend verschränkte er die Arme und wartete mit einem neugierigen Herbert neben sich, dessen Route immer schneller schlug, je näher die viel zu langsamen Schritte kamen. 

Als er Adam ansichtig wurde, maulte er laut und Leo schnaubte.

So ein Verräter. 

Kurz vor ihm blieb Adam stehen und streckte einem sich nahezu überschwänglich freuenden Hund vorsichtig seine Hand entgegen, die großflächig und enthusiastisch abgeleckt wurde. Herbert winselte und Leo hob vielsagend seine Augenbrauen, wich aber keinen Schritt nach hinten. Mit Mühe konnte er sich davon abhalten, seinen Blick nicht schweifen zu lassen. 

Adam trug einen seiner schwarzen Anzüge. Mit nichts drunter als seiner Goldkette. Mal wieder. Leo wusste, was sich unter dem weichen Stoff der Hose abzeichnen würde. Er wusste, dass das Dreieck nackter Haut, das er früher so sehr gehasst hatte, jetzt für etwas anderes sorgen würde. 

Wenn Leo den Gedanken zuließ. Nach dem, was passiert war. Mit einem Körper, der sich immer noch wund anfühlte. Mit einer Wut, von der Leo noch nicht sicher war, wie sie sich entladen würde. 

„Na wenigstens einer freut sich“, grinste Adam mit einer derartigen Unverschämtheit, dass Leo vor Wut beinahe einen Schritt nach vorne anstelle nach hinten gemacht hätte. Aber dann würde er den Nachbarn ein möglicherweise gefährliches Schauspiel bieten.

„Rein mit dir“, knurrte er stattdessen und zwang sich, den Weg frei zu machen. Herbert kam kurz zu ihm, leckte ihm beschwichtigend über die Hand um dann wieder zu Adam zurück zu kehren und ihn anzuhimmeln. Vermutlich, weil er nach Vincent roch. 

Adam machte die Tür hinter sich zu und Leo nickte knapp in Richtung Wohnzimmer. Nicht, dass es etwas helfen würde, denn der blonde Mann blieb an Ort und Stelle stehen und musterte Leo so durchdringend, dass es ihn schauderte. 

„Wie geht’s dir?“

Eine simple Frage, die Leo nicht im Ansatz gedachte zu beantworten. 

„Was hast du dir dabei gedacht?“, grollte er und Herbert zog sich zur Sicherheit in das Wohnzimmer zurück, sah von dort aus aufmerksam zu ihnen. Es ging ihm gut und er war nicht verängstigt, das war wichtig…aber ebenso wichtig waren die Antworten, die Leo sich jetzt holen würde. Die ihm verdammt nochmal zustanden. 

„Was zur Hölle glaubst du, damit zu erreichen? Zwei Verdächtige? Damit Barns freikommt und nicht für den Mord zur Rechenschaft gezogen wird? Und dazu nutzt du was? Die Informationen, die ich dir verschaffen musste, als du mich erpresst hast?“

Adams Mimik wurde sanft und er lächelte – ein Unding in Leos Wut. Öl auf das sowieso schon lodernde Feuer. Er schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose und Leo folgte der Geste, bevor sein Kopf wieder hochschoss. 

„Ja, ich habe die Informationen, die du mir besorgt hast, genutzt.“

„Das ist gegen das Gesetz!“

„Und das ist neu für dich, weil…?“ Adam legte beinahe schon lauernd den Kopf schief und Leo musste tief einatmen, um den anderen Mann nicht gegen die Wand seines Flures zu pressen.

„Du hilfst, einen Mörder auf freien Fuß kommen zu lassen, um was? Damit dein Vater zufrieden ist? Damit sein Imperium noch größer wird? Damit er immer so weitermacht und dir und mir körperliche Schmerzen zufügt?“ Leo war wütend und das machte ihn ungerecht und unfair und angesichts dessen war es beinahe ein Wunder, dass Adam so ruhig blieb. „Und du…meldest dich tagelang nicht, lässt mich hier alleine mit…“

Leo stockte, als er merkte, wo seine ungelenken, ehrlichen Worte hinstolperten. Er verstummte abrupt, als er das Leuchten in Adams Augen sah, die Sanftheit dort. 

„…mit dem Ungetüm im Wohnzimmer, das dir Gesellschaft leistet, ja. Also hast du mich vermisst?“

„Das ist hier nicht der Punkt!“

„Aber ein Punkt, den du anbringst, weil er dir etwas bedeutet.“

„Nein!“

„Lügner.“

Das geflüsterte, lockende Wort ließ gleich mehrerer Sicherungen in Leo durchbrennen und ehe er sich davon abhalten konnte, hatte er Adam tatsächlich gegen die Wand in seinem Flur gepresst.

„Aus welchem Grund sollte ich das akzeptieren, dass ein Unschuldiger für einen Mord ins Gefängnis geht, den er nicht begangen hat und der wahre Mörder freikommt?“, knirschte er laut mit den Zähnen und Adam machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren. Er war beinahe weich und nachgiebig unter Leos groben Händen, seine Mimik nicht überheblich, aber dennoch durch ihre Weichheit provozierend. 

„Weil ich es für dich getan habe, Leo.“ Schlicht und schnörkellos erreichten Adams Worte seine Ohren und machten das Atmen für ein paar Sekunden viel zu schwer. 

„Für mich? Wag es ja nicht…“

„Ich habe es getan, weil ich für dich sorge und dir versprochen habe, dass ich mich um dich kümmere. Du bist mein hauseigener Polizist und wer, wenn nicht ich, ist für deine Sicherheit verantwortlich? Also werde ich jede Maßnahme treffen, die deiner Sicherheit und der Versicherung deines Lebens dient, Leo. Sei versichert, dass Tobias Möller kein unbeschriebenes Blatt ist. Dass er ins Gefängnis geht, ist gut. Da gehört er hin und da wird er die nächsten Jahre auch gut aufgehoben sein.“

Über die eintretende Stille hinweg hörte Leo das Rauschen in seinen Ohren wie einen tosenden, dutzende Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfall. Adams klare Worte bestätigten das, was er Esther gesagt hatte in einer solchen Deutlichkeit, dass es Leo schauderte. Für ihn? Um ihn zu schützen? Um sein Leben zu schützen? 

„Ich habe dir gesagt, dass ich mich kümmern werde, Leo. Du bist es mir wert. Du bist alles wert, was ich opfern könnte, damit ich in deine Augen sehen und dich am Leben wissen kann. Das ist, was ich dir geben kann und werde, Superman. Für das, was ich dir angetan habe. Und für das, was du bist für mich.“      

Adams Worte, nein, seine Schwüre machten Leo sprachlos. Sie machten ihn hilflos angesichts seiner Wut, die sich in andere Emotionen manifestierte, weil sie etwas ansprach, das Leo sein Leben lang verfolgt hatte: der Wunsch nach einer Seele, die da war, die sich kümmerte und ihm die Aufmerksamkeit schenkte, die ihm seine Familie nicht geben konnte. Ein Mann, der…bereit war, ihn zu schützen, wenngleich Leo sich selbst gut schützen konnte.  

Die Frage, was er für Adam war, stellte er nicht, sondern ließ seinen Instinkt reagieren, der Wut in schier verzweifelte Lust kanalisierte. Wieder presste er Adam gegen die Wand, doch dieses Mal mit einem Kuss, der im besten Fall als gepeinigt zu verstehen war, im schlimmsten als dominierend und zerstörerisch, als beherrschend und bestrafend. Überrascht stöhnte Adam auf und wurde ungewohnt weich und nachgiebig, zumindest in den ersten Sekunden von Leos Überfall. 

Erst, als Leo seine Finger in die gegelten, blonden Haare grub, kam er anscheinend zu Sinnen und entzog sich Leo. Unwillig ließ Leo ihn gehen und lehnte sich zumindest soweit zurück, dass er ihm in die Augen sehen konnte. 

„Wir sind hier in deiner Wohnung“, raunte Adam, die Stimme dunkel und beinahe schon zögernd. 

Na und?, zischte die animalische Wut in Leo, bevor er sich besann, welchen von Leo aufgestellten Spielregeln er eigentlich gerade folgte. Nicht in seiner Wohnung. Nicht hier. Weil…

Es war erschreckend und befreiend gleichzeitig, wie egal das Leo in diesem Moment war. Er wollte Adam, alles in ihm drängte danach. Er wollte Adam, für seine Worte, für seine Versicherung, er wollte körperlich besiegeln, was er emotional und geistig nicht verarbeiten konnte. Und ja, er wollte auch bestrafen, denn Adams Tun war eine weitere Straftat und Leo konnte nicht anders als sie zu ahnden. 

Auf die denkbar Unmöglichste aller Alternativen. Auf die, die er vor einem Jahr noch mit Verachtung herabgesehen hätte. 

Als Polizist, Richter, Geschworener in einem. 

 

~~**~~


Adam hatte mit viel gerechnet, aber damit…

Eher hätte er darauf gewettet, dass Leo ihn am Kragen packen und zum LKA in die nächste Arrestzelle geschleift hätte. Oder dass Leo Strafanzeige gegen ihn und seinen Vater stellte. Oder dass sich die Hölle auftat und ihn verschluckte, so wie sein hauseigener Polizist ihn ansah und ihn anscheinend zerfleischen wollte. 

Auffressen, wurde ihm nach dem ersten hungrigen, beinahe schon brutalen Kuss bewusst, der Adam die Luft zum Atmen und zum klaren Denken raubte. 

An guten Tagen war er halbwegs zurechnungsfähig, was Leo und seine Lust nach dem Mann anbetraf. Dass er, seitdem sein Vater sich an Leo vergriffen hatte, einen ungesunden Drang verspürte, den anderen Mann doch wegzusperren, ihn in Sicherheit zu wissen, war Adam bewusst. Ihn weit weg zu bringen und ihn vor seinem Vater zu verstecken. Aber das konnte er nicht, also hatte er Leo durch Zarah überwachen lassen. So wusste er, dass er nur in Begleitung des Riesenköters und seiner Schwester das Haus verlassen hatte und ansonsten in seiner Wohnung geblieben war.

Leos Reaktion nach Bekanntwerden seines Plans… das hätte Adam in seinen wildesten Träumen nicht vermutet. Schon gar nicht, weil er seinem Vater hatte weismachen müssen, Leo gegen seinen Willen zum Sex zu zwingen. Er hätte gedacht, dass Leo ihn nie wieder anfassen wollen würde.

Doch weit gefehlt. 

Leo suchte beinahe schon verzweifelte, brutale Nähe und Adam entging mitnichten der dominante Unterton, der mitschwang. Leo wollte, er begehrte, er war kurz davor, sich zu nehmen, was anscheinend seinen Stempel trug. Und Adam würde es ihm geben, denn er hatte Leo schon so viel abverlangt. 

Deswegen sagte er nichts weiter, machte Leo nicht auf seine Regeln aufmerksam. Ließ sich zurückdrängen, Schritt um Schritt durch den Flur zu Leos Schlafzimmer. 

Adams Herz pochte aufgeregt, als er begriff, was sie tun würden und er schluckte gegen das plötzlich staubige Gefühl in seinem Mund an. Leo brauchte es, wollte es und Adam hoffte, dass sich beides die Waage hielt. 

Er hatte noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen, schoss es ihm durch den Kopf und es war genau dieses Detail, das Adam zu Sinnen kommen ließ. 

Alles war anders als vorher. 

„Leo, warte. Leo…“, begann er und sein hauseigener Polizist hielt tatsächlich inne. Ungeduldig sah er ihn an, legte den Kopf schief. Okay…einen Versuch würde er noch machen. Einen einzigen, noch einmal fragen. Konsent, ein Gewissen, was auch immer es war.

„Was?“

„Willst du das hier alles wirklich?“, fragte Adam mit der größten Selbstbeherrschung, die er jemals in seinem Leben gehabt hatte. Leo war ihm so nah, dass es schmerzte. Leo roch vertraut, seine Atmung hörte sich vertraut an, er bewegte sich vertraut. All das konzentriert in diesem Moment. Und das, nachdem Adams Vater ihn gefoltert und Adam ihm eine Vergewaltigung angedroht hatte. „Du hast doch noch Schmerzen und ich habe dir-“

Weiter kam Adam nicht, weil Leo ihm ungelogen den Mund zuhielt. Wut loderte in seine Augen auf. 

„Das wirst du jetzt nicht sagen. Daran will ich nicht denken, nicht jetzt.“

„Aber deine Wohnung…“, nuschelte Adam im allerletzten Versuch, auch nur einen Funken Anstand zu wahren und sich einmal in seinem Leben an Regeln zu halten. 

Als Dank dafür wurde er auf das Bett gestoßen und kam mit einem dumpfen Aufstöhnen in Kontakt mit der Matratze. Das Gefühl unter seinem Rücken war ihm mittlerweile wohlbekannt, dass er dabei aber bekleidet war, war ein Novum. Unverletzt zu sein, auch. Leo über sich lauern zu haben, als wäre er hier die Beute, die sich der Jäger erjagt und mit in seine Höhle geschleppt hatte, ebenfalls.

Das tat Adams Erregung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Hungrig, um nicht zu sagen ausgehungert, gierte sein Körper nach Leos Berührung und sein Schwanz drückte sich nach Aufmerksamkeit heischend gegen den leichten Stoff seiner Hose. 

Sonst um kein Wort verlegen, war Adams Kehle nun wie ausgedörrt und er brachte nichts hervor, was auch nur in Ansätzen einen Sinn gemacht hätte. Insbesondere jetzt nicht, als Leo über ihn kam wie ein Dämon und ihm ein weiteres Mal mit seinen Lippen und seiner schieren, körperlichen Nähe den Atem und die Sinne raubte. 

Bestimmt schob Leo sein Knie zwischen Adams Beine und rieb so effektiv an seiner Erregung, dass Adam hilflos in den Kuss stöhnte. Leos Körper, seine Wärme, sein Geruch – er war überall und Adam konnte gar nicht anders, als Leo zu atmen. 

Er bog den Kopf zurück, als Leos Lippen auf Wanderschaft gingen und seine Kinnlinie entlang streiften. Seine Hände krallten sich in Leos weiche Haare und dieser biss Adam regelrecht in den Hals. 

Schaudernd erkannte Adam, dass es nicht nur Lust war, die zwischen ihnen waberte, sondern auch eine gute Portion Dominanz. 

Leo wollte ihn dominieren und Adam ließ ihn, stöhnte ungezügelt auf, als abwechselnd Leos Zunge und seine Zähne sich an Adams Hals gütig taten. Schmerz wechselte sich mit prickelnder Lust ab und ließ in Adam jeden bewussten Gedanken ersterben. Er drängte seine Hüften nach oben, versuchte sich einen Reibungspunkt zu verschaffen und wurde doch eisern von Leo niedergehalten. 

Sie kämpften nonverbal, mit ihren Körpern und Adam gab schlussendlich nach, fügte sich der Dominanz des Mannes über ihm. Leo wollte und brauchte die Kontrolle und wer war Adam, dass er ihm sie nicht gab?

Leos Hand stahl sich wie ein Dieb zwischen sie und umfasste Adam fast schon brutal streng. Er keuchte und zuckte, fluchte keine Sekunde später über den schändlichen Angriff auf seinen allzu bedürftigen Schwanz.  

Als Leo sich von ihm löste, protestierte Adam tief knurrend. Schweigend musterte Leo ihn, die Lippen rot geküsst, sie Pupillen weit.  

„Los, dreh dich um. Ich will dich auf deinen Knien und Händen.“

Adam blinzelte. 

Auf seinen… er sollte…oh. 

Oh. 

Leo wollte ihn. So wie er Leo gehabt hatte. 

Seinen Schwanz, er will dir seinen Schwanz in deinen Arsch stecken, korrigierte eine gehässige Stimme in seinem Inneren, die nicht zuließ, dass Adam umschiffte, was seinen Puls hochtrieb und seine Atmung flacher werden ließ. 

Es war schon so lange her, dass er den Schwanz eines Anderen in seinem Hintern gehabt hatte, dass Adam sich unweigerlich fragte, ob er überhaupt noch wusste, wie es ging und ob es sich für ihn gut anfühlen würde. 

Konnte er? Wollte er? 

Für Leo würde er. 

Eben jener gab ihm Raum und Adam schraubte sich hoch, drehte sich wie gefordert um. 

Große Töne, die er da gespuckt hatte, befand Adam, als er Leo hinter sich spürte, als Leos Hände auf seiner Kehrseite auf Wanderschaft gingen. Auf seiner Kleidung und nicht auf seiner Haut, was Adam nichtsdestotrotz erschauern ließ. So wollte Leo es also in seinem Bett. Halb angezogen, nur das Wichtigste freigelegt. 

Bezwungen. Benutzt.

Wie schon beim Kuss ging es hier um Dominanz. Vielleicht auch um Rache. Nein…mit Sicherheit ging es das und nicht er war der Empfänger von Rache, sondern sein Vater. Adam war nur der Stellvertreter. 

Er schloss die Augen. Also würde es brutal werden, so, wie Leo es gerne hatte. Schon damals hatte er es nicht brutal gehabt und umso angespannter machte es ihn jetzt. 

Wobei er ja Schmerzen aushalten konnte, dank der Dreckssau. 

Leos Hände an seinem Hosenbund und dem Reißverschluss der Hose erregten ihn und Adam stöhnte auf, als Leo die Hose mit einem Ruck von seinem ihm entgegengestreckten Hintern zog. Kühle Luft tanzte über seiner Haut und Adam erschauerte ob Leos Fingernägeln, die über seine Haut kratzten, ohne ihm wirklich wehzutun. 

Das Schweigen seines hauseigenen Polizisten machte Adam jedoch nervös und einen Moment lang fragte er sich, ob Leo ohne Schutz und trocken in ihn eindringen würde. Es schien so und Adam erinnerte sich an all die Male, in denen Leo sich bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus hatte ficken lassen – nicht von Adam, aber anderen Männern, die keinen Deut darauf gaben, wie er sich fühlte. 

Adam versuchte zu schlucken, doch seine Kehle war plötzlich eng. Bezwungen zu werden wie ein Tier…das hatte die Dreckssau mit ihren Schlägen und Erziehungsmethoden versucht. Ihn wie einen tollwütigen Hund zu erziehen. Ihn zu brechen. 

„Farbe?“, knurrte Leo hinter ihm und für einen Moment war Adam versucht, ein Grün hervorzupressen um Leo das geben zu können, was er wollte, egal, was das für ihn bedeutete. Durchstehen, was Leo wollte, weil er es verdient hatte. Leo, Rache zu bekommen für das, was ihm angetan worden war. Adam…dafür, dass Leo erst wegen ihm gefoltert worden war. 

Doch das würde ad absurdum führen, wozu er den Mann hinter sich gebracht hatte. 

„Rot“, entglitt es Adam daher, noch bevor er sich darüber klar werden konnte, ob es nicht vielleicht auch gelb sein konnte. Rot und die Welt fror ein, wurde still, wurde einsam. 

Wurde kalt, als Leo abrupt Abstand nahm und beinahe Sekunden später vom Bett taumelte und Adam in der gewünschten Pose zurückließ, eine schwere, drückende, belastende Präsenz in seinem Rücken. 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 53: Die gefährlichste aller Wahrheiten

Notes:

Einen wunderbaren Dienstagabend euch! Hier nun das 53. Kapitel und damit der Auftakt zum letzten Teil der Geschichte (von dem ich aber noch nicht weiß, wie viele Kapitel er insgesamt umfassen wird - da ich mich nicht kurz fassen kann, kann das also noch dauern. ;) )

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und holt am Besten schonmal die Taschentücher.

An dieser Stelle auch noch einmal meinen großen Dank an euch, die ihr mitlest, kommentiert, kudotiert, mir Sprachnachrichten schreibt, mich über Discord und Tumblr kontaktiert, etc etc. ❤️🌻. Es freut mich, dass ihr nach über zwei Jahren immer noch, schon wieder oder gerade erst an Bord seid!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Es dauerte keine zwanzig Sekunden, bis der Drang, Leo zu sehen, so groß wurde, als dass Adam ihn noch weiter ignorieren konnte. 

Er zog sich umständlich und unterdrückt fluchend seine Hose über den Hintern und drehte sich ohne sie zu schließen um. Es überließ nicht ganz so viel der Vorstellung als wenn er sie dort gelassen hätte, wo Leo sie hingezogen hatte, aber dennoch war es mehr oder minder freizügig verrucht, wie er hier saß, die Beine notwendigerweise auseinandergeschoben, weil seine Erregung nicht im Geringsten daran dachte, vollständig zurück zu gehen. Trotz allem. Oder gerade jetzt, wo er Leo sah, der ebenfalls mit einer deutlichen Beule in der Hose vor ihm stand und versuchte, sie mit seinen Händen notdürftig zu bedecken. 

Als würde er Adam davor schützen wollen.  

Von Leos Dominanz war nicht mehr viel übrig. Mit großen Augen starrte er Adam an und natürlich musste jetzt auch noch der Köter um die Ecke linsen und winseln, weil er den Stimmungsumschwung von Herrchen dominiert Besucher zu Herrchen steht verloren im Raum vermutlich deutlicher mitbekommen hatte, als es jeder Mensch tun könnte.

„Entschuldigung“, presste Leo hervor, die Wangen gerötet von Lust und Erregung, die darunter liegende Haut jedoch bleich vor Schreck. „Entschuldigung.“

Bevor der Mann es ein drittes Mal wiederholen konnte, schüttelte Adam den Kopf und seufzte verhalten. Er winkelte eines seiner Beine an und ließ es zur Seite fallen. 

So war es besser und angenehmer für ihn. 

Für Leo anscheinend nicht, der von Angst und Verwirrung nicht wusste, wohin und im Begriff war, nach einer Decke zu greifen. Was das Letzte war, was Adam wirklich wollte, also haschte er nach den zitternden Fingern der rechten Hand, die sich gerade an ihm vorbeistehlen wollte. 

„Leo.“

Leo hielt inne. Er traute sich nicht, Adam in die Augen zu sehen, das schlechte Gewissen quer über die Stirn geschrieben, die Anspannung deutlich spürbar. Ein Fluchttier par excellence. 

„Leo. Stopp. Ich will dich. Aber nicht so.“ 

Es schien, als würden seine Worte Leo körperliche Schmerzen bereiten, so wie er das Gesicht verzog. Adam drückte enger zu, als der Mann über ihm Anstalten machte, nach hinten auszubrechen. Weg von ihm und weg aus der Situation. 

Adam seufzte tief und wurde einen Augenblick von dem Köter abgelenkt, der Anstalten machte, zu ihm aufs Bett zu kommen. Mit vernichtendem Blick starrte er ihm in die Augen und nickte knapp auf den Teppich davor. Das sollte er sich gar nicht wagen, befand Adam. Dieses Bett gehörte nicht ihm – zumindest nicht heute. Und nicht, wenn Adam dabei war, gut gefickt zu werden. Vielleicht. Vermutlich würde er nach dem Kommenden unbefriedigt, dafür aber voller Hundesabber und Hundehaare nach Hause gehen. Toll. 

„Das ist jetzt im Übrigen der Moment, in dem du fragst „Wie dann?““, soufflierte er und erhaschte kurz einen Blick in die Überraschung, die seine Worte auslösten. Leo schluckte, räusperte sich, schluckte dann erneut. 

„Aber du willst doch gar nicht“, sagte er dann mit einer derartigen Schuld in der Stimme, dass es Adam instinktiv den Magen umdrehte und er schnaubte. 

„Ich will nicht genommen werden wie ein Tier. Ich will nicht runtergedrückt und gefickt werden. Ich will nicht für das bestraft werden, was die Dreckssau dir angetan hat. Ich will dich, Leo und ja, ich kann mir vorstellen, dich in mir zu haben. Aber ich will dir dabei in die Augen sehen und ich will, dass du mich nicht benutzt, sondern dass wir es gemeinsam erleben.“

Leos rote Wangen wurden nun vollkommen bleich und Adam befand sich im vollen Fokus seiner Aufmerksamkeit. 

„Ich wollte dich nicht bestrafen“, presste sein hauseigener Polizist schließlich bestürzt hervor und Adam haschte nun auch nach der zweiten Hand. Besser war es, denn das scheue Fluchttier stand mit jeder Sekunde mehr davor, ihn zu verlassen und nie wieder zu kommen. 

„Ich wollte dich nicht nehmen wie ein Tier. Das…nein…ich…“

Adam küsste Leos Hände und bemühte sich, möglichst nonchalant und seinem Verbrecherimage gemäß zu lächeln und sich nicht auf seinen immer noch nach Aufmerksamkeit heischenden Schwanz zu konzentrieren der Leos Nähe als eine eindeutige Einladung sah. Eine Meisterleistung, befand Adam im Eigenlob. 

Vielleicht sollte er aber zurückkehren zu seinem Spott, das hatte in der Vergangenheit auch immer geholfen, um Leo zu seinem alten Ich zurück zu bringen. Durch Wut und Zorn. 

„Okay, Leo. Okay“, murmelte er kilometerweit von der beabsichtigten Provokation weicher als geplant und zog an Leos Händen. Schmerz huschte über das schöne, bärtige Gesicht und Leo schüttelte immer noch nicht überzeugt den Kopf. 

„Willst du denn überhaupt?“

„Naja…ich bin der mit der offenen Hose, dessen Kleidung vermutlich als Decke genutzt wird, sobald ich sie von mir werfe“, nickte Adam in Richtung zustimmend brummelnder Dogge und kurz folgte Leo seinem Blick. Offensichtliches Ausweichmaneuver, befand Adam. 

„Ey, meine Augen sind hier“, murrte er aus dem Grund und abrupt sah Leo ihn an, schuldbewusst wie ein guter Katholik bei der sonntäglichen Beichte. Nicht, dass Adam jemals in den Genuss einer solchen gekommen wäre, da die Dreckssau Religion für unnötig und unnütz hielt.

„Und es ist auch nichts Schlimmes daran, von hinten gevögelt zu werden“, berichtigte Adam sich, weil er auch sah, wie sehr es Leo gefallen hatte, eben genauso von ihm genommen zu werden. „Aber ich will dir dabei ins Gesicht sehen, ich will deine Augen sehen, ich will dich sehen. Ich will erahnen, welche Gedanken du hast, während du mich in den siebten Himmel vögelst.“ 

Ich will körperliche und emotionale Intimität, eigentlich hätte Adam alles auf diesen Satz herunterdestillieren können. Aber wer war er, dass er den verbindungsscheuen Mann auch noch verschreckte mit so unnötigen Dingen wie Intimität und Emotionen? 

„Wirklich?“
„Ja, Leo. Wirklich.“
„Also möchtest du mich noch? Auch so?“

Beinahe schon ungelenk kamen die Worte aus Leo heraus und waren so roh, so ehrlich, dass es Adam tief in sich schmerzte. 

„Der Tag, an dem ich dich nicht wollen würde, muss noch gebacken werden“, spottete er liebevoll und hinter der hübschen Stirn seines hauseigenen Polizisten arbeitete es. Kritisch wurden seine Worte seziert, auseinander genommen, wieder zusammengesetzt. Scheu noch wurde ihm Glauben geschenkt, doch der wurde von Sekunde zu Sekunde sicherer. 

So sicher, dass Adam es wagte, an Leos gefangenen Händen zu ziehen. 

„Na komm, besorg‘s mir“, forderte er sanft und alleine der Gedanke an die Möglichkeiten, die sich ihm dadurch boten, ließ seinen Schwanz interessiert zucken. 

„Wirklich?“

Wäre es eine andere Situation gewesen, hätte Adam mit den Augen gerollt. Er verstand Leos Unsicherheit, konnte sie auch nachvollziehen, aber das hier…das war eindeutig. Anstelle einer Antwort legte er seine und Leos Hand auf seinen halbharten Schwanz. Warm waren die Finger und Adam reagierte beinahe augenblicklich darauf. Auf Leo und Leos Körper. 

„Zieh mich aus, zieh dich aus, leg dich zu mir und finde es heraus.“  

Leo, hin und hergerissen zwischen Schuld, Hoffnung und Erregung, dachte hoffentlich nun nur noch ein letztes Mal darüber nach. Er sah auf ihrer beider Hände, sah Adam ins Gesicht und nickte dann so unmerklich, dass es Adam beinahe entgangen wäre. 

Als er sich dann von ihm löste, war es keine Flucht, sondern eine Vorbereitung. Langsam, noch zögernd, zog er sich aus, erst das Shirt, dann die Hose, die Boxerbriefs, die Socken, alles, was Adam sich heute gespart hatte. Er war schön, was Adam schon seit Tag eins wusste, aber in diesem Augenblick war er auf eine Art schön, die sich schwer beschreiben ließ. Vertraut schön, vielleicht und Adam erinnerte sich nur zu gerne daran, wie sich die Muskeln unter seinen Fingern anfühlten, wenn sie entspannt waren, aber auch, wenn sie sich anspannten und Adam eines ums andere Mal wusste, dass er hier einen Polizisten vor sich hatte.

Er lächelte und ließ seine Finger erneut auf Wanderschaft gehen. Sanft strich er über Leos verheilende Verwundungen, über seine Muskeln und die sich abzeichnenden Hüftknochen, bewusst den vorsichtig interessierten Schwanz auslassend. 

„Na komm, so angezogen wie ich bin, wird das nichts“, lockte Adam ihn schließlich und war durchaus hilfsbereit, als dieser ihn mit festem Blick in sein Gesicht zuerst vom Jackett und dann der Hose befreite. Ungewohnt unordentlich warf er sie hinter sich und Adam hob vielsagend seine Augenbrauen, als der olle Köter sich seine Kleidung, nicht Leos, als Unterlage aussuchte und sich nach dreimaligem Drehen darauf niederließ, sie aufmerksam anstarrend. 
 
Vor ihm atmete Leo zittrig ein und ballte seine Finger zu unsicheren Fäusten. Löste sie wieder, als er merkte, was er tat. 

„Nicht nur gucken, auch anfassen“, ermunterte Adam ihn und Leos Hände zuckten, bevor sie auch nur Anstalten machten, sich in Adams Nähe zu begeben. Einen Schritt näher, einen zweiten, dann stand er in Griffreichweite. Wie in Zeitlupe hob sich Leos Hand und strich ihm über die Wange. 

Adam lehnte sich in die Berührung und küsste die Handinnenfläche seines hauseigenen Polizisten sanft, während er ihn keine Sekunde aus seinen Augen ließ. Leo erwiderte seinen Blick und Adam legte alles, was er an Zuversicht und Bestätigung in sich finden konnte, in ihre nonverbale Verbindung. 

Mutig nun kroch die Hand von Adams Wange aus zu seinem Haaransatz und überzog seinen ganzen Körper mit einer wohligen Gänsehaut, als die Finger sich durch die gegelten Strähnen kraulten. Ohne Gnade nahm Leo nun auch noch seine zweite Hand dazu und Adam musste seine Augen schließen, weil ihn die sanfte, vorsichtig fragende Berührung so sehr in Flammen setzte und erregte. 

Für jemanden, der es am liebsten schnell und schmutzig hatte, war Leo jemand, der sich Zeit ließ, stellte Adam fest. Jetzt, wo die Karten auf dem Tisch lagen und sie sich vorsichtig annäherten, wo Leo nichts mehr von seiner destruktiven Dominanz inne hatte, war es anders schlimm. 

Es war beinahe zärtlich und es knackte mit Leichtigkeit Adams Nussschale von einer Seele, die über die letzten Jahrzehnte überlebt hatte. 

Unruhig schickte Adam seine Finger auf die Wanderschaft, im festen Vorsatz, Leo genauso verrückt zu machen wie dieser ihn gerade reizte. Lange Momente ließ es Leo geschehen und folgte erschauernd seinen Spuren, bevor er Adams Finger schließlich sacht einfing und ihn ebenso sanft und unnachgiebig auf den Rücken drängte. 

Er kam über ihn und Adam genoss die Perspektive, die sich dank des über ihm thronenden Mannes hier bot, dessen Augen so waldgrün waren, dass es jeden Ausflug, den sie miteinander in diese saarländische und französische Einöde gemacht hatten, in den Schatten stellte. 

Glück durchströmte Adam, das er vor nicht allzu langer Zeit für verloren geglaubt hatte und als der miese Syndikatssohn, der er nun einmal war, nutzte er jetzt Leos Unaufmerksamkeit und schlang ein Bein über dessen Hintern und presste sie so eng aneinander, dass garantiert kein Blatt von irgendeinem ollen Baum mehr zwischen sie passte. 

„Ey!“, beschwerte sich der Gesetzeshüter auf ihm sehr halbherzig und Adam zog ihn zu einem ganz und gar nicht halbherzigen Kuss hinunter. Er verband sie auf eine intime Art, die wie die Wahl des Ortes und der Zeit allem widersprach, was Leo und er in den letzten Wochen getrieben hatten. 

Es war neu und aufregend, von der Unsicherheit des Neuen geprägt. 

Sie nahmen sich Zeit und von der schweigenden, niederdrückenden Dominanz des ersten Versuches war nichts mehr zu spüren. 

Weder als Leo ihn anscheinend zum Pillow Prince auserkor und sich Zeit ließ, seinen Körper zu kartographieren, Millimeter für Millimeter, als hätte er Adam nicht schon oft genug in jeglichen Zuständen gesehen. Noch als Leo sich schlussendlich Zeit damit ließ, ihn vorzubereiten und Adam dabei fast verrückt machte, weil er hier dazu verdammt wurde, sich auszuliefern, körperlich wie emotional. 

Leo tat es mit immer wieder rückversichernden Blick, mit Fragen in den Augen, die Adam allesamt mit ja beantwortete – mal mehr, mal weniger ungeduldig…mit fortlaufender Zeit eher weniger. 

„Grün“, keuchte Adam mittlerweile zum vierten Mal und es kam von Herzen und aus tiefster Seele. 

Seine Nervösität begleitete ihn dabei und insbesondere jetzt, als Leo sacht in ihn drängte und ihm Zeit ließ, sich an ihn zu gewöhnen, klopfte Adam der Puls aufgeregt in den Ohren und blieb ihm für einen Moment die Luft weg. 

Adam kannte Schmerz, denn Schmerz begleitete ihn sein Leben lang und entsprechend hoch war seine Toleranz. Das machte aber nicht vor dem vielsagenden Druck eines eindringenden Schwanzes halt, der noch einmal eine ganz andere Hausnummer war als die Gürtel und Fäuste der Dreckssau.

Zumal er sich freiwillig dafür entschieden hatte. Zumal es Leo war, der auf ihm lag, ihm dabei ohne Unterlass in die Augen sah, innehielt, sich rückversicherte und zärtlicher war, als er es jemals in seinem Leben von Adam eingefordert hatte.

Leo war vorsichtig und langsam. Als er sich bewegte, war es langsam und unnachgiebig und durchdrungen von der Dominanz, die Adam schon zu Beginn seines Hierseins gespürt hatte. 

Er machte es Adam einfach, sich an den Druck des genommen Werdens zu gewöhnen und aus dem körperlichen Druck ebenso physische und geistige Lust werden zu lassen. Er vereinte sie auf eine Art, die Adam emotional und körperlich mehr abverlangte, als er es vorher vermutet hatte.  

Dass Leo mit seinem geknurrten „Die Hände bleiben da, wo sie sind, ich kümmere mich um deinen Schwanz“ Adam fast dazu brachte, auch ohne weitere Stimulation zu kommen…dafür würde sich Adam garantiert nachher nicht schämen. 

Insbesondere, weil seine Hände auf Leo lagen und er mit ihnen seinen hauseigenen Polizisten eng umschlungen hielt, während sie unter den wachsamen Augen und unruhig zuckenden Ohren des Riesenköters ihrem ersten keuchenden Orgasmus in dieser Nacht nachjagten, gestöhnte Flüche und Worte auf den Lippen, an die sich Adam schon Sekunden später nicht mehr erinnerte. 

Und so rückte sich seine zersplitterte, verdorbene Welt mit einem gewaltigen Beben seines Herzens und seiner Seele zurecht, verschoben sich in tektonischen Bewegungen die Erdplatten seines inneren Selbst und arrangierten sich neu.

Adam überdeckte das mit einem dummen Spruch und einem noch dümmeren, seligen Grinsen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein hauseigener Polizist das ganze Ablenkungsmaneuver viel zu leicht durchschaute und ebenfalls nicht nur nach Luft und Kraft rang, sondern auch nach einer Erklärung für das, was gerade geschehen war, während sie auf intimsten Wegen miteinander verbunden waren. 

Zwei weitere Male schafften sie es in der Stille der Nacht, erst unter wachsamen, blauen Hundeaugen, dann untermalt vom tiefschlafenden Schnarchen des ollen Köters. 

Leo war sanft und ausdauernd, sie beide fast wie Liebende, und Adam fühlte ein Glück und eine Ruhe in sich, die er zum letzten Mal in Elias Armen gefühlt hatte.

Als sie erschöpft in die Laken sanken und für Momente mit verwobenen Fingern dort lagen und sich anschauten, war es vollkommener Frieden, der Adams Welt ausfüllte.  

Dieser hielt auch noch, als Adam sie schlussendlich unter die Dusche zog und sowohl Leo als auch sich mit zittrigen, wobbeligen Beinen und latent schmerzendem Hinterteil in die bodentiefe Kabine bugsierte. 

Als er zu der Brause griff, sah er zum ersten Mal in dieser Nacht etwas Anderes als ruhige, unabdingbare Aufmerksamkeit in Leos Gesicht. Er sah Furcht vor dem, was kam, und begriff, dass noch nichts wirklich gut war, geschweige denn auch nur in Ansätzen verarbeitet. 

Seufzend griff er nach Leos Hand und legte sie um seine, die den Duschkopf hielt. 

„Du bestimmst, ob es in Ordnung für dich ist“, sagte Adam rau, denn vielleicht eventuell hatte er Leos Namen ein- oder zweimal geschrien in den vergangenen Stunden. Vielleicht auch mehr. Ganz sicher mehr. Leo, dessen gegrollte Worte und Komplimente Adam noch zu gut in den Ohren waren, sah hoffnungsvoll zu ihm.

„Nicht ins Gesicht“, presste er hervor, als sei es eine Schande, das zuzugeben und Adam nickte. Sacht umfasste er Leos Wange und hielt überrascht inne, als dieser sich an ihn schmiegte und sie ihn so eng umarmte, dass wieder nichts zwischen sie passte.

Adams Sorge, dass Leo nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, kehrte sich in etwas um, das Adam hier nicht bezifferte, aber das er auch nur zu deutlich in Leo spürte und das ihm klarmachte, dass Leo viel wollte, aber nicht, ihn von sich zu stoßen. 


~~**~~


Die Dämmerung hielt Saarbrücken noch in ihrem Blauviolett mit einem bereits lauernden Rosastich, als Leo aufwachte. 

Genauer genommen, als er sich eines Fingers in seiner Nase erwehrte, der während des seligen Schlafes des Angreifers sich dahin verirrt hatte. 

Leo schnaubte und schob sich ein Stück zurück, begegnete dabei wachen Hundeaugen und einer erfreut schlagenden Rute. Adam hingegen schlief wie tot den Schlaf des Gerechten und Leo brauchte einen Moment, um sich überhaupt von seinem Lächeln und dem unbändigen Glück in sich selbst lösen zu können. 

Vielleicht auch mehr als einen Moment. Vielleicht auch viel zu lange dafür, dass sie hier in seinem Bett lagen, miteinander geschlafen hatten, dass Adam ihn zu einem kompletten Halt gebracht hatte, weil Leo ihn benutzen wollte. 

Auch jetzt noch hatte er ein brutal schlechtes Gewissen und auch jetzt krampfte sich sein Magen beim Gedanken daran, was er Adam beinahe angetan hätte. Rache – er hatte es zwar verneint, aber Leo war sich nicht so sicher, ob subtil nicht eben das auch mitgeschwungen hatte. Rache an Roland Schürk. Rache für die Folter, die ihn auch jetzt noch vor jedem Schatten zurückschrecken ließ und ihm den Schlaf raubte. Rache für jede Sekunde Schmerz und Angst, die Leo durchlitten hatte.

Anstelle seiner Rache hatte er etwas Anderes bekommen und diese Andere war vielleicht viel schlimmer, denn es war etwas, das Leo lange nicht mehr gefühlt hatte. 

Seit Matthias nun nicht mehr und das machte ihm Angst. Es erschreckte ihn, denn es brachte Fragen ohne Antworten mit sich. Wobei…eigentlich schon, aber Leo wollte diese Antworten nicht hören.  

Nicht jetzt. Und wenn er feige war, in der nächsten Zeit auch nicht. Denn die Antwort hieße, sich dem Unmöglichen zu stellen, was niemals sein durfte und das, wonach er sich schon in Matthias‘ Armen am Meisten gesehnt hatte.


~~**~~


Das Erste, was Adam wirklich bewusst spürte, war Wärme, die sein Gesicht kitzelte. 

Der Wärme folgte Helligkeit, die ihn unerfreut die Nase kräuseln ließ. Helligkeit war ätzend, denn das bedeutete, dass der nächste Tag angebrochen und es mit dem Schlafen vorbei war. Sein Körper jedoch signalisierte ihm vollkommene Zufriedenheit, gepaart mit einem Ziehen, das ihn sich auch im halbwachen Zustand an die nächtlichen Aktivitäten erinnern ließ. Anscheinend schlief der Gegenpart dieser nächtlichen Aktivitäten noch, denn Adam spürte Leos Atem, wie er ihm ins Gesicht pustete.

Vorsichtig öffnete er ein Auge und verharrte überrascht, als da nicht wirklich Leo war, sondern der wandelnde Flohzirkus, der seinen massigen Kopf aufs Bett gelegt hatte, die Ohren angelegt und die kalte Hundenase so riesig, dass sie fast komplett Adams Blickfeld ausfüllte. Anscheinend freute er sich wie Schnitzel, dass Adam endlich wach war, zumindest interpretierte er die wild schlagende Rute und das maulende Gebrummel so. 

Das Seltsamste an der Situation war aber, dass Adam keine Angst hatte. Er lag auf dem Bauch und hatte vermutlich mehr Ähnlichkeit mit einer überfahrenen Kröte als mit einem funktionierenden, wachen Menschen. Er lag auf Augenhöhe mit einem riesigen Biest und dessen Maul und hatte keine Angst. 

Herbert schnaufte und jaulte leise. 

„Untersteh dich. Du bleibst da, wo du bist, du oller Spanner“, grollte Adam müde und auch rau. Der Flohzirkus hatte die ganze Nacht mit im Schlafzimmer gelegen und gespannt oder vor Langeweile geschlafen. 

Also wirklich. 

Adam legte eine Hand auf Herberts Schädel und begeistert leckte der Hund über seinen Unterarm. Auch eine Art zu duschen. Urghs. 

Er hatte Durst, erkannte er, auch wenn Leo ihm mehr als anderthalb Liter eingeflößt hatte zwischen den Malen, in denen er ihn so sanft und nachdrücklich genommen hatte. 

Dafür, dass sein hauseigener Polizist selbst so ein sich selbst vernachlässigendes Fluchttier war, hatte er sich wirklich gut um den Mann gekümmert, den er gerade in die Matratze gevögelt hatte. Etwas das Adam nebst der Art, wie Leo ihn genommen hatte, sehr gerne mochte. 

„Wo ist denn dein Herrchen?“, fragte er krächzend und Herbert sah kurz zur Tür. Wenn er genau hinhörte, erkannte Adam auch Geklapper aus der Küche. 

Seufzend drehte er sich auf den Rücken und zuckte, als es in seinem Hintern zog, stärker noch als heute Nacht. Er grinste wild. Schmerzen zu haben, war normal für ihn, solche Schmerzen hingegen… nicht so und dennoch fühlte es sich gut an. Vollkommen. Verboten verrucht. Sein Vater würde toben, wenn er wüsste, dass sein schon ekelhaft schwuler Sohn sich auch noch in den Hintern vögeln ließ. 

Adam schob den Gedanken in die hinterletzte Ecke seines Seins, wollte er doch nicht an seinen Vater denken.  

Lieber genoss er die Stille des Morgens für weitere Minuten, bevor er sich mit einem Seufzen aufrichtete und versuchte, aufzustehen. Es gelang ihm nach zwei Versuchen und auf unsicheren Beinen wankte er in Richtung Kleiderschrank. Sich seine eigene, hundhaarverseuchte Hose anzuziehen, wäre langweilig, also machte er die Tür zum Hölzerschen Wunderland auf und zog sich eine Boxerbriefs, eine Hose und ein T-Shirt aus dem Schrank, bedeckte seinen Körper züchtig genug für den Mann in der Küche, der vermutlich eifersüchtig genug war, seinen Nachbarn nicht die zustehende Peepshow eines nackten Mannes vor den großen Fenstern zu gönnen. 

Er wollte ja keinen Grund zur Beschwerde geben. Also nicht noch mehr. 

Herbert erhob sich und trottete ihm neugierig hinterher, während Adam sich auf leisen, nackten Sohlen in Richtung Küche begab. 

Leo stand in Gedanken versunken mit dem Rücken zu ihm an der Kaffeemaschine und kontemplierte vermutlich seine getroffenen Entscheidungen von gestern Nacht. Adam hoffte nicht, dass er auf Schuldgefühle oder Vorwürfe treffen würde…oder auf Bedauern, dass sie es doch in Leos Bett getan hatten. Zum ersten Mal abseits aller Regeln, die Leo für sein Leben hatte. 

„Senile Bettflucht?“, fragte er daher nonchalant an der Grenze zur Provokation und kam neben Leo. Überrascht wandte ihm dieser den Kopf zu und hob fragend die Augenbrauen, bevor er sich bewusst wurde, was Adam gerade trug. 

„Du warst an meinem Kleiderschrank“, wurde er vorwurfsvoll seziert und Adam grinste unverschämt, während er hinter Leo nach einer Tasse griff. Wenn schon lebensmüde, dann richtig. 

„Aber sicher, wenn du mir schon die Klamotten vom Leib reißt.“

„Ich habe nicht…“, begann Leo empört und Adam beendete den aufkommenden Protest mit einem Schnippen gegen die Nase. Das sollte schon erlaubt sein, befand er, insbesondere, nachdem Leo es sich in seinem Arsch so gemütlich gemacht hatte. Natürlich nicht zu Adams Nachteil, aber dennoch. Außerdem war es keine liebevolle Berührung und auch keine Umarmung, denn die wagte Adam mit Sicherheit nicht einfach so.

Das Protestgrollen begleitete Adams Weg zu einem ordentlichen Kaffee und er genoss die Nähe zu Leo, der nicht daran dachte, einen Schritt zurück zu treten, um seine Ehre zu retten. Die nach gestern Zweifelhafte. 

Vorsichtig lehnte Adam sich gegen die Anrichte. 

„Du hast mir Platz gestohlen im Bett“, sagte Leo und Adam kam nicht umhin zu bewundern, dass Leo sich nicht über den Sex und den damit einhergehenden Regelbruch beschwerte oder sagte, dass sie das nie wieder machen würden, sondern darüber, dass Adam sich im Bett wie ein Kraken ausbreitete. Was an sich nichts Neues war. 

Adam sinnierte über den ersten Schluck Kaffee, ob er Rahel mit seiner Verteidigung beauftragen oder lieber schuldig wie die Nacht ins Gefängnis gehen sollte. 
„Matratze zu klein, würde ich sagen“, brachte er als Entschuldigung vor und Leo kräuselte wunderbar kritisch die Nase. 

„Passend für mich.“
„Finde den Fehler.“
„Der da wäre?“

Eine komische Art, den Morgen danach zu begehen, befand Adam. Doch war es auch nicht wirklich ein Wunder? Leo, das Fluchttier, umschiffte natürlich den Elefanten im Raum, wo es nur ging. Lenkte ab, sich und Adam. Lenkte weg von dem, was er darüber dachte. 

„Wenn sie für zwei wäre, gäbe es das Problem nicht.“ Das war gelogen, weil Adam sich immer ausbreitete, aber dennoch ging er aufs Ganze. Saß das Erkennen in Leos Augen aus, die Rädchen, die sich wild drehten. Aber nicht von ihm weg, auch das sah Adam ganz klar und deutlich. Leo widersprach ihm nicht und seiner steilen These, dass ein Bett für Zwei besser wäre als ein Bett für eine Person, die die eigene Wohnung notorisch gegen Besucher jedweder Art gehütet hatte – bis gestern Nacht. Vermutlich war auch das der Motivator für die wild aus ihm heraussprudelnden Worte, die sich unerbittlich ihren Weg bahnten. 

„Weißt du…“, haschte Adam nach Leos Hand und lächelte sanft, weil er der plötzlich aufkommenden Wärme in seinem Inneren ein Ventil geben musste, bevor das Blubbern seinen Magen zerstörte. Er zog sie zu seinen Lippen und küsste die Knöchel. 

„…ich wünsche mir, dass ich dich anders kennengelernt hätte. Abseits vom Syndikat, von Erpressung und von Polizist versus Möchtgern-Nachwuchskriminellen. Ich wünsche mir, dass wir nicht auf verschiedenen Seiten stehen würden. Es wäre schön gewesen, dich normal kennengelernt zu haben, um dich verwöhnen zu können und dir zu zeigen, dass Menschen in deiner Nähe mehr als okay sind. Und um dich zu lieben.“

Da waren sie raus, die ehrlichen Worte nach einer Sex-lastigen Nacht und nach Monaten eines unmöglichen Kennenlernens und Zusammenfindens. Worte, die eigentlich schon länger unter Adams Hautoberfläche geschlummert hatten und die nicht so wehgetan hatten, wie er es vermutet hatte. Oder wie es sich subtil in ihn gebrannt hatte, seitdem die Dreckssau Elias… nein, auch daran wollte er jetzt nicht denken. 

Erst, nachdem er sie so frei und ungehemmt in den Raum geworfen hatte, merkte Adam, welche Wucht sie innehatten. Auf ihn selbst, aber vor allem auf Leo, der wie vom Donner gerührt vor ihm stand und nichts sagte. 

Kein kluger Spruch, kein Grollen, kein Ablenken…nur ein vollkommenes Ausgeliefert sein und brutale Ehrlichkeit. Große, grüne Augen, die ihn anstarrten, als hätte er gerade den Weltfrieden verkündet.

Der olle Flohzirkus war da besser und schlawenzelte winselnd um sie herum. Er leckte erst Leo, dann Adam über die verbundenen Hände und klaute sich dann eine Scheibe trockenes Brot von der Anrichte. Leo bemerkte das noch nicht einmal, so fixiert war er auf Adam. 

Die Sekunden zogen sich, wurden unangenehm und schlussendlich räusperte Leo sich. Er löste sich von Adam und barg seine Hand in der anderen, drückte mehr als schmerzhaft zu. 

„Ich muss zur Arbeit“, sagte er dann zusammenhanglos, unverankert, derart abseits von Adams Worten, dass dieser für einen Moment an seinen Ohren und an seinem Verstand zweifelte. Der Augenblick dauerte nicht lange, dann begriff Adam, was dieser einfache Satz bedeutete. 

Welche Antwort er eigentlich beinhaltete.

„Zur Arbeit“, echote er dennoch langsam und Leo nickte abgehackt. Mittlerweile konnte dieser ihm auch nicht mehr in die Augen sehen, sondern fixierte sich auf Herbert, der damit nun gar nichts zu tun hatte. 

„Ich bin spät dran und mein Team wartet. Ich muss los.“

Es war eine Ablehnung und eine schlimm-feige noch dazu. Leo konnte ihm noch nicht einmal ins Gesicht sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte, weil er mitnichten so für den Mann empfand, der ihn erpresst hatte. 

Adam schwieg und nickte schließlich fast bleiern. Und war es nicht auch so? Leos Ablehnung legte sich wie ein bleiernes Band um seinen Magen…und schlimmer…um sein Herz. Es zerquetschte den Muskel, den Adam schon lange nicht mehr aktiv gewähnt hatte. Der Muskel, der über die letzten Monate aufgetaut war und etwas zugelassen hatte, das Adam schon lange fürchtete. 

„Alles klar…“…mir scheiß egal, hätte er vielleicht in einer anderen Situation gesagt, doch dieses Mal blieb ihm der Nachsatz im Hals stecken. „Ich gehe.“

Leo hielt ihn nicht auf, sah ihn noch nicht einmal wirklich an. „Okay.“

Und damit war er feierlich aus der Küche entlassen. Ungehindert ging Adam zurück ins Schlafzimmer und zog sich seine eigene, vollgehaarte Kleidung an, der Nachgeschmack ihrer gemeinsam verbrachten Nacht mit jeder Sekunde schaler und bitterer. Leo ließ sich auch nicht sehen, als Adam für einen Moment länger im Flur stand, sich überlegend, ob er mit einem dummen Spruch seine Worte zurücknehmen sollte um alles wieder so zu machen, wie es vorher war. Ungebunden, ohne Verpflichtungen. Ohne irgendwelche komischen Geständnisse seinerseits, die ihn verwundbar machten und natürlich dazu führten, dass er nicht das bekam, was er sich wünschte. So hatte es das Leben einfach nicht für ihn vorgesehen.  

Er entschied sich dagegen, Leo noch einmal anzusprechen, und verließ die Wohnung, das Ziehen in seiner Kehrseite eine Erinnerung an etwas, das anscheinend vollkommen seiner Kontrolle entglitten war. 


~~**~~


Vincent stand auf seinem Balkon und starrte blind auf die Stadt unter ihm. Das geschäftige, kriminelle Bienennest, verrottet von ihnen und zerstört von außen. Saarbrücken war keine schöne Stadt, an vielen Ecken nicht, aber es war eine Stadt mit Geheimnissen, die von innen heraus verfaulte. Das konnte auch das Viertel, in dem Vincent wohnte, nicht übertünchen. Altbauwohnungen, aufwendig saniert, finanziert aus Betrugsgeldern. Alles hiervon gehörte Roland Schürk und genau deswegen war es für Vincent auch so bezahlbar. 

Auch wenn Adam nicht schlecht zahlte, ganz im Gegenteil. Er, der selbst keine wirkliche Verwendung für Geld hatte, gab es Vincent. Oder Bastian. Er war großzügig und spendabel und der einzige Luxus, den Adam sich leistete, waren die Lego-Bausets, sein Auto und seine Kunst. Vincent sparte, falls sie fliehen mussten. 

Wenn, nicht falls. 

Er schloss die Augen und taumelte. Er hielt sich an dem feingearbeiteten Balkongitter fest und musste sich minutenlang erden, bevor er auch nur daran denken konnte, zu seinem Handy zu greifen.

Seine Worte waren zurechtgelegt in seinem Kopf und in der letzten Stunde hatte Vincent sie hunderte Male aufgesagt, sich gestählt auf das was kommen mochte. Er hatte seine Emotionen weggeschlossen und einer Sachlichkeit Platz gemacht, die ihn selbst das Fürchten lehrte.  

Zarah war erfolgreich gewesen mit ihren Recherchen. Sie hatte die richtigen Kontakte geknüpft, die richtigen Personen befragt und mithilfe eines Hacks Zugriff auf die Personalakten von Pia Heinrich, Esther Baumann, Stephan Weiersberger und Rainer Steuer und erhalten. Die Auszahlungen der Bezüge und die Art der Zulagen verrieten sie ebenso wie die Lehrgänge, die sie angeblich besucht und dann doch nicht besucht hatten. Die Dienststellen, denen die angehörten, die sie aber selten oder auch gar nicht gesehen hatten. 

Es war schließlich das Innenministerium gewesen, das alle SoKos dieser Art billigen musste, und das einen eindeutigen Hinweis darauf gegeben hatte, wer dem Ermittlungsteam gegen Roland Schürk und das Syndikat angehörte und welchen Umfang die Informationen bereits hatten, die über sie gesammelt worden waren. Vom BKA, Europol und der Police nationale, die sich durch ihre internationalen Aktivitäten auch ihren Teil vom Kuchen holen wollten, indem sie die französischen Gegenspieler ins Visier namen. 

Von da aus war es nur noch ein Katzensprung bis zu der Information gewesen, dass auch Leo Hölzer dieser Sonderkommission angehörte, angeworben vor ein paar Monaten durch seine Kolleginnen Pia Heinrich und Esther Baumann. 

Ein elender, bitterer Katzensprung, der Adams Leben zerstören würde.

Vincent war übel beim Gedanken an das, was kommen würde. BKA, Europol und Police nationale bedeuteten, dass die Ermittlerinnen und Ermittler ihnen trotz aller Vorsicht in einem ungeahnten Ausmaß auf den Fersen waren und dass sie alles vernichten mussten, was sie an nachvollziehbaren Dokumenten gesammelt hatten. Eine Sonderkommission bedeutete, dass sie kurz vor einer Verhaftung standen und derjenige, der Adam gerade nah war, verfügte über katastrophal schlimme Informationen über Adam, seinen Vater und die Macht, sie alle durch seine Aussage ins Gefängnis zu bringen. 

Deswegen hatte Leo Hölzer den Zeugenschutz immer und immer wieder ins Spiel gebracht und nicht locker gelassen. 

Vincent verfluchte sein Bauchgefühl, das er von Anfang an bei Leo Hölzer gehabt hatte. Er verfluchte eine Sekunde lang ungerechtfertigter Weise auch Adam, dass er dem anderen Mann verfallen war. 

Dennoch. Leo Hölzer war ein guter Mann, ein ehrbarer Mann, er stand für das Richtige. Er wäre der perfekte Partner für Adam…gewesen. 

Er hätte Adams Rettung sein können, doch nun würde er sein Untergang sein.  

Vincent griff zu seinem Handy und wählte Adams Nummer. Noch wusste Leo nicht, dass sie es wussten und damit hatten sie einen Vorsprung, der ihnen das Leben und die Freiheit retten konnte. Sie würden diejenigen, die sie liebten, nie wieder sehen, aber sie wären wenigstens frei. 

Und, so sagte Vincent es sich durch die Dunkelheit in sich selbst hinweg, Adam wäre endlich frei von Roland Schürk. 

Was das für ihn selbst bedeutete, das wollte er sich lieber nicht eingestehen.


~~**~~


„Ja?“

Adam fluchte stumm über das lahmarschige Arschloch vor sich, das seinen Weg über die noch gelbe Ampel blockierte und ihn daran hinderte, zu seiner Wohnung zurück zu kehren, sich dort einzugraben und seine unsinnigen Wunden zu lecken. 

„Wo bist du gerade, Adam?“, fragte Vincent am anderen Ende der Leitung und Adam knurrte unwillig. 

„Hinter einem Idioten, der Angst vor gelben Ampeln hat. Bin auf dem Weg zu meiner Wohnung. Warum?“

„Es gibt eine Sonderkommission zur Ermittlung von Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem Syndikat deines Vaters. Hier in Saarbrücken besteht sie aus Pia Heinrich, Esther Baumann, Rainer Steuer und Stephan Weiersberger, geleitet wird sie seitens des BKA in Wiesbaden, Europol und die Police nationale unterstützen dabei. Leo Hölzer gehört auch zu der Sonderkommission, Adam. Er findet sich in den Akten über die erfolgten Gespräche und erlangten Informationen. Laut Zarah sind ihm eindeutig zuordnenbare Informationen Bestandteil des Verfahrens, unter anderem auch, welche Informationen er für uns besorgen musste. Sie sagt, sein Handschriftvergleich ist eindeutig und Weiersberger hätte einen entsprechenden Antrag bei seinem Verbindungsbeamten im BKA gestellt, Leo Hölzer aufzunehmen.“

Die rote Ampel und der Ärger über die Schnecke vor ihm waren plötzlich gar nicht mehr Adams größtes Problem, stellte er fest. Ganz und gar nicht und in den ersten Sekunden übernahm der eiskalte Stratege in ihm, der die Information in sich aufnahm, verwertete und nicht zuließ, dass Adams Gefühle nachzogen. 

„Eine Sonderkommission? Die anderen Idioten? Wie konnte uns das entgehen?“

„Ich weiß es nicht, Adam. Keiner unserer Informanten und keine Verknüpfung hat etwas davon gewusst. Niemand hatte auch nur ein paar Informationen darüber, selbst unsere Verbindungen ins Innenministerium haben nichts verlauten lassen. Deswegen müssen wir weg aus Saarbrücken. Wenn sie zuschlagen, und das werden sie, landen wir alle im Gefängnis.“

Drei ganze Straßenzüge dieser engen, überfüllten Innenstadt ließ sich Adam Zeit mit einer Antwort, wund und noch offen von einer Nacht unter einem Mann, der ihn von vorne bis hinten belogen hatte. 

Adam kam im absoluten Halteverbot zum Stehen und zeigte dem sich beschwerenden Mann Mitte fünfzig einen unerfreuten Mittelfinger. 

„Adam?“, fragte Vincent besorgt und Adam presste die Zähne aufeinander. 

„Sind die Informationen sicher?“, knirschte er hervor und dachte an Leos Zurückweisung am heutigen Morgen. An seine Zärtlichkeit gestern Nacht. An ihre Umarmungen. War es zuviel gewesen? War Leo noch nicht so weit in Rolle des gefallenen Polizisten, dass er seine Gefühle erwidern konnte? 

„Ja, Zarah hat sie aus dem Innenministerium. Dieses Mal aus der richtigen Abteilung.“

Adam schloss seine Augen. „Seit wann gehört Leo zur SoKo?“

Vincent ließ sich quälend lange Sekunden Zeit mit der Antwort und mit jedem verstreichenden Augenblick wusste Adam, dass es schlimm sein musste. „Seit Monaten.“

Monate. 

Monate, in denen Adam geglaubt hatte, dass sein hauseigener Polizist sich offener zeigte. Monate, in denen er anscheinend Stück für Stück vergessen hatte, dass es nur zwei Seiten gab: die der Polizei und die der Verbrecher. Leo aber nicht und schlussendlich war Leo aufs Ganze gegangen, hatte dann doch seinen Körper dargeboten. Und Adam hatte sich einfangen lassen, war in die Falle gegangen wie ein Anfänger. 

Nur weil er 16 Jahre, nachdem Elias ermordet worden war, wieder etwas spürte, das positiv war. 

Adams Herz pochte schmerzhaft und er musste bewusst atmen, als nach und nach einsickerte, was es für ihn bedeuten würde. Weg aus Saarbrücken, weg aus Deutschland, in einem waghalsigen Fluchtplan, der sie zwingen würde, eine vollkommen neue Existenz aufzubauen. Sie hatten es sich geschworen, damit sie nicht in die Fänge einer Justiz gerieten, die nichts Gutes für sie bereithalten würde. 

Adam kannte ihren Plan en détail, aber alles, was er in diesem Moment spürte, war der Drang, denjenigen dafür zu bestrafen, der an allem Schuld war.

Der Mann, der ihn seit seiner Kindheit misshandelt hatte, der dafür verantwortlich gewesen war, dass Adam überhaupt diesen Weg eingeschlagen hatte. Derjenige, der Adam versuchte, wie einen Hund zu erziehen und zu züchtigen und der ihm alles genommen hatte, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Erst Elias und dann den Mann, der sich natürlich für die Seite des Gesetzes entschieden hatte. 

Adam scheute sich kurz vor dem Namen, der die noch frischen Erinnerungen mit sich brachte. War das Leos ultimative Rache an ihm für das, was er ihm die ersten Monate angetan hatte? Ihn zu ruinieren? Sein Leben, finanziell, aber auch emotional? 

Vielleicht, denn Adam hatte es nicht anders verdient für das Leben, das er führte und für die Dinge, die er getan hatte. 

„Halt dich an den Plan“, sagte er mit belegter Stimme. „Buch ein Ticket, schalt dein Handy ab, setz dich in den nächstbesten Flieger und dann nichts wie weg.“ Über Djerba, Umwege und Landwege schlussendlich nach Kuba, sodass sich seine Spur verlor und ihm niemand mehr folgen konnte. Adam würde eine andere Route nehmen, so hatten sie es damals zusammen mit Zarah geplant. 

„Ich rufe Zarah an, sie soll alle Unterlagen und Daten vernichten und das Geld transferieren.“

Adam nickte, bevor er sich bewusst wurde, dass Vincent es nicht sehen konnte. 

„Mach das“, erwiderte er anstelle dessen. „Und Vincent?“

„Ja?“

„Pass auf dich auf.“

„Du auch.“

Adam zögerte und presste seinen Kiefer so stark aufeinander, dass es bis unter seine Schädeldecke schmerzte. 

„Vincent?, begann er leise, fast kläglich, aber definitiv schuldbewusst.  „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich dich in dieses Leben reingezogen habe, was das Ende für dich und Adam bedeutet. Und das Ende von allem, was du kennst und schätzt.“

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war eine Sekunde zu lang und zwei Sekunden zu drückend, um nicht Angst in Adam hochkochen zu lassen, dass Vincent ihn auch im Stich ließ. 

„Wir haben darüber gesprochen, Adam. Wir sind Freunde, für immer. Wir vertrauen uns blind und nichts kommt zwischen uns“, radierte eben jener seine Sorge mit einem Federstrich aus und brummte zuversichtlich. „Ich habe dir gesagt, dass ich dir folgen und für dich sorgen werde. Und genau das tue ich jetzt, Adam. Wir haben uns etwas versprochen und das werde ich halten.“ 

Vincent war der eine Mensch in seinem Leben, der immer noch vorbehaltslos zu ihm hielt und genau das trieb Adam nun die Tränen in die Augen. 

„Pass auf dich auf“, wiederholte er mit belegter Stimme. „Wir sehen uns am Ziel.“

„Du auf dich auch. Eine sichere Reise.“

Adam legte auf und kaum hatte er die Verbindung zu Vincent nicht mehr, übernahm die unbändige Wut auf die Dreckssau, radierte die Trauer zugunsten von Zorn und Hass aus. Bevor er ging würde er ein letztes Mal dem Mann gegenüberstehen, der behauptete, sein Vater zu sein. 

Adam sah nur noch rot, war wütend, verletzt, gedemütigt…er war so hasserfüllt zornig wie bei Leo damals, nur dass er dieses Mal seine Wut an dem Richtigen auslassen würde. 

Bevor er verschwand, würde er der Dreckssau zeigen, was er von ihm hielt. 

Fünfzehn Minuten dauerte die Fahrt, in der sich Adam alles, was in den letzten Monaten vorgefallen war, vor Augen rufen konnte. Fünfzehn Minuten, in denen er die letzte Nacht wieder und wieder Revue passieren ließ und sich vor Augen hielt, dass Leo sich zum Schluss hin doch prostituiert hatte – nicht für Adam, sondern für den deutschen Staat. Ein schwuler Polizist, der alles, einschließlich seines Körpers, dazu einsetzte, einen schwulen Verbrecher dingfest zu machen. 

Wut kochte in Adam hoch, ebenso wie der jahrelang kultivierte Hass auf seinen Vater. 

Als er durch die Eingangstür des Anwesens trat und zielsicher das Büro der Dreckssau aufsuchte, war er nur noch das: zerstörerische, heiße Wut. 

„Hallo Arschloch“, sagte Adam und wartete noch nicht einmal die Überraschung seines Vaters ab, bevor er ihm mit aller Gewalt die Faust ins Gesicht trieb. 

 


~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

... sorry? 🫣

Die nächsten zwei bis vier Teile werden schlimm. Ich ziehe euch, mich und die Jungs durch ein Tal der Tränen, das nur als kleine Vorwarnung für die kommende Zeit. Ich stehe immer noch zu den Tags und ja, es wird ein Happy End geben, aber in den kommenden Teilen wird wenig Schönes passieren. 🫂

Chapter 54: Zu spät

Notes:

Einen schönen guten Abend euch!

Hier nun der wortstarke, nächste Teil zur Anatomie. Ich habe mich dagegen entschieden, ihn zu splitten, was ihn zu einem der längsten, wenn nicht sogar dem längsten Teil der Geschichte macht. Ich habe euch dadurch einen Cliffhanger erspart, der andere ist aber leider drin geblieben. Seid gewarnt, bevor ihr den Teil lest.

Seid ebenso gewarnt, dass es zahlreiche Triggerwarnungen für diesen Teil gibt: Folter (physisch und psychisch), homophobe Sprache, Homophobie im Allgemeinen, Abwertung, Degradierung, Blut, Polizeigewalt, Körperverletzung, Eingesperrtsein in engen Räume.

Vielen lieben Dank euch allen, die ihr den Weg der Beiden mit mir gemeinsam geht....schon seit nun mehr als zwei Jahren. ❤️🌻 Danke euch für eure Kommentare, Kudos, Klicks, Sprachnachrichten, Nachrichten über andere Kanäle, eure Emotionen und eure Geduld. 🤗

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Mama ist noch nicht da, oder?“

Suchend sah Leo sich um, obwohl er eigentlich keine Antwort auf seine Frage brauchte. Ihr Auto stand noch nicht unter dem Carport. Die erhobenen Augenbrauen seines Papas teilten ihm genau das mit und Leo schürzte unruhig die Lippen. Risiko, das 

Er hatte beschlossen, heute früher Feierabend zu machen, weil er sich auf exakt nichts hatte konzentrieren können. Nicht auf ihre Ermittlungen, nicht auf das, was Pia und Esther zu ihm sagten, nicht auf eine einzige Mail in seinem Postfach. 

Seine Gedanken kannten nur ein einziges Thema: Adam. Ihre Nacht zuvor, seine Gefühle, die so widersprüchlich wie furchterregend waren, das, was er heute Morgen gesagt hatte. Es war ein schöner Moment gewesen, in dem Adam zu ihm getreten war. Leos Herz war voller Zufriedenheit gewesen, voller guter Erinnerungen an die intime Nacht zuvor. Voller Ruhe. Als Adam seine Hand gegriffen hatte, hatte sich das natürlich angefühlt, ebenso wie die geradezu liebevollen Worte. 

Bis Leo begriffen hatte, was Adam eigentlich sagte und die Bedeutung dessen nur noch instinktive Angst in ihm hervorgerufen hatte. 

Angst vor seinen eigenen Emotionen und vor einer Verbindung, die Leo nur ein einziges Mal in seinem Leben eingegangen war – mit ungutem Ausgang. Angst hatte ihn in einer Art und Weise reagieren lassen, die schlimmer nicht hätte sein können. Wieder und wieder hatte Leo sein Handy in die Hand genommen, um ein neues Treffen auszumachen und irgendwie zurück zu nehmen, was er gesagt hatte. 

Irgendetwas Anderes zu sagen, auch wenn er sich davor fürchtete, was vielleicht seinen Lippen entkommen würde. 

Leo war zu feige gewesen, es durchzuziehen und deswegen stand er heute hier. Eigentlich auf der Suche nach seiner Mama. 

„Geht’s dir gut?“, fragte sein Papa anstelle einer offensichtlichen Antwort und Leo nickte. Herbert war inzwischen zu seinem Lieblingsplatz am Wohnzimmerfenster getrottet und sah den Vögeln zu, wie sie den Garten besuchten. Seine Rute schlug mäßig begeistert bei dem Anblick und Leo musste daran denken, wieviel mehr Liebe er für Vincent empfand. 

„Ja, schon“, log er und erkannte, dass ihm keine Sekunde geglaubt wurde. Noch sagte sein Vater nichts dazu, sondern drehte sich erst einmal zum Wasserkocher und machte ihnen zwei Tassen Tee. 
Leo beobachtete ihn dabei und fühlte sich unangenehm an sein eigenes Verhalten erinnert. 

„Papa?“

Sein Vater hielt in seinem Tun inne und drehte sich zu ihm. Auf seinem Gesicht stand der gleiche, sanfte Ernst, den er immer an den Tag legte, wenn Leo mit Problemen zu ihm kam und erst nicht über eben diese sprechen wollte oder konnte. 

„Ja, Leo?“

Er holte tief Luft, öffnete seinen Mund, schloss ihn wieder. Wiederholte das zweimal, bevor sein innerer Widerstand brach und er stoßweise ausatmete. 

„Adam hat gesagt, dass er mich gerne anders kennengelernt hätte. Nicht so, wie er es getan hat. Er hat gesagt, dass ich alles wert bin, was er opfern könnte. Und ich…ich habe ihn weggestoßen. Von mir. Ich habe gesagt, dass ich zur Arbeit muss und er hat mich so verletzt angesehen, Papa. Ich habe ihm wehgetan und jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken und daran, dass…“

„Daran, dass?“, echote sein Vater ruhig und Leo sah an ihm vorbei aus dem Fenster hinaus auf die verkehrsberuhigte Straße mit ihrem neugierigen Nachbarn. 

„…dass ich ihn auch mag. Ich mag ihn und es war schön, was wir geteilt haben, obwohl es so anders war, was wir sonst…“

Sein Vater hob beide Augenbrauen und Leo erkannte, dass er im Begriff war, Dinge zu sagen. Intime Dinge, die sein Vater vielleicht gar nicht hören wollte, weil es sich um Adam handelte. 

„Ihr hattet Sex“, konkretisierte der Mann neben ihm, was passiert war und Leo nickte fast schon schüchtern. Das schlechte Gewissen, das in ihm aufkam, kämpfte er mit eisernem Willen nieder. Wenn er bereute, was Adam und er hatten, dann war er ein noch größerer Feigling als er es jetzt schon war. Außerdem sagte sein Herz dazu klar und deutlich nein.  

„Mehr als das.“
„Wie das?“
„Gefühle.“
Oh.“

Der Tee war nun vollkommen vergessen, als sein Vater sich zu ihm drehte und ihn intensiv musterte. Er lächelte schließlich sanft und legte seine Hand auf Leos Oberarm. 

„Du weißt, dass es mich mit größtem Glück erfüllen würde, dich zufrieden und glücklich zu sehen, Leo. Das will ich schon, seit ich dich das erste Mal in meinen Armen gehalten habe. Aber ich mache mir Sorgen, ob du es mit diesem blonden Mistkerl wirst, der dir so viel angetan hat. Ich verstehe nicht, was du an ihm findest, aber du bist erwachsen, hast ein gutes Gespür für Menschen und eine sehr gute Auffassungs- und Analysegabe. Du weißt, welche Konsequenzen dein Handeln hat. Du weißt, dass er irgendwann ins Gefängnis kommen wird. Trotz all dem hast du dich für ihn entschieden und du bist nicht unglücklich. Was also sagt dir dein Herz, hm?“

Leo brannten die Wangen vom Lob seines Vaters und er wusste im ersten Moment nicht wohin mit der Frage. 

„Mein Herz sagt ja, solange es geht.“ 

Solange er Sonderkommission, seinen Drang nach Gerechtigkeit und Recht und seine Emotionen unter einen Hut bekam. Wenn. Falls. Wenn er mit der Sonderkommission Adam auf ihre Seite ziehen konnte, damit er ihn nicht weiter anlügen und hintergehen musste. 

Bitterkeit kroch Leos Kehle hoch bei dem Gedanken. Adam vertraute ihm, gab sich ihm hin und er…

„Ich hoffe, dass dein Herz nicht gebrochen wird, wenn es nicht mehr gehen sollte.“

Sein Herz war vor langer Zeit gebrochen worden und Leo wusste in diesem Moment, dass Adam die Einzelteile dessen in seine schmalgliedrigen Hände genommen und zusammengetöpfert hatte, unter dem strengen Blick von Madame Mimose.


~~**~~


Sein Leben lang war er ein Kämpfer gewesen. 

Hatte sich gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt. Aus der Gosse mit einem Versagervater und Nuttenmutter, die nach dessen Inhaftierung alles bestieg, was bei drei nicht auf dem Baum war und fünfzig Mark zahlte, wenn sie alles mit sich machen ließ. 

Es ist doch nur für deine Zukunft, Schatz, hatte sie ihm gesagt und mit ihren dürren Fingern über sein Gesicht gestrichen. Sie hatte geweint, die Heulsuse und sich damit noch hässlicher gemacht. 

Roland war siebzehn gewesen, als er sie aus Ekel krankenhausreif geschlagen hatte und von zuhause geflohen war, um was Besseres aus sich zu machen. 

Und das hatte er gemacht, Jahr um Jahr. Hatte Scheiße gefressen und Scheiße fressen lassen. Hatte sich hochgedient und durch seine harte Arbeit die Früchte eben jener getragen. Er hatte sich ein hübsches Ding gesucht, das ihm jeden Wunsch von den Lippen abließ, und sie solange gefickt, bis sie schwanger war. 

Mit einem Stammhalter, einem hässlichen, runzligen Wurm, der nur schrie und krähte und ihm den letzten Nerv raubte.

Rolands harte Arbeit hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits ausgezahlt und er brauchte seinen Schlaf um bei seinen Geschäften scharf und klar zu denken. Das hübsche, aber dumme Ding an seiner Seite verstand das nicht. Weinte, als Roland ihr mit seinen Fäusten klarmachte, dass das verfluchte Baby aufhören sollte zu schreien. 

Als alles nicht half, sperrte er sie in eine Wohnung weit ab von ihm, damit sie den Schreihals abseits von ihm zum Schweigen brachte. 

War es da ein Wunder, dass aus dem hässlichen Baby ein verweichlichter Junge und aus einem verweichlichten Junge eine Schwuchtel geworden war? 

Kein Stück. 

Und Roland kotzte immer noch beim Gedanken daran, wer ihn schlussendlich beerben würde. 

Dass der, den er Adam getauft hatte, die Dreistigkeit besaß, ihm ins Gesicht zu schlagen, war da die Krone der Schöpfung und machte Roland rasend. So rasend, dass er den Schlag seines Möchtegernnachfolgers mit vier Schlägen mit seiner rechten Faust beantwortete und danach seine Männer rief, um das Stück ungehorsame Scheiße in den Keller zu bringen. 

Er würde ihm ein für alle Male jeden Widerstand austreiben, den dieser jemals in sich gehabt hatte. 

Seine Männer zwangen ihn auf die Knie und da war immer noch Widerstand in den Augen, die anscheinend das Einzige waren, was sein eigen Fleisch und Blut von ihm geerbt hatte.

Ohne Respekt und Unterordnung wurde er von seinem eigenen Fleisch und Blut angestarrt. 

„Mieses Arschloch!“, keuchte Adam und wütend schlug Roland zu, trieb ihm erneut die Faust ins blutige Gesicht.

„Du. Nichtsnutziges. Stück. Scheiße.“

Mehr hatte er nicht zu sagen. Nicht jetzt. Gründe interessierten ihn nicht, Entschuldigungen auch nicht, so bekräftigte Roland jedes einzelne Wort mit einem Tritt in den widerlichen Körper seines unfähigen und ekelhaften Sohnes. Wütend spuckte er auf die noch weißen Fliesen des Kellers und sah angewidert zu, wie dieser sich aufstöhnend auf dem Boden krümmte, das verweichlichte Gesicht vor Schmerz verzogen. 

Da blieb ihm doch das Arschloch im Hals stecken.

Wut und Zorn erfüllten jeden einzelnen Winkel von Rolands Denken. Sein Leben lang hatte er sein Königreich aufgebaut und nun musste er darauf vertrauen, dass dieser Versager sein Lebenswerk fortführte? Selbst, als er dessen ekelerregende Liebschaft samt Versuch, sich ihm zu entziehen, vernichtet hatte, war wenig Besserung zu sehen gewesen und jetzt war da offener Widerstand. Garantiert kam der von seinem Schwuchtelfreund. 

Niemals hätte Roland diese Verbindung auch nur tolerieren sollen. 

„Ich kotze, wenn ich dich sehe.“ Noch einen Tritt, in den Bauch dieses Mal. Für den Schlag ins Gesicht. Für all die Arbeit, die Roland mit ihm gehabt hatte. Für all die Unfähigkeit, die ihn seine hässliche Heulsuse von Frau eingepflanzt hatte. 

Ungerührt sah Roland zu, wie das Drecksstück sich keuchend krümmte und versuchte, sich den Bauch zu halten. Noch erlaubte Roland es ihm, aber nicht mehr lange. Dann würde er knien und der Gürtel würde für Ordnung sorgen. 

Als hätte er ihm nicht immer wieder deutlich gemacht, dass er der Stärkere war und dass sein Versager von einem Sohn nur einen Zweck hatte: das Bisschen, was er konnte, dem Syndikat zu zur Verfügung zu stellen und sich wenigstens dadurch nützlich zu machen, dass er sich aufopferte für die Macht, die das Syndikat hatte. 

„Da…sind wir schon zu zweit“, spuckte sein Möchtegernsohn Blut auf den Boden und Roland trat noch einmal zu. Eindrücklicher dieses Mal. Wie sehr er dieses Gesicht doch hasste. Diese Möchtegernkriminellenkleidung. Diese wertlose Ansammlung an Zellen.

„Es gibt kein Wir. Ich war dir schon immer überlegen, mehr wert, in der Lage dazu, das zu sein, was das Leben aus mir macht. Im Gegensatz zu dir, du verweichlichtes, männerfickendes Stück Scheiße!“

Roland packte seinen missratenen Sohn an den blonden Haaren, lächelte in dessen fahrigen Widerstand und schlug ihm ins Gesicht. 

Wenigstens bluten konnte er anständig. 

Er bedeutete seinen Männern, ihn hochzuzerren und griff erneut in die Haare, zog das Gesicht seines Sohnes zu sich heran.

„Guck dich an. Eine Schande bist du. Kein Mann. Nichts, was es wert ist, Respekt zu genießen. Ich sollte dich abknallen, wie das Stück Vieh, das du bist. Deine Mutter gleich hinterher und mir eine neue nehmen, damit ich endlich den Sohn bekomme, den ich verdiene. Nicht sowas wie du.“

„Dann mach‘s doch, Schlappschwanz!“ Hustens spuckte er Roland blutigen Speichel ins Gesicht und stöhnte wimmernd auf, als Roland das mit einem weiteren Schlag belohnte und sein Kopf nach hinten kippte. 

Er trat einen Schritt zurück und grinste. 

„Zieht ihn aus“, sagte er und zog seinen Gürtel aus der Hose. Er hatte seine Sammlung oben, also musste dieser vorerst reichen. Er würde später noch Zeit haben, die anderen zu holen, denn er plante nicht, bald fertig damit zu sein. Er würde ihn ein für alle Male erziehen. 

Dieser Widerstand endete jetzt.  

Und wenn er mit diesem Versager fertig war, würde er sich um den gelockten Schönling kümmern, der Adam mit seinen Röcken und seinem weibischen Geschminke den Kopf verdreht hatte. Um ihn und sein Polizistenliebchen aus Świecko.  


~~**~~


Nervös hielt Leo sein Handy in den Händen. Sein Zeigefinger verharrte über Adams Kontakt, senkte sich nunmehr zum vierten Mal in gefährliche Nähe seines Displays. Wenn er erst einmal anrief, musste er sagen, dass er sich treffen wollte. Wenn er sich traf, musste er sagen, was er fühlte und das war beängstigend. 

Er war feige, immer noch, auch und gerade auf der heimischen Couch. 

Kaum, dass er von seinem Vater nach Hause gekommen war, war Leo joggen gegangen. Eine Runde durch komplett Saarbrücken, weil seine übliche Runde an der Saar nicht ausreichte. Verschwitzt und erschöpft war er wiedergekommen und hatte erst einmal in der Dusche eine lange, heiße Dusche genommen. Alleine. Ohne Adam. 

Nicht so wie letzte Nacht. 

Sein Bett mied er noch und so war die Couch das Mittel der Wahl, um sich fast zu trauen, Adam anzurufen. 

Im Nachhinein war es ein instinktives Zucken, das Adams Kontakt schlussendlich anrief. Leo starrte auf sein Handy und lauschte dem Verbindungston, der klingelte und klingelte und klingelte.

Doch Adam ging nicht ran.  

Leo verharrte, dann rief er ihren Nachrichtenverlauf auf. 

~Ich will mit dir reden, ruf zurück~, tippte er ein und löschte die Nachricht beinahe augenblicklich wieder. Zu fordernd. Zu wütend. Zu…unverschämt, nachdem, was er getan hatte. Wie er Adam abgefertigt hatte. 

~Ich möchte reden. Über heute Morgen.~ Auch das verwarf er wieder, trank einen Schluck Apfelschorle und nahm dann das Handy wieder auf. 

~Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.~ Der Satz überlebte länger, aber erlebte eben auch nicht das Abschicken.

Frustriert knirschte Leo mit den Zähnen. ~Ich war ein Arschloch und hätte das nicht sagen sollen. Ich würde gerne mit dir darüber sprechen.~

Bevor auch diese Nachricht ins Nirwana eingehen konnte, schickte Leo sie ab und warf sein Handy von sich, als könne er sich so einer Antwort entziehen, die er aktiv eingefordert hatte. Dennoch lauerte er auf eine Antwort und aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten wurde die erste Stunde, dann die zweite. Als die dritte Stunde anbrach und die beiden Haken immer noch nicht auf Blau umschwangen, legte Leo sich schlafen. 

Auf der Couch, nicht im Bett, das er nach wie vor mied wie der Teufel das Weihwasser. 

Adam war wütend und enttäuscht und konnte Leo es ihm wirklich verdenken? Er hätte ihn nicht so zurückweisen dürfen. Er hätte es anders machen müssen.  


~~**~~


Es war still um ihn herum. 

Prinzipiell war das gut. Stille bedeutete keine Schläge, keine Gewalt, keine degradierenden Worte. Stille bedeutete Ruhe vor dem gleißend hellen Licht des Kellers. 

Aber. 

Stille bedeutete Enge, begraben sein, Dunkelheit. Stille bedeutete kaum atmen zu können, weil es nur ein kleines Loch gab, durch das Sauerstoff in den Sarg kommen konnte. Stille bedeutete Krämpfe durch die Bewegungslosigkeit und Stille lockte Schreie aus Adam hervor, die er sonst in sich eingeschlossen hielt. Panische, unkontrollierte Schreie und ein sich Wehren gegen Umstände, die Adam nicht ändern konnte. 

Gerade jetzt schrie und tobte er nicht gegen sein dunkles Gefängnis an, das vermutlich das Letzte war, was er sehen würde. Das, oder gleißend helle Kellerlichter. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er ernsthaften Widerstand geleistet und den Mann, der für seine Geburt verantwortlich war, bespuckt und beleidigt. Schuldig, quasi, denn Adams Leben war von Sekunde eins an zum Scheitern verdammt gewesen. 

Er war nie dazu gedacht gewesen, sein jetziges Alter zu erreichen. Er hätte mit Elias sterben sollen. Das hätte ihm auch den Polizisten erspart, der ihn…wie alle anderen auch…

Nein, nicht alle hatten ihn verraten. Seine Mama nicht. Vincent nicht. Beide liebte er. Und beide würden in Sicherheit sein, auch wenn er nicht mehr war. 

Wenn die Dreckssau so weitermachte, tippte Adam auf drei Tage. Drei Tage, dann war es vorbei, dieses Elend von einem Leben. Kuba wäre zwar schon schön gewesen, aber auf Dauer hätte Adam den Gedanken daran, auf dieser Welt zu existieren und für jedes Quäntchen Glück, das er spürte, bestraft zu werden, nicht ertragen. 

So war es besser und Vincent würde in Freiheit leben. Vielleicht zurückkehren können, wenn die Ermittlungen der SoKo verjährten oder Adam als Schuldigen ausmachten. Vielleicht sogar seinem Adam zusammenleben können.

Adam bewegte sich, minimal nur. Er wollte nicht schreien, er wollte nicht panisch werden. 

Zudem klebten seine Verletzungen an den kalten Fliesen des Sarges. Und Durst hatte er auch. Vielleicht war der noch schlimmer als der Schmerz.

Das und das Gefühl, nicht für Liebe geboren worden zu sein. 


~~**~~


Vincent ließ sich langsam auf einen der blauen Hartschalensitze nieder und sah nachdenklich auf die endlose Wüste außerhalb des klimatisierten Flugzeuggebäudes. Die Luft flirrte vor Hitze und Vincent dachte mit Grausen daran, dass er die nächsten dreißig Stunden in einem hoffentlich klimatisierten Auto sitzen und an der Küste Nordafrikas entlangfahren würde. Unter falschem Namen, mit falschem Pass, mit einem Fahrer, der genau für den Zweck bezahlt werden würde – ihn sicher ans andere Ende der Welt zu bringen. 

Weg aus seinem gewohnten Leben. Weg von allem, was er je gekannt hatte. Dreißig Stunden durch die Hitze, als ein neuer Mensch. Leinenhose, Leinenhemd, beides in unscheinbaren Farben. Er sah aus wie einer der unzähligen Touristen, die hier auf Djerba landeten um eine gute Zeit auf der La Douce zu verbringen. Diese würde er auch verbringen, zumindest bis heute Abend. Dann würde Rabah kommen und ihn abholen. 

Rabah hatte keinen Nachnamen, sprach fließend Deutsch, English, Französisch, Spanisch, Russisch und Arabisch und brachte Ware von A nach B. Zarah vertraute ihm und verbürgte sich für seine Zuverlässigkeit. 

Vincent trug nichts bei sich, außer dem Ring, den sein Adam ihm in einer Bier- und Grilllaune aus dem Metall einer Bierdose gebogen hatte. Er trug ihn mit einer Kette um den Hals, weil er doch noch etwas piekste. Ansonsten hatte er alles dagelassen.

In den vier Wänden, die bis heute Morgen noch sein Zuhause gewesen waren und nun zur Echokammer werden würden. Für seinen Adam, für Karol. Er wäre weg, verschwunden, ein Cold Case, zumindest bis sie begreifen würde, was er getan hatte. 

Vincent barg seinen Kopf in seinen Händen und schloss die Augen. Er hatte Kopfschmerzen. Sie drückten penetrant gegen seine Schädeldecke und pochten seit seinem Start aus Luxemburg ohne Unterlass. Ihm war übel und er spürte eine Angst in sich, die er seit Leos Lauf in seinem Gesicht kurz vor Weihnachten nicht mehr gefühlt hatte.  

Nicht in all ihrer schlimmen, unaufhaltsamen Wucht. 

Er fühlte sich hilflos in dieser Angst, obwohl er einen festgelegten, durchdachten Plan hatte, wie er sich in Sicherheit bringen konnte. 

Das Telefon, das Vincent jetzt bei sich trug, war nicht auf seinen Namen registriert und konnte entsprechend nicht zurückverfolgt werden, falls die Ermittlungsbehörden ihn suchten. Es lief über ein sorgsames Netz aus VPN-Tunneln, die seinen Aufenthaltsort verschleierten. Im Ausland würde es ihm ermöglichen, unerkannt auf seine Mails zuzugreifen. Eine letzte Verbindung zu seinem alten Leben und Adams und seine Kommunikationsmöglichkeit auf ihrer Flucht. 

Adam hatte ein ähnliches Telefon und sie würden sich per Mail über den Fortschritt austauschen. 

Vincent zog das Handy aus seiner Tasche und starrte einen Augenblick lang auf das schwarze Display. Er sah sich selbst als Spiegel und erkannte die tiefen Augenringe, die unter seinen ungeschminkten Augen lagen. Nicht auffallen, nicht er sein. 

Der Vincent, der er eigentlich war, war in Saarbrücken geblieben. 

Er startete das Handy und wartete, bis es hochgefahren war. Ungeduldig öffnete er sein Mailprogramm und wartete, bis sich der Inhalt geladen hatte. 

Von Adam befand sich keine Mail in seinem Eingang, was bedeutete, dass er seine erste Station noch nicht erreicht hatte. Unsicher schluckte Vincent seine aufkommende Angst hinunter. Das musste gar nichts bedeuten. Vielleicht brauchte er noch etwas oder es gab Verspätungen. Es musste noch nichts Besorgniserregendes sein. 

Wirklich nicht. 

Vincent versuchte, einen tiefen, ruhigen Atemzug zu nehmen und sich zu erden. Alles würde gut gehen. Sie würden sich in Kuba sehen. 

Sein Handy pingte und es war Karols Mailadresse, die er sah. 

Karol Pawlak war jemand, der noch Mails schrieb, Nachrichten über Chatprogramme aber mied. Zu modern, zu kurz, viel zu sehr für die Jugend. Er zählte auch Adam und Vincent zur Jugend, daher zweifelte Vincent etwas an der Altersgrenze, aber er beschwerte sich nicht. 

Sich Zeit zu nehmen für Karols Mails war immer etwas gewesen, das er geschätzt hatte. So öffnete er auch wider besseren Wissens eben diese Mail, vielleicht, um noch ein letztes Mal einen einseitigen Kontakt zur Heimat herzustellen. Vielleicht, um noch einmal an die Grillfeste, die Wochenenden, die Abende in Świecko denken zu können, bevor er die Mail löschte und wieder einmal alles hinter sich ließ. 

Doch als er sie aufrief, war es nicht die übliche Nachricht. Keine Frage, wie es ihm ging. Keine Erzählungen von skurrilen Begegnungen während seines Polizeidienstes oder Beschwerden über Adams barsches Wesen in der Dienststelle. 

Vincent,

ich habe versucht, dich anzurufen. Raczek wurde überfallen und zusammengeschlagen. Er liegt im Krankenhaus in Frankfurt auf der Intensivstation, es ist kritisch. Die Ärzte haben ihn unter strenger Beobachtung, sind aber vorsichtig optimistisch. Bitte rufe zurück, wenn du das liest. 

Karol. 


~~**~~ 


Adam hatte immer noch nicht geantwortet. Seine Nachricht noch nicht einmal gelesen. 

Bevor Leo jetzt auch noch ein einundzwanzigstes Mal auf sein Handy schaute, machte er lieber Feierabend und gab endlich dem Drang nach, zu Adams Wohnung zu fahren. So sehr er sich auch dagegen wehrte, so sehr nagte das schlechte Bauchgefühl an den Innenwänden seines Magens und bereitete ihm Schmerzen. 

Er hatte kein gutes Gefühl dabei, dass Adam nicht antwortete. Gar nicht. 

„Bis morgen!“, sagte Leo und griff sich seine Jacke. Er schloss seine Waffe im Waffentresor ein und ging zu seinem Wagen. Eigentlich könnte er die Strecke zu Adams Wohnung auch laufen und früher hatte er das tun müssen. Oft. So oft, dass er es gehasst hatte und vielleicht war der Weg mit dem Auto auch einfacher. So konnte er eine andere Strecke wählen und nicht direkt den Berg hoch, hinter dem Schloss nach oben in die Siedlung. Eine der besten Ecken Saarbrückens und weit von Leos Wohnung entfernt.

Er parkte seinen Wagen direkt vor Adams Wohnung und wartete einen Moment, ob er jemanden in der Umgebung sah, der zu den Männern von Adams Vater gehörte. Vor denen Leo immer noch Angst hatte. Vor einer erneuten Entführung und Folter. Auch wenn Adam ihm gesagt hatte, dass er sich davor nicht fürchten musste, solange er den Kopf unten hielt, war es doch…

Nein, darüber wollte Leo nicht nachdenken. Jetzt nicht. Die Tage vorher nicht. Die Nächte voller Furcht und Alpträumen reichten. Seine Vorsichtsmaßnahmen reichten, die er treffen musste um nicht das Gefühl zu haben, an Wasser zu ersticken. 

Auf die Dauer würde es nicht reichen, auch das wusste Leo. 

Er klingelte bei Adam und wartete. Klingelte noch einmal, als niemand öffnete. Klingelte ein drittes Mal, länger und ausgiebiger. Nichts passierte. Leo griff zu seinem Handy und zögerte. Vielleicht wusste Vincent mehr. Wo sich Adam befand und ob er zu ihm konnte. 

Bevor er es sich anders überlegen konnte, wählte er Vincents Nummer und wurde direkt an die Mailbox weitergeleitet. Sein Handy war aus und das war noch nie vorgekommen. Nicht in der Zeit, in der er…Vincent und Adam kontaktiert hatte und kontaktieren musste. 

Und so tat Leo etwas, das er noch nie getan und bisher auch gemieden hatte: er fuhr zu Vincents Wohnung, zumindest zu der Adresse, die er durch seine Ermittlungen herausgefunden hatte. Von Adams Wohnung zu Vincents war es nicht einmal eine Viertelstunde und tatsächlich war auf dem Klingelschild des modern errichteten Wohnkomplexes der Name Vincent Ross zu lesen. 

Leo klingelte, doch nichts tat sich. Niemand öffnete und auch sonst war es still in der Gegend. 

Es war ein Anfangsverdacht, aber Leo beschlich das ungute Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Dass sein Bauchgefühl, sein Instinkt, doch Recht hatte mit den Warnantennen, die anscheinend ausgefahren waren.   

Nur so, nicht anders, erklärte Leo es vor sich selbst, dass er zu Bastian fuhr. 

Es dauerte, bis sich Leo aus dem Feierabendverkehr aus der Stadt hinausgeschlängelt hatte. Er fuhr nach Malstatt, schlug sich durch die Einfamilienhausstraßen am Waldrand. Vor einem zweistöckigen Haus im Bauhausstil blieb er stehen und überprüfte die Adresse. Das etwas in die Jahre gekommene und vielleicht in den Siebzigern moderne Haus war das Richtige und Leo sah für einen Moment auf die große Glasfront. 

Die Situation erforderte es. Es gab keine andere Lösung. 

Leo straffte die Schultern und ging zur Haustür. Er klingelte bei de Vries und keine zwei Sekunden später ertönte der Summer. Überraschend vertrauensselig, als Koch von Schürk Senior und Junior. Leo stieg die Treppe ins erste Oberschoss hoch und kam in dem Moment an, in dem de Vries seine Tür aufriss, ihn ansah, erstarrte und ihn ansah, als wären Leo zwei Köpfe gewachsen.

Seine Haare waren zerzaust und er hatte noch die Reste von Speichel im Mundwinkel. Verschlafen blinzelte er und Leo kam der Gedanke, dass er vielleicht gerade einen Kunden hatte. Vielleicht war Adam sogar hier und hatte Leos Worte mit jemanden betäubt, der ihn nicht aus der Wohnung werfen würde. 

„Äääh…“ Etwas verloren schlang de Vries die Arme um sich und sah hinter Leo ins Treppenhaus. Gerade so, als ob er noch jemanden erwarten würde. Den Rest der Polizei. 

„Ich will zu Adam.“

„Okay?“

„Ist er bei dir?“

Es brauchte einen Moment zu lang, bis de Vries den Kopf schüttelte und der Polizist in Leo übersetzte nahtlos die Lüge, die dahintersteckte. Als eben jener trat er einen Schritt auf den Mann zu, der erschrocken zurückwich, in die Wohnung hinein. Leo folgte und machte die Tür hinter sich zu. 

„Wo ist er?“, fragte er streng und de Vries schüttelte den Kopf. 

„Weiß nicht.“

„Bullshit. Du weißt, wo er ist. Dein Zögern verrät dich. Wo? Ist er im Schlafzimmer und habt ihr gevögelt die letzte Nacht?“ Leo war selbst von sich überrascht, mit wie viel Eifersucht ihm diese Frage entglitt und wie aggressiv er dadurch wirkte. Wie fordernd, obwohl er derjenige gewesen war, der Adam nach seinen Worten zurückgestoßen hatte. 

De Vries wich noch einen Schritt zurück und sah nervös zu seinem Handy, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Vermutlich um Hilfe zu rufen. Vor Leo. Ausgerechnet. „Ääh nein?! Er war nicht hier.“

„Wo dann?“

„Das weiß ich nicht.“ 

Leo sah zähneknirschend aus dem Fenster, hinaus in die Weite. Er ließ seine Schultern ein bisschen in sich zusammenfallen und machte weniger den Anschein, ein Polizist zu sein, der auf Gewalt aus war. 

„Ich muss dringend mit Adam sprechen, es geht um etwas Wichtiges. Ich muss etwas richtig stellen. Also, ist er bei dir?“, fragte er um Längen ruhiger und sah, wie de Vries sich sichtlich entspannte. 

„Ne, er war schon lange nicht mehr da. Also um mit mir zu schlafen. Um zu reden ja, das war letzte Woche. Aber ich habe ihn diese Woche noch nicht gesehen.“

„Ich habe ihm eine Nachricht geschrieben, aber die hat er nicht gelesen und das seit einem Tag nicht. Er ist nicht in seiner Wohnung, Vincent geht nicht an sein Telefon, das ist aus, und ihn erreiche ich auch nicht an seiner Wohnung. Das ist nicht normal. Ich habe die Beiden sonst immer erreicht.“ 

Leo verstummte für einen Moment, dann stählte er sich für seine eigenen Worte. „Ich mache mir Sorgen.“

Das brachte de Vries sichtlich außer Fassung und verständnislos blinzelte er. 

„Aber du bist doch eine seiner Verknüpfungen und dazu noch Bulle. Wieso machst du dir Sorgen? Um Adam? Ich meine, er hat dich doch… Also ihr seid doch…oder? Oh. Oh. Ach du Schande. OH. Also. Äääh. Ich könnte ihn anrufen? Vielleicht geht er ran?“

Leo knirschte mit den Zähnen. Er war keine Verknüpfung. Nie gewesen. Er war erpresst worden und schlussendlich hatten Adam und er…andere Dinge getan. Dinge voller Vertrauen. Das band er de Vries nicht auf die Nase, lieber konzentrierte er sich auf die Erkenntnis, die in dem jungen Koch anscheinend gereift war. Anscheinend führte sie dazu, dass er ohne Leos Antwort abzuwarten zu seinem Handy griff und anscheinend Adams Nummer wählte. Es klingelte und klingelte und Adam ging auch bei ihm nicht ran. 

„Nichts“, murmelte de Vries – Bastian - besorgt, als er auflegte und schüttelte den Kopf. „Seltsam ist das schon, normalerweise geht er immer ran oder drückt mich weg, wenn er grad nicht kann.“

Leo nickte. „Ich habe kein gutes Gefühl. Weißt du, wo er sein könnte?“

„Da gibt’s mehrere Orte, aber ich darf dir keinen sagen.“

„Wie bitte?“ Unglauben quetschte Leos Magen zusammen. Wenn es doch Möglichkeiten gab, warum konnte er dann nicht überprüfen, ob es Adam gut ging? 

„Es sind Orte des Familienoberhauptes. Da dürfen keine Polizisten hin. Auch sonst niemand, nur der engste Kreis. Ansonsten wird der Alte wütend.“

Leo begriff, was de Vries ihm sagte und was das für ihn selbst bedeuten könnte. Wie es aussah, wenn Roland Schürk jemandem wehtat, wusste er. Nur zu gut. Wie sich seine Drohungen anhörten auch. Er starrte Bastian in die Augen, der schon seit längerem Koch bei Schürk war. Sowohl für das Familienoberhaupt als auch für Adam. 

„Wie kann ich sicher sein, dass du mir dann die Wahrheit sagst?“, fragte er mit mehr Unsicherheit in der Stimme, als es ihm lieb gewesen wäre und Bastian zuckte nichtssagend mit seinen Schultern. 

„Naja. Der Alte zahlt einige meiner Rechnungen, aber Adam zahlt mehr. Und Adam ist angenehm im Bett, also besser als andere Kunden. Ihm war es von Anfang an wichtig, dass ich auch Spaß daran habe und komme. Das ist echt nicht oft so. Und er ist seit Jahren Stammkunde. Ich mag Adam mehr, auch wenn mich der Alte nicht fickt oder so. Trotzdem habe ich Angst und ich sage dir nur, ob ich Adam gefunden habe.“

Leo schluckte. Damit konnte er leben. Zu wissen, dass es Adam gut ginge, würde ihm erst einmal reichen. Was danach kam, würde sich zeigen und Leo wäre bereit, vieles auf sich zu nehmen. 

Ohne sein Zutun kamen seine Gedanken zu der Tatsache zurück, dass Adam die letzten Jahre für Sex bezahlt hatte. Er hätte mit Leichtigkeit einen Partner finden können, aber er hatte es nicht getan. Er hatte den Mann hier dafür bezahlt, ein paar aufregende Stunden zu haben, unverbindlich, aber wiederkehrend. Ein Schatten dessen, was er mit Elias Schiller gehabt hatte. Aus Einsamkeit oder Bindungsangst? Angst davor, wieder alles zu verlieren. 

„Ich habe ein schlechtes Gefühl. Und selbst wenn es ihm gut geht, sage ihm, dass ich ihn suche. Ich muss etwas klarstellen.“

Bastian nickte und schürzte dann die Lippen. Seine Mimik glitt in etwas ab, das Leo im ersten Moment schwerlich beziffern konnte. Dann lächelte er verschämt…und frech. 

„Du willst nicht zufällig dafür bezahlen, oder?“, fragte derjenige, der Adam vor Leo einen geblasen hatte, während Leo hatte zuschauen müssen. Derjenige, der Leo einen widerlichen Eintopf gekocht hatte. Derjenige, der Adams Kopf gehalten und…

Leo starrte. De Vries starrte zurück. Leo wich keinen Millimeter, gab nicht nach, starrte weiter. 

Der jüngere Mann schnaubte. „Mann, hätte ja sein können.“

„Finde Adam und melde dich bei mir“, grollte Leo. „Gib mir was zum Schreiben, ich lasse dir meine Nummer da und erwarte deinen Anruf.“

„Aber was ist, wenn Adam nicht mit dir sprechen möchte? Manchmal hat er schlechte Laune und dann…“

Leo hob seine Augenbrauen. „Dann sagst du mir das. Damit kann ich leben. Ich will nur wissen, wo er ist und ob es ihm gut geht.“ 


~~**~~


„Er liegt auf der Intensivstation, unter strengem Polizeischutz. Die Verletzungen stimmen aber mit deiner Beschreibung überein.“

Die Hand, mit der Vincent das Handy an sein Ohr gepresst hielt, zitterte. Er hatte das Gefühl zu frieren und es kam mit Sicherheit nicht von den kühlen Temperaturen des klimatisierten Flughafengebäudes. 

Er hatte Zarah kontaktiert und sie gebeten, die Informationen zu überprüfen. Zwei lange Stunden dauerte es, bis sie sich zurückmeldete, 120 unendliche Minuten, bis sie die schlimmen Nachrichten bestätigte. Knapp, ohne Schnörkel, als würde es nicht um Adam gehen, den Vincent wider besseren Wissens in sein Herz geschlossen hatte. 

„Angeblich ein rechtsradikaler Überfall auf Raczek, aber das glaube ich nicht. Dafür trägt der Angriff zu sehr Björens Handschrift.“

Thomas Björen war Roland Schürks Mann fürs Grobe. Für die harten Fälle, auf die es wirklich ankam. Er war derjenige gewesen, der Leos Entführung organisiert hatte. Welche Veranlassung Roland Schürk dazu gehabt hatte, konnte Vincent nur raten. Von hier aus fast unmöglich. 

Oder wurde er so zügellos, so verrückt, dass er sich ohne Anlass an Adam vergriffen hatte? 

Vincent schluckte trocken. „Was ist deine Einschätzung?“, fragte er und Zarah brauchte etwas, bis sie antwortete. 

„Schwer zu sagen. Es scheint alles ruhig in Saarbrücken. Keine weiteren Ausschläge, keine Probleme.“

„Was sagen die Ärzte?“

„Die Prognose ist vorsichtig optimistisch. Zwei oder drei Schläge haben den Kopf getroffen und es steht noch nicht fest, wie es sich dauerhaft auf Raczek auswirkt. Überleben wird er es wohl.“

Überleben wird er es…

Als Vincent sich auf eine Welt ohne Adam eingestellt hatte, war es eine Welt gewesen, in der Adam lebte, seinem Beruf als Polizist nachging und sich bei Karol darüber beschwerte, was für ein schlimmer Mensch Vincent doch gewesen war, bevor er für immer verschwunden war. In der die beiden Männer abends grillten und durch ihre Freundschaft den Verlust einer Liebe erträglicher machten. 

Nun aber lag Adam im Krankenhaus, sein Zustand ungewiss und vielleicht würde Vincent auf Kuba ankommen mit dem Wissen, dass Adam tot war. 

Gestorben wegen ihm und ohne ihn. 

Vincent schluckte trocken. 

Wenn er zurückkehrte, würde er seinen Fluchtplan gefährden. Eine Rückreise nach Deutschland wäre gefährlich und ein Risiko, dass nicht abschätzbar war. Was, wenn es zusätzlich noch eine Falle der Behörden war und sie ihn noch in Frankfurt verhaften würden? Er würde ja noch nicht einmal auf die Intensivstation kommen. 

„Kannst du mir Zutritt zur Intensiv verschaffen?“, fragte er impulsiv und Zarah brummte überrascht. 

„Das ist ein nicht tragbares Risiko. Wenn du in Deutschland landest und sie dich verhaften…“, spiegelte Zarah seine Gedanken und Befürchtungen, ohne auf seine Frage einzugehen und Vincent schloss seine Augen. Sein Fahrer würde gleich hier sein und ihn wegbringen. Sechsundzwanzig Stunden abseits jeder Möglichkeit, einen Flughafen zu erreichen. Sechsundzwanzig Stunden über Land. Zwei Tage, bis er den nächsten Flughafen erreichte um zurück zu reisen. Wenn er es denn wollte. 

„Hast du alle Beweismittel und Spuren vernichtet?“, fragte Vincent anstelle dessen. 

„Zu neunzig Prozent, die restlichen zehn lösche ich gerade vom Server und werde diesen dann in Flammen aufgehen lassen.“

Vincent atmete tief ein, langsam wieder aus. Ging zwei Schritte nach links, bevor er sich umdrehte und das Ganze nach rechts wiederholte. „Dann ist es das Risiko wert.“

„Nein, Vincent, ist es nicht.“ Ganz die Pragmatin, ganz diejenige, die nicht liebte. Vincent wusste, dass sie Recht hatte, er wusste es. Seine eigene, strategische Seite sagte ihm nichts anderes. Dennoch. 

„Verschaff mir den Zutritt, Zarah. Ich komme zurück.“

Wenn Adam ihm das Genick brechen würde, dann wäre es so. Aber der Gedanke daran, dass Adam ohne ihn womöglich sterben würde, war unerträglich für Vincent. 

Das würde er noch klären müssen, bevor er sich mit seinem Saarbrücken-Adam auf Kuba traf. 


~~**~~


Grelles Licht bedeutete Schmerzen. Schmerzen bedeuteten, dass der Alte wieder da war. Der Alte bedeutete, dass sein Gürtel nicht weit weg war.

Ein Teufelskreislauf, wenn man Adam fragte. Falls man Adam fragte. Aber niemand fragte Adam, selbst die Dreckssau fragte Adam nicht mehr, welche Art von Gürtel er wollte. Er bekam irgendeinen und mittlerweile war es eigentlich auch egal. Ob die Schmerzen vorne oder hinten stärker waren, war egal. Ob er ihm ins Gesicht schlug, ihn trat oder nur mit dem Gürtel bearbeitete, war egal. Die Worte waren egal, wie durch Adams vernebeltes Gehirn drangen

Der Alte hatte die Kontrolle verloren, soviel war klar, obwohl eigentlich gar nichts mehr klar war. 

Adam war nicht in der Lage, den Schmerz zu kompensieren und sein dummer, menschlicher, schwacher Körper war endlich dabei aufzugeben. Realität verschwamm mit Wunschdenken, Helligkeit mit Dunkelheit, Gegenwart mit Vergangenheit. 

Sein fiebriger Geist rettete sich während der klaustrophobischen Enge in die romantischen Stunden mit Elias, in denen er ihn so sanft genommen hatte. Komisch nur, dass die Wohnung nicht aussah wie Elias‘, sondern wie Leos. Leo, der…stimmte…vielleicht war es auch Leos.

Welche Wohnung es auch war, sie war tausendmal angenehmer als es hier war. Schön hell, ein Zeichen von Leben. Ein Zeichen vergangener Zärtlichkeit. 

Mit der Erinnerung daran drauf zu gehen, hatte etwas, beschloss Adam, und überließ es seinem Körper, auf die auf ihn herabregnenden Schläge zu reagieren. Sein Geist flüchtete sich in die Arme des Menschen, der ihm so nahe gewesen war und der ihm wirkliche Zuneigung und Liebe geschenkt hatte. Die Realität trat in den Hintergrund und machte es ihm einfach, loszulassen und nicht mehr das zu wollen, was er ohnehin niemals bekommen würde. 


~~**~~


Bastian war nicht wirklich ein mutiger Mensch. 

Seit seiner Kindheit an schon nicht. Hatte sich immer hinter den Größeren versteckt, war unauffällig geblieben und war dann, als er irgendwann selbst einmal der Älteste war, so sehr in Schieflage geraten, dass er sich nur mit Mühe herausgezogen hatte. Es hatte ihm mehrfach Ärger mit der Polizei eingebracht, bis Adam Schürk ihn mit 25 und einem verlockenden Jobangebot von der Straße geholt hatte. Kochen und Prostitution gegen einen überdurchschnittlich großzügigen Lohn. Humane Arbeitszeiten bei seinem Vater und auch bei ihm selbst, gelegentliche Liebesdienste, die nichts von dem kranken Scheiß beinhalteten, den er für manche Freier tun musste. 

Das war okay gewesen für Bastian und er hatte sich eingefunden – in die herbe Kritik des Alten, auch an seinem Sohn. Was er nie verstanden hatte, war, dass Adam sich schlagen ließ, ohne sich zu wehren. Wieder und wieder prügelte der Alte auf ihn ein und alles, was Bastian dagegen tun konnte, war, danach gut zu Adam zu sein, ihm leckere, magenschonende Dinge zu kochen, und ihn mittels seines Körpers daran zu erinnern, dass es nicht nur schlechte Menschen gab.

Vincent und er, sie meinten es gut mit Adam. Frau Schürk auch, aber Frau Schürk war selbst eine ängstliche Frau, die sich nicht traute, gegen ihren allmächtigen Mann auszusagen. 

In welche kriminellen Machenschaften Bastian da hineingeraten war, erkannte er zu spät, war aber Opportunist genug, das Geld zu nehmen, die Annehmlichkeiten zu akzeptieren und sich seinen Teil zu denken. Gleichwohl versuchte er natürlich, Adam die Annehmlichkeiten zu verschaffen, die diesem halfen, sein Leben zu leben und meistens klappte das auch. 

Bastian war echt nicht mutig und deswegen zitterte seine Hand auch, als er die Nummer des gruseligen Polizisten wählte, die dieser ihm aufgezwungen hatte. Er hatte bis nach seiner Schicht bei Schürk gewartet, nicht gewagt, von dort aus zu telefonieren. Und auch jetzt, wo er den sicheren Abstand zum Schürkschen Anwesen hatte, war es ihm mulmig. 

Der Alte hatte sich heute zwar nicht gezeigt, aber…

Leo Hölzer nahm nach zwei Mal Klingeln ab, sichtlich gestresst. 

„Ich bin‘s, Bastian.“

„Ja?“

„Sein Auto ist tatsächlich hier, von ihm keine Spur. Ich habe seine Mutter gefragt, er ist seit zwei Tagen hier, aber auch nicht auf Geschäftsreise gefahren.“ Da war sie heraus, die schlimme Wahrheit und Bastian schluckte gegen sein wild schlagendes Herz an. 

„Wo ist hier?“

Ne. Ne! So hatten sie es nicht vereinbart! Das ging zu weit. „Das darf ich nicht sagen.“

Der Polizist am anderen Ende der Leitung schwieg zunächst, dann machte er dieses Geräusch, das Bastian durch Mark und Bein ging. Ein typisches Polizistengeräusch, wie Bastian wusste. Sie machten das bei Vernehmungen und manche auch, wenn er ihnen einen blies. Anscheinend lernte man das auf der Hochschule. 

„Ich glaube, dass Adam in Gefahr ist“, gab der Polizist zu und Bastian konnte dem nicht widersprechen. Der Alte war in letzter Zeit immer unberechenbarer geworden. „Und ich will ihn da rausholen. Wenn ich dir also jetzt Adressen nenne, gibst du mir bei der richtigen ein Zeichen.“

Bastian sagte nichts und Hölzer begann mit der Aufzählung. Die ersten vier Adressen waren Nebenhäuser, Ablenkungen und nicht wirklich durch Schürk Senior bewohnt, die fünfte jedoch war die des Bunkers. 

Er räusperte sich. Lauter als normal und Hölzer schwieg wieder einen Moment lang. 

„Verstehe. Halt dich davon fern“, sagte er dann und legte auf. Bastian presste seine Lippen aufeinander. Und wie sollte er dann heute Abend kochen?


~~**~~


„Ich brauche das SEK“, fiel Leo mit der Tür ins Haus, kaum, dass sich die Sonderkommission in dem abhörsicheren Verhörraum eingefunden hatte. 

„Wofür?“, fragte Rainer kritisch und Leo verschränkte seine Arme vor der Brust. Seitdem er mit Bastian telefoniert hatte, war ihm kalt und das ungute Gefühl in seiner Magengegend war einem Brennen gewichen, dass Leo nicht mehr klar denken ließ. 

„Ich habe den begründeten Verdacht, dass Roland Schürk seinen Sohn gefangen hält und ihm etwas angetan hat“, sagte er und Weiersberger runzelte kritisch seine Stirn. Er lehnte sich zurück und auf seinem Gesicht sah Leo das, was er befürchtet hatte. Zweifel an seinem Verdacht. Zweifel an Adams Zustand. Oder schlimmer noch… Adam war nur ein Mittel zum Zweck, nicht mehr. Er war ein Verbrecher und so würde es auch nicht schade um ihn sein.

„Worauf begründet sich dieser Verdacht?“, fragte der Staatsanwalt nach und Leo tigerte unruhig auf und ab. 

„Adam war vor zwei Tagen bei mir und seitdem meldet er sich nicht mehr. Sein Auto steht bei einem auf Roland Schürk zugelassenen Anwesen, er wurde aber nicht gesehen, wie er auf Geschäftsreise gefahren ist. Sein Telefon ist mittlerweile aus, ebenso wie das seiner rechten Hand, Vincent Ross. Ich erreiche keinen von beiden in ihren Wohnungen, allerdings habe ich mit dem jungen Koch gesprochen – Sebastian de Vries – der wiederum mit Heide Schürk gesprochen hat. Diese hat den Zeitraum bestätigt und wusste auch nicht, wo ihr Sohn ist.“

„Leo, das ist ein bisschen dünn für einen SEK-Einsatz“, merkte Pia in die darauffolgende Stille an und bestätigte damit das, was Leo bereits auf Weiersbergers Gesicht gesehen hatte. 

„Was, wenn er sich einfach im Haus seines Vaters aufhält? Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, dass Roland Schürk seinem Sohn etwas antut. Es besteht keine unmittelbare Gefahr oder ein dringender Tatverdacht, die uns eine Handhabe geben würden, einen Richter zu finden, der uns den Durchsuchungsbeschluss ausstellt. Und das SEK in so kurzer Zeit zu briefen, weil wir nicht gesichert wissen, wie viele Waffen und Männer Schürk in seinem Haus hat, wird schwierig.“

Leo schüttelte den Kopf. „Wenn wir de Vries holen, wird er uns die notwendigen Informationen geben. Er kennt das Anwesen in- und auswendig. Er weiß, wie viele Personen sich dort befinden könnten und welche Gewohnheiten Roland Schürk hat.“

„Leo…“ Jetzt fiel ihm auch noch Esther in den Rücken. „Du gefährdest unsere gesamte Ermittlung, wenn wir da jetzt reingehen und nichts ist. Dann weiß Schürk, dass wir ihm auf der Schliche sind und all unserer Ermittlungsarbeit ist für die Tonne. Das können wir uns aufgrund eines vagen Verdachtes nicht leisten.“

Wütend kam Leo zum Tisch und schlug mit der Faust auf die Holzplatte. „Ist die mehr wert als ein Menschenleben?“, fragte er laut und eine Sekunde lang huschte etwas Weiches über Esthers strenge Züge. 

„Natürlich nicht, Leo, aber die Gefahr, dass es alles vernichtet, was wir bisher sorgfältig aufgebaut haben, ist zu groß.“

Das Schlimme an Esthers Argumentation war, dass sie Recht hatte. Wenn nur eine Information falsch war, würden alle Ergebnisse der letzten Jahre vernichtet, Leos Familie in akuter Gefahr. Es würde katastrophal schief laufen. 

Dennoch. 

„Als was? Roland Schürk schlägt seinen Sohn. Regelmäßig. Er hat mich entführen und foltern lassen. Jetzt meldet sich Adam nicht, seit Tagen schon nicht. Vincent Ross meldet sich nicht. Das ist bisher noch nie geschehen und reicht das nicht als Grund zur Annahme, dass etwas faul ist? Dass es gegebenenfalls…“

Leo hielt inne, stockte in seinem ganzen Sein, als er begriff, was es bedeuten könnte. Roland Schürk machte auch vor Mord nicht halt. Was, wenn er nun auch seinen Sohn und dessen besten Freund auf dem Gewissen hatte? Was, wenn die beiden bereits tot waren? 

Aus kalter Furcht wurde heiße Panik und Leos Herz setzte für einen Schlag aus. „Was, wenn er ihn umgebracht hat?“, fragte er tonlos, verbalisierte seine unmöglichen Gedanken. Panisch sah er in ihre Gesichter, in das Zögern, das Nichtglauben, das Abwägen eines Menschenlebens. 

„Ist de Vries vertrauenswürdig genug, damit wir an mehr Informationen kommen?“, war Pias Frage geradezu ein Hoffnungsschimmer am Horizont und Leo nickte. 

„Er wird von Roland Schürk bezahlt, allerdings liegen seine Loyalitäten bei Adam.“

„Wir könnten Schutzgewahrsam anordnen“, merkte Rainer an und hoffnungsvoll nickte Leo. 

Weiersberger hingegen schüttelte den Kopf. „Hölzer, das Risiko, das wir scheitern, ist immer noch größer, als dass wir Erfolg haben. Und selbst wenn. Dann holen wir einen verwundeten Schürk Junior da raus. Wird er mit uns kooperieren? Wird er seinen Vater verraten? Wird er uns die Informationen geben, die wir brauchen, um sein Syndikat dingfest zu machen?“

Leo schluckte und ließ wertvolle Sekunden verstreichen, bevor er nickte. 

„Ja, wird er“, log er und steckte zum ersten Mal in seinem Leben alles, was er konnte, in diese Lüge. Früher, bei seinen Eltern war er überzeugend gewesen, doch nun wollte Leo mehr als das sein. Er wollte, dass seine Worte Leben retteten. 

„Er hat gesagt, dass er alles für mich tun wird und das war meine Forderung.“

Eine Lüge war immer dann am Überzeugendsten, wenn sie ein Korn Wahrheit enthielt. Leo hatte vor zwei Tagen nicht gefordert, dass Adam das Syndikat preisgab. Er hatte gar nichts gefordert, eben weil er gar nichts gesagt und Adam damit vor den Kopf gestoßen hatte. 

„Und er hat zugestimmt?“

Leo nickte entschlossen und hoffte. 

Weiersberger musterte ihn, versuchte, Wahrheit von Lüge zu trennen. Versuchte, Leos Intentionen gläsern zu machen. Schlussendlich aber glaubte er ihm, nickte und Leo erkannte erst jetzt, wie angespannt er gewesen war, als er erleichtert in sich zusammensackte. 

„Ich muss telefonieren“, sagte der Staatsanwalt schlicht und stand auf. Mit immer noch kritisch gerunzelter Stirn verließ er den Raum. 

Als er wiederkam, hatte er den gefaxten Beschluss des zuständigen Richters, die Zusage des SEK, die Zusage der BFE Göppingen sowie einen Zeitplan im Gepäck, der Leo um jede Minute bangen ließ, die sein Bauchgefühl schlimmer und schlimmer wurde. 


~~**~~


Unruhig trommelte Leo mit seinen Fingern auf die Armablage des dunklen SUV, mit dem sie in Richtung Dudweiler fuhren. Hinaus zum Hauptanwesen von Roland Schürk. 

Weiersberger hatte vor drei Stunden de Vries holen lassen und der von den vor ihm sitzenden Personen eingeschüchterte Koch hatte ihnen alle Informationen zukommen lassen, die sie brauchten. Über das Gebäude, die Außenanlagen, die Alarmanlagen und potenzielle Sprengfallen, die Personen, die sich an diesem Tag vermutlich im Gebäude befinden würden. Tagesabläufe, Gewohnheiten, alles hatte er auf Drängen von Stiehlmann, der Einsatzleiterin der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, und Weiersberger zu Protokoll gegeben und dabei immer wieder schüchterne Blicke zu Leo geworfen, der versichernd genickt hatte, während er wie ein Tiger im Käfig hin und hergelaufen war. 

Die Satellitenüberwachung und die Informationen des MEK taten ihr Übriges und mit ruhigen, präzisen Worten hatte Stiehlmann ihnen den Fahrplan zur Kenntnis gegeben. 

Umso befreiender war es, als sie nun in schwarzen SUV und Transportbussen durch die Saarbrücker Innenstadt rasten und zu ihrem eigentlichen Ziel fuhren. Allem voraus die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, Frauen und Männer in Schwarz mit Sturmhauben und Helmen, die darauf trainiert waren, Verstecke der OK auszumachen, auszuräuchern und die ersten Widerstände zu brechen. Erst schlagen, dann fragen, so hatte Weiersberger es trocken kommentiert und keinen Widerspruch erhalten. 

Leo blieb mit Pia und Esther in dem SUV unweit des Anwesens stehen und starrte gebannt auf das Funkgerät, das ihnen nun auf sicheren Funkfrequenzen den Fortschritt der durch einen Helikopter begleiteten Operation zeigte. Stiehlmanns Team stürmte und knappe Befehle wechselten sich mit Geschrei und überraschten Rufen ab, die eine Viertelstunde brauchten um zu verstummen. 

Zwölf Personen befanden sich schließlich in Gewahrsam, darunter auch Roland Schürk und sobald Leo Stiehlmanns tiefe Stimme durch den Funk hörte, die ihm sagte, dass sie das Anwesen betreten durften, sprintete er durch den herbstlich-kalten Regen den Kiesweg hinauf zum Haupteingang ohne auf Pia und Esther zu warten.

Stiehlmann empfing ihn in der Eingangshalle und deutete knapp nach links. Im Atrium aufgereiht, bäuchlings liegend, befanden sich Schürks Männer, gefesselt und unschädlich gemacht durch die BFE, gesichert durch das mitgehende SEK. 

Leo ließ seinen Blick über sie schweifen und erkannte drei von ihnen wieder. Wie auch nicht, hatten sich ihre Gesichter doch in ihn gebrannt in den fünf endlosen Stunden, die er unter Folter in dem Keller verbracht hatte. Innerlich zuckte er vor ihnen zurück und hatte im ersten Moment die Befürchtung, dass sie sich ihm oder seiner Familie wieder bemächtigen würden. Äußerlich versuchte Leo, sich nichts anmerken zu lassen und folgte Stiehlmanns Aufforderung, ihn zu begleiten. 

Schürk Senior befand sich, ebenfalls mit dem Gesicht nach unten und voller Wut darüber, in seinem Arbeitszimmer getrennt von seinen Leuten. Als er Leo eintreten sah, verzog er die Lippen zu einer hässlichen, arroganten Fratze, die vermutlich eher einem Tier gleichen sollte als einem Menschen. Es war definitiv eine Drohung und wieder schreckte ein Teil in Leo vor der Gewalt in dem nonverbalen Versprechen zurück. 

„Natürlich…Hölzer…wie konnte ich es mir nicht denken? So dumm kannst nur du sein“, spuckte er aus und der ihn unten haltende Beamte festigte dafür seinen Stiefel in seinem Nacken. 

Leo verachtete Polizeigewalt, aber in diesem Moment…in diesem Moment tolerierte er sie. Dieser Mann hatte alles verdient, was ihm passieren würde. Für das, was er Adam angetan hatte. Für den Mord an Elias Schiller. Für sämtliche Straftaten, die das Rechtssystem Saarbrückens unterwandert und gehöhlt hatten. Und nicht zuletzt auch für das, was er Leo selbst angetan hatte. 

„Wo ist Ihr Sohn, Herr Schürk?“, fragte Leo, ohne auf die Provokation einzugehen. Seine Stimme zitterte nur minimal – vor Aufregung oder Angst, das konnte er nicht sagen. 

Roland Schürk schwieg, immer noch ein gewaltbereites Lächeln auf den Lippen, das Leo noch mehr Folter versprach. Überlegen, überheblich, in dem Bewusstsein, dass Leos Beweislage anscheinend dünn war. 

„Wo ist er?“, wiederholte er selbst wütender, fast an der Grenze zur besorgten Unprofessionalität und Schürk schwieg weiter. Voller überlegener Überheblichkeit und Leo wusste, dass Adam sich definitiv hier befinden musste.

„Ist alles gesichert?“, wandte sich Leo an Stiehlmann und sie nickte knapp. Nachdenklich verließ er den Raum, durchkämmte das Erdgeschoss des Betonbunkers und durchsuchte die Räume, in denen nichts zu finden war außer den Zeichen eines Mannes, der seine Familie unterjocht hatte. Kalt war es hier, klinisch. Leo fühlte sich klein und beinahe eingeschüchtert, von der Umgebung und dem Geruch. 

Wie angewurzelt blieb er im Flur stehen. Es stimmte. Der Bunker hatte einen Geruch, der Leo zutiefst abstieß und unsicher machte. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, als er erkannte, woher er den Geruch kannte und warum dieser sich so sehr in sein Gedächtnis gebrannt hatte. 

Er war schon einmal hier gewesen. In dieses Haus geschleift und durch Adam befreit worden. Hier hatten sie ihn gefoltert. 

Leo blieb mitten im Raum stehen und erlaubte der Angst, ihn komplett zu durchfluten, in dem Wissen, dass mit der Angst auch schlechte Erinnerungen kommen würden. 

Treppenstufen, die er hinuntergezwungen worden war. Die Adam ihn hinaufgezogen hatte. 

Der Keller.

Beinahe schon panisch setzte Leo sich in Bewegung und suchte nach dem Kellerabgang, fand ihn in der Nähe des Arbeitszimmers. 

„Mitkommen“, rief er einem der SEK-ler zu und sprintete die Kellertreppen hinunter, hinein in den dunklen Schlund des Hauses, der mit einem wütenden Schlag auf den Lichtschalter sein hässliches, gefliestes Antlitz entblößte. 

Ja, Leo war hier gewesen. Sie hatten ihn hierhergebracht, um ihn zu foltern. Und dieser Geruch, dieser klinische, nach Desinfektionsmitteln stinkende Geruch hatte sich in ihn gebrannt. 

Mit klopfendem Herzen stieß Leo die Türen zum Keller auf, jede einzelne. Lagerräume mit blankem Estrich, geflieste Räume ohne Inhalt und dann…

Leos Hand zitterte, als er den Raum vor Kopf öffnete, der nur einen Knauf von außen hatte, keine Klinke, keine Möglichkeit, ihn von innen zu öffnen. Es war ein Raum mit Doppeltür und die zweite Tür war mit einer so dicken Schallisolierung versehen, die Leo so in ihrer Stärke noch nicht gesehen hatte. 

Der Raum stank bestialisch nach billigem Desinfektionsmittel und anderen Gerüchen und beherbergte augenscheinlich nichts bis auf blanke, weiße Fliesen. Unscheinbar, vielleicht, aber Leos Nackenhaare standen zu Berge. Sein Instinkt schrie ihn an, aus diesem Raum zu fliehen, aus dem Haus zu entkommen und nie wieder zurück zu kehren und er begriff, dass das der Raum war, in dem sie ihn gefoltert hatten. 

„Dunkelheit…er ist Dunkelheit, im Boden. Eine Kiste unter den Kacheln, früher groß genug für einen Teenager, mittlerweile doch recht klein und beengend. Und…sie ist ein weiß gefliester Raum, damit das Blut leichter abwaschbar ist. Ich habe viele Stunden darin verbracht und kenne jede Fliese mit Namen.“      

Adams Worte standen wie Leuchtfeuer in Leos Gedanken und er versuchte sich zu erinnern, wo das Loch im Boden gewesen war, in das Schürk ihn hatte sperren wollen, bevor Adam…

Leo schluckte panisch, sah sich wild um und war sich doch nicht sicher, bis er ein kleines Loch im Boden sah. Minimal nur, einen Daumennagel breit an Durchmesser. 

Abrupt wandte Leo sich an den SEK-Beamten. „Hol Stiehlmann. Sie soll den dritten von rechts aus dem Atrium mitbringen, wir müssen wissen, wie wir den Boden geöffnet bekommen. Da ist noch eine Kammer drunter, eine Art Sarg, in der Schürk in der Vergangenheit seinen Sohn eingesperrt hat.“

Ohne zu diskutieren verließ der Beamte den Keller und Leo kniete sich neben das Loch, das kaum groß genug war um genau Sauerstoff hinein zu lassen. 

„Ich hol dich hier raus, Adam, hörst du. Ich hol dich raus“, sagte er, obwohl er nicht wusste, ob Adam wirklich da drin war. Ob er ihn hörte. Ob er noch lebte. 

Roland Schürk hatte seit Boris Barns Verhaftung mehr und mehr die Kontrolle verloren und nicht davor zurückgeschreckt, seinen eigenen Sohn beinahe krankenhausreif zu schlagen. Was, wenn er nun auch nicht davor zurückgeschreckt war, ihn umzubringen und Leo zu spät kam? 

Schritte hallten durch den stillen Flur und zwei BFEler kamen mit dem bulligen Mann, Stiehlmann direkt hinter ihnen. Sie hielten ihn im eisernen Griff und Leo gönnte ihm alles Unwohlsein, was er in diesem Moment spürte.

„Wie geht das auf?“, spie Leo in das verhasste Gesicht und stieß wieder auf eine Mauer des Schweigens. 

Seine Angst schwieg still zugunsten der puren, reinen Wut auf den Mann, der ihm seinen Stiefel in den Nacken gedrückt hatte. Der ihn unten gehalten hatte, damit Andere Leo das Gefühl geben konnten, zu ertrinken. Der Leo geschlagen und getreten hatte, wieder und wieder. 

Drei Schritte brauchte es, bis Leo bei diesem Monster war und den Mann am Kragen packte. „Ich wiederhole mich ungerne“, sagte er leise, mit einem Hass in der Stimme, der ihm unheimlich war. Hass geboren aus Angst geboren aus Gefühlen für einen Mann, der vielleicht nicht überlebt hatte. 

„Wie macht man das Loch im Boden auf?!“

„Welches Loch?“, grinste der Mann und Leo schlug ihm ob der absoluten Dreistigkeit mit der Faust ins bullige Gesicht.

Niemand hinderte ihn daran. Der taumelnde Mann wurde lediglich festgehalten und wieder aufgerichtet. Damit Leo noch einmal zuschlagen konnte.

„Wie?!“

„Es gibt kein Loch im Boden“, stöhnte er verlogen auf und Leo packte ihn am Kragen seines Pullovers, schlug noch einmal zu. Niemand, weder der SEK-Mann noch die BFEler stellten das in Frage. 

WIE WIRD ES AUFGEMACHT?“, brüllte Leo und musste sich zusammenreißen, den gefesselten Mann nicht durch den Raum zu prügeln. Ihn so zu behandeln, wie dieser Leo behandelt hatte. 

„Ich habe keine Ahnung, wovon du-“

Dieses Mal schickte Leos Faust den Mann zu Boden. Wie ein Teufel kam er über ihn und presste seinen Hinterkopf gegen die kalten Fliesen.

„Wir wissen beide ganz genau, dass du es weißt, weil du dabei warst, als Schürk mich reinstecken wollte. Wenn du mir nicht sagst, wie man diesen Sarg öffnet, dann kriege ich dich wegen Beihilfe zum Mord dran und sorge dafür, dass du jeden Tag im Gefängnis leidest. Ich sorge dafür, dass du im Gefängnis so gefickt wirst, wie Schürk es sich für mich gewünscht hat. Ich bezahle persönlich dafür, dass du keinen Tag hast, an dem du nicht gefoltert oder gefickt wirst, du widerlicher Bastard!“, knurrte er das heraus, was in ihm schwelte, Drohungen und abartige Versprechungen, die er niemals einlösen würde. Worte wie Waffen, die nur eins zum Ziel hatten: Adam zu retten. 

Für Adam. Adam-Style. 

Es wirkte. Unsicherheit kroch über bullige Gesicht, von arroganter Überheblichkeit keine Spur.

„Man öffnet den Sarg mit der Steuerung in der Wandpaneele“, presste der Bullige hervor und nickte auf eine Fliese, die etwas hervorstand. Leo schraubte sich von ihm herunter und stolperte zu der Fliese, öffnete sie beinahe mühelos. 

Das Bedienelement glitt hervor und Leo drückte mit zittrigen Fingern den Knopf, der Zentimeter für Zentimeter den Horror entblößte, den Leo nicht gehofft hatte zu sehen. 

Adam war hier. Er hatte Adam gefunden, eingequetscht in der viel zu kleinen Kammer, der nackte Körper bedeckt von getrocknetem und frischem Blut, ein brutaler Kontrast zu den weißen Fliesen. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände hatte er in der Art von Menschen auf seiner Brust gebettet, die ihren Oberkörper beim Schlafen beschützten. 

Es stank bestialisch nach Blut und nach anderen Gerüchen. Nach Verwesung und Leos Panik ließ ihn nicht mehr klar denken. Blind kniete er sich hin, strich mit schlotternden Fingern die blut- und schweißverschmierten Haare beiseite. 

„Adam?“, flüsterte Leo, doch der Mann reagierte nicht. Seine Lider ruhten still, ebenso wie sein Brustkorb. 

Adam lag ganz still und Leo begriff in einem Moment der fürchterlichen Klarheit, dass er zu spät gekommen war. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Es tut mir leid. 🫂🫣

Chapter 55: Wahre Worte

Notes:

Hallo zusammen!

Pünktlich im langen Wochenende (also für die, die es haben) nun der nächste Teil der Anatomie. Es geht weiter und ich halte leider noch mein Versprechen, dass es noch schlimm ist. 🌻😢. Haltet durch!

Vielen lieben Dank an dieser Stelle wie immer für all eure Kommentare, Kudos, Sprachnachrichten, Nachrichten auf anderen Kanälen, Klicks... Was soll ich sagen, das nicht schon gesagt wurde, außer, dass ich mich sehr darüber freue!💕

Dieser Teil hat Triggerwarnungen: Erwähnungen von körperlicher Gewalt, teilweise detaillierte Darstellung der Auswirkungen, unfreiwillige Mitarbeit mit Ermittlungsbehörden
Dennoch viel Spaß beim Lesen! 🌻

Chapter Text

 

„Adam? Adam?! Adam, nein!“

Leos Hände zitterten panisch, als sie über Adams Körper huschten und eine Stelle für den Puls suchten und doch keinen fanden. Leo fand nichts und ob das daran lag, dass sein eigener Puls so schlimm in ihm pochte oder ob Adam… 

Nein. Nein, daran durfte er nicht denken. 

„Wir brauchen hier Sanitäter!“, brüllte er, den Ablauf so sehr in sich eingebrannt, dass die Worte von alleine von seinen Lippen kamen. Hilfesuchend sah Leo hoch, doch der BfE-Mann funkte bereits nach dem sie begleitenden Notarzt, der unweit mit seinem Team wartete und gab die wichtigen Informationen so neutral durch, dass Leo die bittere Galle hochkam.

Männliche Person ohne Bewusstsein mit schweren Verletzungen. Zustand unklar. 

Pia und Esther kamen den Raum, doch Leo nahm sie kaum wahr. Seine volle Aufmerksamkeit war auf Adam gerichtet, auf die vernichtend geringe Chance, dass dieser noch lebte und nicht von seinem eigenen Vater totgeschlagen worden war. So wie Leo es vorhergesagt hatte, in der Annahme, dass er Adam von seinem Vater lösen konnte, bevor die Katastrophe passierte.

Adam war so kalt unter seinen Fingern. So verdammt kalt. So unendlich still.  

„Bitte nicht. Komm schon, Adam. Ich bin da. Hörst du, Superman ist da“, brabbelte er und fuhr mit seinen Händen über das zerschlagene, blutige Gesicht, presste seine Finger erneut auf die Halsschlagader. 

„Platz machen!“

Bevor Leo wirklich realisierte, wer ihn anherrschte, erschien der Notarzt zusammen mit zwei Rettungssanitätern an seiner Seite. Rüde schob er Leo beiseite und sie fielen über Adam her wie Hyänen. Im ersten Moment zuckte Instinkt in Leo und er hatte nichts anderes vor Augen als Adam zu schützen, bei Adam zu sein, damit ihm nichts mehr passieren konnte. 

Eine sanfte, aber bestimmte Hand hielt ihn davon ab, zog ihn an den Rand des Raumes, auch wenn er dadurch nicht mehr sehen konnte, was sie mit Adam anstellten und ob sie auch gut genug waren, ihn zu retten. 

Worte wie Herzschlag und Atmung drangen durch seine chaotischen Gedanken, konnten sich aber nicht festsetzen und Leo zuckte elendig. 

„Hey, Leo. Hey…“ Die Hände, die seine Aufmerksamkeit von Adam wegzwangen, waren warm und Leo spürte, dass er ihnen vertrauen konnte, noch bevor er Pias sorgenvolle, blaue Augen sah. 

„Leo, sie kümmern sich um Schürk. Sie schaffen das. Komm, lass sie in Ruhe arbeiten.“

Wild schüttelte Leo den Kopf. „Nein, ich muss bei ihm bleiben. Ohne mich…sein Vater…er…ich muss dableiben und ihn schützen“, brabbelte er sinnloses, zusammenhangloses Zeug. 

„Leo, du hast ihn gerettet. Du hast ihn bereits geschützt. Jetzt lass die Profis ihre Arbeit machen, okay? Sie werden ihn hier rausbringen. Komm schon, gib ihnen Raum zu arbeiten.“

Leo versuchte an ihr vorbei einen Blick auf Adam zu werfen, der von den Sanitätern behutsam aus dem Loch gehoben und auf eine Trage platziert wurde. Das musste doch etwas Gutes bedeuten, oder? „Ich kann ihn nicht alleine lassen. Ich muss wissen, ob er lebt, oder ob…ob Schürk ihn…ob…“ Leo erstickte fast an seinen Worten, aber mehr noch an seinen Gedanken, die er nicht vokalisieren konnte.

Der Notarzt drehte sich zu ihnen um und musterte Leo wissend. „Er lebt. Wir bringen ihn jetzt ins Klinikum zur weiteren Versorgung“, sagte er und der enge Würgegriff an Angst und Panik, an Verzweiflung löste sich um Millimeter und ließ es zu, dass Leo freier atmete. 

Adam lebte. Er lebte. Er war nicht tot, er hatte einen Puls, er…hatte Atmung, einen Herzschlag. 

Leo war nicht zu spät gekommen.

Wieder war es Pia, die seine Aufmerksamkeit zu sich zog. „Siehst du, Leo. Sie bringen ihn ins Klinikum. Sie werden ihm helfen. Er bekommt dort die bestmögliche Versorgung. Wir fahren währenddessen zur Wache und machen die Nachbesprechung mit Weiersberger, der BfE und dem SEK. Das ist jetzt das, was wir für ihn tun können, damit sein Vater lebenslang in Haft kommt. Und da brauchen wir dich, mit klarem, scharfen Verstand, Leo. Begreifst du das? Du bist derjenige, der gerade die Lücken füllen kann.“

Aber, wollte Leo aufbegehren. Aber er hatte nicht hingesehen und Adam war von seinem Vater fast zu Tode geprügelt worden. Aber er hatte Adam einfach so gehen lassen ohne ihm zu erklären, warum er nicht auf die Worte hatte reagieren können. Aber er konnte ihn nicht schon wieder ziehen lassen und ihn nicht beschützen. 

So viele Aber und so wenig Raum, sie zu erklären. 

Leo schüttelte den Kopf und anscheinend waren seine Muskeln weitaus instinktgesteuerter als es seine Gedanken waren, denn Pia fasste ihn fest an seinen Oberarmen und presste ihn gegen die weiß geflieste Wand des Folterkellers. Esther kam zu ihr und Leo wusste, dass er gegen sie verloren hatte. Er schauderte und das Zittern in seinen Muskeln kam mit Sicherheit nicht nur von der Kälte hier.  

„Reiß dich zusammen, Leo. Wir sind auf einem Einsatz und wir haben Schürk Junior da rausgeholt, so wie du es wolltest. Du hattest Recht und jetzt haben wir eine Handhabe gegen den Alten. Jetzt können wir ihn in U-Haft bringen ohne die Möglichkeit, dass er gegen Kaution freikommt. Das ist gut, Leo, und alles andere ergibt sich, ist das klar?“, fragte Esther streng, für den Bruchteil einer Sekunde zu streng für Leos Verzweiflung. 

„Ich muss zu ihm, Esther. Ich muss bei ihm sein“, flüsterte er niedergeschlagen und sah Enttäuschung und Verneinung in ihrem Gesicht. 

„Pia hat Recht. Du musst deinen Job machen. Wenn du an seiner Seite sitzt und Händchen hältst, hilfst du ihm nicht, klar? Die Ärztinnen und Ärzte im Klinikum kümmern sich, da gibt es nichts, was du machen kannst. Bei uns kannst du dafür sorgen, dass sich das hier nicht wiederholt. Also reiß dich zusammen, mach deine Arbeit. Und danach fährst du zu ihm. Klar?“

Auch wenn alles in Leo gegen die Strenge in Esthers Worten rebellierte, gaben sie ihm doch einen Halt, den er brauchte. Einen Handlungsspielrahmen und Grenzen, damit er nicht ausuferte in seinen ziellosen Versuchen, Adam beizustehen.

„Komm.“

Leo folgte stumm, verließ von seinen Kolleginnen flankiert den Keller. Erst jetzt merkte er, wie sehr der Einsatz an ihm zehrte und mit jedem Schritt, den er nach oben tat, erkannte er, wie sehr ihn die Erinnerung an seine Folter und die Angst vor dem Raum subtil umklammert hatten. 

Er ging nach draußen und legte seinen Kopf in den Nacken, presste die Hände auf seine Halswirbelsäule in dem vergeblichen Versuch, Ruhe zu finden. 

Adam lebte, versuchte er sich zu beruhigen. Er lebte. Zu welchem Preis war erst einmal egal. Er lebte. Leo würde richtigstellen, was er vor zwei Tagen falsch gemacht hatte. Er würde Adam gegenüber ehrlich sein und ihm sagen, was er für ihn empfand. Und gemeinsam würden sie Roland Schürk für immer ins Gefängnis bringen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, denn das nächste Mal würde Roland Schürk seinen Sohn mit Sicherheit umbringen.

Als hätte er vom Teufel gesprochen, wurden Schürk und seine Männer just in dem Moment abgeführt. Leos Blick fiel auf Schürks selbstgefällige Arroganz und er spürte, wie nicht nur eine Kette um seine eiserne Selbstbeherrschung als Polizist riss. 

Schürk hatte seinen Sohn jahrzehntelang misshandelt. Er terrorisierte das Saarland mit seinem Syndikat. Er hatte Polizisten ermordet. Er hatte Elias Schiller vor Adams Augen ermordet.

Leo brauchte keine drei Sekunden, bis er bei Schürk war und ihn den überraschten Beamten entriss. Nach anfänglicher Gegenwehr sahen sie, dass er es war und ließen ihn fragend los. Fast war es heilsam, wie wenig Fragen sie stellten, wenn es um die ihren ging. Und die Gewalt, die damit einherging. 

Wütend donnerte Leo Schürk gegen die Seite des Transporters, in den just in dem Moment die übrigen Verhafteten gebracht wurden. Der Mann gab ihm keine Reaktion, gar nichts. Kein Aufstöhnen, kein Fluchen, keine Drohungen, sondern schlichte, überhebliche Ruhe. Er grinste ruhig und noch nie musste Leo sich so sehr beherrschen, nicht einfach zuzuschlagen.  

„Wir haben Ihren Sohn und er lebt noch. Sie haben ihn nicht getötet“, knirschte Leo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und Schürk hob fragend seine Augenbrauen. So unschuldig, dass es von innen heraus verrottete, während Leo zusah.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Hölzer.“

Leo schnaubte verächtlich. „Natürlich. Adam hat sich alleine in den Sarg gelegt und sich alleine blutig und ohnmächtig geschlagen.“ 

„Oh, war er unten im Keller? Das ist ja tragisch. Geht es ihm gut?“, fragte Schürk und aus jeder Silbe troff Spott und Hohn. Leo wusste, dass Schürk ihn provozierte, er wusste und sah es, konnte aber nichts gegen das den Drang in seinem Inneren tun, es ihm zu vergelten. Er sah Rot vor Wut. Die Dreistigkeit in Schürk löste auch die letzten Bande, die Leo noch um seine Selbstbeherrschung hatte und wütend presste er seinen Unterarm gegen Schürks Hals. So wie dieser ihn gewürgt hatte. So wie dieser sich dazu entschlossen hatte, ihn zu foltern. Durch Schmerz und Todesangst.

Doch die Angst schwieg still in diesem Moment und Leo war genau das, was Adam von ihm gewollt hatte. Er war sein Retter, sein Superman, ohne Angst vor dem Bösen. 

Leo löste sich von Schürk und trieb ihm ungehemmt die Faust ins Gesicht. Schürk stöhnte auf und es war das erste Mal, dass Leo so etwas wie Befriedigung in seiner Anwesenheit empfand, als er sah, wie der ältere Mann haltlos die Wand entlangtaumelte. 

„Sie Mörder“, zischte Leo, weil er sonst die Wut in sich hinausgeschrien hätte. „Sie haben Polizisten getötet, Sie haben versucht, Ihren eigenen Sohn zu töten. Sie haben ihn eingesperrt. Ihn gefoltert. Sie sind ein widerliches Stück Dreck.“

Vielleicht schrie Leo doch. Zumindest klingelten seine Ohren, als er Schürk noch einmal hochzog und seine Faust ein zweites Mal in das verhasste Gesicht trieb, dieses Mal Blut hervorbrachte. Schürk stöhnte dumpf und ging nun nahtlos zu Boden. Leo thronte über dem Patriarchen so wie dieser über ihm standen hatte, als er ihn gefoltert hatte. 

„Sie werden im Gefängnis dafür verrotten, dass Sie sich an Adam vergriffen haben. Ich werde dafür sorgen, dass Sie für immer und ewig hinter den Mauern eingesperrt sein werden. Wir werden Sie drankriegen und dann werden Sie nicht nur für den jahrelangen Missbrauch einsitzen, sondern auch für die Folter an mir! Mit dem Wissen, dass Ihr eigener Sohn nicht so widerlich ist wie Sie es sind.“

Leo beugte sich hinunter, kam ganz nahe an Schürk heran.

„Eine Sache möchte ich Ihnen jetzt schon mit auf den Weg geben, Herr Schürk“, flüsterte er vertraulich. „Ihr Sohn hat mich nicht vergewaltigt, er hat mich weggebracht von hier. Während Sie geglaubt haben, dass er mich quält und erniedrigt, hat er dafür gesorgt, dass ich medizinisch versorgt werde. Er war nie auf Ihrer Seite. Er hasst Sie und er wird nie so werden wie Sie. Ihr Sohn ist ein guter Mensch und als solcher wird er Ihnen das Handwerk legen, dafür sorge ich, Herr Schürk. Sie hätten mich niemals erpressen lassen sollen. Sie hätten sich niemals an mir vergreifen sollen. Ich habe Ihren Sohn auf meiner Seite.“

Und zum ersten Mal sah er so etwas wie eine emotionale Regung im Gesicht des Syndikatsbosses. Cholerischer Zorn, gefolgt von Hass und Mordlust. Schürk ruckte nach vorne und zog an seinen Handschellen, doch Leo war schneller und schickte ihn mit einem dritten Schlag ins Gesicht zu Boden. 

„Leo…Leo, hey. Stopp! Leo, komm weg von ihm“, wurde er keine Sekunde später von ihm weggezogen. Pia, erneut. Pia, die Sorgenvolle, die Missbilligende. Leo ließ sich wegziehen, er war fertig mit Schürk. Alles Weitere würden die Sonderkommission, die Staatsanwaltschaft und die Richterschaft klären.  

„Sie haben gesehen, dass er mich geschlagen hat!“, beschwerte sich Schürk hinter Leo und Pia sah ernst an ihm vorbei. 

„Ich habe gar nichts gesehen, Herr Schürk. Sie sind gestolpert. Mehr nicht“, erwiderte sie mit eiskaltem Zorn und schnaubte verächtlich, wandte sich keine Sekunde später wieder Leo zu.

„Jetzt lass uns gehen, Leo.“ 

Sanft, aber bestimmt zog Pia ihn mit sich zu ihrem Wagen. „Wir fahren auf die Dienststelle und danach fährst du ins Klinikum. Ich gehe davon aus, dass du, sobald die angeforderten Kripobeamtinnen und -beamten eingetroffen bist, ein Besuchsverbot erhalten wirst, weil du Verfahrensbeteiligter bist. Also verlieren wir jetzt keine Zeit, in Ordnung?“

Überrascht starrte Leo Pia in die Augen. Sie hatte Recht…Adam würde vernommen und seine Verletzungen würden als Beweismittel aufgenommen werden – zur Not auch gegen seinen Willen im Rahmen einer vorübergehenden Verhaftung. Ab dann gab es ein Besuchsverbot unter strengster Bewachung durch Polizeibeamtinnen. Und er war…nicht neutral. Auch wenn er auf der Seite des Gesetzes stand, er war nicht neutral und somit würden sie ihn nicht zu Adam lassen.

Umso erstaunter war er über Pias Entgegenkommen und das Wissen in ihren Augen um seine Gefühle.

„Ich habe die Befürchtung, dass Vincent Ross etwas passiert sein könnte“, sagte Leo, während er sich schließlich im Auto anschnallte. Mit der Erleichterung, dass Adam gerettet worden war, kam ihm ein Gedanke, der vorher nicht präsent gewesen war, der nun aber erschreckende Logik beinhaltete. Was, wenn Roland Schürk sich sowohl Vincent als auch Adam hatte entledigen wollen in seinem Wahn, den perfekten Sohn zu haben? Was, wenn Vincent tot war?

„Ich halte das für wahrscheinlich“, stimmte Esther grimmig mit seinen Sorgen überein und Leo schloss die Augen.

Ein angstvoller Stich ging durch seinen Körper. Angst um Vincent um Angst vor der rasenden Wut von Schürk.


~~**~~


Zurück zu kommen war wie ein Schuldspruch. 

Vincent ahnte, dass er mit Leos Ermittlerkompetenz und einer Sonderkommission vermutlich in den nächsten Tagen aufgespürt und verhaftet werden würde. Spätestens dann, wenn die Sonderkommission mit Adam oder Karol in Kontakt treten würde, um seinen Aufenthaltsort herauszufinden. 

Der hier war, am Krankenbett von Adam. Seinem Frankfurt-Adam, dem barschen Polizisten, nicht dem barschen Sohn eines Sadisten und Verbrechers. 

Adam sah fürchterlich aus, sein ganzes Gesicht zugeschwollen, sein freiliegender Körper voller Hämatome. Er steckte an Überwachungsgeräten und Schläuchen, nach denen sich Vincent nicht getraut hatte zu fragen. 

Vincent, der Ehemann von Adam Raczek. Vincent Raczek, der Ausweis ausgestellt auf Tom Raczek. Eine schöne Namenskombination, aber genauso unrealistisch wie der Gedanke, weiterhin eine Beziehung führen und in Freiheit bleiben zu können. 

Genau deswegen hielt Vincent Adams unverletzte Hand in seinen beiden Händen, ließ ihn seine Gegenwart spüren. Noch wusste Adam nichts von seinen kriminellen Machenschaften und deswegen konnte er auch noch da sein und ihm mit sanften Worten erklären, wie sehr er ihn liebte und immer geliebt hatte. Vielleicht auch immer lieben würde. 

Zwei Stunden pro Tag durfte er hier sein, in fest geregelten Besuchszeiten. Zarah hatte für ihn ein Hotelzimmer unter falschem Namen gebucht, aus dem er schnell verschwinden konnte, wenn es sein musste. 

Adam war mittlerweile schon auf dem Weg in Richtung Kuba und es zerriss Vincent das Herz, dass er später oder gar nicht kommen würde. Das hatten sie nicht so ausgemacht und niemals hätte Vincent sein Versprechen gebrochen. Umso schlimmer brannte nun die Sorge um seinen Adam hier und die Sorge um Adam in Kuba in ihm. 

„Ich liebe dich“, murmelte Vincent und schreckte hoch, als sein Handy pingte. Zarahs Ton, der Einzige, der auf dem anonymen Handy eingespeichert war. Mit einer sachten Entschuldigung auf den Lippen ließ er Adam los und griff zu seinem Telefon, las die Nachricht, die sie ihm geschrieben hatte.

Die Nachricht, die seine Welt zerfetzte, zerriss, die alles nur noch schlimmer machte. 

~Zugriff auf Roland Schürk, mindestens SEK, er, seine rechte Hand und das Hauspersonal sind inhaftiert. Adam wurde lebend, aber bewusstlos mit Blaulicht ins Klinikum gebracht.~

Vincent starrte auf sein Handy. War es eine Falle? Er glaubte es nicht. War es möglich? Adam hatte sich die letzten Tage nicht gemeldet und Vincent hatte gedacht, dass er Funkstille hielt. Adam in den Fängen des Seniors war eine genauso realistische Möglichkeit. 

Die Vincent jedwede Entscheidung abnahm, jemals nach Kuba zu fliehen. 

Er würde keinen seiner beiden Adams alleine lassen, egal, ob das für ihn Gefängnis bedeuten würde.
  

~~**~~


Herrn Schürk ist ein Nierenversagen und damit eine Dialyse erspart geblieben. 

Die Worte des Stationsarztes dröhnen laut in Leos Ohren, während er am anderen Ende des Zimmers steht und Adam ansieht, der regelrecht klein auf dem Bett auf der Intensivstation aussieht. Er ist an Geräten angeschlossen, die Leo noch nie in seinem Leben gesehen hat. 

Exsikkose. Orientierungslosigkeit. Engmaschiges, stündliches Monitoring. Unterkühlung. Unterernährung. Ernährung über eine Magensonde und externe Flüssigkeitszufuhr. 

Weitere Begriffe, die Leo Angst machen, weil sie ihm klar vor Augen halten, was Adam in den letzten Tagen hatte durchleiden müssen. Körperliche Gewalt, Freiheitsberaubung, Verlust seiner Sinne. Dehydrierung. Roland Schürk hatte seinen Sohn umbringen wollen, langsam und qualvoll, Stück für Stück. Er hatte ihn zu Tode quälen wollen und mehr als alles andere ließ das in Leo Hass hochkochen, den er so noch nie gefühlt hatte. 

Seine gebrochenen Finger haben wir geschient, sie standen gut genug dafür. Das Liegetrauma bekommen wir auch in den Griff.

Als wären die Schnitte, die den ganzen Körper bedeckten, nicht genug, hatte Schürk Senior seinem eigenen Sohn noch die Finger gebrochen. Leo wurde schwindelig, während die Worte in seinen Gedanken kreisten und gar nicht mehr aufhörten, sein Denken zu bestimmen. Er hätte Adam schützen müssen. Ihn schon nach ihrer gemeinsamen Nacht bei sich behalten müssen. Er hätte nicht gehen dürfen um vor seinen Gefühlen wegzulaufen. 

Die logische Seite in Leo wusste, dass er Adam nicht dauerhaft bei sich hätte behalten können und dass er damit auch nicht Schuld daran war, was Adam durch seinen Vater angetan worden war. Dennoch spürte er ein schlechtes Gewissen in sich, was sein Schweigen anging. Er hätte nicht schweigen dürfen. Er würde auch nie wieder schweigen. Nie. Wieder. 

Leise holte Leo sich einen Stuhl und zog ihn zu Adams Bettseite. Er umfasste sanft die unverletzten Finger und verwob die kalten Gliedmaßen mit seinen. Adam schlief und wäre nicht die Todesbleiche, wären nicht die Verletzungen, die unter dem gemusterten Krankenhaushemd hervorlugten, dann hätte er an Frieden glauben können. An einen Adam, der aufwachte, ihn auf die Palme trieb, dem Leo nun liebevoll ins Gesicht sagen konnte, dass er ein Arschloch war.

Vielleicht würde Leo das nie wieder können, weil Adam derart traumatisiert war, dass sie niemals wieder zueinander finden würden. Oder die Sonderkommission hatte nun genug Beweise, um Adam, Vincent, aber auch Adams Vater und den Rest der Syndikatsköpfe zur Anklage zu bringen. Letzteres war die weitaus wahrscheinlichere Lösung und Leo sah mit eisig kalter Klarheit, dass nichts von seinem Wunsch, Adam hinter Gittern zu sehen, übrig geblieben war.

Bitterkeit breitete sich von Leos Magengegend aus und hielt sein Herz im festen Griff umklammert. Für das, was Adam getan hatte, würde er ebenso eine Haftstrafe antreten wie sein Vater. Vielleicht würde sie zur Bewährung ausgesetzt, aber daran glaubte Leo nicht wirklich und so sehr, wie er sich vor einem Jahr gewünscht hatte, dass Adam für all das, was er getan hatte, hinter Gittern wanderte, so wenig ertrug er die Vorstellung jetzt. 

„Es tut mir leid, Adam. Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest. Es tut mir leid, dass dir nicht schon Jahre vorher jemand geholfen hat“, murmelte er in die Ruhe des Raumes. Bis auf die Schritte des Pflegepersonals auf dem Krankenhausflur war nichts zu hören. Stille, so unheimlich, dass es Leo schwer fiel, zu glauben, dass es tatsächlich Adam. Adam, der selbst im Schlaf vor sich hinmurmelte, Leo triezte, der Alpträume hatte, lag nun wie tot. 

„Das, was du mir gesagt hast, Adam…das ist wunderschön. Es tut mir leid, dass ich so dumm reagiert habe. Ich hatte Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Ich hatte Angst, die Wucht deiner Worte nicht aushalten zu können und sie in mich hinein zu lassen. Aber ich will nicht ohne dich sein, Adam. Ich kann es mir ohne dich nicht vorstellen, wirklich nicht.“ 

Leos Stimme brach bei seinen Worten. Unsauber, wenig würdevoll. Er schluchzte trocken und klammerte sich regelrecht an Adams Finger. 

„Ich empfinde das Gleiche für dich, Adam. Wirklich. Nach allem, was war, empfinde ich das Gleiche. Wir…“ Leo stockte. Selbst jetzt noch konnte er es nicht sagen, weil er so nachhaltig durch seine Jugend und seine erste Liebe geschädigt worden war, dass alleine das Aussprechen eine Unmöglichkeit darstellte. Das Eingestehen der eigenen Gefühle, ganz zu schweigen vom Vokalisieren eben jener. 

„Adam, ich möchte nicht ohne dich sein. Ich möchte nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest. Ich möchte neben dir aufwachen und dich in meinen Armen halten.“

Die Welt verschwamm vor Leos Augen und zum ersten Mal seit drei Tagen lösten sich die Tränen, die hinter den Lidern lauerten, die seine Kehle eng machten. Er weinte mit bebenden Schultern, er schluchzte so gewaltig, dass ihm die Luft weg blieb.  

„Ich will das Gleiche, was du willst“, brachte er hervor. „Ich wünsche mir auch, dass wir uns anders kennengelernt hätten, normal wie andere Menschen. Damit wir uns l…“ Leo holte zittrig Luft, stählte sich für die unmöglichen Worte in seinem Inneren. „Damit…damit wir uns lieben können“, flüsterte er so schnell und flüchtig, dass es war, als hätte er es nie gesagt. So stockend, als würde jede Silbe wehtun. 

Aber es war heraus und Adam reagierte auf die Worte. Es kam Bewegung in den stillen Körper, kurz nur. Die Augenlider bewegten sich und Adams Finger zuckten in Leos Umklammerung.

Leo glaubte, dass sein Herz in seiner Brust zerspringen würde, so schnell schlug es. 

„Hörst du mich?“, fragte er hoffnungsvoll und für einen Augenblick schien es, als würden seine Worte und seine Stimme Erkennen bedingen. Adams trockene Lippen teilten sich zu einem minimalen Spalt, bewegten sich stumm. 

Leo beugte sich nach vorne, strich vorsichtig über den Oberarm und legte seine Hand vorsichtig auf Adams geschwollene Wange. 

„So ist es gut, sprich mit mir“, lockte er und ein leises Geräusch entkam dem bewusstlosen, schlafenden Mann. 

Was es war, erkannte Leo erst spät und als er sich gewahr wurde, wurde ihm eiskalt im Magen. 

Elias. Der Name, der noch nicht einmal ein Flüstern gewesen war, war Elias. 

Leo schloss seine Augen. Er lehnte sich zurück, ließ Adam aber nicht aus seinem Griff. Sacht streichelte er über die unverletzte Hand und beruhigte Adam damit Stück für Stück. 

Alles, was er Adam Gutes tun konnte, würde er auf sich nehmen, damit es diesem wieder besser ging. Und dann, wenn Adam ihn erkannte, würde er endlich ehrlich sein. 

Doch eines nach dem anderen.  


~~**~~
  

Elias war bei ihm, Adam spürte das. Er war bei ihm und beschützte ihn, war ihm nahe, berührte ihn. 

Alles war gut, denn Elias war bei ihm. 

Woher dann das Gefühl kam, gefangen zu sein, wusste Adam nicht und er scheute sich vor dem Wissen. Ebenso wie er vor der lauernden, geifernden Dunkelheit im Hintergrund zurückschreckte, die aus der Ferne lachte. 

Hier, hier war es gut. Hier war er sicher. Glaubte er, auch wenn er sich nicht bewegen konnte und gefangen war. In Watte, zumindest fühlte es sich so an. Also hatte Elias ihn doch ihn Watte gepackt. 

Eine schöne Vorstellung. 

Überhaupt war Elias Anwesenheit schön. Adam hoffte, dass sie nun glücklich sein würden. Irgendwie, wenn er aus diesem…was auch immer herauskam. Weg aus der Dunkelheit. 

Vielleicht, flüsterte es leise in ihm und Adam scheute vor dem Wort zurück.


~~**~~


„Du hättest nicht zurückkommen sollen.“

Vincent nickte abwesend. Er starrte auf die vereinzelten, bunten Blätter, die noch in den Bäumen hingen, Es waren nicht mehr viele, aber genug, damit sie etwas Sichtschutz hatten, falls jemand vorbeikommen würde. Was tief im saarländischen Wald um diese Uhrzeit ohnehin eher unwahrscheinlich war. Dennoch. Paranoia hatte Vincent fest im Griff, aber seitdem er erkannt hatte, dass sein Bauchgefühl ihn doch nicht betrogen hatte, vermutete er hinter jeder Ecke etwas, das seinen Adams gefährlich werden konnte.

Er war früh nach Saarbrücken zurückgekommen um sich in der Abgeschiedenheit des Morgens mit Zarah zu treffen und alles Weitere mit ihr zu besprechen. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Missbilligung seines Plans und Vincent konnte ihr da nur zustimmen. 

Dumm war er alle Male. Dennoch würde er Adam nicht alleine lassen. Nicht den in Frankfurt, nicht den in Saarbrücken. 

„Wie geht es ihm?“

„Meine Kontakte im Krankenhaus sagen, dass er übel zugerichtet ist. Der Alte hat ihn fast tot geprügelt, ihn in den Folterkeller gesperrt und ihn fast verhungern lassen. Wenn die BfE und das SEK zwei Tage später gekommen wären, wäre er tot gewesen.“

Vincent schluckte schwer. „Warum waren sie überhaupt da? Wegen der SoKo-Ermittlungen?“

„Wohl nicht. Bastian sagte, dass Hölzer vorher bei ihm Druck gemacht hat, weil er weder Adam noch dich erreicht hatte. Er wollte wissen, wo Adam ist und Bastian hat ihm gesagt, dass er Adams Auto auf dem Grundstück des Alten gesehen hat. Dann kamen sie und haben den Alten, seine Leibwächter und seinen Führungsstab in die Lerchesflur mitgenommen.“

Das war viel, was Vincent erst verarbeiten musste. Adams Vater würde sich bitter für die Verhaftung rächen und er konnte nur hoffen, dass Leo sich bewusst war, in welcher großen Gefahr er und seine Familie schwebten. 

War er, erinnerte sich Vincent keine Sekunde später, weil Leo bereits seit Monaten der Sonderkommission angehörte. Leo hatte schon längst Schutz, ebenso seine Familie. Weil er Adam und ihn an die SoKo verkauft hatte. 

Die Bitterkeit dessen brannte in Vincents Rachen. War ihnen Leo zum Schluss doch über gewesen und hatte mit einem Schlag so viel Schaden angerichtet, wie das gesamte LKA Saarland es in den vergangenen fünf Jahren nicht hinbekommen hatte. 

Vincent erinnerte sich noch gut an seine Bitte, dass Leo Adam nicht das Herz brach. Und genaugenommen hatte er das auch nicht getan. Er hatte es genommen, es herausgerissen, zerfleischt und die Überreste zum Sterben Säure eingelegt. 

Vincent wusste nicht, ob er Adam wieder aufbauen konnte – weder als persönlicher Begleiter noch als Häftling in einer anderen Haftanstalt, denn dass sie Adam und ihn zusammen in die Lerchesflur stecken würden, hielt Vincent für hochgradig unwahrscheinlich. 

Dies zu dem Wissen, dass sein Leben mit seinem Frankfurter Adam ebenfalls ein Ende hatte, war…zu viel. Es war zu viel für ihn in diesem Moment. 

„Ich kann nicht mehr, Zarah. Das wird nicht gut enden und ich habe keine Ahnung, wie ich es zum Guten wenden kann“, gestand er eine Hoffnungslosigkeit ein, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte.  „Roland Schürk wird nun alles daran setzen, seinen Sohn zu vernichten und Leo Hölzer. Er wird auf Rache aus sein und der Staat wird nichts dagegen tun, wie üblich. Und Adam? Wird für seine Vergehen im Gefängnis landen, ebenso wie ich. Er wird daran zugrunde gehen. Das schafft er nicht noch einmal…eingesperrt zu sein und seinem Vater auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Ich habe Angst.“

Zarah brummte, wie sie immer brummte, wenn sie sich nicht zu einer Emotion äußern wollte. Sie war Pragmatin und gnadenlos noch dazu. Vermutlich hatte sie noch nie in ihrem Leben Angst gehabt. 

Vincent holte tief Luft. Einmal, zweimal, dreimal. Hielt dann die Luft an und reglementierte bewusste seine Atmung für ein paar Züge hintereinander. 

„Ich brauche Geld“, sagte Zarah in seinen Versuch, zu sich zu finden, hinein und überrascht öffnete Vincent die Augen. Er wandte seinen Kopf zur Seite und sah ihr in das abwartende, aber ernste Gesicht. 

„Wofür?“

„Für eine Sache, bei der du mir vertrauen musst.“

Als wenn Vincent Zarah jemals nicht vertraut hatte. „In Ordnung“, stimmte er zu. „Wie viel brauchst du?“

Adams Frau fürs Grobe schnaubte ironisch. „Zwei Millionen auf ein Konto in der Schweiz.“
Vincent verzog das Gesicht zu einer überraschten Grimasse. „Wenn es sonst nichts ist? Willst du dich damit absetzen?“

Sie zuckte mit den Schultern, gänzlich unbeeindruckt von seinen Worten. „Ich habe dich gefragt, ob du mir vertraust. Ich habe nicht vor, es für mich zu verwenden.“

„Ja, Zarah. Aber…“

„Gut. Sieh zu, dass das Geld von einem der unbekannten Konten abgeht, der Rest dürfte bereits per Beschluss überwacht und ausgewertet werden. Mach es bis morgen und halte dich bedeckt. Sie werden dich nicht zu Adam lassen, nicht solange er nicht bei Bewusstsein ist und sie ihn befragt und Fotos von ihm gemacht haben. Bleib in deinem Unterschlupf, ich halte dich auf dem Laufenden. Rahel steht schon in den Startlöchern und wartet nur darauf, der Polizei Feuer zu machen.“

Zarah war der Fokus, den Vincent brauchte, um ruhig atmen zu können und wieder zu sich zu finden. Sie war seine Leitlinie, wo er gerade schwamm und das Ufer nicht sah. 

„Okay“, stimmte Vincent deswegen schlicht zu und Zarah nickte firm. Wortlos drehte sie sich um und ging, ihre Stiefel knirschend unter den spätherbstlichen Blättern.


~~**~~


Leo durfte nicht mehr zu Adam. 

Die Ärzte hatten heute gesagt, dass Adam langsam aber sicher das Bewusstsein wiedererlangen würde und in dem Moment war Leo klar gewesen, dass sie ihn nicht mehr zu ihm lassen würden. Pias ernstes Kopfschütteln hatte seine stumme Frage bestätigt und Leo wusste, dass er weder sie noch Weiersberger würde umstimmen können, auch wenn alles in ihm das Gegenteil forderte. 

Zweimal war er bei Adam gewesen und immer wieder hatte dieser nach Elias gefragt. Gemurmelte, hoffnungsvolle Worte. Leos Kehle war wie zugeschnürt gewesen, während er Adams Hand gehalten und ihm beigestanden hatte. 

„Sobald er aufwacht, werden die KDDler aus NRW die Spuren seiner Misshandlungen aufnehmen. Sollte er sich dagegen wehren, werden sie ihn vorübergehend festnehmen.“

Leo sah an Pia vorbei aus dem Fenster. „Ich könnte ihn davon überzeugen, dass es der richtige Weg ist“, sagte er leise und entschieden schüttelte sie den Kopf. 

„Wenn du ihn überzeugst, haben wir spätestens im Verfahren eine Rüge wegen unzulässiger Zeugenbeeinflussung. Das wird Schürk Senior nutzen, also nein. Du hältst dich von ihm fern, Leo. Das ist zu deinem, zu unserem, aber auch zu seinem Besten.“

Leo schüttelte ungläubig den Kopf. „Seinem? Er wird zu viel Angst haben um gegen seinen Vater auszusagen. Er wird nichts eingestehen.“

„Das muss er auch nicht mehr, Leo. Sein Vater wird angeklagt, mindestens wegen Freiheitsberaubung, Nötigung, schwerer Körperverletzung. Gerade jetzt werden die beschlagnahmten Akten und PCs ausgewertet und wir sind an dem Durchsuchungsbefehl für die restlichen Immobilien von Schürks Imperium dran.“

Leo blieb stumm. Sobald er mit Adam sprechen durfte, würde er ihm gestehen müssen, dass er für die SoKo gearbeitet hatte. Er würde reinen Tisch machen und ihm nichts mehr verheimlichen. Und er würde Adam sagen, wie wichtig es war, dass er mit ihnen kooperierte, um seinen Vater für immer hinter Gittern zu bringen. 


~~**~~


Elias war weg und Adam war sich sicher, dass er in der Hölle war. 

Einer sterilen, nach Desinfektionsmittel riechenden, modern-kalten Hölle, die ihm nichts bot außer einem Bett, aus dem er nicht aufstehen konnte und einem Körper, der bei jeder Bewegung schmerzte. 

Er war alleine und diese Einsamkeit kratzte an Adams Selbstbeherrschung wie Nägel auf einer Tafel. In ihm kreischten Unruhe und Angst um die Wette und Adam hatte das Gefühl, von Minute zu Minute weniger Luft zu bekommen. 

Wobei zu ersticken noch ein gnädiger Tod gewesen wäre. 

Es war hell in dem sterilen Raum, aber nicht so hell wie auf der Schlachtbank. Adam sah den Himmel und war sich lange Zeit sicher gewesen, dass es eine Halluzination war, ausgespuckt von seinem Hirn, das sich bereits im Prä-Todesdelir befand. Er sah, wie die Sonne aufging, sich am Himmel nach oben schob und hielt auch das für eine Fata Morgana. Jeden Moment würde die Dreckssau wiederkommen und besinnungslos auf ihn einschlagen. 

Wieder und wieder und wieder. 

Entsprechend verängstigt zuckte Adam zusammen, als er hörte, dass sich die Tür öffnete. Er starrte wie die Beute vor dem Jäger auf das, was jetzt kam. Nein, lag auf seinen Lippen, gefolgt von einem stummen Bitte nicht

Die Männer, die näher und näher kamen, kannte er nicht und entsprechend angespannt verharrte Adam. Er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Es war ein fruchtloses Unterfangen, nicht mit den Schmerzen, die er hatte und nicht mit der fehlenden Kraft in seinen Gliedmaßen. 

Die Männer blieben vor dem Bett stehen und zogen etwas aus ihren Taschen, das Adam nur verschwommen erkennen konnte. Er sah ja noch nicht einmal ihre Gesichter richtig.

„Guten Tag Herr Schürk, mein Name ist Wendt, mein Kollege heißt Döring. Wir sind von der Kriminalpolizei des Landes Nordrhein-Westfalen und damit beauftragt, Sie über Ihren Aufenthalt bei Ihrem Vater zu vernehmen und Bilder von Ihren Verletzungen zu machen.“

Adam verharrte still. Er durfte nicht mit der Polizei reden. Das hatte sein Vater verboten. Wenn er es doch tun würde, dann würde er ihn dafür bestrafen, noch schlimmer als sonst. Die Polizei war böse. 

„Wenn Sie nicht zustimmen, Herr Schürk, nehmen wir Sie vorläufig fest und werden dann mit einem richterlichen Beschluss Bilder von Ihren Verletzungen machen und diese entsprechend dokumentieren. Wir zählen jedoch auf Ihre Kooperation.“

Verwirrt versuchte Adam den Worten des Mannes zu folgen. Sein Vater war übermächtig, das durften sie nicht. Er durfte nicht, sie durften seine Verletzungen nicht sehen. 
Adam schüttelte den Kopf, aber anscheinend war das vollkommen egal. Die Männer hörten nicht auf ihn. Oder sie kannten seinen Vater nicht. 

Wo war Leo? Leo war nicht da. Leo war doch sein hauseigener Polizist. Aber irgendetwas war mit Leo, erinnerte sich Adam. Leo war nicht hier und das hatte seinen Grund. Er wusste nur nicht welchen, nur dass es richtig war, dass Leo nicht hier war. 

Adam zupfte an der Decke, zog sie ein Stück höher. 

„Herr Schürk, haben Sie mich verstanden?“, fragte der Andere, der nicht Leo war, und Adam nickte. Verstanden schon, aber viel konnte er nicht dazu sagen. 

„Erklären Sie sich dazu bereit?“

„Ich bin doch schon nackt“, murmelte er und die beiden Männer tauschten einen Blick aus, der Adam Unwohlsein verursachte. 

„Herr Schürk, verstehen Sie Ihre Situation? Verstehen Sie, wo Sie sind?“

Adam nickte, weil es besser war zu nicken. Er wollte keine Schmerzen mehr. Entsprechend still verharrte er, als die Männer sich anscheinend vorbereiteten und die letzte Distanz zu ihm überbrückten. Sie machten Fotos von seinen Armen und Adam fragte sich verwirrt, was daran so interessant sein mochte. Die Verletzungen gab es doch öfter zu sehen und sie hatten sie doch auch nicht fotografiert, als er noch klein gewesen war. 

„Paar Jahre zu spät“, murmelte Adam vor sich hin und wieder sicherte ihm das die Aufmerksamkeit der Männer. 

Nicht gut. 

„Ziehen Sie bitte die Bettdecke zurück.“

Adam wollte nicht. Die Bettdecke war ein Schutz. Nicht, dass da noch viel schützenswert war, aber so konnte er sich immerhin einbilden, dass er nicht wieder geschlagen wurde. Auch wenn sein Vater ihn früher immer aus dem Bett gezogen hatte, wenn er nachts doch mal nicht im Schrank hatte schlafen müssen.

„Herr Schürk, Ihnen passiert hier nichts. Sie sind im Krankenhaus und vor Ihrer Tür stehen zwei Kollegen, die dafür sorgen, dass niemand Unbefugtes dieses Zimmer betritt. Ihnen kann nichts passieren und das, was wir hier tun, dient dazu, denjenigen, der ihnen das angetan hat, dingfest zu machen.“

Ein tröstlicher Gedanke, auch wenn er Adam tief in seinem Unterbewusstsein Unwohlsein verursachte. 

Er versuchte, die Decke beiseite zu schieben, was sich mit nur einer funktionierenden Hand als problematisch herausstellte. Der Eine, der nicht der Andere war, half ihm dabei und so hatte Adam plötzlich einen Ausblick auf seine Beine, der ihn verwundert innehalten ließ. Auch die waren grün und blau, ein Novum. 

Während das leise Klick der Kamera jede Verletzung aufnahm, versuchte er sich daran zu erinnern, warum der Alte so zugeschlagen hatte. Es wollte ihm nicht recht gelingen, dafür wurde aber der Zweifel an dem, was die Männer hier taten, wieder stärker. 

„Er wird das nicht wollen“, sagte Adam entsprechend leise, damit es nicht gehört werden konnte. 

„Wer ist er?“

Adam sah auf den vor seinen Augen wabernden Boden. „Er halt.“

Unzufrieden brummte der Mann, hakte aber nicht weiter nach. „Ich würde Ihnen jetzt das Krankenhaushemd ausziehen.“

Oh, er war also doch nicht unbekleidet. 

„Wo ist Vincent Ross, Herr Schürk?“, fragte der Mann und Adam lächelte in sich hinein. 

„In Sicherheit“, verriet er, was nach einem zweiten Gedanken eigentlich nicht hätte gesagt werden sollen. Er schürzte die Lippen. „Weg. Nicht da“, versuchte er zu korrigieren, was er angerichtet hatte und verfiel in unglückliches Schweigen.

Der Mann sagte ebenfalls nichts dazu und Adam ließ geschehen, was er ohnehin nicht verhindern konnte. Er schauderte ob den Händen, die ihn berührten und ihm mit Sicherheit Schmerzen zufügen würden. Doch er wartete vergeblich. Nur das Klicken war die Konstante, nicht aber die sicheren Schläge. Trotzdem war er dumm genug, bei jeder Berührung zusammen zu zucken. 

Vielleicht konnte er deswegen seine Gedanken auch zu Elias schweifen lassen, der aber nicht wirklich Elias war. Leo, flüsterten seine Gedanken und Adam scheute davor zurück. Irgendetwas an Leo war immer noch nicht gut, die Erinnerung an ihn durchtränkt von schlechten Gefühlen. 

Was das war, wusste Adam nicht und als er aus seinen Überlegungen auftauchte, waren die beiden Männer weg und Adam überlegte sich, ob sie überhaupt jemals dagewesen waren.

So wie sein ganzes Leben. 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

Chapter 56: Fünfzehn Minuten

Notes:

Guten Abend zusammen,

pünktlich für den November geht es in die nächste Runde der Anatomie. Wie bereits angekündigt, war das Kapitel in der Rohfassung schon fertig und heute habe ich es noch ein bisschen gemeiner gemacht finalisiert. Wie versprochen, ist das nun der tieftraurige Höhepunkt und entsprechend vorsichtig sollte er auch gelesen werden.

Triggerwarnungen & Contentwarnungen gibt es auch: Gewalt, Tod eines Nebencharakters (plastisch beschrieben), homophobe Denkweise, emotionale Verzweiflung.

Ansonsten: Vielen lieben Dank euch allen für eure Kommentare auf allen Plattformen, eure Sprachnachrichten, eure Kudos und Likes, eure Klicks und generell die Liebe und Leidenschaft und eurem Erfindungsreichtum, die ihr meiner Geschichte entgegenbringt! ❤️🌻🫂

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Roland wusste, was die scheiß Bullen hier taten. Sie steckten ihn in Untersuchungshaft, versuchten ihn weichzukochen und ihm dann weiszumachen, dass sein nutzloser Sohn von einer Schwuchtel ihn verraten hätte. Samt seinem dreckigen Bullenbückstück, das seinem Nichtsnutz von einem Sohn den Kopf verdreht hatte.

Wusste er es doch. Hatte er es doch die ganze Zeit gewusst, dass der Dreckssack nicht von alleine so aufmüpfig gewesen war. Dass aber nicht der verweichlichte Rockträger dahintersteckte, sondern Hölzer persönlich, das war etwas, das er mitnichten verzeihen würde. Weder seiner Schwuchtel von Sohn, noch Ross noch der gesamten Familie Hölzer. 

Rahel wusste, dass sie sich zu kümmern hatte und das war der einzige Lichtblick an seinem Hiersein. 

Während er von seiner Zelle aus auf dem Weg in die verfluchten Waschräume der Haftanstalt war, wusste er, dass sich alles fügen würde.

Und was dachten die Bullen sich? Dass sie ihn hochnehmen konnten und er kein Sicherheitsnetz hatte? Für wie dumm hielten sie ihn? Für wie machtlos?  

Roland betrat die Waschräume und warf seine Sachen in die Ecke. Als wenn das sein erster Gefängnisaufenthalt war. Als wenn sie ihn dadurch weichkochen würden. 
Er stieg unter die Dusche und ein weiterer Mann betrat den Raum. Roland schnaubte, als er einen von Boris‘ Drogendealern erkannte, genau den, der für seine rechte Hand in den Knast gehen würde.

Der Name spielte keine Rolle, wichtig war, dass Boris wieder bei ihm war. 

„Guten Tag Herr Schürk“, sagte dieser prollhaft höflich und Roland wandte sich ab, machte den Wasserhahn an. Er ließ das lauwarme Wasser über sich laufen und betrachtete seine Fäuste, die vom Schlagen geschwollen waren. Er wurde auch nicht jünger und künftig musste er vermutlich komplett auf den Gürtel ausweichen, auch wenn ihm davon die Schulter Probleme verursachte. 

Roland schloss die Augen und verlor dadurch eine wertvolle Sekunde, als sein Instinkt sich abrupt und brutal meldete. Er riss die Augen auf und spürte die Nähe des Mannes mehr, als dass er sie im ersten Moment sah und da war es schon zu spät. 

Er sah nur den Schatten einer Bewegung, bevor sein kampferprobter Körper sich in die Bewegung drehte um den ersten Angriff abzuwehren. Dadurch konnte er zwar den ersten Stoß mit dem Messer abwehren, der Zweite jedoch drang tief in seinen Körper. 

Überrascht starrte Roland auf die selbstgemachte Klinge und taumelte blind zurück. Was sollte das? Was…? Er sah dem Drogendealer ins Gesicht und erkannte keine Wut, nur blinde Entschlossenheit. 

Gefährlich. 

Roland taumelte nach hinten und der Mann setzte ihm nach, bekam ihn zu fassen. Als er schreien wollte, hielt er ihm den Mund zu und drängte ihn zurück an die eiskalten Fliesen unter dem Nachbarduschkopf. Roland trieb ihm die Faust in die Nierengegend und das befreite ihn von seinem Angreifer. 

Er wollte ihm nachsetzen, doch das wurde ihm durch seinen eigenen Körper verwehrt. Ihm brachen die Beine weg, während er seine Hand auf die Wunde presste und erkaufte damit seinem Angreifer wertvolle Zeit, der sich schneller aufrappelte, als es Roland lieb war. 

Als er erneut schreien wollte, stürzte sich der Mann auf ihn und traf zwei weitere Male mit der Klinge. So sehr Roland sie auch abwehrte, so tief traf sie ihn in Hals und in die Lunge. Er keuchte, versuchte seine Hand auf die Stelle zu pressen und wusste doch tief in seinem Inneren, dass es vergebens war. Mit jedem Stich reifte das Wissen mehr in ihm. Er schmeckte Blut, viel davon. Er hustete und spuckte, er würgte, doch es war zu viel und seine Unaufmerksamkeit führte dazu, dass der Angreifer weiter zustach. 

Roland Schürk röchelte und kämpfte um sein Leben, wie er noch nie zuvor darum gekämpft hatte. Doch das Messer, das wieder und wieder auf ihn einstach, machte diesen Kampf zu einem aussichtslosen. 

Das Blut in seiner Lunge machte es. Das unregelmäßig pumpende Herz. 

Roland Schürk kämpfte und verlor, seine letzten Gedanken dem Verrat seines widerlichen Sohnes geltend, der ihn erst hier rein gebracht hatte.


~~**~~


Adam hatte etwas Dummes getan. 

Etwas sehr Dummes und etwas, das ihn und, in letzter Konsequenz, die Männer umbringen würde. Er hatte die Polizisten Fotos von sich machen lassen, von seinem Körper und seinen Misshandlungen. Und auch wenn er nicht daran glaubte, dass es zu irgendeinem Erfolg führen würde, hatte er sich doch unnötig in Gefahr gebracht. 

Sie würden mit diesen Fotos Anklage erheben wegen Körperverletzung. Vielleicht sogar schwerer Körperverletzung oder versuchtem Totschlag. Sie würden von Amts wegen ein Verfahren eröffnen, das er nicht mehr stoppen konnte, es sei denn, er verweigerte die Aussage und auch dann waren die Beweise gegen die Dreckssau. 

Was dieser mit Adam machen würde, wenn er aus dem Knast wieder da war, stand auf einem anderen Blatt und Adam wusste, dass er nicht schon wieder überleben würde. Doch war das auch erstrebenswert?

Er lag auf der Intensivstation auf dem Winterberg, sein ganzer Körper so schwach, dass es Adam anekelte. Seine Wunden, diese blauviolett unterlegten Aufbrüche seiner Haut ekelten ihn an, weil die Dreckssau es schon wieder nicht geschafft hatte, ihn umzubringen und sein Körper ihm ohne Unterlass Schmerzimpulse sendete und ihn damit noch mehr einkerkerte, als es der Sarg getan hatte. Er konnte nicht schlafen, weil er Angst hatte. Er konnte nicht atmen, weil er Angst hatte. Er erinnerte sich und die Erinnerungen liefen in Dauerschleife. Sobald er die Augen schloss, war da Dunkelheit und Enge. Sobald er Schritte hörte, dachte er, dass die Dreckssau zurück in den Keller kommen würde. Wenn er keine Schritte hörte. War es zu still und er fühlte sich wieder begraben. 

Da war nichts Gutes mehr in seinem Leben. Nichts Schönes. Er wollte nicht mehr.

Leo gehörte einer SoKo an, die es sich zum Ziel gemacht hatte, das Syndikat zu zerstören. Er gehörte einer Ermittlungsgruppe an, die Adam und die Dreckssau dingfest machen wollten und Adam konnte mit Fug und Recht behaupten, von der SoKo so gründlich und ordentlich gefickt worden zu sein, wie vermutlich niemand je zuvor.

Leo hatte nie etwas für ihn empfunden und sich für gute Ermittlungsergebnisse prostituiert. 

Warum auch nicht, denn seine dumme Annahme, dass er es wert war geliebt zu werden, war von Anfang an nur eins gewesen: eine nette Idee, aber nichts für Adam. Niemand liebte Adam, schon gar nicht Leo. 

Die Illusion, der er sich hingegeben hatte, war dumm gewesen. 

Wieso sollte jemand wie Leo ihn auch lieben? Er war ein Arschloch und Arschlöcher liebte man nicht. Adam hatte Leo unterdrückt, ihn fertig gemacht. Dass Leo ihn überhaupt an sich rangelassen hatte, war nur der Tatsache geschuldet, dass er einen Auftrag gehabt hatte. Den Auftrag, das Syndikat zu vernichten. Adam so weit zu bringen, dass er gegen seinen Vater aussagte. 

Der Einsatz: Leos Körper.

Adam wollte wirklich nicht mehr. Wenn das Leben ihn nicht glücklich sein ließ, dann hatte es doch keinen Sinn. Er war von Geburt an schon zum Sterben verurteilt gewesen und selbst das hatte er nicht hinbekommen, weil die Polizei ihn zu früh aus dem Sarg geholt hatte. Und wofür? 

Die Tür ging auf und Adam versteifte sich. Die Dreckssau ist zurückgekommen, war sein erster Gedanke und sein dummer, nutzloser Körper zitterte. Andere Möglichkeiten ließen seine immer noch trägen Gedanken nicht zu und die Schritte, die sich ihm nun näherten, waren wie Donnerschläge in seinen Ohren. Adam wurde schummrig vor Augen, so groß war seine Angst. 

„Guten Tag Herr Schürk.“

Das war nicht die Dreckssau. Die Stimme kam von einer Frau und Adam kannte sie sogar. Langsam drehte er den Kopf, hoffte, nicht seinem Verderben ins Auge zu sehen. Wusste, dass er es nicht tun würde und dass er eine Rolle zu spielen haben würde.

Pia Heinrich. Kriminalhauptkommissarin des LKA Saarland, SoKo-Mitglied. Besorgt um ihren Teamleiter gewesen und jetzt wusste Adam auch warum. An ihrer Seite ihre Kollegin, Esther Baumann. Ebenfalls SoKo. 

Adam schwieg. Die letzten Male, die er auf Heinrich getroffen war, hatte er Oberwasser gehabt und das Leben war einfach gewesen. Dem Syndikat konnte man nichts und Leo war noch sein nicht mehr erpresster, aber von ihm angetaner Bulle gewesen. Nicht ein Falschspieler, der sich für ein paar Informationen und Adams Vertrauen prostituiert hatte. 

Er hatte Heinrich provozieren können. Das stand jetzt außer Frage. 

Jetzt war er schutzlos, ohne Netz und doppelten Boden. Vincent war nicht da um ihn vor Dummheiten zu bewahren, Rahel hatte er auch noch nicht gesehen. Vermutlich war sie beschäftigt, seinen Vater aus dem Knast zu holen, damit dieser ihn noch im Krankenhaus erschießen konnte. 

Adam war alleine, nicht nur emotional, sondern auch körperlich und das ließ ihn offen und roh zurück. Er war wehrlos und schutzlos, auf Gedeih und Verderb Menschen ausgeliefert, die ihm nichts Gutes wollten. Wie auch? Er hatte sich die letzten Jahre auch redlich Mühe gegeben, ihnen ebenso wenig etwas Gutes zu wollen. Ihre Leben zu retten musste reichen. 

Adam fand noch nicht einmal zu seiner Arroganz, nicht angesichts des drückenden Wissens. 

Unruhig strich er mit seiner unverletzten Hand über das makellos weiße Laken, das er selbst mit seinen Verletzungen nicht beschmutzt bekam. Sein linker Fuß schaute aus der Bettdecke und umständlich zog er ihn zurück, wollte möglichst viel zwischen sich und den beiden Ermittlerinnen wissen. 

„Wie geht es Ihnen?“

So als wäre der kümmerliche Rest seiner Welt und seines Seins zerbrochen und er mit ihr. Aber sonst okay. Adam schwieg, denn das Überbleibsel seines Überlebensinstinktes wusste, dass sonst nur Müll rauskommen würde. Noch mehr Müll, der die Dreckssau auf den Plan rief. 

„Wir sind hier um Sie zu den Vorfällen der letzten Tage zu befragen. Die Kollegen, die Ihre Verletzungen aufgenommen haben, haben Sie ja schon kennengelernt.“ 

Die kleine Braunhaarige, Baumann, klang so schadenfroh wie die Dreckssau und Adam war versucht, ihr ins Gesicht zu drücken, dass er wusste, dass sie alle zur Sonderkommission gehörten. Doch damit würde er ihnen einen unschätzbaren Vorteil geben. 

Die Frage war aber, wobei. Er würde das hier sowieso nicht überleben…sobald der Alte wieder draußen war, würde er zuende bringen, was er angefangen hatte. Und wollte Adam überhaupt gerettet werden? 

Er erkannte, dass egal was sie sagten oder er antworten würde, nichts Gutes dabei rumkommen würde, und drehte den Kopf weg von den beiden Frauen. Was auch immer sie ihm zu sagen hatten, er würde es nicht kommentieren. 

Nur dass Baumann ihn nicht ließ. Sie kam um das Bett herum und stellte sich direkt in sein Blickfeld, verdunkelte das spärliche Herbstlicht.

Adam behielt seine Augenhöhe auf ihrem Gürtel. Weil Gürtel schlimm für ihn waren und ein Grund, einen Menschen zu fürchten. Und weil er nicht die Kraft hatte, ihr ins Gesicht zu sehen. 

„Muss schlimm sein, vom eigenen Vater so verprügelt zu werden. Eingesperrt in ein Loch im Boden. Wissen Sie, wie lange Sie da drin waren? Drei Tage. Drei ganze Tage. Und das ist nicht das erste Mal, nicht wahr? Als sie klein waren fing es an, da hat er zugeschlagen. Sie systematisch unterdrückt und verängstigt. So traumatisiert, dass Sie ihn kein einziges Mal angezeigt haben und heute die Drecksarbeit für ihn erledigen, obwohl er nur eins für Sie hat: Schläge und Hass, Verachtung, Erniedrigung und Folter. Und den Mord an Ihrem damaligen Freund, Elias Schiller.“

Adam hatte keine Barrieren mehr, die es ihm ermöglichten, die Worte auszugleichen, wegzulächeln, mit einem arroganten Spruch zu kontern. Er hatte nichts mehr zwischen sich und der Welt und deswegen trafen sie ihn umso mehr. 

„Aber jetzt ist Ihre Chance. Ihr Vater ist im Gefängnis, er sitzt in Untersuchungshaft. Wenn wir mit versuchtem Totschlag ins Rennen gehen und wir mit Ihrer Hilfe den Mord an Ihrem Freund beweisen können, dann wird er lange Zeit nicht mehr rauskommen und Sie haben Ruhe vor ihm. Nur brauchen wir dafür Ihre Hilfe und Ihre Mitarbeit, Herr Schürk.“

Oh, was für ein versöhnliches Ende, trotz des beschissenen Anfangs, spottete Adam innerlich. Sie brauchten seine Hilfe, natürlich. Nachdem sie ihm ihren männlichen Polizisten auf den Hals gehetzt hatten, damit der als Lockmittel diente. 

„Wenn Sie als Kronzeuge auftreten, werden Sie ihn nie wieder sehen. Sie werden in Sicherheit vor ihm sein.“ 

Klar, weil er tot wäre. 

Heinrich klang anders als bei seiner Befragung zu Elias‘ Mord. Sanfter, verständnisvoller. Das machte es nur unerträglicher. Adam richtete seinen Blick an die Decke, ignorierte nun beide. Er hatte nichts, zu dem er hinkonnte. Nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Vincent war in Sicherheit, das war wichtig. Vincent war auch ohne seine Kronzeugenaussage in Sicherheit. 

„Wollen Sie keine Rache, Herr Schürk? Er hat Ihren Freund getötet. Wollen Sie nicht, dass Ihr Vater ins Gefängnis geht? Für immer?“

Er wollte, dass das hier aufhörte. Er wollte, dass sie ihn nicht wieder und wieder mit der Nase darauf stießen, dass Leo alles, was er ihm gesagt hatte, an die Ermittlerinnen weitergegeben hatte. 

Adam schloss die Augen und die unerträgliche Dunkelheit war um Längen besser, als es die Befragung der beiden Ermittlerinnen war. Oder die Worte, die auf seinem zerfetzten Inneren herumtrampelten.

„Herr Schürk, wir können Ihnen helf-“

Die Tür ging ein weiteres Mal auf und Adam fokussierte sich ruckartig auf das Geräusch. Der bullige Mann, der mit grimmigem Blick neben Baumann stehen blieb und ihr etwas ins Ohr flüsterte, war Adam nicht geheuer. Ebenso wie die Art, wie er gemustert wurde. 

Es ging um ihn. Das war nicht gut. Heinrichs Mimik war nicht gut. Sie fror ein, hielt inne, überlegte. Die übrigen Emotionen hielt sie gut versteckt, dann sah sie zu ihrer Kollegin. Was auch immer sie stumm kommunizierten, es war so einschneidend, dass es nicht nur Adam Angst machte. 

Als Heinrich sich schließlich wieder auf ihn fokussierte, war sie Polizistin durch und durch. 

„Herr Schürk, wir haben gerade eine Nachricht aus der JVA bekommen. Ihr Vater ist tot. Er wurde ermordet.“

Ein Satz, so unmöglich wie eine zufrierende Hölle. 

War das jetzt ihre Taktik? Ihn glauben zu machen, dass sein Vater gestorben war, damit er gegen ihn aussagte? Das war lächerlich. Dachten sie wirklich, er würde darauf reinfallen?

Adam starrte zurück an die Decke. Natürlich kamen sie, wenn er am Schwächsten war. Er hatte ja auch nichts Anderes verdient. Leos Gerede über Moral und dass er sein Verhalten ändern musste, war absurd angesichts dessen, was hier gerade geschah. 

„Herr Schürk, haben Sie verstanden, was ich Ihnen gerade gesagt habe?“, fragte Heinrich weiterhin sanft und hinter ihr ging die Tür ein weiteres Mal auf. 

Adam erkannte seine Mutter beinahe sofort an ihrer zögerlichen Art, wie sie einen Raum betrat und ihre Handtasche wie eine Rettungsleine umfasst hielt. Sie sah aus, als hätte sie geweint und als sie ihn sah, traten neue Tränen in ihre Augen. Scheu musterte sie die beiden Frauen im Raum, bevor sie vorsichtig ihre Hand nach ihm ausstreckte. 

Adam zuckte davor zurück, als wäre sie eine Schlange. Der Raum war nicht groß genug für all die Personen, die ihm zu nahe waren und ihm Angst machten. 

„Adam, mein Schatz“, murmelte sie. „Adam, der Papa ist tot. Die Polizei war gerade bei mir. Er wurde erstochen, haben sie gesagt. Der Täter ist Tobias Möller.“

Das war der Dealer, den Adam dazu bestochen hatte, sich als Mörder für Mirko Linz auszugeben. Wieso sollte er…? Was hatte er…? Die Frage, ob auch seine Mutter gekauft oder bedroht worden war, durch die Polizei, rückte in den Hintergrund. Seine Mama wie auch er wussten, wer Tobias Möller war, die Polizei mit Sicherheit auch, wenn Leo ihnen alles gesagt hatte. Aber das hieß doch, dass es wahrer war, als Adam geglaubt hatte, oder?

Die Dreckssau war tot. Tatsächlich. Der Alte, erstochen. 

Adam öffnete seine Lippen und damit zersprang anscheinend auch sein Schweigen, zerbarst wie ein Spiegel in Millionen kleiner Teile. 

Er lachte, zunächst stumm, dann heiser, dann so schrill, dass es ihm in den Ohren wehtat. Er lachte, dass er alle Blicke auf ihn zog und so gewaltig, dass sein Kopf zum Zerspringen schmerzte. Er lachte und schlussendlich ging das Lachen in ein Schreien über, das ihn sich auf dem Bett krampfen ließ. 

Adam schrie und hörte nicht mehr auf damit, weil sein Leben eine einzige Farce war. Eine einzige, schlimme, lächerliche Farce. 

Er schrie solange, bis Menschen in weißen Kitteln kamen und ihm etwas spritzten, von dem Adam keine Ahnung hatte, was es war. Es beendete aber das Schreien und legte Taubheit und Ruhe wie eine schwere, erzwungene Decke auf ihn. 


~~**~~


Auch wenn ihn jedes Stockwerk, das ihn näher zu Adam brachte, nervöser machte, wusste Vincent doch, dass es das Richtige war. Er würde Adam niemals alleine lassen. Niemals. Er würde immer für ihn da sein, insbesondere jetzt, wo die Karten neu gemischt worden waren. 

Vor zwei Stunden hatte Heide Schürk bei Rahel angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie die Arbeit am Fall ihres Mannes einstellen konnte um sich ganz auf ihren Sohn zu konzentrieren. Vincent hatte die grimmige Genugtuung auf Rahels Gesicht gesehen, die der schlichten Frage gefolgt war, warum das so war. 

Die Antwort darauf erschütterte Vincent immer noch. Roland Schürk war tot, erstochen von Tobias Müller, einem Mann, den Adam überzeugt hatte, für den Mord an Mirko Linz ins Gefängnis zu gehen. Tobias Müller hatte nicht den geringsten Grund, Roland Schürk mit 28 Messerstichen zu töten. 

Nicht den Geringsten und doch befürchtete Vincent, dass er zwei Millionen Gründe gehabt hatte. 


Sie hielten im Stockwerk der Intensiv an und Vincent folgte Rahel schweigend. Er würde die Frage nicht stellen, durfte und konnte es auch gar nicht. Er war sich auch sicher, dass er darauf keine Antwort erhalten würde. 

Rahels Frage, ob sie sich nun immer noch um die Familie Hölzer kümmern sollte, hatte Vincent jedoch entschieden abgelehnt. 

„Du wirst den Polizisten keine Fragen beantworten, das Reden übernehme ich“, sagte Rahel und Vincent nickte schweigend. „Sie werden jetzt verstärkt in Adams und deine Richtung ermitteln und das werden wir versuchen zu verhindern.“

Auf Rahels Gesicht sah Vincent die Entschlossenheit, es dem Senior in die Schuhe zu schieben. Alles, was noch da war und was Zarah nicht bereits vernichtet hatte. Unterlagen zu Verknüpfungen, Geldströme, Konten, die über Umwege auf Adam und ihn zurück zu führen waren und die nicht der Alte in seinen kontrollhaften Fingern gehabt hatte. 

„Sie haben bisher nur die Erpressung des Ermittlers, nichts Anderes und da bekommen wir Adam und dich heraus.“

Da war sie sich sicherer als Vincent es war. 

Er schwieg, bis sie das Zimmer seines besten Freundes betraten und er Adam auf dem Bett liegen sah. Für den Bruchteil einer Sekunde überlagerten sich Vincents Erinnerungen an Adam in Frankfurt mit dem jetzigen Anblick und er musste innehalten. Dann konzentrierte er sich ganz auf Adam. Verletzt, misshandelt, gefoltert von seinem eigenen Vater. Sein linkes Auge zugeschwollen, das übrige Gesicht grün und blau. Seine linke Hand in einer Schiene. Er war mit Manschetten an das Bett gefesselt und lag so still und ruhig da, als würde er schlafen. 

Vincent schluckte. Schluckte noch einmal gegen seine enger werdende Kehle an, als er begriff, dass Adam es nie zum Flugzeug geschafft hatte. Noch nicht einmal in die Nähe des Flughafens. Er begriff, dass Roland Schürk seinen Sohn die letzten Tage, in denen Vincent geflohen war und sich gegen eine Flucht entschieden hatte, gefoltert hatte mit dem Ziel, ihn umzubringen. 

Vincent nickte Frau Schürk zu, die eingesunken und zierlich am Bettrand saß und Adams gesunde Hand hielt. Zwei schnelle Schritte brauchte er, dann war er bei Adam, dessen Pupillen seltsam weit waren. 

„Sie haben ihm Beruhigungsmittel gespritzt. Als er vom Tod seines Vaters erfahren hat, hat er geschrien und nicht mehr aufgehört. Er hat versucht, sich zu verletzen, deswegen mussten sie ihn ruhig stellen.“

Sie log nicht, das wusste Vincent. Und dennoch verlor er keine Zeit, um Adams Fixierungen zu lösen. Beruhigungsmittel hin oder her. Den Versuch, sich zu verletzen, ebenfalls. Er würde hier bleiben und mit Adam sprechen, ihn beruhigen, wie er es immer tat, wenn dieser aus seinen fürchterlichen Alpträumen aufwachte und schrie, gar nicht mehr aufhörte damit. 

„Er wird Angst haben, wenn er sie sieht und weiß, dass er sich nicht bewegen kann. Das wird ihn nur noch mehr retraumatisieren“, erklärte Vincent und ahnte, dass er noch nicht einmal wusste, wie viel Roland Schürk seinem Sohn dieses Mal angetan hatte. Doch er würde hier sein und Adam beschützen, egal, was das für ihn bedeutete. 

„Kannst du es arrangieren, dass ich hierbleiben kann?“, fragte er an Rahel gewandt, die ihn kritisch musterte. 

„Ich kann es versuchen, nach all dem Mist, den die Polizei verzapft hat. Ich lasse mir gerade die medizinische Akte kommen, aber ich denke, dass sie die Spurenaufnahme und die ersten Befragungen bei ihm durchgeführt haben, als er noch verwirrt war. Das werde ich gegen sie und das Krankenhaus nutzen. Ich spreche mit dem Klinikdirektor.“

„Danke.“

„Nichts zu danken.“

Vincent setzte sich zu Adam auf das Bett und strich ihm vorsichtig über eine kleine, unverletzte Stelle Haut. Dort, wo Roland Schürk nicht mit dem Gürtel zugeschlagen hatte. Vincent erkannte, dass er sich getäuscht hatte und dass Adam wach war. Er war nur nicht in der Lage, sich auf die Welt und auf Vincent zu fokussieren. 

Vincent lächelte und strich Adam sanft über das zerschlagene Gesicht. „Hallo Adam. Ich bin jetzt hier, bei dir. Ich passe auf dich auf, okay? Du bist nicht mehr alleine, ich bin da. Und deine Mutter ist da. Rahel kümmert sich um die rechtlichen Dinge. Wir sind bei dir und alles wird gut.“

Es war eine offensichtliche Lüge. Ob hier auch nur etwas gut wurde, stand in den Sternen und wenn man Vincent fragte, dann standen die Chancen wirklich schlecht. 

Doch in diesem Moment, wie in so vielen anderen zuvor auch schon, war es wichtig, dass Adam nicht den Lebensmut verlor. Und so lächelte Vincent stolz, als Adams Finger zu seinen krochen und sich so schwach auf seine legten, dass es Vincent unsauber das Herz brach. 

„Ich bin da“, murmelte er erneut, wie eine Versicherung. Auch an sich selbst. Er war bei seinem besten Freund, bei dem Menschen, der nichts von dem, was ihm seit seiner Kindheit angetan worden war, verdient hatte. Ganz im Gegenteil. Adam verdiente ein Leben abseits von Gewalt und Unterdrückung, von emotionaler und körperlicher Pein.

Vincent würde alles dafür tun, dass es Adam möglich war.


~~**~~


„Tom Raczek…?“, echote Adam mit Mühe und der Oberarzt nickte ungeduldig. Ungefähr genauso kurzluntig, wie Adam es war. 

Er hatte Schmerzen. Sein ganzer, scheiß Körper schmerzte. Weil scheiß Idioten meinten, einen alten Mann verprügeln zu können. 

Alt. Dass er nicht lachte. 

Sie sind nicht mehr der Jüngste, äffte Adam den Oberarzt im gleichen Alter stumm nach, während er ihm nonverbal zu verstehen gab, dass er keinen Tom Raczek kannte und dass der Oberarzt vielleicht mal sein übermüdetes Gehirn überprüfen sollte.

„Ihr Ehemann.“

„Mein was?!“

Er hatte viel, aber keinen Ehemann. Das hatte er längst hinter sich gelassen mit dem weiblichen Pendant dazu und da war er wirklich von abgekommen. 

Fragend wandte er sich an Karol und hob seine Augenbrauen. Selbst das tat weh und Adam ließ seinen Kopf aufstöhnend in die Kissen fallen. Auch das war keine seiner klügeren Entscheidungen und Adam schloss die Augen. 

„Ein junger Mann war hier und hat behauptet, Ihr Ehemann zu sein. Braune Locken, sagt Ihnen das was?“

Ja natürlich sagte Adam das was! Das war doch Vincent. Dass Vincent sich als sein Mann ausgab, um bei ihm zu sein, verstand Adam ja noch. Aber warum sollte er dann einen falschen Namen nennen? 

Verwirrt sah er zu Karol, der genauso ratlos zum Oberarzt sah. 


~~**~~


Nervös strich Leo über seine Chino  und rutschte auf dem unbequemen Besprechungsstuhl des abhörsicheren Besprechungsraumes unauffällig hin und her. Sein Handy lag wie die anderen draußen und so hatte Leo nichts, an dem er sich festhalten konnte. 

Weiersberger, Pia, Leuking, der Präsident des LKA Saarland sowie Norius, die Präsidentin des BKA, saßen vor ihm und er wusste, dass sie ihm nun seine Suspendierung und vermutlich auch seine Inhaftierung eröffnen würden. Weil er versucht hatte, jemanden umzubringen und Totschlag nicht verjährte. Weil durch Roland Schürks gewaltsamen Tod alles anders war. Besser, flüsterte es in Leo.  

Leo konnte immer noch nicht fassen, dass derjenige, der Adam sein Leben und ihn fünf Stunden lang gefoltert hatte, der für mehrere Morde verantwortlich war, tot war. Er realisierte mitnichten, was das für den Fall bedeutete und auch für Adam. 

Dennoch war es unbändige Erleichterung, dass Roland Schürk nun nicht freikommen konnte, sondern bald unter der Erde liegen würde. So würde er auch seinen Sohn im Gefängnis nicht terrorisieren können. Wenn Adam denn ins Gefängnis kam für das, was er getan hatte. 

Wenigstens das, wenn doch alles andere in den Sternen stand und ihm entglitten war. 

„Herr Hölzer“, begann Norius und Leo zuckte erschrocken zusammen. Die Anmahnung bedeutete doch nichts Gutes, oder? „Sie haben die letzten Monate über weit über ihre eigene Zuständigkeit heraus gehandelt und durch ihre Bereitschaft, sich dem Sohn von Roland Schürk zu nähern, uns einen erheblichen Fortschritt eingebracht. Nicht zuletzt durch ihre Beharrlichkeit in Bezug auf Herrn Adam Schürk konnten wir einen nicht zu geringen Ermittlungserfolg einfahren, der die Arbeit der Sonderkommission massiv voran getrieben hat.“

Überrascht sah Leo hoch. Wie bitte? Sie lobte ihn? Für das, was er getan hatte? Aber er hatte doch wenig beigetragen, außer, dass er sein Herz ausgerechnet an denjenigen verlor, von dem er die Informationen besorgen sollte. 

Leo wagte einen Blick zu Pia, doch diese musterte ihn undurchdringlich. War das die Frau hinter der Maske, nun, da es vorbei war?

„Mit ihrem Engagement geht jedoch auch ein Problem einher, über das wir heute mit Ihnen sprechen werden. Herr Leuking, bitte.“

Nervös schenkte Leo seinem eigenen Dienststellenleiter Aufmerksamkeit. Er war sich sicher, dass jetzt der Todesstoß kam. Aber wenigstens würde er dann im Gefängnis überleben und kein weiteres Opfer von Roland Schürk werden. 

„Herr Hölzer, von Rechts wegen müssen wir mehrere Ermittlungsverfahren gegen Sie einleiten. Zunächst ist zu prüfen, ob es sich bei dem Spatenschlag um Nothilfe handelte. Dann ist ebenfalls zu prüfen, in welchem Schuldmaß Ihnen die Strafvereitelung in Bezug auf Mirko Linz zur Last gelegt werden kann. Ich kann Ihnen jedoch versichern, Herr Hölzer, dass wir alle Taten, die dazu geführt haben und alle Taten, die sie im Dienst der Sonderkommission vollbracht haben, ein schweres Gewicht haben werden, an dem sich eine mögliche Strafbarkeit erst einmal messen muss. Die Entscheidung der zuständigen Kammer mal als milde vorausgesetzt.“  

Leo schluckte. Das war mehr, als er erwartet hatte. Viel mehr. Es war ein größeres Entgegenkommen, als er jemals gedacht hatte. 

„Werden Sie mich verhaften?“

Norius und Leuking schüttelten unisono den Kopf. „Nein, aber wir werden Sie beurlauben. Sie werden, so lange das Verfahren nicht abgeschlossen ist, Ihre Waffe hier in der Dienststelle hinterlegen und Ihren Dienstausweis vorübergehend abgeben. Ihnen ist der Zutritt zur Dienststelle nur in Begleitung erlaubt, jedoch von uns im Rahmen der nun anstehenden Ermittlungen und Auswertungen explizit erwünscht. Allerdings werden wir Ihren Namen offiziell aus allen Vermerken heraushalten und Sie werden kein Dokument selber schreiben. Wir dürfen uns keine weiteren Fehler erlauben.“

Blinzelnd versuchte Leo den Worten zu folgen. Noch nicht einmal suspendiert? Das musste doch etwas heißen. Weiterhin Teil der Ermittlungen zu sein auch, wenngleich er sich fragte, was die Fehler waren, die bereits begangen wurden.

Er räusperte sich. „Darf ich…darf ich trotzdem um etwas bitten?“, fragte er kleinlaut und sein Puls hetzte so laut in seinen Ohren, dass er beinahe Leukings gebrummtes „Ja.“ überhörte.  

„Ich möchte gerne noch einmal mit Adam Schürk sprechen. Ich habe über die letzten Monate versucht, ihn als Kronzeugen zu gewinnen und ich war fast so weit. Ich möchte nicht über den Fall sprechen und werde auch nicht als Polizist hingehen, aber ich will…“ Leo verstummte, als er das Wissen in Pias Augen sah…und ihre Akzeptanz. 

„Halten Sie das für klug, Herr Hölzer? Herr Schürk wird nicht mit Ihnen sprechen wollen, zumindest wird seine Anwältin ihm davon abraten, das zu tun.“

Leo nickte und sah Norius hoffnungsvoll in die Augen. „Ich muss eine Sache richtigstellen, die nichts mit dem Fall zu tun hat. Bitte.“

Norius seufzte und sie versicherte sich bei Weiersberger und Pia, bevor sie nickte. „Fünfzehn Minuten, Herr Hölzer, als Entgegenkommen für das, was Sie erlitten und für den Staat geleistet haben.“  

Fünfzehn Minuten waren mehr, als Leo sich jemals erhofft hatte. Sie waren immer noch zu kurz, um Adam zu sehen, ihn zu fragen, wie es ihm ging und ihm zu sagen, dass er seine Gefühle sehr wohl erwiderte, aber sie würden reichen. Bei allem, was sich darauf anschließen würde, mussten sie reichen. 

Was danach kommen würde…

Leo scheute vor dem Gedanken an alles, was kam. An die Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, an Adams Verurteilung und Haftstrafe. An die Zeit der Erkenntnis und des nicht mehr Versteckens. 

Gleichzeitig fühlte Leo sich so erschöpft wie nach einem Marathon, aber auch unbändig erleichtert, dass der Schwebezustand seines ganzen Lebens nun ein Ende hatte und er Fakten schaffen konnte, wo die Zukunft vorher ungewiss gewesen war. 


~~**~~


Vincent war hier. 

Sein Vincent. Der eigentlich in Kuba sein sollte. Er war hier, bei Adam und in Adam kämpften zwei Herzen in seiner konstant beengten Brust, ob er egoistisch froh sein sollte, dass Vincent hier war oder ob er sich verfluchen sollte, dass Vincent wegen ihm zurückgekehrt war. Wieder war er es, der Menschen in den Abgrund zog. Egoistisch, selbstsüchtig, zerstörerisch.

Und doch konnte Adam nicht anders.

Auch wenn er seine Mutter so oft wie noch nie in den letzten Jahren sah, wenn Rahel ihn besuchte und ihn auf Dinge einschwor, die Adam gleich danach wieder vergaß, war Vincent seine Konstante. Der Mensch, dessen Hand er nicht losließ und dessen ruhige Worte, mit denen Vincent von seiner Reise erzählte, Einzug fanden in Adams Denken. 

Er war sich bewusst, dass die Polizei das Zimmer abhörte, deswegen war er froh um Vincents metaphorische Worte, mit denen er ihm von seinem Wochenendtrip erzählte, den er abgebrochen hatte, als er gehört hatte, was passiert war und dass er jetzt da war und bleiben würde um Adam zu unterstützen. 

Adam hätte gerne gesagt, dass Vincent gehen sollte und genau aus dem Grund hatte er ihm auch verschwiegen, dass er zur Dreckssau gefahren war, nachdem Leo ihn…nachdem er…nachdem… Doch hier konnte er es nicht sagen. 

Weil sie mithörten. Weil Adam die Worte fehlten. Vincent machte seine Dunkelheit ein Stückchen heller und Adam fühlte sich sicher und ruhiger durch seine Gegenwart, aber gut würde dadurch gar nichts werden. 

Dazu war Adams ohnehin schon zerbrochene Welt bis auf das kleinste Teilchen zersplittert und unbrauchbar gemacht worden. Immer, wenn Adam daran dachte, wollte er schreien, aber wenn er schrie, wusste er, dass sie ihm Beruhigungsmittel verabreichen würden und dass er unter dem Einfluss des Mittels mit Sicherheit Dinge sagen würde, die nicht zuträglich waren für Vincents Freiheit. 

Doch je klarer er wurde, desto mehr verlangte auch Vincent nach Antworten. So auch auf die Frage, warum Adam nicht mit auf den Wochenendtrip gekommen war. 

„Ich bin zu ihm gefahren und habe ihm gesagt, dass er ein Arschloch ist. Ich habe ihn beleidigt und er hat zugeschlagen, also habe ich ihn weiterbeleidigt und er ist ausgetickt. Immer und immer weiter“, erzählte er rau und die Trauer in Vincents Augen war beinahe unerträglich. 

„Nach unserem Telefonat…ich wollte nicht mehr. Ich wollte einfach nicht mehr dieses Leben haben. Nicht noch einmal. Ich kann das nicht, Vincent. Ich wollte doch nur…“

Es war das erste Mal, dass Adam seine Gedanken leise aussprach und auch das erste Mal, dass es den Druck auf seiner Brust etwas abmilderte. Adams leises Geständnis rief Tränen in Vincent auf den Plan. Genau die Tränen, die Adam nicht mehr weinen konnte, weil es zu viel war. Zu schlimm. 

„Ich bin bei dir, Adam“, sagte Vincent nicht zum ersten Mal und in all der Zerstörung ist Vincent die Konstante, die Adam noch verankert in diesem Leben.

„Danach erinnere ich mich nicht mehr an viel, außer dem Wunsch, dass die Dreckssau es endlich zu Ende bringt und damit alles aufhört. Dass du endlich außer Gefahr bist und dass ich endlich sterbe, so wie es der Alte immer gewollt hat.“

„Oh Adam…“ Vorsichtig berührte Vincent mit seiner Stirn Adams und hauchte ihm einen Kuss auf die verschorfte Nase. Es war eine schöne, ihn nicht verletzende Berührung, die Adam immer noch wunderte. So wie jede Berührung hier, die nicht in Schmerz mündete. „Dein Leben ist so viel mehr wert als dass, was dein Vater dir hat weismachen wollen. Es ist so viel mehr als deine Gefühle zu Leo Hölzer.“

War es das? Liebe war schon immer eins der Gefühle gewesen, das Adam nie wirklich verstanden hatte. War Liebe der Wunsch, für immer mit jemandem zusammen zu sein oder war das Obsession? War Liebe das Gefühl, jemandem blind vertrauen zu können oder war das Naivität? Begehren war da einfacher. Begehren zog kein Leid hinter sich her, so wie Herbert Leo hinter sich hergezogen hatte an dem Samstag in der Stadt. 

Adam wandte seinen Kopf zum Fenster, als seine Augen nun doch brannten. „Ich dachte, er wäre ein zweiter Elias und in gewisser Weise ist er es auch. Denn die Gefühle, die ich für ihn und für Elias hatte, dienen nur dazu, mir zu zeigen, wie dumm es ist, zu denken, dass ich glücklich sein darf.“ 
 
„Er ist nicht Elias, Adam, hörst du. Elias hat dich geliebt, er hingegen hat dich benutzt um an Informationen zu kommen und mit deiner Hilfe das Syndikat zur Strecke zu bringen. Er hat sich dir hingegeben, weil er ein klares Ziel vor Augen hatte.“

Vincents sanfte, aber wütende Worte waren der Todesstoß für Adams Tränen. Still fielen sie auf das Laken, als er begriff, wie groß der Verrat an seinem inneren Kind war, das eigentlich nur eines wollte: Liebe, für sich, und einen Menschen, der ihm diese ohne Bedingungen entgegen brachte. 

Still weinte er, während Vincent seine Hand hielt.


~~**~~


Fünfzehn Minuten. 

Leo hatte fünfzehn Minuten, um Adam zu erklären, dass er das Gleiche für ihn empfand. Fünfzehn Minuten um ihm zu erklären, wie leid es ihm tat, dass er einfach so gegangen war ohne zu erwidern, was Adam ihm gesagt hatte. Fünfzehn Minuten, bevor Leo sich von Adam fernhalten musste um das Verfahren nicht zu gefährden. 

Ein Verfahren, das Adam ins Gefängnis bringen konnte, und das wollte Leo nicht. Im Gegensatz zu ein paar Monaten zuvor wollte er das nicht, weil er erkannt hatte, wie gequält und traumatisiert Adam durch seinen Vater war. Und so schlimm er ihn zu Anfang ihres Kennenlernens behandelt hatte, so sehr hatte er es im Laufe der letzten Monate wieder gut gemacht. 

Leo wollte nicht, dass Adam ins Gefängnis ging, sondern, dass er nun die Chance auf ein gutes Leben erhielt. Ein Leben, endlich ohne Roland Schürk, ohne Gewalt und ohne Folter. 

Fünfzehn Minuten und Leo schaffte es noch nicht einmal, die letzten Zentimeter zwischen seiner Hand und der Türklinke zu schließen, sie hinunter zu drücken und die Tür zu öffnen, so aufgeregt war er und so viel Angst hatte er, Adam ehrlich zu sagen, was er für ihn fühlte.

Die beiden Beamten vor der Tür warteten ungeduldig und Leo atmete tief ein, umschloss die metallene, kalte Klinke mit seiner kalten Hand. Unwirsch drückte er sie hinunter und betrat dann den kleinen Vorflur des Raumes, den er vor Adams Erwachen mehrfach gegangen war. 

Viel zu schnell geriet er in Adams Blickfeld und blieb abrupt stehen, als er sah, dass Adam wach war und halb aufrecht im Bett saß, immer noch angeschlossen an Maschinen, immer noch auf der Intensivstation. Seine Verletzungen zu sehen, während er geschlafen hatte, war schon schlimm gewesen, aber nichts bereitete Leo auf Adams wachen Anblick vor. Fürchterlich war es und Leo fühlte sich hilflos. Fünfzehn Minuten würden nicht ausreichen. Ein ganzes Leben würde nicht ausreichen, das wieder gut zu machen, was Roland Schürk seinem Sohn angetan hatte.

Leo atmete zittrig ein. Vincent anzusehen war da fast ein Quell der Sicherheit. Vincent hatte immer die Fäden in den Händen behalten. Vincent hatte ihm auch Stärke gegeben, als Leo…

„Ich habe versucht, dich zu erreichen“, war das Erste, was Leos Lippen entglitt, mit Mühe ohne Vorwurf. Bei aller Sicherheit war es auch Verständnislosigkeit, die Leo fühlte, darüber, dass Vincent ihn nicht zurückgerufen hatte, wo er ihn doch dringend gebraucht hätte. Wo es doch um Adams Leben gegangen war.

„Hallo Leo“, sagte Vincent und es klang anders. So als wäre eine unsichtbare, undurchdringliche Glaswand zwischen ihnen. Höflich, weil sie sich kannten, aber mehr nicht. 

Fünfzehn Minuten. 

Leos Blick irrte zu Adam, der ihn anstarrte, als wäre er der Teufel persönlich. Kein Wort brachte er heraus und als Leo einen Schritt nach vorne trat, zuckte er auf dem Bett zurück. Leo runzelte die Stirn. Verwirrt blieb Leo stehen und rieb seine klammen Hände an seiner Jeans. Sein Bauchgefühl schrie ihn an, dass etwas komisch war, dass sich die Regeln in der zwischenmenschlichen Kommunikation zwischen ihnen geändert hatten und Leo befürchtete, dass es wegen seinen fehlenden Worten war. 

„Adam, du bist wach“, sagte er deswegen in die Stille hinein und versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch von Sekunde zu Sekunde mehr erstarb, als Adam keinesfalls darauf reagierte. Ganz im Gegenteil. Unwohlsein kroch Leo den Rücken hinauf. „Ich war hier, nachdem wir dich da rausgeholt haben, aber da hast du noch geschlafen. Adam, ich…“

Leo nahm sich ein Herz und überwand die Distanz zum Bett. Er hielt aus, dass die blauen Augen ihn wie einen persönlichen Feind musterten, denn er hatte nur fünfzehn Minuten. 

„Ich bin so froh, dass wir dich rechtzeitig rausgeholt haben, Adam. Ich…habe mir solche Sorgen um dich gemacht, als du nicht reagiert hast und dann habe ich Bastian gefragt, wo ich dich finden kann. Er hat uns den entscheidenden Tipp gegeben. Ich habe das SEK und eine BfE bekommen um dich zu retten, Adam.“

Fünfzehn Minuten und Leo erzählte das, was Adam mit Sicherheit schon wusste.

„Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen an dem Morgen. Insbesondere, weil ich…weil du…“ Seine Augen huschten zu Vincent, der ein Sinnbild an Neutralität war, dessen Mimik aber bereits in Missbilligung abglitt. Leo kannte diese Missbilligung und hatte sie Monate lang gefürchtet. Das tat er jetzt wieder, denn sie untermauerte nur, was er spürte, aber nicht benennen konnte.

„Du hattest Recht mit deinen Worten und ich…denke auch so“, schloss er lahm, weil er nicht sagen konnte, was er für Adam empfand. Schon gar nicht vor Vincent. Angesichts Adams Schweigens und seiner abweisenden Mimik fiel es Leo auch zunehmend schwerer, seine Worte weiter auszuführen. 

„Sagst du das, um deine Ermittlungen zu retten?“, fragte Adam schließlich rau und Leo runzelte irritiert die Stirn. 

„Ich verstehe nicht.“

„Oder sind es eher die Ermittlungen deines Teams?“

„Adam, was meinst du?“

„Stell dich nicht dumm. Ich spreche von den Ermittlungen der Sonderkommission, der du angehörst.“ 

Adams Worte waren so scharf wie sie leise waren und als die Bedeutung vollständig in Leo einsickerte, konnte er sich weder rühren, noch etwas sagen. Adam wusste davon? Er wusste von der SoKo? Er wusste, dass Leo für sie arbeitete? Mit ihr zusammen?

Leo öffnete seine Lippen, bekam jedoch keinen Ton hervor. Kurz verirrten sich seine Augen erneut zu Vincent. Er wusste es auch, natürlich, und Leo rann es heiß und kalt durch die Körper. 

„Adam, ich…“, krächzte er und eben jener lächelte schmallippig. 

„Was, Leo? Was?“

„Ich wollte…“ Wieder fand Leo nicht die richtigen Worte um zu erklären, was er fühlte, in welchem Zwiespalt er steckte. Was ungebrochen in ihm tobte, obwohl er zu dem Ermittlungsteam gehörte.

„Was wolltest du? Es mir sagen, dass du zur Sonderkommission gehörst, die gegen mich und die Dreckssau ermittelt? Mich auf deine Seite ziehen? Informationen aus mir herausficken? Was wolltest du?“

Erschrocken erstarrte Leo. Das dachte Adam von ihm? Dass er seinen Körper dazu benutzt hatte, ihn ihm gewogen zu machen? Aber das stimmte doch nicht. Er hatte seine Lust für Adam abseits dessen entdeckt, hatte mit ihrer Unmöglichkeit gekämpft. 

„Nein, Adam, ich meinte das ehrlich. Ich wollte dich retten, vor deinem Vater und ich wollte die Kronzeugenre-“

Weiter kam Leo nicht, als Adam abrupt seinen Arm hob und ihm bedeutete, zu schweigen. So sehr auf Gehorsam gedrillt, folgte Leo und stand mit glühenden Wangen vor dem Krankenbett.

Adam seufzte und das Seufzen machte Leo Hoffnung. Ebenso wie der ihm schlussendlich entgegengestreckte Arm Leo Hoffnung machte, dass seine Worte Gehör in Adam gefunden hatten. Achtsam barg er Adams Hand in seiner und ließ sich näherziehen. Zu Adam, der überlebt hatte, was sein eigener Vater ihm angetan hatte. Dank Bastian und Leos Beharrlichkeit war er noch am Leben und es war bodenlose Erleichterung, die Leo spürte. 

„Du bist eine einzige Sache, Leo“, sagte Adam sanft und strich ihm mit den geschienten Fingern über die Wange. Er lächelte und Leo lehnte sich in die Berührung, die er so sehr ersehnt hatte. 

„Du bist eine SoKo-Hure, nicht mehr. Das bist du für mich. Nicht mehr. Und jetzt verpiss dich aus meinem Leben, ich will dich nie wieder sehen. Ich will nie wieder etwas von dir hören.“

Leo glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Er konnte die Worte zwar verstehen, aber nicht glauben. Doch als Adam sie nicht zurücknahm, als sein Gesicht sich nicht wandelte und weicher wurde, wurde ihm bewusst, dass Adam jedes Wort so gemeint hatte. Jedes einzelne, brutal schmerzende Wort. Ein Blick in Adams Gesicht, seine eiskalten, blauen Augen reichte, damit Leo erkannte, wie wahr sie für den anderen Mann waren. Adam sah aus wie der Teufel, den Leo in ihm ganz zu Beginn ihres Kennenlernens gesehen hatte.

„Adam, das stimmt nicht. Lass mich bitte erklären. Ich…“

„Hau ab, SoKo-Hure. Lass dich meinetwegen durch das ganze Saarland und durch ganz Frankreich ficken, bis du an der Krankheit deiner Wahl verreckst. In mein Leben oder Bett setzt du keinen Fuß mehr.“

Eiskalt und entmenschlichend, das war es und Leos Welt zerfetzte sich so nahtlos wie nach Detlefs erstem Angriff. Er starrte Adam in die eiskalten, blauen Augen und taumelte einen Schritt nach hinten, ließ Adams Hand gehen wie als ob er verbrannt worden wäre. Verschwinde von hier, herrschte er sich selbst an, auch wenn alles in ihm danach drängte zu erklären, was er nicht gewollt hatte. 

So zögerte er und zuckte erst, als Vincent sich erhob. „Geh jetzt, Leo Hölzer, und komm nicht mehr zurück.“

Als hätte er Vincents finale Worte noch gebraucht…

Leo strauchelte aus dem Raum heraus und ließ die beiden Kollegen hinter sich, die ihn besorgt musterten. Er taumelte zum Treppenhaus, weil er es nicht ertrug, auf den Aufzug zu warten, in seinen Gedanken nur die falsche Zärtlichkeit mit dem sich anschließenden Todesstoß. 

SoKo-Hure. Das war er in Adams Augen. 

Aber auch eine Hure hatte Gefühle. Nur spielten die für Adam keine Rolle mehr. Im Gegenteil. Er wünschte Leo den Tod. 

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Faule Eier, Tomaten, hier zum Sonderpreis! Gerne auch im Kilo abzugeben! 🫣 Seid ruhig großzügig damit, ich habe es verdient.

Chapter 57: Luftleerer Raum

Notes:

Ein wunderbares, drittes Adventswochenende wünsche ich euch 🎄☃️❄️,

hier nun der nächste Teil zur Anatomie und der Letzte, in dem es so richtig bergab geht, also quasi der Tiefpunkt der Geschichte. Wie versprochen kämpfen wir uns mit dem nächsten dann sukzessive aus dem Tal der Tränen wieder hinaus (Achtung, ich sage nicht, dass das schnell geht. 😉)

Wieder einmal möchte ich mich bei euch bedanken: Für euren Zuspruch, für eure Geduld, für eure Liebe und Leidenschaft für diese Geschichte. 💕Damit meine ich nicht nur eure Sprachnachrichten, Kommentare, Klicks und Kudos, sondern auch die künstlerische Umsetzung der Geschichte in andere Medien. Das ehrt mich und macht mich unheimlich glücklich. Vielen lieben Dank!

Nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen. Wie die vorherigen wird er eher traurig und nicht sehr positiv sein, daher eine kurze Warnung an dieser Stelle. Es wird außerdem (oberflächlich) vergangene Folter erwähnt und ich thematisiere PTBS und mangelnde Traumabewältigung.

Trotz allem: Euch noch eine gute und schöne Weihnachtszeit. Ich wünsche an dieser Stelle schonmal für alle die feiern, ein tolles, ruhiges, lebhaftes Weihnachtsfest (das, was euch die beste Zeit gibt) und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Dadurch, dass ich die Farben und den Geister-Leo noch auf der To-Do habe, lesen wir uns an dieser Stelle erst wieder im neuen Jahr. 💕

Und wer von euch Lust auf einen gleichberechtigen und liebevollen Fandomaustausch hat, der findet ihn hier auf dem Tatort Saarbrücken Discord.🤗

Chapter Text

 


Die Sonne kam mit schwungvoller Leidenschaft hinter den dahinfliegenden Wolken hervor und warf abrupt sowohl grelles Licht als auch lange Schatten auf die Wände seines sterilen Krankenhauszimmers. Sie suggerierte ein Glück und eine heile Welt, die es nicht wirklich gab, nie gegeben hatte und auch nie geben würde. 

Nicht für ihn. 

„Adam, das war zu harsch.“

Vincent, einschließlich versöhnlicher Stimme. Der, der für ihn zurückgekehrt war, der ihn immer rettete, der, der so viel gekittet hatte und doch nicht alles kitten konnte. Adams zerbrochenes, einsames Sein zum Beispiel. Die tektonischen Platten seiner Seele, die sich gerichtet hatten und doch falscher waren als vorher, alles zerborsten unter Verrat und Vorspielerei par excellence. 

„Bullen haben’s nicht anders verdient“, erwiderte Adam rau, kaum hörbar, im Echo seines Vaters. Es war, als hätte er zehn Stunden lang durchgesprochen und zu dem Schmerz in seinem Körper kam nun auch noch sein zerspringender Schädel hinzu. Unisono mit seinem Herz, was eigentlich ein schöner Tod wäre. Schöner als sein Leben jetzt auf jeden Fall. 

„Adam“, mahnte Vincent sanft und er starrte pointiert nach draußen in den weiten Himmel, der ihm für Tage nicht vergönnt gewesen war. Es tat ihm immer noch weh, in den Augen und im Kopf selber. Vielleicht würde es das auch immer tun.

„Die Nacht vorher hat Leo mit mir geschlafen“, begann er und jedes Wort kostete ihn Kraft. Vincent brummte verneinend und Adam schnaubte verächtlich. Die dicke Wolke, die gerade sein Sichtfeld ausfüllte, sah aus, als könne man sich bequem dort hineinfallen lassen. Schön. Schön kitschig. Genauso dumm wie seine Annahme, dass er auch ein normales Leben leben durfte mit Büchern, Kinderspielzeugen und…Liebhabern.

„Mich solange in den Arsch gefickt, bis ich gekommen bin. Habe ich lange nicht mehr gemacht. Es war richtig schön, so richtig romantisch, wie normale Menschen das machen. Und morgens…morgens weist er mich dann zurück, als ich ihm sage, wie viel ich für ihn opfern möchte, und ich denke noch, dass das für ihn zu viel gewesen ist, dem scheuen Fluchttier. Dann rufst du an und nennst mir den wahren Grund für seine Ablehnung. Natürlich liebt er mich nicht, nicht so wie ich ihn. Nein, ficken ist okay, prostituieren auch. Er hat sich verkauft für ein paar Informationen und dafür, mich von der Dreckssau wegzutreiben. Sag mir, ob er es verdient hat oder nicht.“

Der Himmel verdunkelte sich, aber nur, weil Vincent ums Bett herumkam und sich vor ihn stellte. Sacht berührte er Adams unversehrten kleinen Fleck Haut an der Wange und umfasste mit der anderen Hand seine Hand mit den noch intakten Fingern. In seinem Gesicht stand so große Sorge wie schon lange nicht mehr.

„Es tut mir leid, Adam. Es tut mir so leid. Ich kann dir die Frage nicht beantworten, aber ich kann dir versprechen, dass ich dich nie wieder alleine lassen werde, hast du mich verstanden? Ich bin an deiner Seite. Immer. Ich bin für dich da. Ich verrate dich nicht“, sagte er mit belegter Stimme und Tränen in den Augen, die da nicht hingehörten. Nicht wegen ihm.

„Wenn ich tot wäre, würde mir niemand mehr wehtun. Dann wärst du frei von so einem Versprechen.“

Vincent schüttelte gepeinigt den Kopf und Adam labte sich an dem vertrauten Anblick und an dem einzigen Menschen, der in den letzten sechs Jahren immer an seiner Seite gewesen war. „Wenn du tot wärst, würde mir ein Teil meiner Seele fehlen. Wenn du tot wärst, wäre mein Leben nicht so komplett, wie es jetzt ist.“

Schwer zu glauben, befand Adam, hatte aber nicht den Mut, die Augen zu schließen und sich der Dunkelheit auszusetzen, also versank er im Anblick seines besten Freundes, seines momentan einzigen Lebensankers.

Auch wenn der Alte tot war. Auch wenn er nun theoretisch frei war und ihm alles gehörte. Das ganze Syndikat. 

Nur Liebe, die gehörte ihm nicht. 


~~**~~


Leo irrte durch die Straßen, ziellos, ankerlos und ruhelos.

Er konnte nicht atmen, nicht klar denken, er konnte nicht zur Ruhe kommen. Wie denn auch? Sein Innerstes lag brach, es blutete, er blutete aus vor Verzweiflung und zerstörter Hoffnung. 

Adam hasste ihn. Er wollte ihn tot sehen. Er war eine Hure in Adams Augen, aber das stimmte doch nicht. Er hatte doch wirklich Gefühle.

Leo irrte und wurde sich erst bewusst, dass er zuhause angekommen war, als er seine Wohnungstür erkannte. Es war Abend und er war wer weiß wie lange durch Saarbrücken gelaufen, ein Gefangener in seinen eigenen Gedanken. 

Hinter ihm fuhr ein schwarzer Transporter die Straße entlang und Leo schrak aus seinen Gedanken hoch. Angst schoss durch die Verzweiflung und umklammerte sein Herz. Panisch suchte er nach seinem Schlüssel und steckte ihn mit Mühe in das Türschloss, schob sich in das Haus, kaum, dass er die Tür geöffnet hatte. Er schloss sie hinter sich und sprintete die Treppen zu seiner Wohnung, in seiner Angst immer zwei nehmend. 

Seine Hände zitterten, als er auch diese Tür aufschloss und hinter sich abschloss, die Kette ins Schloss schob und sich in den vom Wohnungseingang entferntesten Raum zurückzog. 

Erst in dem schmalen Raum zwischen Bett und Fenster fand Leo Ruhe, die Beine an seinen Körper gezogen, den Kopf zwischen den Knien. Er konnte nicht richtig atmen und hatte das Gefühl, dass Säure von innen heraus seinen Körper zerfraß…aber wenigstens war er hier sicher. 

Und einsam. So unendlich einsam.


~~**~~


„Was hast du getan?“

Vincent musterte Zarah besorgt und verfluchte die Ruhe, mit der sie sich eine Zigarette anzündete und die ersten paar Züge nahm. Sie standen unweit des Krankenhauses, nahe genug, dass Vincent schnell bei Adam war, weit genug, dass sie die Kripo abgeschüttelt hatten. Abgeschieden genug, dass niemand sie belauschte. 

Es war sonnig und kalt, eigentlich ein perfekter Herbsttag. Wenn da nicht die Welt war, die sich nicht mehr drehte wie zuvor und Vincent seine Tage an Adams Seite im Krankenhaus verbringen ließ, immer in der Angst, dass sein Saarbrücken-Adam sich etwas antat. Immer in der Angst, dass sein Frankfurt-Adam ihn verstoßen würde. 

Vincent lief auf Autopilot und vermochte gar nicht zu fassen, was um sie herum geschah. Umso dankbarer war er da für Zarah und Rahel. Wenn nicht…

„Das ist Wissen, mit dem du dich nicht belasten solltest.“

„Zarah.“

„Vincent.“

Missbilligend zog er seine Augenbrauen zusammen. Ruhig und gelassen erwiderte sie seine Unruhe, saß das Schweigen mit ihrem eigenen Schweigen aus. Schlussendlich hatte sie aufgeraucht und trat sie auf dem abgelegenen Schotterweg aus. 

„Es war an der Zeit.“

„Was?“

„Adam hätte keine Sekunde überlebt, wenn der Alte aus dem Gefängnis entlassen worden wäre. Er hätte ebenso wenig überlebt, wenn er durch die Ermittlungen der SoKo ins Gefängnis kommen wird. Meine Loyalität gilt Adam, Vincent. Du hast es nie hinterfragt, sondern sie akzeptiert. Und sie bedeutet nicht, dass ich an seinem Grab stehe und ein Tränchen vergieße.“

„Das ist…“ Vincent verstummte, wusste nicht, wie er den Satz harmlos beenden sollte. 

Sie lächelte knapp und es hatte nichts mit Humor zu tun. „Es gibt gute und schlechte Menschen. Und es gibt Monster. Geh ins Krankenzimmer und sag mir, was für ein Mensch Roland Schürk war. Glaubst du, die Justiz wäre dazu in der Lage gewesen, ihn dafür zu strafen und ins Gefängnis zu bringen? Adam zu schützen, so wie sie es all die Jahre vorher auch getan haben?“

Das Schlimmste war…Vincent wusste es nicht. Nein, Vincent glaubte es nicht. Sie hätten Roland Schürk gehen lassen müssen und dann wäre Adam elendig an ihm zugrunde gegangen, für den Rest seines dann vermutlich kurzen Lebens an einen Mann gekettet, der ihn verachtete, hasste und folterte. 

Er schloss die Augen, verschloss sie vor dem strahlenden Tag mit seinen dunklen Geheimnissen. Hinter seinen Lidern brannten die Tränen, die er sich nicht zu fallen erlaubte.


~~**~~


„Herr Schürk, Sie können das. Kommen Sie, ich gebe Ihnen eine Hand.“

Adam ignorierte die Schwester, so gut er konnte. Vincent war nicht da, weg, weil er mit Zarah sprechen musste. Den Moment hatte anscheinend eine der Weißbekittelten genutzt um sich ihm aufzudrängen und ihn dazu bewegen, aufzustehen und sich in den Rollstuhl zu setzen, mit dem sie ihn auf Normalstation bringen würden. Immer noch unter strengstem Polizeischutz, jetzt umso mehr, seitdem die Dreckssau tot war und niemand wusste, wer seinem Mörder den Auftrag gegeben hatte. 

Hier im Krankenhaus darüber zu sprechen, schloss sich aus und wenn Adam ehrlich zu sich war, dann wollte er es auch nicht wissen. Eigentlich wollte er mit gar nichts etwas zu tun haben…weder die Verantwortung für das Syndikat tragen, noch der neue Pate von Saarbrücken sein. Die Fußstapfen der Dreckssau würde er eher verbrennen als in sie zu treten. 

So wie sein Körper Tag um Tag verbrannte. Es gab keine Stelle, die nicht schmerzte. Keinen Fleck, der ihm keine Probleme bereitete. 

Adam hasste seinen Körper. Er hasste sein Leben. Er hasste sich. Er würde schreien, wenn es nicht so wehtun würde. Jede. Minute. Schreien. Seinen seelischen wie körperlichen Schmerz einfach hinausschreien. Aber dann würden sie wieder mit ihrem Beruhigungsmittel und ihren Fesseln kommen und nichts ertrug Adam weniger als das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. 

Gut, Dunkelheit. Ja, Dunkelheit ebenso.

„Hau ab, ich kann das alleine“, zischte er und zog die Schultern hoch. Sie sollten alle abhauen. Und ihn mitnehmen. Für immer. 


~~**~~


Pia nahm einen Schluck ihres bitteren, kalten Kaffees und starrte abwechselnd auf den leeren Platz, auf dem vor kurzem Leo noch gesessen hatte und auf ihr Handy, das ihr immer noch keine Nachricht von ihrem Teaml…beurlaubten Kollegen anzeigte. 

Rottmann von der Einsatzhundertschaft hatte ihr geschrieben, dass Leo das Patientenzimmer von Adam Schürk aufgelöst und überstürzt verlassen hatte. Seitdem war er anscheinend durch Saarbrücken geirrt und schlussendlich in seiner Wohnung aufgetaucht – die er seitdem nicht mehr verlassen hatte. 

Das war vor drei Tagen gewesen und langsam machte Pia sich Sorgen. Es gab Bewegung in der Wohnung, aber nicht viel. Genug, damit sie noch kein Team geschickt hatte, um sich davon zu überzeugen, dass Leo noch lebte. Nicht genug, dass es den Anschein machte, als würde es Leo gut gehen. 

Wie sollte es auch? Sie hatte deutlich gesehen, wie er mehr und mehr in Schürks Richtung gezogen worden war. Ob es Liebe war, vermochte Pia nicht zu beurteilen, aber es war offensichtlich. Und so sehr Pia Schürk auch für schuldig hielt, sein blutiger Anblick in dem Keller war harter Tobak gewesen. Ebenso Leos Verzweiflung. Dass Leo sich da Sorgen und vielleicht auch Vorwürfe machte war klar und verständlich, aber es war nicht alles. 

~Leo, melde dich bitte. Ich möchte wissen, ob es dir gut geht~, schrieb sie erneut, obwohl sie wusste, dass dem nicht der Fall war. Aber es war eine diplomatische Öffnungsklausel, die er für eine sichere Antwort nutzen konnte. 

Dieses Mal las er es beinahe direkt.

~Mir geht’s gut~, kam die offensichtliche Lüge als Lebenszeichen zurück und Pia runzelte die Stirn. Vielleicht sollte sie Kontakt zu Leos Schwester aufnehmen.

Die Tür zu ihrem vorübergehenden Büro im gesicherten Trakt der Staatsanwaltschaft ging auf und Esther stand in der Tür. Sie schien angespannt zu sein und Pia kannte sie lang genug, damit sämtliche Alarmglocken schlugen. 

„Was ist los?“, fragte sie und Esther schürzte die Lippen. 

„Boris Barns hat Tobias Möller erdrosselt. Er hat sofort gestanden und den Vollzugsbeamten vor Ort zu Protokoll gegeben, dass es aus Rache für Roland Schürk war.“

Pia blinzelte verständnislos, im ersten Moment verloren in der Bedeutung von Esthers Worten. „Haben die Möller nicht unter besonderen Schutz gestellt?“

„Anscheinend nicht. Alle Zellen im Sondertrakt waren belegt, da haben sie ihn im Allgemeinen gelassen.“

Fassungslos schüttelte Pia den Kopf. Das waren ein paar Zufälle zu viel, was die lethale Gewalt um Schürk anging. „Nicht deren Ernst.“

Esther verzog das Gesicht, als hätte sie nicht nur in eine saure Zitrone gebissen. „Stümper, alle miteinander.“

„Ich glaube, der Sumpf der Korruption ist tiefer, als wir vermuten“, hielt Pia dagegen. „Wir brauchen dringend den Beschluss für sämtliche der Geschäftsräume.“

Ihre Kollegin und Freundin nickte grimmig. „Ist in der Mache. Weiersberger hat es dem Richter bereits vorgelegt und wartet noch auf Antwort.“   


~~**~~


Die Nachricht, wer im Krankenhaus unter schwerem Polizeischutz behandelt wurde, hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer verbreitet, sogar bis zur Kinderstation. Ebenso, mit welchen Verletzungen Adam Schürk eingeliefert worden war. 

Verletzungen, die denen, die Caro vor ein paar Monaten noch behandelt hatte, so sehr ähnelten, dass es wehtat. Sie konnte sich nur vorstellen, was es in Leo anrichtete. Trotz allem, was passiert war. Gerade deswegen. 

Wie immer, wenn Leo etwas belastete, gab sie ihm die Zeit, dass er selbst auf sie zukam. Tat er das nicht in einem angemessenen, zeitlichen Rahmen, so meldete sie sich, die große Schwester, die sie war. 

Seitdem Adam Schürk ins Krankenhaus eingeliefert worden war, waren anderthalb Wochen vergangen und Leo hatte sich nicht bei ihr gemeldet. Also war es Zeit, dass sie unter dem Vorwand, mit ihm nach einer langen Schicht spazierengehen zu wollen, Herbert entführte und zu Leo fuhr. 

Caro klingelte. Einmal. Zweimal.  Dreimal. Sie wartete, klingelte dann wieder und sah auf Herbert hinunter, der winselnd an der Tür scharrrte.

„Soll ich einbrechen?“, fragte sie ihren bereits festgelegten Partner in crime und Herbert maulte laut. Damit war es beschlossene Sache und Caro nutzte den ihr heilig anvertrauten Schlüssel. 

Um Leo nicht zu erschrecken, klopfte sie in ihrer beider geheimen Klopfsprache an seine Wohnungstür und wartete erneut. Sie lauschte auf Geräusche innerhalb der Wohnung und wurde tatsächlich belohnt, als sie leise Schritte hörte. Sie waren viel zu langsam für Leo und als sich schlussendlich der Schlüssel im Schloss drehte und die Tür langsam geöffnet wurde, war es Herbert, der Caro das eindeutige Zeichen gab, dass es Leo war. Vor freudiger Ekstase über das Wiedersehen mit seinem Lieblingsmenschen wedelte der ganze Hund mit dem Schwanz und der Riese versuchte, sich durch den Spalt zu quetschen.

Einen Moment lang hatte Caro die Befürchtung, dass Leo sie beide nicht hineinlassen würde, doch dann schob er die Kette zurück und öffnete vorsichtig die Tür für Herbert und sie. 

Caro trat ein und beinahe sofort schlug ihr ein muffiger Geruch entgegen, der von zu wenig lüften und zu wenig duschen sprach. Leo selbst stand vor ihr wie der lebende Tod, war blass, viel zu blass, seine Wangen eingefallen. Seine Lippen waren spröde und rissig, die Haare fettig. Die Kleidung, die er trug, war krumpelig und schmutzig. Doch das war nicht das Schlimmste. 

Das Schlimmste war die Verlorenheit in Leos Augen, die Hoffnungslosigkeit und Pein. Während Herbert um ihn herumtobte und ihn dazu animieren wollte, ihn wie sonst auch zu herzen, blieb er stehen, reagierte beinahe schreckhaft auf den Hund.

Kalt zog sich Caros Magen zusammen. „Leo…“, murmelte sie. „Oh Leo. Komm her.“

Die Angst in seinen Augen vor ihrer Umarmung tat so weh wie Leos leises Geständnis vor zwei Jahrzehnten, dass ihm wehgetan wurde.

Aber das würden Herbert und sie schon hinbekommen. 


~~**~~ 


Leo saß auf der Couch, begraben unter einem schweren Hundekörper und unter wachsamen Hundeaugen, die ihn anhimmelten und nicht aus ihrem Fokus ließen. 

Caro hatte ihm sanft dabei geholfen, zu duschen, hatte aufgepasst, dass das Wasser seinem Mund und seiner Nase nicht zu nahe kam. Wie sie es dabei geschafft hatte, seine Haare zu waschen, war Leo immer noch ein Rätsel. Daraufhin hatte sie ihn in eine Decke gewickelt und ihm Herbert zur Seite gegeben, um ihm einen Kakao zu machen – den Leo nun zwischen seinen Händen drehte – und sich nun daran machte, ihm etwas zu essen aufzutauen. 

Wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte, wusste Leo nicht. Auch nicht, wann er etwas getrunken hatte. Das Gefühl von Hunger und Durst war schon lange verschwunden und kam jetzt auch nicht mit dem Duft des Kakaos wieder, den Leo anstarrte wie ein außerirdisches Ding. 

Wann er das letzte Mal auf seiner Couch gesessen hatte, war Leo ebenso schleierhaft und so speicherte er die neuen Eindrücke ebenso wie die fehlende Angst in sich ab. Und Angst hatte er gehabt. Davor, dass sie ihn holen kamen. Dass sie ihn ersticken ließen oder ihm Schmerzen zufügten. Angst vorm Alleinsein auch. 

Aber jetzt waren Caro und Herbert da, zwei Wesen, die diese Angst temporär verscheuchten und es schafften, dass Leo in der Lage war, wieder klarer zu denken. 

Caro kam mit einer großen Schüssel Hühnersuppe wieder, deren Geruch und Anblick Leo die Tränen in die Augen trieben. 

„Was ist los, Leo?“, fragte Caro sanft und liebevoll, während sie die Suppe vor ihm absetzte und ihm nonverbal alleine durch ihre Körpersprache klarmachte, dass er sie essen und ihr antworten würde.

„Alles ist kaputt“, krächzte er, sich bewusst, dass er seine Stimme vermutlich tagelang nicht genutzt hatte. 

Drei Worte, die alles ausdrückten. Sein Sein, seine Welt, sein Leben.


~~**~~


Störrisch ließ Adam sein Handy durchklingeln. Seit zwei Minuten jetzt, weil er keine Lust mehr hatte, von Vincent ignoriert zu werden. Weil er verdammt nochmal Antworten wollte. Weil er Angst hatte, dass Vincent etwas passiert war. 

War es nicht, er hatte es überprüfen lassen durch Karol, aber dennoch. 

Also ließ Adam klingeln. Und klingeln. Und klingeln. 

Bis seine olle Nuss von einem gelockten Freund tatsächlich dranging. 

„Adam“, klang seine Stimme nicht wie sonst, zurückhaltend und vorsichtig. Zögerlich, als würde er etwas befürchten. Adam kannte diese Stimme, hatte sie damals vor Jahren bei Vincent gehört. 

„Vincent! Was ist los, was ist mit dir, wo bist du, wieso hast du dich als mein Ehemann ausgegeben und warum meldest du dich nicht?“, sprudelten Fragen um Fragen aus ihm heraus, die er mit Mühe hervorpresste. Sprechen fiel ihm immer noch schwer, ebenso wie sich schmerzfrei bewegen. Die Arschlöcher hatten ganze Arbeit geleistet bei ihm. 

Karol meinte, dass es Polizistenhasser gewesen waren, aber irgendwie hatte Adam da ein anderes Bauchgefühl. 

„Adam…“ 

„Was ist los, geht es dir nicht gut?“, fragte er und kämpfte sich in die Sitzende hoch. Gar nicht mal so einfach und Adam verfluchte seinen unkooperativen Körper.

„Nein, das nicht. Ich…“ Vincent verstummte, wieder so verdammt unsicher. 

„Was, du? Warum meldest du dich nicht? Ist etwas passiert? Warum klingst du so?“

Wieder herrschte Stille am anderen Ende der Leitung und Adams Bauchgefühl wurde zu einer Sicherheit. „Du verschweigst mir etwas, Vincent. Was ist es? Hast du Schluss gemacht und ich weiß nichts davon? Willst du Schluss machen und hast noch nicht die richtigen Worte gefunden?“

Wie viel Angst Adam das machte, erkannte er erst jetzt und mit trockenem Mund lauschte er dem darauffolgenden Schweigen. 

„Nein, nichts davon, Adam.“

„Was dann?“

„Können wir skypen heute Abend?“

„Darauf will ich doch hoffen“, grummelte Adam und Vincent seufzte. Er klang erleichtert, aber auch vorsichtig.


~~**~~


„Ganz langsam…“, sagte Vincent in seinem beschwichtigenden Bombenentschärfer-Ton, den er nun schon seit Adams Wachwerden draufhatte. Es kratzte an Adams Selbstbeherrschung, denn es fühlte sich so an, als wäre er eine tickende Zeitbombe oder so wie die Dreckssau. Oder zerbrechlich. 

Er war nichts von dem, sondern einfach kaputt. Und mit kaputten Dingen musste man nicht vorsichtig sein. 

„Noch langsamer?“, knurrte Adam und Vincent nickte.

„Du hast deine Physiotherapeutin doch gehört. Du musst dich wieder langsam an normale Bewegungsabläufe gewöhnen und nicht mit Gewalt versuchen, dich wieder normal zu bewegen.“

Seine Physiotherapeutin, dass Adam nicht lachte. Wäre der Alte noch am Leben und würde nicht nur seine Alpträume heimsuchen, hätte es das nicht gegeben. Oder vielleicht schon, weil er die dann hätte ficken können, damit die Dreckssau einen Stammhalter hatte. 

Da hätte er an dem Physiotherapeuten, der Adam zuerst behandelt hatte, keine Freude gehabt – etwas das Adam teilte. 

Nach der zweiten Panikattacke in Gegenwart des drahtigen, älteren Mannes hatte er sich im Badezimmer seines Krankenhauszimmers eingeschlossen und erst auf Vincents sanfte Nachfrage gestanden, warum er nicht vier Stockwerke tiefer in die Reha fahren wollte. 

Doch auch das war jetzt vorbei und Adam war feierlich entlassen. Mit Polizeischutz und frisch durchsuchter Wohnung.

Zum Glück waren es nicht Baumann und Heinrich gewesen, die ihm den Durchsuchungsbeschluss für die Villa der Dreckssau, sämtliche ihrer Geschäftsräume und Wohnungen überbracht hatten. Aufgrund eines Zufallsfundes bei seiner Rettung. 

Natürlich. 

Sie hatten alles auf den Kopf gestellt, jede Ecke umgedreht und entsprechend angewidert war Adam vom Anblick seiner Wohnung. Zimperlich waren sie nicht gewesen, die scheiß Bullen. Bücher lagen unachtsam auf dem Boden verstreut, die Schubladen hatten sie aufgelassen und Adam mochte wetten, dass sein Bett im Schlafzimmer abgezogen und die Matratze halb aus dem Bett geworfen war. 

Dass sie mit dem Haus der Dreckssau nicht anders umgegangen waren, konnte Adam sich vorstellen und er war wirklich froh, dass Rahel bei seiner Mutter gewesen war, um sie zu unterstützen. 

Bei dem Gedanken an Rahel versorg Adam unwirsch das Gesicht. Bald würde er ihr nicht mehr entkommen und sie auch nicht ignorieren können. 

„Ich hasse es hier“, sagte er in die kalte, muffige Wohnung, die mal sein erstes Refugium gewesen war. Flucht vor der Dreckssau, Stunden ohne das angstvolle Prickeln im Nacken. Was Eigenes, natürlich immer noch unter der Fuchtel des Alten. 

Aber weg. Räumlich weg vom Bunker, der Schlachtbank und dem Sarg. 

Und jetzt wollte er nichts anderes als von hier fliehen.

„Wir richten es wieder schön her“, sagte Vincent versöhnlich an seiner Seite, eine wortwörtliche Stütze, da Adam immer noch nicht ohne ihn oder Krücken laufen konnte und für eine lange Zeit laufen können würde. 

„Ich brenn das ganze Haus nieder. Die haben mit ihren widerlichen Fingern alles angefasst.“

Vincent seufzte und Adam ließ sich von ihm zum Spielzimmer bringen. Seltsam, dass hier alles in Ordnung war. Sie hatten die Modelle verrückt, ja, aber nichts kaputt gemacht. 

Auch nicht das Baumhaus. Gerade das scheiß verdammte Baumhaus nicht. 

Adam machte sich unwirsch von Vincent los und hangelte sich an der Wand entlang. Jeder Schritt schmerzte ihn, brannte in seinem Körper und gab Adam einen Ausblick darauf, dass er nie wieder schmerzfrei sein würde. Doch es lohnte sich, denn am Ende stand seine blinde Wut, mit der er das Baumhaus aus dem Regal fegte und mit bitterer Befriedigung zusah, wie sich die Steine voneinander löste und es in großen und kleinen Steinen am Boden lag. 

„Schmeiß es weg, ich will die Scheiße nicht mehr sehen!“, zischte er und anhand von Vincents Schweigen erkannte er schon den Widerstand, den er nicht sehen wollte. Ohne, dass er sich umdrehen musste. 

„Mach ich.“ Vincents Einlenken war daher auch eine einzige Lüge und Adam ballte seine Hände zu Fäusten. 

„Und jetzt bring mich hier raus. Ich will dieses scheiß Drecksloch nicht mehr sehen.“

Hilflos musterte Vincent ihn und Adam hatte diese Art von Ausdruck schon lange nicht mehr auf dem Gesicht seiner rechten Hand gesehen. Er hasste ihn, weil er dem Frieden und der Entspannung der letzten Monate so zuwiderlief, dass es Adam schmerzte. 

Dass das überhaupt noch möglich war, war ein ganz eigenes, pervertiertes Wunder.


~~**~~


Vincents rechte Hand zitterte, während er versuchte, die Maus dazu zu bewegen, Adams Kontakt via Skype anzurufen. Er war noch nie in seinem Leben so nervös gewesen wie jetzt, so hoffnungslos und hoffnungsvoll gleichzeitig, auch wenn er sich fragte, wie naiv er eigentlich sein musste, den Kontakt zu Adam weiterhin aufrecht zu erhalten. 

Natürlich würde dieser herausfinden, was in Saarbrücken passiert war. Er war nicht dumm, nicht blind und nicht taub. Er würde Nachfragen stellen, im schlimmsten Fall auch irgendwann bei Leo Hölzer. Die Antworten wären der Tod für seine und Vincents Beziehung. Das Gefängnis wäre es.

Dieses seit der Durchsuchung von sämtlichen Geschäfts- und Privaträumen in greifbare Nähe gerückt war und Vincent konnte nur hoffen, dass er Adam, oder vielmehr der Schatten seiner selbst, der Adam jetzt war, soweit wieder auf die Beine gebracht hatte, dass er das überlebte. Gerade jetzt überwachte Vincent jede Minute von Adams Dasein, insbesondere von Adams Schlafmittel unterstütztem Schlaf. 

Ohne ging es nicht, weil mit der Dunkelheit die Alpträume kamen und Adam schreiend aus daraus aufschreckte und sich weigerte, wieder einzuschlafen. So auch jetzt. Vincent hatte dafür gesorgt, dass Adam etwas von Bastians vorgekochtem Essen aß und hatte ihm dann eine Tablette gegeben. Aktuell schlief er, aber für wie lange…das stand in den Sternen. 

Die Zeit, die er hatte, sollte Vincent dazu nutzen, seine Angst zu überwinden, aber das…

Bevor er es sich anders überlegen konnte, klickte er auf verbinden und wartete mit trockener Kehle, dass Adam den Anruf annahm. 

Er tat es kaum eine Minute später und Vincents Herz zog sich unisono mit seinem Magen zusammen, als er den Mann seines Lebens und seiner Liebe sah. Verprügelt, blass, unerfreut, aber am Leben. 

Er hätte tot sein können, wenn Roland Schürk es darauf angelegt hätte. Tot, weil Vincent ihn in diesen ganzen Moloch mit hineingezogen hatte. 

Adams unwirsches Unzufrieden sein wurde von Erleichterung abgelöst und Vincent lächelte. 

„Hallo“, sagte er und fühlte Liebe und schlechtes gewissen gleichermaßen in sich. 

„Hallo zurück.“

„Was genau habe ich verpasst?“, fragte Adam direkt und Vincent wusste, dass er dem Ermittler nicht entkam, es sei denn, er würde wieder den Kontakt abbrechen. Weggehen, für immer. Doch so stark war Vincent gerade nicht, nicht, wenn die Welt aus den Fugen geriet und alles schlimm wurde. Dann wollte er sich wenigstens an den letzten Strohhalm klammern, der da hieß: flüchtiges Glück. 

Und dazu gehörte auch Ehrlichkeit. Bedingte Ehrlichkeit, soweit Vincent konnte. 

„Roland Schürk, der Vater von Adam, ist…war ein böser Mann. Er hat seinen Sohn bis heute misshandelt, geschlagen, eingesperrt. So auch vor ein paar Tagen. Ich war für Adam unterwegs und da hat er ihm sehr wehgetan. Erst durch einen Einsatz vom SEK konnte Adam aus der Gewalt seines Vaters befreit werden. Er wurde darauf hin verhaftet und ins Gefängnis gebracht – wo er umgebracht wurde. Vielleicht…wahrscheinlich…war Roland Schürk auch für den Angriff auf dich verantwortlich, weil er das, was sein Sohn ist und ich bin, verachtet hat. Dass wir schwul sind und auf Männer stehen. Er wollte ihn mehr in der Firma einspannen und es war ihm nie genug, was Adam getan hat, also wollte er ihm einen Denkzettel verpassen, damit er gehorsam ist.“

Ein paar Sekunden lang hatte Vincent das Gefühl, dass ihr Bildschirm eingefroren war, dann blinzelte Adam langsam. Noch einmal und schlussendlich ein drittes Mal. 

„Was erzählst du mir da? Sein Vater hat Adam…wieso habt ihr das nicht zur Anzeige gebracht? Wieso habt ihr keinen Ton gesagt? Da hätte man doch was machen können. Ich hätte euch unterstützen können.“ 

Vincent schüttelte den Kopf. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn es so einfach wäre. Das war es nie gewesen. „Adams Vater war zu mächtig, er hatte entsprechende Verbindungen. Niemand hat sich getraut, gegen ihn aufzubegehren, auch Adam nicht. Gerade Adam nicht. Er hat Zeit seines Lebens unter seinem Vater gelitten und…“

Das Bild zitterte und kurz wurde Adam unscharf. „Wieso hast du mir nichts gesagt?“

„Um dich zu schützen.“

Adam schnaubte barsch. „Ich brauch keinen Schutz. Du brauchst Schutz.“ 

Die Hämatome in Adams Gesicht sagten etwas anderes und unglücklich schwieg Vincent. 

„Ich hatte Angst um dich“, gestand er ein. „Und ich würde gerne bei dir sein, aber Adam braucht mich gerade. Ihm geht es nicht gut und ich habe Angst, dass…“ …er nicht mehr am Leben ist, wenn ich für ein paar Tage wegfahre. Aber das konnte er nicht sagen. 

„Hast du dich deswegen als meinen Ehemann ausgegeben, als du doch hier warst?“

Zerknirscht nickte Vincent. Natürlich war seine Scharade direkt nach seiner Rückkehr nach Deutschland aufgeflogen. 

„Dir ist klar, dass ich weiß, dass du etwas auslässt, oder?“

Vincent nickte und Adam erschien hinter seinem Handy wie ein Gespenst im Türrahmen. Anscheinend war seine kurze Schlafphase für heute wieder vorbei. Schweigend kam er zu ihm und streckte seine gesunde Hand nach Vincents Handy aus. In der Annahme, dass er seinen Namensvetter grüßen wollte, gab Vincent es ihm und beobachtete Adam, wie er Sekunden lang schweigend den Bildschirm anstarrte.

„Scheiße, was ist dir denn passiert?“, fragte der Adam vom anderen Ende der Leitung und der Adam hier brachte tatsächlich so etwas wie ein Schnauben zustande. 

„Vom Fahrrad gefallen. Und selbst?“

„Ebenso.“

„Dein Vater?“

Adam nickte knapp. „Das, was dir Vince nicht sagt, ist, dass mein Vater bis zum Hals in dreckigen Geschäften gesteckt hat. Die Dreckssau hat damit ein Imperium aufgebaut. Er hasste mich dafür, dass ich nicht so war wie er und Vincent dafür, dass er Röcke und Kajal getragen hat und dass er mich in seinen Augen verweichlicht hat. Deswegen hat er seine Leute losgeschickt um dich zu verprügeln. Mich hätte er getötet, wenn die scheiß Bullen nicht dazwischen gegangen wären.“

Verschnupft murrte der Polizisten-Adam. „Die „scheiß Polizisten“ haben dir deinen Hintern gerettet, du blondes Gift. Ist dir schon klar, oder?“

„Habe sie nicht drum gebeten. Ebenso wenig, dass sie mein ganzes Leben auf den Kopf stellen mit ihren Durchsuchungsbeschlüssen und Anklagen.“

„Warum das denn? Haben sie dich im Visier? Euch beide?“

„Vermutlich.“

Am anderen Ende der Leitung wurde es still und Vincent starrte fassungslos Adam in die teilnahmslosen, blauen Augen. Wieso hatte er das getan? Wieso ließ er ihm nicht die Möglichkeit, die Wahrheit so lange es ging vor Adam zu verbergen? Was, wenn Adam ebenfalls die Ermittlerinnen und Ermittler vor Ort kontaktierte und sie damit auf die richtige Spur brachte?

„Aber Vince hat damit nichts zu tun. Er hat mich nur am Leben gehalten die letzten fünf Jahre über. Das ist sein einziges Verbrechen und ob das strafbar ist, wage ich zu bezweifeln.“

Sprachs wie selbstverständlich, gab Vincent das Telefon zurück und damit einen fassungslosen Adam, der ihn mit großen Augen anstarrte und anscheinend versuchte, aus dem Telefon heraus noch einen Blick auf den Überbringer der schlechten Nachrichten werfen zu können. Ohne ein weiteres Wort verließ dieser jedoch sein Wohnzimmer und ließ Vincent mit Adam alleine. 

„Adam, ich…“

Bestimmt brummte dieser und schnitt Vincent das Wort ab. „Ich werde dir keine Fragen darüber stellen, weil ich die Antwort nicht wissen will, klar soweit? Ich will nur eine einzige Sache wissen: Liebst du mich?“

Die komplexe Einfachheit der Frage trieb Vincent die Tränen in die Augen. Er ballte seine freie Hand zur Faust und schluckte den allzu großen Kloß hinunter. „Natürlich liebe ich dich.“

Adam nickte und verzog das Gesicht vor Schmerz bei der Bewegung. Überanstreng dich nicht, wollte Vincent sagen, traute es sich aber nicht. Hatte er denn überhaupt noch das Recht dazu?

„Das ist alles, was ich jetzt erstmal wissen muss. Der Rest gibt sich.“ Der Pragmatismus eines seinen zweiten Frühling erlebenden Mannes, nein, seines Mannes, erschütterte Vincent bis auf seine Grundfesten. Es löste eisige Knoten, die er bis dato gar nicht wahrgenommen hatte und riss ein gewaltiges Gewicht von seiner Brust. 

„Aber was, wenn nicht?“

Adam verzog entschlossen die Lippen zu einem grimmigen Lächeln. „Sobald ich kann, komme ich zu dir. Dann zeige ich dir, wie sehr das nicht keine Option ist. Und dann wirst du ehrlich zu mir sein und mir alles sagen. Klar?“

Vincent lachte verzweifelt und schlug den Hinterkopf gegen die Wohnzimmerwand. Adam, ein Name, der für Sturheit und Unmöglichkeit stand. Adam, ein Patent für Idiotie in jeder Form. 


~~**~~


Früher hatte Caro ihren kleinen, schüchternen Bruder immer hinter sich hergezogen, wenn es darum ging, etwas Neues zu entdecken und ihm meist vor Ort erst erklärt, was gemacht wurde. Leo hatte dem mit großen Augen beigewohnt und sich an der Seite seiner Schwester in Abenteuer gestürzt, die er alleine niemals in Angriff genommen hätte, die ihm aber auch Spaß machten. Zumindest hatte Babsi immer den Eindruck gehabt. Auch wenn Leo sich meist hinter seiner großen Schwester versteckt hatte.  

So wie jetzt. 

In der einen Hand hielt sie Herberts Leine samt Hund, in der anderen ihren Bruder, der sie um anderthalb Köpfe überragte, dessen Schultern aber so sehr hingen, dass er wie ein alter Mann wirkte. In die Augen gucken konnte er seiner Mutter schon gar nicht, so musste sie gar nicht die Frage stellen, ob etwas passiert war. 

„Leo wohnt jetzt hier.“

Babsi hob beide Augenbrauen anhand des bestimmenden Tons, doch der Ernst gepaart mit Sorge in den Augen ihrer Ältesten hielt sie von derartiger Kritik ab. 

„Hallo ihr Beiden“, begann sie sich anstelle dessen auf etwas Neutraleres und plante geistig ihren Abend um. Und die nächsten Tage. Je nachdem, was passiert war und sie mochte wetten, dass es mit den schlimmen Nachrichten rund um die Familie Schürk zu tun hatte, auch die nächsten Wochen und Monate. 

Ihren Sohn in eine warme Decke zu packen, ihm einen Tee zu kochen und ihn in den Arm zu nehmen, gehörte da zum Standardprogramm, das ihr schlussendlich auch die Tiefe des Unglücks, in dem er steckte, offenbarte.

„Ich habe dich lieb, Leo“, sagte sie, was er hören musste, und stumm weinte er an ihrer Schulter.


~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 58: Das Gefängnis der Freiheit

Notes:

Ein wunderbares prä-Ende der Nacht-Wochenende euch und frohes Neues!

Zwei Wochen noch, dann ist es soweit und der neue Tatort kommt. 😱 Krass, wie schnell das Jahr vergangen ist.

Zur Einstimmung gibt's doch glatt den neuen Teil zur Anatomie und ja, es geht weiter bergauf. 😉 Er ist eigentlich zu lang für einen Teil, aber ich wollte ihn nicht splitten, weil er gut so ist, wie er jetzt ist und wo er endet.

Ich wünsche euch viel Spaß und vielleicht sieht man sich in Saarbrücken oder Saarlouis in zwei Wochen. ♥️ Wenn ihr bis dahin und danach Lust auf einen gleichberechtigen und liebevollen Fandomaustausch hat, der findet ihn hier auf dem Tatort Saarbrücken Discord.🤗

Chapter Text

 

„Er muss wieder zu sich kommen.“ Rahel tippte nachdrücklich mit dem Kugelschreiber auf das Blatt Papier, was vor ihr lag und unterstrich jedes ihrer Worte mit einem entschlossenen, schwarzen Punkt. Zarah maß sie in ihrer typisch ausdruckslosen Art, die wenig von den hinter der Stirn liegenden Gedanken preisgab.

„Wem sagst du das?“

Unerfreut schürzte Rahel die Lippen. „Die Geschäftspartner werden unruhig und wollen Antworten. Kein Wunder, angesichts der katastrophalen Nachrichten.“

„Du kannst froh sein, wenn er sich aktuell nicht der Polizei stellt – er ist unberechenbar und Vincent ist die meiste Zeit damit gebunden, ihn zusammen zu halten, damit er nicht vollends bricht.“

Zarah zuckte mit ihren Schultern und Rahel nippte ein paar wertvoll-stille Sekunden an ihrem Tee, betrachtete währenddessen sorgenvoll die ordentlich sortierten Dokumente auf ihrem Schreibtisch. Die Staatsanwaltschaft hatte ihre eigenen Unterlagen nicht angerührt, aber dafür die Geschäftsunterlagen der Schürk-Firmengruppe fast vollständig beschlagnahmt. In allen bekannten Standorten. Sie hatten sämtliche Finanzströme im Inland und Ausland eingefroren und Heide und Adam Schürk nur das Nötigste zum Leben gestattet. 

Das Imperium war ins Wanken geraten und Rahel versuchte nach Kräften, die einzelnen Splitter zusammen zu halten. 

Adam Schürk war dabei kein Verbündeter und am Liebsten hätte sie ihn geschüttelt und an einen Schreibtisch gesetzt, damit er seine Aufgaben als Erbe des Imperiums wahrnahm. Seine Pflichten als Statthalter und Familienoberhaupt. 

Rahel würde alles tun, um ihn aus dem Gefängnis zu halten, aber er musste alles tun um aus dem Gefängnis zu bleiben. Und die Geschäftspartner bei Laune zu halten, auf dass sie das enge Netz aus Kooperation und Angst nicht sprengten und Saarbrücken zu einem Moloch wurde, das in ein Machtvakuum fiel. Gerade jetzt, auch wenn er kaum klar denken konnte. Rahel wusste das, aber sie alle trugen Verantwortung für das Imperium. 

Sie sah auf und musterte Zarah fragend. „Kannst du mir sagen, warum Barns Möller umgebracht hat? Seine Entlassung war doch nur noch ein Steinwurf entfernt.“

Adams verlässliche Sicherheitschefin schnaubte. „Rache für den Alten? Loyalität? Dummheit?“

„Männer“, murmelte Rahel und ärgerte sich eins um andere Mal über das unprofessionelle Verhalten des verstorbenen Firmenoberhauptes und seiner rechten Hand. Adam mochte sie es nicht verdenken. Jahre um Jahre war er von seinem Vater gequält worden, nur um jetzt vor den Scherben seiner guten, aber in den Augen seines Vaters nie ausreichenden Anstrengungen zu stehen. 

Soweit, wie sie es konnte, hatte sie Adams Beteiligung an den illegalen Geschäften des Alten verschleiert und vernichtet, ihn als unbeteiligte Person dastehen zu lassen. Das war ihre erste Verteidigungslinie, damit Adam nicht in Gefängnis ging. Und mit ihm seine rechte Hand. 

Ihre zweite Verteidigungslinie war, den erpressten Polizisten, der Adam zwar das Leben gerettet hatte, aber für diese ganz Misere verantwortlich war, vor Gericht so zu grillen, dass die Schuld für Ermittlungsfehler auf ihm lastete. Verführung einer traumatisierten Person durch einen wissenden Ermittler ebenso wie die unstatthafte Beweismittelaufnahme durch seine Kollegen im Krankenhaus…, daraus ließe sich mit dem richtigen Gutachten etwas machen. Damit konnte sie die Ergebnisse und das Verfahren anfechten.  

Roland Schürk hatte immer geglaubt, dass Gewalt das schärfste Schwert war, das ihm zur Verfügung stand. Rahel aber wusste es besser. 

Sie würde den Versuch der Ermittlungsbehörden, ihnen mit unsinnigen Durchsuchungen und Zufallsfunden beizukommen, mit dem Schwert einer Juristin beenden. Sonderkommission hin oder her.


~~**~~


Vor ihr saß ein gebrochener Mann. 

Zumindest hatte Esther den Eindruck, dass alles Leben aus ihrem Teamleiter gewichen war. Die vorherige Kraft, die Ruhe und auch Sturheit, mit der Leo sich durch die letzten Monate gekämpft hatte, war weg. Er war blass und fahrig, sein Blick leer und nicht fokussiert. 

Esther vermutete, dass es mit seinem Besuch im Krankenhaus und seiner kurzen Nachricht zusammenhing, dass Schürk von der Sonderkommission wusste. Aber auch, dass es mit seiner Beurlaubung in Verbindung stand, denn trotz allem, was passiert war, wusste Esther tief in sich, dass Leo Ermittler und Polizist durch und durch war. 

Ein Mann, der – in ihren Augen – aus Nothilfe seinem Freund geholfen hatte.

Beides schloss sich nicht aus und so hoffte Esther, dass Leo das Verfahren gut überstehen würde. Es reichte, wenn er unter einer Sache litt. 
Die Familie Schürk hatte ihm übel mitgespielt und es stimmte sie nicht glücklich, ganz im Gegenteil. Ihrer Meinung nach gehörte Leo in entsprechend fachkundige Hände, die einer Therapeutin oder eines Therapeuten, die oder der sich mit Leo zusammensetzte und all die Katastrophen der Vergangenheit besprach. Dass Leo nur auf Notstrom gelaufen war, war offensichtlich, wenngleich sie kurze Zeit das Gefühl hatte, dass es ihm wirklich besser ging. 

Pia hatte die Vermutung geäußert, dass es die Zeit war, wo es gut mit Schürk lief und das bereitete Esther Bauchschmerzen. Nicht zu knapp, denn es war nicht zu übersehen gewesen, dass der Hass in Leo auf Schürk Junior etwas Anderem Platz gemacht hatte. Lust im Mindesten…darüber hinaus?

Esther nippt an ihrem Schwarztee mit Milch und Zucker und ließ ihren Blick zum Riesenbaby in der Nähe des brennenden Kamins schweifen. Es war November und schweinekalt, aber von Schnee keine Spur. Dafür umso mehr Regen. 

„Ich habe was für dich“, sagte sie, als Leo weiterhin schwieg und anscheinend nach seiner allumfassenden Aussage in dieser Woche zu den letzten Monaten mit Schürk leer geredet war. Er hatte alles zu Protokoll gegeben, was passiert war – einschließlich der Tatsache, dass er mehrfach mit dem Syndikatserben geschlafen hatte. Nicht aus Zwang. Aus Lust. 

Esther würde ihren niegelnagelneuen Hausbesen fressen, wenn da nicht noch mehr im Spiel war. 

Sie schob die etwas zerfledderte Karte über den Tisch und Leo sah langsam hoch, studierte die Buchstaben, ohne sie aufzunehmen. 

„Das ist ein sehr guter Strafrechtler, der dich verteidigen kann. Er leistet exzellente Arbeit und wird dich in deinem Verfahren begleiten.“

Leo nahm den Blick nicht von der Karte und Esther befürchtete, dass sie gar keine Antwort mehr erhalten würde. Doch dann straffte er die Schultern und richtete sich auf. 

„Ich kann solche Leute nicht bezahlen, Esther.“ Leo schüttelte den Kopf und sie schnaubte.

„Du wirst ihn auch nicht bezahlen müssen.“

„Ja doch, er macht das doch nicht umsonst.“

Dunkel lächelte sie, wurde jedoch sanfter, als sie sah, wie sehr Leo das verunsicherte. „Das wird er. Zum Einen schuldet er mir noch einen Gefallen und zum Anderen weiß er, dass er, wenn er dich in den Sand setzt, sich nicht mehr am Weihnachtstisch unserer Familie sehen lassen muss.“

Irritiert runzelte Leo die Stirn. „Wer…wieso…was macht er?“

„Er ist mein Bruder und wir streiten uns schon, seitdem wir auf die Welt gekommen sind. Nimm die Karte, ruf ihn an und sei ehrlich zu ihm. Weiersberger weiß Bescheid und sagt, dass du nicht unvernünftig sein sollst.“

Jede Sekunde kehrte etwas mehr Leben zurück in Leos Augen und Wangen. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe herum und sah abwechselnd auf die Visitenkarte und dann zu ihr. 

„Wirklich?“, hakte er ungläubig nach und Esther nickte. 

„Du bist einer von uns, Leo“, sagte sie schlicht und hielt den Rest ihrer Worte tief in sich verschlossen. Ein Guter, einer der Gerechten, einer, die die Polizei zu einem besseren Ort machte. 

Einer, der im Gefängnis draufgehen würde.


~~**~~


Vincents Bett war bequem. 

Deswegen besetzte Adam es auch wie eine Bettwanze und gab die nach Vincent riechende Decke nicht mehr frei. Er würde sie sich auch über den Kopf stülpen, wenn es dann nicht dunkel wäre. So ging der Daunenberg bis zu seinem Kinn und er starrte unentwegt aus dem Fenster, in seinen Gedanken nichts außer Leere und Erinnerungsfetzen an das, was die Dreckssau mit ihm gemacht hatte. Die und Gedankenfetzen über die Informationen, die Vincent ihm mit ruhiger Stimme gegeben hatte. 

Onkel Boris hatte Möller getötet – warum, das konnte Adam sich lebhaft vorstellen. Onkel Boris hatte die Dreckssau immer schon verehrt und vermutlich hatte er geglaubt, dass er ihn deswegen rächen musste. Ehrenkodex dies das. 

Jetzt würde sein hauseig… die Polizei kein Problem mehr haben, ihn im Gefängnis zu behalten. 

Das war wieder etwas, das Adam den Boden unter den Füßen wegzog. Mit Onkel Boris in Freiheit hätte er…

Adam verstummte selbst in seinen Gedanken, als er nicht weiter wusste. 

Was hätte er?

Er wollte weder das Syndikat fortführen noch irgendwie an diesem Leben teilnehmen. Er wollte einfach liegen und dann irgendwann weg sein. 

Was er nicht wollte, war die Psychotherapeutin anrufen, die ihm der Krankenhaussozialdienst empfohlen hatte. Eine unverbindliche Visitenkarte mit einer Telefonnummer, die Adam bei seiner Genesung unterstützen würde. 

Bullshit. Als wenn es jemals geholfen hätte, darüber zu sprechen, was passiert war und was Adam jetzt plötzlich nicht mehr aushielt, obwohl er es Jahre vorher noch weggesteckt hatte. 

Als sich ein Kopf durch die Tür schob, brauchte Adam einen Moment, um zu erkennen, wer hinter den verwuschelten Haaren steckte. 

„Hey, Schlafmütze“, grüßte Bastian und Adam fiel ein, dass er Bastian sein Leben zu verdanken hatte. Er hatte mit der Polizei gesprochen. Mit…ihm, damit sie ihn rausholten. 

Adam sagte nichts, sondern beobachtete ihn, wie er sich zu ihm aufs Bett setzte und vorsichtig die Hand hob um über seine Stirn zu streichen. 

„Vincent sagte mir, dass du eine gute Suppe vertragen könntest.“

„Keinen Hunger“, stieß Adam hervor, denn alleine der Gedanke an Essen verursachte ihm Unwillen. 

„Wetten, dass?“

Adam presste die Lippen wie ein störrisches Kind aufeinander, was an sich bittere Ironie war. Als solches hatte er nie gewagt, eine Mahlzeit ausfallen zu lassen, weil er nicht wusste, ob es eine nächste gab. Derart wählerisch zu sein, war…Luxus. Rebellion. Selbsthass. 

„Ich bin froh, dass du lebst, auch wenn du mehr Farbe vertragen könntest. Und dir der Weg zum Esstisch auch gut tun würde.“

„Nein.“

Bastian musterte ihn, dann zwinkerte er verschwörerisch. „Wenn du was isst, blas ich dir im Anschluss einen. For free.“

„Kannst du dann so tun, als wärst du Polizist?“, fragte Adam mit bitterer Ironie und Bastian seufzte.

„Auch das.“

Adam murrte, schraubte sich aber schließlich langsam und eines alten Mannes gleich hoch. 


~~**~~


„Wir brauchen dich, Adam.“

Der Schatten des vom Leben erfüllten Mannes, der sein bester Freund noch vor vier Wochen gewesen war, saß auf seinem in die Jahre gekommenen Sessel und Vincent musste sich davon abhalten, Adam aus seiner Zurückgezogenheit zu schütteln. Aus dem immer mehr aus sich herauskommenden und immer sozialer verankerten Mann war jemand geworden, der am Leben nur deswegen teilnahm, weil der Tod zu anstrengend und zu dunkel war. Er verkroch sich in Vincents Bett und klammerte sich in der durch Nachttischlampen erhellten Dunkelheit an Vincent. Er duschte, wenn Vincent ihn bei der Hand nahm und zuckte bei jeder Berührung, die er nicht kommen sah. Er aß, weil Bastian ihn dafür mit stillen Orgasmen belohnte und wehrte alle Versuche seiner Mutter, Zarah und Rahel ab, ihn zu briefen. 

Anstelle dessen brieften sie Vincent und dieser versuchte, die für die Familie Schürk besten Entscheidungen zu treffen und Heide Schürk eine Stütze in der leeren Zeit nach dem Tod ihres Mannes zu sein. Doch das ging nicht ewig gut und er konnte nicht abschätzen, wie sehr die Geschäftspartner von Roland Schürk nur darauf warteten, das Syndikat zu zerfleischen und sich Saarbrücken einzuverleiben.

„Wofür?“

Vincent seufzte und fuhr sich durch seine viel zu langen Locken. Eigentlich müsste er wieder zum Friseur. Uneigentlich hatte er keine Zeit dafür, denn er konnte Adam nur dann alleine lassen, wenn Zarah bei ihm war. 

Langsam kam er zu Adam und setzte sich vor ihm auf eines der Bodenkissen. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte seinen Freund und Mitbewohner bedachtsam am Unterschenkel, strich dort versichernd und sich in Erinnerung rufend über die Jogginghose. 

Adam kam langsam zurück zu ihm ins Hier und Jetzt und Vincent nickte anerkennend. 

„Für die Beerdigung und fürs Syndikat. Du musst die Lücke füllen, die er hinterlassen hat. Die Geschäftspartner warten darauf. Sie lauern auf eine Schwäche der Schürkfamilie. Deine Mutter braucht dich, denn sie kann diese Aufgabe nicht übernehmen. Ich brauche dich.“

„Wofür?“

„Du bist mein bester Freund. Ich liebe dich, Adam. Ich brauche deinen scharfen Verstand, deine abstrusen Ideen, deinen schwarzen Humor. Ohne dem fehlt mir etwas Wichtiges.“

Adam glaubte ihm nicht, aber er driftete nicht wieder ab. Vincent wertete das als Fortschritt, wenngleich er sich nicht sicher war, ob Adam seine vorherigen Worte verstanden hatte. 

„Wir werden sowieso im Knast landen.“

Vincent schüttelte den Kopf, erleichtert über das Aufgreifen des Themas. „Nein, Adam. Nein. Nicht, wenn wir es verhindern können. Rahel arbeitet an einer Verteidigungsstrategie. Und in der Zwischenzeit müssen die Geschäftspartner daran erinnert werden, dass sie uns nicht ans Messer liefern. Die Verknüpfungen habe ich unter Kontrolle, aber ich kann nicht mit den Partnern auf Augenhöhe sprechen. Das musst du machen, Adam.“

„Kein Zeugenschutz also?“

Vincent seufzte und hob seine Hand, legte sie sacht auf Adams Knie, die Handfläche nach oben. Es war eine Einladung, sie zu ergreifen und Adam tat nach Sekunden des Zögerns genau das. Seine geschiente Hand wog schwer in Vincents. Kurz um Ruhe suchend sah er auf den abgenutzten und an den Rändern fadenscheinigen Gips, der bald abkommen würde, damit Adam mit der Bewegungstherapie für seine Finger beginnen konnte.

„Dein Vater ist tot. Niemand kann dir mehr schaden. Du brauchst ihn nicht mehr.“

Adam wandte sein Gesicht ab, nach draußen, wo dicke, schwere Flocken fielen und alles mit einer weißen Schicht bedeckten. Sie machten die Welt hübscher, aber auch ein bisschen stiller. 

Er schürzte die Lippen und seine Stirn zog sich in sorgenvolle Falten.

„Ich falle, Vincent. Ich falle und der Fall nimmt kein Ende“, sagte Adam schließlich leise. Er schnaubte verächtlich. „Ich wünschte, er wäre noch da und würde mich schlagen. Oder herabwürdigen. Das ist das, was ich kenne. Ich habe danach gelebt und mein Leben ausgerichtet und jetzt? Jetzt ist das weg und ich weiß nicht, wohin. Ich warte auf den nächsten Schmerz, obwohl mir alles wehtut und ich Angst habe, die Augen zuzumachen. Ich warte darauf, dass er mich zu sich zitiert, doch nichts passiert. Ich warte, doch nichts passiert. Das war doch alles, was ich war. Und jetzt…jetzt soll ich er sein? Das kann ich nicht. Ich bin nicht…ich weiß doch selbst nicht, wie man lebt. Außerdem wird Onkel Boris nie wieder hier sein um zu helfen, dabei war er doch…“

Adam schloss seine Augen und schluckte, wie Vincent wusste, die aufkommende Panik hinunter. Vincent richtete sich auf und strich mit beiden Händen über Adams Unterarme. 

„Hey. Hey hey. Nicht, Adam. Ich bin hier.“

„Du bist nicht er“, presste Adam hervor und Vincent nickte ungesehen. Egal, wer er nun nicht war, ob Roland Schürk, oder Boris Barns. Vermutlich Adams Vater, der Adams Leben so sehr überschattet und dominiert hatte. 

„Das bin ich nicht und werde ich auch nie sein, aber wenn es notwendig ist, werde ich dir Spielregeln vorgeben, bis du eigene Spielregeln für dich gefunden hast. Wie klingt das?“

„Doof.“

Natürlich. Die fast kindliche Weigerung war das, was Vincent schon öfter begegnet war.

„Du bist dein eigener Mensch. Du hast dir trotz seiner Gewalt ein Leben und eigene Wünsche und Ideen aufgebaut, Adam. Du bist in der Lage dazu, für dich und ohne ihn zu existieren. Du brauchst nur das Werkzeug dazu und das kann dir jemand vermitteln, der dich professionell berät.“

„Ein Seelenklemper.“

„Ein Therapeut oder eine Therapeutin.“

„Ich bin nicht verrückt.“

„Nicht mehr als wir alle, trotzdem bist du traumatisiert.“

„Und das wird jetzt plötzlich zum Problem? Nach all den Jahren und nachdem, was er mit Elias und mir gemacht hat?“

Und mit Leo…wollte Vincent beifügen, biss sich aber auf die Zunge. Leos Folter hatte Adam mitgenommen, Leos Verrat aber auch. Er würde ihn nicht unnötig darauf stoßen. 
Vorsichtig legte Vincent seine Hand auf Adams Herz, spürte dem schlagenden Muskel nach. 

„Es war auch schon vorher ein Problem, aber vorher hast du dich im Krieg befunden – gegen ihn, gegen die Gewalt. Dein Körper und dein Geist haben den Ausnahmezustand angenommen um zu überleben. Doch jetzt ist der Krieg vorbei, weil er tot ist. Deine Abwehr feuert ins Leere und du weißt nicht mehr, was du bekämpfen sollst. Du weißt nicht mehr, welches Leben eigentlich verteidigungswert ist. Mithilfe einer geeigneten Therapie kannst du Mechanismen entwickeln, dass du dein Leben, was dir gehört, mit den Mitteln, die dir gegeben wurden, am Besten gestaltest. Ich bin kein Traumatherapeut, Adam, aber ich kann dich da unterstützen.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Dann haben andere Mütter und Väter auch schöne Söhne. Vor Leo warst du verliebt und du wirst es auch wieder werden. Und selbst wenn du nie wieder verliebt bist, dann ist das Leben lebenswert.“

Vincent spielte schmutzig mit seinen klaren, beinahe schon zu ehrlichen Worten, das wusste er. Aber Adam musste der Wahrheit ins Auge sehen, dass Leo Hölzer ihn nie geliebt hatte und dass er über ihn hinwegkommen musste. Und dass nicht alle Menschen etwas Böses von ihm wollten, sondern, dass es auch Menschen gab, die ihn so akzeptierten, wie er war.

Adams Aufmerksamkeit kam zu ihm zurück und die Eiseskälte in den blauen Augen ließ Vincent unwohl schaudern. „Einer wurde umgebracht, der andere hat mich verraten. Was macht der Nächste, in den ich mich verliebe?“

„Dich zurücklieben, so wie du es verdient hast.“

Lange Zeit erwiderte Adam darauf gar nichts. Bosheit lauerte auf seinen Lippen, das sah Vincent, doch Adam ließ sie nicht hinaus. Dann lehnte er seinen Kopf zurück. 

„Was für eine hübsche Gefängnisromanze wird das doch werden.“

„Nicht, wenn wir es verhindern werden“, knurrte Vincent und schnippte vorsichtig gegen die blasse Nase. „Und Rahel und Zarah ebenso wenig. Wir wehren uns dagegen und du hast das Leben in Freiheit, Ruhe und Unversehrtheit wahrlich verdient. Deine Mutter hat Glück ohne Gewalt verdient.“

„Muss ich jetzt auch in den Bunker ziehen?“ 

Vincent hasste die plötzliche Angst, die er aus den Worten hörte, und mitnichten würde er Adam der Hölle seines Lebens ausliefern, egal, wie lange Adam bei ihm wohnen und wie oft er sein warmes Wasser in der Dusche aufbrauchen würde. Trotzdem wellte Erleichterung in ihm auf. Denn es war so gut wie ein Ja. 

„Du bleibst bei mir…und ich begleite dich zu Besuchen dort, okay?“

„Nimm mich bloß wieder mit zurück“, murmelte Adam und Vincent gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. 

„Immer.“


~~**~~


Die Dreckssau hatte mit allem Pomp beerdigt werden wollen, mit Sargträgern, mit Reden zu seinem Leben, mit dem Respekt von allen, die er jemals unterworfen hatte. Er hatte das mit dem Bestattungsunternehmen seiner Wahl bereits geschäftlich so ausgemacht. 

Rahel hatte das Unternehmen nochmals fürstlich entlohnt und ihnen die Wünsche der Familie mitgeteilt, die nichts davon beinhalteten. Sie hatte dafür gesorgt, dass Roland Schürk weder eine Sargbestattung noch seine Träger noch seine Reden bekam. Die Beerdigung auf dem Friedhof von Sankt Johann hatte sie allerdings nicht verhindern können. 

Einziger Nachteil in Adams Augen…er musste neben dem Trauerredner am Pult stehen, seinen schmerzenden, schwachen Körper dazu bringen, sich aufrecht zu halten und Worte zu sprechen, die Rahel ihm vorher niedergeschrieben hatte. Nichts davon war das, was er in sich fühlte. Übelkeit drehte ihm den Magen um und am Liebsten wäre Adam ganz wo anders gewesen. 

In der Sicherheit von Vincents Bett. 

Je länger er auf das erste Blatt Papier starrte, desto mehr verschwommen die Worte vor seinen Augen. Seine Mutter und Vincent saßen in der ersten Reihe, mit ihnen Rahel und Zarah. Die Männer und Frauen, die nach und nach in die Trauerhalle gekommen waren, trugen Schwarz, so wie Adam auch. Sie zollten Respekt für ein Monster, das ihnen das Geschäftsleben zur Hölle gemacht, sie aber auch mit Profit versorgt hatte und nun erwarteten sie es anscheinend, dass er es der Dreckssau gleichtat. 

Adam wollte das Ganze lieber in die Luft sprengen. 

Er ließ seinen Blick über die Leibwächter streifen, die am Rand standen und auf die Prominenz der legalen und illegalen Geschäftsbeziehungen aufpassten. Alle bewaffnet, alle gewaltbereit, Natürlich. Adam kannte viele der Anwesenden, aber lange nicht alle.

„Mein Vater…“, begann er und würgte fast an dem Wort. Die Dreckssau war viel gewesen, aber das nicht. „…war ein Mensch, der wusste, was er wollte.“ Soweit stand es noch irgendwie auf dem Blatt. 

„Er war für die Familie ein…starker Patriarch, ein Mann, der mit Durchsetzungsstärke und Loyalität führte.“ Adam schluckte, als die Übelkeit zu viel wurde und ihm die bittere Magensäure seines leeren Magens hinten im Rachen lauerte. Was hier stand, war das Minimum an Anstand, das er aufbringen konnte, wenn die Dreckssau ihn nicht sein Leben lang verletzt, gedemütigt, erniedrigt hätte. Wenn er Elias nicht getötet hätte. Wenn…

Sein Vater war schuld, dass er so war, wie er war und dass er deswegen nicht geliebt werden konnte. 

Adam sah hoch, die Menschen in schwarz eine breiige Masse vor seinen Augen. Er atmete tief ein. Dem Monster seines Lebens schuldete er nichts, aber auch gar nichts. Doch, eine Sache schuldete er ihm. Adam lächelte und es war das stärkste Lächeln seit Wochen, das er in sich fühlte. 

Vor seinem inneren Auge stand sie da, die Dreckssau. Am Eingang, alleine, ermordet, geschlachtet im Gefängnis. Er wartete darauf, dass Adam ihn preiste, wie er es sein Leben lang von ihm verlangt hatte. 

Adam räusperte sich trocken, der Übelkeit in seinem Magen trotzend. „Roland Schürk war schwach. Er hat sein Imperium auf Unterdrückung, Angst und Herabsetzung erbaut. Sein einziges Ziel dabei war das Streben nach seinem eigenen Ruhm und seinen Vorteilen.“

Ein fragendes Raunen ging durch die Menge, doch Adam hatte nur Augen für den toten Mann, der in seiner Vorstellung tobte, aber ihn doch nicht zu fassen bekam. 

„Roland Schürk war schwach, denn er hat sich mit Vorliebe an denen vergriffen, die sich nicht wehren konnten. Mit Gleichstarken hat er sich niemals gemessen und sich hinter Gewalt und Überzahl versteckt.“

Das Raunen wurde lauter und unruhig. Hier und da vernahm Adam auch Zustimmung. 

„Roland Schürk war schwach, weil er Zeit seines Lebens niemals die Stärke dazu gefunden hat, jemand anderen an seiner Seite als gleichwertig zu erachten.“

Adam lächelte und die Bosheit darin tat ihm gut. Mehr als das. „Und deswegen ist er im Gefängnis abgestochen worden wie das Schwein, das er war. Geschlachtet von jemandem, der stärker war. Er hat den Tod bekommen, den er verdient hat und ich freue mich, dass er in seine Einzelteile eingeäschert wurde um in einem Grab hier auf dem Friedhof in Vergessenheit zu geraten.“

Totenstille begrüßte ihn und nun wandte Adam seinen Blick von der in sich zusammenfallenden Dreckssau ab, besah sich die Menge, ignorierte den sich räuspernden Trauerredner. Vermied den Blick auf seine Mutter und auf Rahel, die ihm nachher die Standpauke seines Lebens halten würde. 

„Ich werde nicht so sein wie er“, schloss er schlicht und drehte sich weg vom Pult. Er humpelte langsam mit Hilfe seines Gehstocks vom Podest, setzte sich neben seiner geschockten Mutter und seinem bleichen Vincent auf den harten, kalten Stuhl. Ob das als Drohung oder als Versprechen verstanden werden konnte, obließ er allen im Raum Anwesenden. 

Hoffentlich hörte Rahel ihn jetzt endlich auf zu nerven.

  
~~**~~  


„Ich sehe gute Chancen, Sie da heraus zu bekommen“, sagte Straubing, während er mit Leo zusammen die wenigen Blätter der Ermittlungsakte durchging. Leos Zeugenaussage, Krankenhausberichte, die Aussage von Matthias‘ Mutter…es war nicht viel, was dazu führen konnte, dass Leo verurteilt wurde.  

Leo grub seine Zähne in die Unterlippe und musterte den neben ihm sitzenden Mann. Straubing hatte den Namen seiner Frau angenommen, war seiner Schwester aber wie aus dem Gesicht geschnitten, nur eben zehn Jahre älter und bereits grau an den Schläfen. Anscheinend hatte Esther die Strenge der Familie mitgenommen, dann an der gelassenen Ruhe und teilweise auch Heiterkeit war nicht wirklich etwas von Esthers kritischem Denken zu erkennen. 

Leo war erst zögerlich gewesen, seine Hilfe anzunehmen, hatte aber den Fehler gemacht, die Visitenkarte liegen zu lassen. Der Familienrat war eindeutig anderer Meinung gewesen und auch jetzt saß Caro wie eine stumme Wächterin bedrohlich neben ihm und passte auf, dass er bloß nichts Falsches sagte. 

Oder ablehnte.

Aber was sollte er auch ablehnen? Hier stand schwarz auf weiß, was er getan hatte. Warum er es getan hatte. Sein Tagebuch, mit dem Adam Schürk ihn erpresst hatte, war Bestandteil der Akte, ein Zeugnis an Hilflosigkeit und Scham, an Verzweiflung und schlussendlich einem Jungen, den das schlechte Gewissen auffraß. Leo konnte es nicht lesen, auch jetzt noch nicht, aber das musste er auch gar nicht. Denn mit diesem Tagebuch waren auch andere Berichte dort, die Aussage von Matthias‘ Mutter, dass ihr Sohn wieder und wieder geschlagen worden war, allem voran. Dass an dem Tag ihr Mann mehr als wütend gewesen war und sie bewusstlos geschlagen hatte. 

Alles Gründe für Nothilfe. 

Leo war erstaunt darüber, dass eine Schuld, die Jahrzehnte alt war, und damit die Angst, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte, nun nicht mehr existierte.  

„Ich verfasse die Schutzschrift und ich denke, dass wir vor Weihnachten noch eine Antwort der Staatsanwaltschaft haben werden.“

 
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„Wobei kann ich Ihnen helfen?“

Die tiefe Stimme der Mittfünfzigerin war so ein Gegensatz zu allem, was Adam jemals in seinem Leben gehört hatte, dass er wie bei der Begrüßung auch einfach starren musste. Wenn er die Augen schloss, würde er bei den ersten Silben glauben, dass sie ein Mann wäre…was dann bei spätestens nach dem zweiten Satz umschlug, aber dennoch. 

Widerwillig konzentrierte er sich auf ihre Frage und ließ sich dann doch von dem Raum ablenken, in dem er saß. Hier war alles hell, weihnachtlich bunt, aber nicht zu bunt. Der Sessel war bequem und eine Wohltat nach den vergangenen Tagen. 

Wenn er geahnt hätte, dass seine Zustimmung zum Leben an sich bedeutete, dass Vincent ihn zur Physiotherapie, zu Rahels Büro, wieder zur Physiotherapie, zu Ärzten, erneut zu Rahel, zurück zu Vincents Wohnung und dann noch nach draußen schleifen würde, hätte Adam niemals sein OK dafür gegeben. Mitnichten hätte er das. 

Die ersten Treffen mit Geschäftspartnern waren an Adam vorbeigezogen wie schlechte Träume…er erinnerte sich an nicht mehr viel außer an Rahel an seiner Seite und Vincent in seiner Nähe. An einen Anzug, den er ohne Gürtel tragen musste, weil er das Leder nicht anfassen konnte. Mit langen Ärmeln, weil er geschützt sein wollte. Schwarz in Schwarz. Seine Mutter war vorbeigekommen, aber was sie besprochen hatten, das wusste Adam nicht mehr. 

Er schwebte immer noch am Rand der Welt, nicht wirklich verankert im Jetzt und erst nachdem die von Rahel vorgeschlagene Frau Doktor Sofia Aguado-Voigt sich vorgestellt und Vincent ihn mit ihr alleine gelassen hatte um draußen zu warten, begriff Adam erst wirklich, dass es ernst wurde. 

Mit ihm hier. Und dem, was in ihm war.

„Keine Ahnung“, zuckte er mit den Schultern und versteckte seine Hände in dem rosanen Hoodie, den er zu diesem Anlass doch tatsächlich hatte anziehen dürfen. Nicht, dass Vincent ihm Vorschriften machte, nein, aber er…machte Ratschläge. Oder guckte einfach, wenn Adam irgendetwas aus dem eigens für ihn eingerichteten Kleiderschrank griff, das Vincent gehörte. 

Die Seelenklempnerin – Therapeutin – lächelte, als hätte er etwas Tolles gesagt und Adam verlor sich in dem Bild hinter ihr, das Ähnlichkeit mit einem Regenbogen hatte. Entfernt. Ganz konnte er es mit seinen Kopfschmerzen nicht sagen. Die vernarbenden Wunden juckten und er wünschte, Vincent wäre hier, damit dieser an seinen Rücken kam.  

„Ich wette mit Ihnen, dass Sie mich mit mehr Ahnung verlassen werden“, zwinkerte sie und Adam schürzte die Lippen. 

„Vermutlich gehe ich eher ins Gefängnis“, murmelte er und sie blinzelte. 

„Ich wette blind dagegen.“ 

Adam rechnete ihr hoch an, dass sie nicht nach dem Warum fragte, das er ihr sowieso nicht beantworten konnte.

„Da könnten Sie sich mit den anderen zusammentun. Ich werde aber Recht behalten.“ Auch wenn es diesen minimalen Ball an Angst in seinem Magen gab, der hoffte, dass er nicht ins Gefängnis kam.

„Wie wäre es, wenn wir die Wette im Hinterkopf behalten und Sie mir sagen, wie ich Sie nennen soll. Ist Ihnen Herr Schürk oder Adam lieber?“

Dieses Mal brauchte es etwas länger, bis er antwortete. Er hasste den Namen. Eigentlich beide.

„Adam.“

„Freut mich sehr, Adam. Wenn Sie möchten, können Sie mich gerne Sofia nennen oder Frau Aguado-Voigt.“

Niemand suchte sich einen solchen Doppelnamen aus, befand Adam. Das war doch Unsinn. Er rollte mit den Augen und schob sich unauffällig ein wenig nach hinten in den bequemen Sessel, um seinen ätzenden Rücken zu schubbern und seine Knie noch mehr zu entlasten. Mittlerweile nahm er auch nicht mehr ganz so viele Schmerztabletten. Vincent gab sie ihm noch regelmäßig, aber die Dosierungen wurden niedriger. Dafür durfte er immer noch keinen Alkohol trinken und Adams Suche nach eben selbigem in Vincents Schränken war bisher erfolglos verlaufen. 

Er schweifte wieder ab mit seinen Gedanken und löste sich abrupt aus den Erinnerungen. 

„Sie sollen mir den Kopf zurechtrücken und mein lebenslanges Trauma bearbeiten. Was auch immer besser passt, ich nehme Sofia“, erwiderte Adam und wollte jetzt schon weg, auch wenn es gut roch. Undefinierbar, aber gut. 

Vincents Bett wäre schön. Das roch nach Vincent und damit nach Sicherheit.


~~**~~


Am Tag vor Weihnachten regnete es aus Kübeln bei Temperaturen von vier Grad. Der Himmel war wütend grau und Leo warf einen nachdenklichen Blick nach draußen. 

Als er begriffen hatte, dass er mit jedem Tag, den er sich der Welt verschloss, mehr den Bezug zu ihr verlor, hatte Leo angefangen, sich ihr wieder zu stellen. Er achtete bewusst auf die Temperaturen eines Tages. Oder die Nachrichten aus Saarbrücken oder der Welt. Die Beerdigung von Adams Vater hatte er so schnell es ging weggeklickt und sich dann den Fußballergebnissen gewidmet.

Er stellte Fragen zu den Kunden, die seine Mutter hatte, und zu den verkauften Weihnachtsdekorationen, er fragte Caro nach ihren Patientinnen und Patienten. Kleine Dinge, die ihn verankerten und ihm bewusst machten, dass es eine Welt gab, in der es lebenswert war.   

Wenn er das Wetter einmal ausklammerte und sich nicht daran erinnerte, dass er heute Morgen eine 80 Kilogramm-Dogge durch den Wald hatte schleifen müssen, weil Herbert so gar keine Lust auf Regen gehabt und Leo dabei angesehen hatte, als wäre er sein persönlicher Erzfeind und Schinder, der ihn hinaustrieb ins Nasse. 

Aus Rache hatte er sich auch erst im Hausflur neben Leo geschüttelt, auf Leos empörtes Geräusch hin selbstzufrieden gebrummt und sich dann mit dem Hintern zum Raum an den Kamin gelegt. 

Leo war mittlerweile wieder trocken und in seiner weichen Trainingshose, als der Wagen von Esthers Bruder auf die Einfahrt seiner Eltern fuhr und Leos Herz schneller schlagen ließ. Herbert nutzte die Gelegenheit und stibitzte sich den Apfel, den Leo sich soeben aufgeschnitten hatte, ging damit ins Wohnzimmer stiften. Wirklich böse konnte Leo ihm dafür nicht sein.

Er konnte gerade gar nichts sein, denn sein Innerstes war wie leergefegt. Er würde wahrscheinlich die Antwort der Staatsanwaltschaft im Gepäck haben. Das Dokument, was sein Schicksal besiegeln würde. 

Schweigend öffnete Leo ihm die Tür und der gelassene Mittvierziger betrat lächelnd das Haus, grüßte ihn mit einem vertrauenserweckenden Handschlag. Nicht einmal hatte er sich aus der Ruhe bringen lassen, egal, was Leo ihm erzählt hatte. Da war nur Akzeptanz und ruhige 

„Guten Tag Herr Hölzer, wie geht es Ihnen?“

Beschissen wie immer, aber was brachte es, die Menschen in seiner Umgebung mit seiner Unzulänglichkeit zu nerven? Leo war dazu übergegangen, Fragen mit Lügen zu beantworten. Gut ging es ihm, ja, das Essen schmeckte ihm, nein, die Nacht war gut gewesen. Es war leichter, als die Sorge in ihren Gesichtern zu sehen. 

Noch mehr als jetzt schon.

„Gut. Und Ihnen?“

„Vielen Dank, ausgezeichnet. Schauen Sie, was ich mitgebracht habe.“

Noch im Flur zog Straubing seine Aktenmappe hervor und reichte Leo ein Blatt Papier, das unzweifelhaft den Briefkopf der Staatsanwaltschaft trug. Dort war sein Aktenzeichen, sein Name, der Ermittlungsfall, der er war. 

Eine Seite, nicht mehr als drei Sätze, staatsanwaltschaftlich knapp, die mit der Einstellung des Verfahrens nach § 170 II Strafprozessordnung endete. 

Leos Hände zitterten und verständnislos sah er hoch. 

„Meine Schutzschrift war erfolgreich, Herr Hölzer. Die Staatsanwaltschaft hat sie ohne weitere Anmerkungen akzeptiert.“

Die Worte der SoKo-Ermittlungsleitungen hallten in Leo wieder. So einfach war das letzten Endes? So…sanft für ihn? Ein Verfahren, das er mit seiner Zeugenaussage bestritten hatte. Mit einem Anwalt, der sich um die Schutzschrift kümmerte. Mit einem Staatsanwalt, der ihn nicht hinter Gittern sehen wollte. Mit einer Polizei, die ihn unterstützte. Doch, trotz allem. 

„Das ist ein toller Erfolg, Herr Hölzer. Damit sind Sie frei von jedwedem Vorwurf des Totschlages.“

Frei… ein schöner Gedanke, der so viel in Leo aufwühlte wie die letzten Wochen es nicht geschafft hatte. Der ihm bodenlose Erleichterung und überschäumende Freude brachte. Der aber auch einen weiteren Schlussstrich unter etwas setzte, das Leos Leben die letzten anderthalb Jahre bestimmt hate. 

Leo lächelte automatisiert, damit er nicht undankbar erschien. War er schließlich auch nicht, denn das ersparte ihm Prügel und andere, schlimme Dinge im Gefängnis. Es ließ ihm seine körperliche Freiheit und dafür war er dankbar. 

„Sie haben es geschafft“, murmelte er erstaunt und Straubing klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. 

„Wir, Herr Hölzer. Sie und ich, wir haben es geschafft. Das ist doch ein tolles Weihnachtsgeschenk, oder?"

Ein tolles Weihnachtsgeschenk wäre es, wenn Adam wieder überraschend vorbeikäme und mit im Kreis seiner Familie sitzen würde. Wenn er ihn nicht hassen würde, aber Leo wollte nicht undankbar sein. Er hatte Grund, dafür dankbar zu sein.

Auch dafür, dass seine Familie keinen verurteilten Straftäter als Sohn und Bruder hatte. 

Das milderte aber nicht den inneren Schmerz. 

Straubing wünschte ihm frohe Weihnachten und fuhr zu seinem nächsten Termin, ließ Leo mit sich und seinem Schmerz alleine. Den er zu betäuben versuchte, indem er nach draußen ging und sich im T-Shirt einregnen ließ, bis es unerträglich wurde und er ein zitterndes Bündel an Muskeln, Blutgefäßen und Knochen war, seine Füße kalt, seine Hände taub. 

Als er sich steif in Richtung Tür bewegte, standen Herbert und sein Vater dort, musterten ihn sorgenvoll. Leo sagte nichts und trat ein, blieb wie Falschgeld im Wohnzimmer stehen. 

„Geh‘ dich umziehen, Junge. Ich koche dir einen Kakao mit Sahne“, sagte er mit zu viel Sorge in der Stimme. 

Leo blieb jedoch stehen und sah seinen Vater an, der ihm seit seiner Jugend beiseite stand. Der ihn nie im Stich gelassen hatte. Sein Papa wollte auch nichts von einer Schuld seines Sohnes wissen und urteilte auch nicht darüber, dass sein Sohn sich in den Mann verliebt hatte, der ihm so weh getan hatte. 

„Papa?“

Fragend legte dieser den Kopf schief. 

„Ich bin frei. Der Bruder von Esther war grad hier. Die Staatsanwaltschaft hat die Schutzschrift akzeptiert und das Verfahren gegen mich ist eingestellt“, fasste er das Ende einer jahrelangen Furcht zusammen und für Sekunden herrschte Stille. Dann kam sein Vater zu ihm und umarmte ihn so langsam, als würde er sich fürchten, dass Leo irgendwann verschwand. Er sagte nichts, sondern hielt Leo, auch dann, als sich nicht nur ein Knoten löste, der schon Jahrzehnte alt war. 

„Ich hätte mich niemals erpressen lassen müssen, Papa. Mich niemals auf ihn einlassen müssen, als er mich dazu gezwungen hat. Ich hätte es einfach sagen können. Dann würde ich ihn jetzt auch nicht vermissen und es würde auch nicht so wehtun.“

Sein Vater sagte nichts, sondern seufzte sanft. Er war gnädig genug, nichts zu Leos kruder Logik des Bedauerns zu sagen, sondern strich ihm beruhigend über den Rücken. 

„Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Sie prägt uns, aber sie bestimmt nicht unsere Zukunft. Er war für eine Zeit ein Teil deines Lebens, Leo, aber dein Leben geht weiter. Ohne ihn. Und es wird sich zum Besseren wenden.“

Würde es das? Ein minimaler Teil in Leo hoffte es. Der Rest wehrte sich gegen den Gedanken, von nun an ohne Adam zu sein. 
 

~~**~~


Zugegeben, Vincent hatte gedacht, dass es Heide Schürk war, die bei ihm klingelte. 

Wenn es nach Adam ginge, hätte dieser heute gar nichts gemacht. Weiterhin auf dem Sessel gesessen, nach draußen gestarrt und darauf gewartet, dass Vincent mit etwas zu essen oder einer Aufgabe kam. Weihnachten hatte er die letzten Tage und Wochen nicht auf seiner Agenda gehabt und auch jetzt hatte er nur Adams künstlichen, kleinen Weihnachtsbaum mit integrierten Lichtern und fest verankerten Kugeln aufgestellt, damit sein bester Freund etwas hatte, an dem er sich aus den letzten Jahren festhalten konnte. 

Viele Weihnachten, die er erst in den Klauen seines Vaters und dann in den Armen von Vincent selbst verbracht hatte. Letztes Weihnachten im Kreis der Familie Hölzer. Dieses frei von Gewalt, auch wenn Adam das nicht als positiv ansah.

Noch nicht. 

Vincent würde alles dafür geben, dass dem schlussendlich der Fall sein würde. Deswegen hatte er auch Bastian zum Kochen hergeholt. Und Frau Schürk angerufen. 

Er besann sich darauf, dass er eben jene vor seiner Tür warten ließ und betätigte den Summer. Langsam kam sie die Treppen zu seiner Altbauwohnung hoch, die Adam seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus tausendmal mehr verfluchte als sonst. Schon als sein Vater noch lebte, hatte er versucht, Vincent dazu zu bewegen, in ein Haus mit Aufzug zu ziehen, doch er hatte sich erfolgreich geweigert. 

Der Mensch, dessen Schopf er als erstes sah, war aber nicht Frau Schürk. Der Mensch, der sich langsam, Stufe für Stufe hochkämpfte, war der Mensch, den Vincent neben Adam am Meisten liebte: Adam Raczek, Kriminalhauptkommissar aus Świecko. 

Vincent starrte perplex auf eben jenen, mit dem er gestern noch geskyped und sich über seine Fortschritte gefreut hatte. Adam hatte nichts gesagt. Gar nichts. 

Vor lauter absurder Realität war Vincent nicht in der Lage, sich zu rühren und Adam in seinem Kampf die letzten Stufen zu unterstützen, sondern wartete, bis der Mann seines Herzens sich hochgekämpft hatte und erschöpft schnaufte. 

„Scheiße nochmal, du brauchst eine Wohnung mit Aufzug!“, beschwerte sich auch dieser Adam und Vincents Herz quoll über von überraschter Liebe und Zuneigung. Er streckte seine Hände aus, um ihn zu berühren und war dennoch unsicher, ob er durfte. Konnte. Was Adam sagen würde, wenn er wüsste, was geschehen war.    

„Was machst du hier?“, fragte er immer noch fassungslos und Adam grimmte entschlossen. 

„Wonach sieht’s denn aus? Mit dir und Blondie Weihnachten feiern.“

„Aber dir geht’s nicht gut!“

„Lieber geht’s mir hier nicht gut als drüben ohne dich, also lässt du mich jetzt rein? Ich muss mich hinsetzen.“

„Bist du alleine hierhin gefahren?!“

„Krankentransport, wie so’n Opa. Der Taxifahrer hat gar nicht mehr aufgehört zu reden und durchgesessen war der Sitz auch noch. Ganz zu schweigen davon, wie teuer es war. Und jetzt lass mich rein.“

Vincent nickte und führte Adam zum anderen Adam ins Wohnzimmer. Fragend sah er Adam ins Gesicht, der Adam ebenso fragend ins Gesicht sah. Der wiederum Vincent fragend ins Gesicht sah. 

„Du siehst scheiße aus“, brummte sein Frankfurt-Adam schließlich und der Saarbrücken Adam ließ seinen Blick über seinen Namenszwilling schweifen. Er hob die Augenbrauen und schnaubte.

„Du auch.“

Hilflos seufzte Vincent und setzte Adam auf die Couch, damit er sich ausruhen konnte. Dünn war er geworden, viel zu dünn. Der Überraschungsbesuch war schön… aber. 

Besorgt sah er zu Adam, der die Betrachtung des Weihnachtsbaumes anscheinend zugunsten der Musterung des Neuankömmlings aufgegeben hatte. 

„Ist das in Ordnung für dich?“, fragte Vincent und das gleichgültige Schulterzucken nahm er Adam keinen Moment lang ab. Adam würde mit genug Dämonen zu kämpfen haben an diesen Tagen, da wäre ein zusätzlicher Gast eine zu große Belastung.

„Wenn ich schon nicht geprügelt werde an Weihnachten, dann sollte das wohl drin sein. Bleib solange du willst, aber ich schlaf mit im Bett. Und ich schreie nachts, den Grund kann dir dein Liebchen erklären.“

Verwirrt sah sein Frankfurt-Adam zu ihm und Vincent war fast froh, als es erneut klingelte und es dieses Mal tatsächlich Frau Schürk war. Hoffentlich.

„Ich erkläre es dir später in Ruhe, okay?“, fragte Vincent hoffnungsvoll und Adam brummte. 

„Will ich doch schwer hoffen.“

Mit einer großen Tasche voller Geschenke und einem hoffnungsvollen Lächeln, das viel davon sprach, wie erleichtert sie war, dass ihr Mann gestorben war. 


~~**~~


Das Schlimmste, befand Adam, war nichts für seine Mutter zu haben, obwohl sie jetzt jedes Geschenk der Welt annehmen und aufstellen konnte. So viele Jahre hatten sie sich heimlich Dinge schenken müssen und jetzt waren sie endlich frei von ihm, doch Adam hatte in seiner Starre an alles gedacht, nur daran nicht und weder Rahel noch Zarah noch Vincent hatten ihn daran erinnert.

Unzuverlässige Mitarbeitende fand man überall.

Adam sah auf den Stapel an Büchern, der auf dem Tisch neben ihm lag. Bildbände, Belletristik, Bücher über Zauberer…seine Mutter hatte anscheinend die örtliche Buchhandlung leer gekauft und ihm dazu noch eine Kiste seines geliebten Rotweins geschenkt. 

Es war Rebellion pur, gegen einen Mann, der unter der gefrorenen, schneebedeckten Erde lag.

„Ich habe nichts für dich, Mama“, sagte er flüsternd, als ob er noch verstecken müsste, dass er ihr etwas schenken wollte. Musste er nicht mehr, aber die letzten Jahre über hatte er es getan. Als die Gefahr bestand, dass sie beide bestraft wurden. Doch jetzt, jetzt, wo er es gefahrlos konnte, hatte er nichts und es kam ihm wie Verrat vor. 

Wie gut, dass seine Mama da weniger harsch mit ihm umging. Sie stand vor ihm, die Wangen strahlender als zuvor und er roch den Rotwein an ihr, den sie zum von Bastian für sie alle gekochten Essen getrunken hatte. 

Vincents Fast-Ehemann hatte dem weihnachtlichen Spektakel mit großen Augen beigewohnt und Adam war dann doch überrascht von dessem Nichtwissen, dass es das erste Jahr war, indem er nicht rezitieren musste, was die Dreckssau getan hatte. Es auch nur fast getan hatte. Wieder so etwas, das nicht mehr war, nicht mehr sein musste und Adam in ein noch tieferes Loch stürzte, weil er nicht wusste, wie es ohne war. Konnte man ihm es da verdenken, dass er am Tisch im Bruch mit der guten, alten Tradition gesagt hatte, dass er Elias wirklich geliebt hatte? 

Nein. 

Seine Mama umfasste seine gesunde Hand und legte sie an ihr Herz. Tränen stiegen ihr in die Augen und Adam hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen, dass er ihr nichts besorgt hatte. Vielleicht konnte er noch einen der Juweliere anrufen, die mit der Hilfe des Syndikats Geldwäsche betrieben? 

„Du hast mir dieses Jahr das größte Geschenk von allen gemacht, Adam.“

So ganz konnte er der Logik nicht folgen und entsprechend irritiert runzelte er die Stirn. „Wieso?“

„Du bist am Leben, während er es nicht mehr ist.“

Simple, schlichte, leise Worte, die Adam dem guten Beispiel seiner Mutter folgen ließen. Es dauerte seine paar Sekunden, aber dann kamen sie. Im Gegensatz zu ihr heulte Adam jedoch wie ein Schlosshund, weinte die Tränen, die die restlichen Weihnachten nie fallen durften. Er heulte um alles, was geschehen war und was er verloren hatte. Um die Menschen, die er verloren hatte und um den Menschen, der er niemals hatte sein können. 

Wie er in die Arme seiner Mama gekommen war, wusste er nicht. Wie lange er mit ihr auf der Couch gesessen hatte, während Vincent im Schlafzimmer vermutlich Adam vögelte, nachdem er ihm alles erklärt hatte, auch nicht. 

Aber er saß und wurde gehalten und entgegen seinem festen Vorsatz, diesem Leben nichts mehr abzugewinnen, lösten sich Knoten in ihm, die so festgezurrt waren, dass Adam eine ganz neue Atemfreiheit gewann. Druck, der Jahrzehnte auf seiner Brust gelegen hatte, löste sich und nahm das Gewicht von ihm, das ihn jedes Jahr mehr erwürgt hatte. 

Einer jedoch löste sich nicht und der hieß Leo, hatte grüne Augen und eine wunderbare Stimme. Konnte man es Adam da verübeln, dass er kurz dem Verlangen erlag, zu dem Mann zu fahren so wie letztes Jahr auch?


~~**~~

„Hey, Traumtänzer, woran denkst du?“

Leo blinzelte und sah zu Caro, die wie eine Lavalampe neben ihm stand und ihn weinselig anlächelte. Alles wie immer im Staate Hölzer an Weihnachten und trotz aller Wehmut der letzten Monate war das eine gewohnte, liebe Tradition, die Leo so etwas wie Ruhe und ein kleines, Quäntchen Glück vermittelte. Unterstützt vom Rotwein, den er trank. 

Er löste sich von seiner Musterung der Straße vor sich, insbesondere dem Parkplatz, auf dem Adam letztes Weihnachten gestanden hatte und lächelte, die Hoffnung, dass Adam wieder spontan vorbeikommen und mit ihnen Weihnachten feiern würde, in die hinterletzte Ecke seines Verstandes schiebend.

„An ihn“, gab er zu, auch das immer öfter. Es war okay, zuzugeben, dass er Adam trotz allem vermisste. Es befreite ihn und er wurde dafür von seiner Familie nicht verurteilt. Sie stützten ihn, halfen ihm bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten, der mit ihm seine Vergangenheit aufarbeitete und ihm half, mit dem Trauma der Entführung und Folter umzugehen. 

Caro umarmte ihn und schmatzte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange. „Wenn ich ihn sehe, dann trete ich ihm ganz doll vors Schienbein, okay?“

„Mach das“, murmelte Leo und lehnte seinen Kopf an Caros. 

 

~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 59: Schuldig im Sinne der Anklage

Notes:

Guten Abend zusammen,

hier nun der neue, lange Teil zur Anatomie. Es geht weiterhin aufwärts mit allen Beteiligten. Und wer weiß, vielleicht gibt es sogar ein Wiedersehen? 😉

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen. 🌻♥️

Vielen lieben Dank euch an dieser Stelle für eure Kudos, Klicks, Kommentare und Sprachnachrichten, euer Lob und grundsätzlich eure lieben, persönlichen Worte in Bezug auf diese Geschichte. ♥️ Es bedeutet mir sehr viel und ich freue mich über jedes Einzelne!

Chapter Text

 

„Schönen guten Tag, Leo Hölzer mein Name. Ich bin hier, weil ich…“

Leo verstummte mitten im Satz und musterte sich beinahe scheu im Badezimmerspiegel. Er war hier, weil. Ja. Weil Dinge passiert waren, die niemals hätten passieren dürfen. Jahre seiner Jugend und Monate seines Erwachsenendaseins. Aber eigentlich spielte der Zeitraum keine Rolle, denn es reichten unterm Strich fünf Stunden, damit er nicht mehr seine Kopf unter Wasser halten konnte. Es reichte eine Minute, bis seine Welt zerbrach. 

Er hatte gleich seinen ersten Termin bei einem potenziellen Therapeuten und schon jetzt waren Leos Hände schwitzig, weil er nicht wusste, wie er mit dem beginnen sollte, was ihm zugestoßen war. 

Er atmete tief durch, versuchte, seine Nervösität wegzuatmen. „Ich bin hier, weil ich in der Schule Opfer von Körperverletzung und Mobbing geworden bin.“ 

Da sprach jetzt der Polizist aus ihm, der sich als einen Fall ansah. Vielleicht war das besser so, erträglicher auch. Zumindest blockierten hier jetzt nicht seine Stimmbänder. 

„Und vor anderthalb Jahren, da bin ich erpresst worden. Jemand hat mich dazu gezwungen…“

Leo verstummte. Jemand. Ein Mann mit blonden Haaren, blauen Augen und einem rauen, rotzigen und ihn auf die Palme bringenden Charme, der Leo dazu gebracht hat, schlussendlich mit ihm ins Bett zu steigen. Entgegen jede Wahrscheinlichkeit hatten sie zueinander gefunden. 

„…sein Vater hat mich foltern lassen. Ich wurde…“

Alleine die Erinnerung an fünf Stunden in der Gewalt von Roland Schürk und seinen Männern reichten, damit sich Leos Puls beschleunigte und sich sein Blickfeld verengte. Seine Hände zitterten und für Sekunden hatte er das Gefühl, als würden sich Kabelbinder in seine Haut schneiden und als würde er nicht atmen zu können. 

Als ob du das nicht verdient hättest, SoKo-Hure, sagte der Spiegel-Adam, der ihm mit Verachtung entgegenstarrte und abrupt senkte Leo den Blick. Dass er dadurch den bösen Worten nicht entkommen konnte, wusste er aus seinen Alpträumen, in denen ihn Adam immer wieder für das verdammte, was er getan hatte. Es ihm immer wieder entgegenwarf, mit all der Verachtung, die er aufbieten konnte. 

„Leo, kommst du?“, rief Caro von unten und er zuckte zusammen. Sie brachte ihn dahin, damit er auch wirklich ankam und damit er sich auch wirklich traute. Das war ihr Deal gewesen. 

„Ja“, krächzte er und verließ überhastet das Bad. Er kam auf wackligen Beinen die Treppe hinunter und ignorierte so gut es ging Caros Besorgnis, mit der sie ihn empfing und zum Auto brachte. 

„Alles wird gut, Leo. Du brauchst keine Angst zu haben“, murmelte sie auf der Hälfte der Strecke der viertelstündigen Fahrt und Leo nickte stumm. Er glaubte nicht daran, aber es war besser ihr zuzustimmen. Für Diskussionen hatte er nicht die Kraft und auch nicht den Mut. Und vielleicht würde es irgendwann besser werden. Musste es sogar, denn er musste ja wieder zurück zur Arbeit. Und bevor er wieder eine Waffe in die Hand gedrückt bekam, musste der psychologische Dienst sich sicher sein, dass er damit nichts anstellte. 

Nicht so wie…

Nein, die Zeiten waren vorbei, auch wenn sein Privatleben gerade nicht schön war. Sein Berufliches würde wieder in geordneten Bahnen laufen, aber der Rest?

„Ich bin bei dir, Leo“, versicherte Caro ihm, als sie parkten. Er spürte ihre Aufmerksamkeit auf sich und es war ihm unangenehm. Immer war er derjenige in der Familie, der den anderen Sorgen machte. 

„Bis später“, erwiderte Leo entsprechend flüchtig und schnallte sich ab. Er hatte das Auto verlassen, bevor sie ihm noch etwas mit auf den Weg geben konnte und überwand die letzten Meter zu dem schlichten Nachkriegsbau, in dem sich die Praxis des Mannes befand, der ihm dabei helfen sollte, seine Schlaflosigkeit und seinen Schrecken loszuwerden. 

Die Praxis lag im Hochparterre und noch nie war es Leo so schwer gefallen, Stufen zu nehmen. Genauso schwer, wie es ihm gefallen war, die Mail zu schreiben. Den Termin zu machen. Ein Telefongespräch mit dem Mann zu führen.

Als er ins Wartezimmer kam, war niemand dort und unwohl stellte er sich in die gegenüberliegende Ecke zur nächsten Tür. Die Wände waren mit neutralen Naturfotografien behängt und er sah ein Bücherregal mit Kinderbüchern. Ein kleiner Mal- und Spieltisch stand auch dort und alles in allem beruhigte Leo die Abgegriffenheit mancher Bücher. Er fragte sich, wie es gewesen wäre, wenn er schon als Jugendlicher Hilfe in Anspruch genommen hätte. Ob er dann in jemanden wie Adam verliebt hätte, der ihm wehtat. 

Die Tür ging auf und eine Frau mit rotgeweinten Augen kam aus dem Raum. Leo musterte sie flüchtig beim Gehen und schluckte dann schwer. 

Es sah nicht so aus, als würde es ihr gut gehen und war das nicht der Sinn eines Psychotherapietermins? War er hier dann überhaupt richtig? Was, wenn der Mann Anfang Fünfzig, der nun ebenfalls aus dem Besprechungszimmer kam, ihn verurteilte für das, was er getan hatte? Für das, was er war.

Leo hob mutiger als er sich fühlte, den Blick. Der Therapeut sah aus wie ein britischer Buchladenbesitzer, einschließlich der Fliege und der gewellten, schwarzen Haare. Er strahlte auch ohne ein Wort zu sagen eine Sanftheit und Ruhe aus, die Leo erschaudern ließ. Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier starrte er ihn an, seine Kompetenz und Fähigkeit zu sprechen mit einem Mal verdorrt. 

„Sie sind Herr Hölzer, nicht wahr?“, half ihm Doktor Mertens auf die Sprünge und kam zu ihm, blieb aber stehen, als er bemerkte, wie sehr Leo das belastete. Nur minimal veränderte er seine Haltung und brachte Abstand zwischen sie. „Möchten Sie mich vielleicht begleiten?“

Leo nickte schweigend und erst, als Mertens sich umgedreht hatte und vorging, traute er sich auch aus der Ecke hinaus. Hinein in ein ungewisses Gespräch.

Mertens bot ihm den linken der beiden schwarzen Sessel an und Leo ließ sich vorsichtig darauf nieder. Es roch gut, ein wenig nach Zimt und nach einem vergangenen Weihnachten. Ein bisschen Zitrus hing auch noch darunter. Wie der Raum aussah, konnte Leo nicht sagen, da er sich nicht traute, den Blick von dem ihm gegenübersitzenden Mann zu nehmen. 

„Was kann ich für Sie tun, Herr Hölzer?“, fragte dieser weich und Leo öffnete seine Lippen. Er hatte es zuhause geübt. Er hatte es doch wirklich geübt. Alles, was er zu sagen hatte. Seine Jugend, die Erpressung, die Folter…

Doch nichts davon wollte hinaus, so sehr Leo auch kämpfte. 

„Ich brauche Hilfe“, flüsterte er anstelle dessen so hilflos und leise, dass er sich nicht sicher war, gehört worden zu sein. 


~~**~~


„Meine Fresse, war das laut heute Nacht.“

Adam starrte auf die Bäume hinter Vincents Haus, die sich die größtmögliche Mühe gaben, trostlos auszusehen. Weihnachten war vorbei, Silvester auch, die Tage wurden länger und trotzdem war alles Scheiße in Saarbrücken. Die Stadt, die Menschen, die Nächte. 

Selbst die Menschen, die nicht aus Saarbrücken kamen, waren Scheiße. 

Er schnaubte verächtlich und beachtete Vincents Adam maximal aus dem Augenwinkel heraus, während sie beide auf grau in braun in grau draußen starrten. Vincent selbst war unter der Dusche, schon seit geraumer Zeit, und Adam hatte das Gefühl, dass er den Abstand brauchte. 

Adam würde auch Abstand von sich brauchen, also war das nur nachvollziehbar. Vielleicht sollte er bald wieder in eine eigene Wohnung ziehen und nachts die Gegend zusammenschreien, wenn er glaubte, sein restliches Leben in dem Sarg fristen zu müssen.

„Ich hab dir gesagt, was dich erwartet, jetzt tu nicht so, als wärst du überrascht.“

„Bin ich nicht und dann doch wieder. Ich hab gestern Abend gesehen, was auf deinem Oberkörper los ist. Ein Wunder, dass du dich aufrecht halten kannst.“ Vincents Bald-Ehemann steckte sich eine seiner Selbstgedrehten zwischen die Lippen und zündete sie mit einem leisen Zischen an. Er rauchte ein paar Züge, bevor Adam misstrauisch schnupperte und seinen Kopf nach links drehte und den Mann im Profil musterte. 

„Kiffst du grad?“, fragte er reichlich überflüssig und der ruppige Ermittler grinste. Generös hielt er ihm den Joint hin.

„Auch? So beschissen wie du aussiehst, könntest du einen gebrauchen.“

Verschnupft schüttelte Adam den Kopf. „Nein danke. Ich bin noch nicht in meiner Midlifecrisis.“

„Ich auch nicht, dank Vincent.“

„Ja, danke. Sein Schwanz in deinem Arsch ist deine Verjüngungskur?“

„Sagt der, der zuerst seinen Schwanz in Vincents Arsch hatte.“

Adam grunzte missbilligend in das bärtige Grinsen und rollte mit den Augen. Als bräuchte er die Erinnerung, wie Vincent und er zu Freunden geworden waren, noch. Der missglückte Versuch eines Stelldicheins, das mit einem gegenseitigen „Lass mal Freunde bleiben“ geendet hatte. Eines der wenigen Male, wo es wirklich glückte. 

„Was hat dein alter Herr dir angetan?“

Adam brauchte etwas, bevor er antworten konnte. Gerade jetzt war es nicht einfach, darüber zu sprechen. Es reichte schließlich schon, wenn die Therapeutin ihn viel zu neutral musterte, dafür, dass er ihr jeden Dreck gegen den Latz knallte, der ihm passiert war, und eine Reaktion von ihr erwartete. Die nicht in Ansätzen so angewidert und verächtlich war, wie er erhofft hatte. 

„Alles.“

„Warum habt ihr nie was gesagt?“

„Weil du dann losgezogen wärst wie ein liebestoller Don Quijote um dich von dem Arschloch umbringen zu lassen.“ 

Das brachte den Mann neben Adam für ein paar Züge des süßlichen Rauschmittels zum Verstummen. Nachdenklich starrte er auf die Vögel, die sich um den Futterkasten von gegenüber balgten. Noch viel kritischer runzelte er schlussendlich die Stirn. 

„Der Polizist, der Karol und mich befragt hat. War der deswegen da? Wie hieß er nochmal? Höfer? Holz?“

„Hölzer“, korrigierte Adam automatisch und bittere Magensäure kämpfte sich ätzend seine Speiseröhre hoch. Leo Hölzer, Kriminalhauptkommissar des LKA Saarlands. Hauseigener Polizist und…der Mensch, der Elias hätte sein können. Nein, nicht Elias. Anders als er, aber genauso liebenswert, wenn nicht… „Und nein, deswegen nicht.“

„Also tatsächlich ein Mordfall?“

„Ja.“

„Macht er euch jetzt auch noch Schwierigkeiten?“

Adam ballte seine Finger zu schmerzhaften Fäusten. Insbesondere die vormals gebrochenen taten ihm weh, aber es war ein willkommener Schmerz, jetzt vor allem. Nicht, dass sie ihn ablenkten, aber wenigstens boten sie ihm zu dem inneren Schmerz ein äußerliches, körperliches Gegengewicht. Das kannte er. Das war vertraut und über die Jahre hinweg die einzige Konstante in seinem Leben gewesen. 

Nur der innere Schmerz, der war unerträglich. 

Leo Hölzer würde in ein paar Wochen aussagen und spätestens nach dem Urteil würde es durch alle Zeitungen gehen, was den Polizisten und Adam verbunden hatte. Spätestens dann würde Raczek alles wissen und dumme Fragen stellen. 

Rahels Strategie sah etwas anderes vor, aber ein bisschen Wahrheit schadete nicht. Adam presste seine verheilten Finger zusammen, die ihm immer noch wöchentlich Physiotherapie einbrachten. Was hätte der Alte sich im Grab umgedreht, wenn er wüsste, dass Adam so ein Weicher war. Der das brauchte. 

„Die Dreckssau, also der Alte, mein werter verstorbener Vater… hatte vor ungefähr zwei Jahren ein Auge auf Leo Hölzer geworfen. Ein Bulle, der zu viel herumschnüffelt und der weg musste. Also habe ich das getan, was ich am Besten kann und habe Vincent Informationen über ihn einholen lassen, um ihn zu erpressen. War überraschend nachhaltig. Ich habe ihn Monate wie ein braves Hündchen nach meiner Pfeife tanzen lassen, ihn gezwungen, das zu tun, was ich wollte, damit die Dreckssau ihn nicht umbringt. Es war auch soweit erfolgreich, bis Hölzer, dummer Polizist, der er ist, angefangen hat sich zu wehren, in meinem Leben herum zu schnüffeln und zu versuchen, mehr über Vincent heraus zu bekommen. Er wollte, dass der ganze Scheiß endet. Deswegen war er bei euch. Irgendwann auf dem Weg von da bis hier haben wir angefangen zu ficken, dann wieder aufgehört. Und jetzt wird er vor Gericht gegen mich aussagen.“

Hach, wie er doch die überraschte Bestürzung im Gesicht des Mannes genoss, der alles schon mindestens einmal gesehen hatte und dessen Erziehung, dass ein Mann immer stark sein musste, auch jetzt noch oft zum Vorschein kam. Von der war jetzt aber wenig zu sehen und Raczek war stumm. Regelrecht verstummt und Adam zuckte bösartig grinsend mit den Schultern. 

„Siehst du, kein Bad Boy wie die Dreckssau, aber Dreck am Stecken habe ich mit Sicherheit.“

Raczek schluckte. „Du hast…“

„Ja.“

„Und Vincent…“

„Auch. Ja.“ 

Raczek zog dreimal an seinem verfluchten Joint, bevor er überhaupt eine Möglichkeit fand zu antworten. „Verfluchte Scheiße, Adam. Was ist das für ein Moloch an Scheiße?“ 

Adam schnaubte verächtlich. „Herzlich willkommen in meinem Leben.“

Eine Bewegung aus seinem Augenwinkel ließ ihn sich umdrehen und unweit von ihnen stand Vincent, mit nassen Haaren, einem weißen Handtuch um die Hüfte und großen Augen. Bleich um die Nase, weil er vermutlich noch ein paar Wochen länger glückliches prä-Ehepaar mit seinem bärbeißigen Bullen spielen wollte, bevor alles den Bach runterging. 

Adam folgte seinem Blick und musterte Vincent schweigend. 

„Du hast es mir verschwiegen“, sagte er schlicht und es war nicht die empörte Gerechtigkeit, die Hölzer immer an den Tag gelegt hatte, sondern es war Enttäuschung. Enttäuschte Ruhe. Wusste Adam es doch. Sobald es um seinen gelockten Freund ging, wurde Adam samtweich und wenig gerechtigkeitsliebend. 

„Habe ich“, bestätigte Vincent leise, aber hoffnungslos und Adam schnaubte. 

„Gib ihm nicht die Schuld, alter Mann. Ich war das. Ich habe Vincent mit meinem Dreck befleckt und ihn mit meinen Straftaten belastet. Er hat nur versucht, mich am Leben zu halten, damit ich mir nicht vorzeitig Tabletten in den Kopf drehe, um diesem Scheiß ein Ende zu setzen. Und falls es dich interessiert: die Erpressung war aus dem noblen Grund, dass die Dreckssau nicht noch jemanden umbringt, wenn er schon die Liebe meines Lebens vor meinen Augen erwürgt hat. Im Übrigen immer noch eine gute Quelle von Alpträumen, wer hätte es gedacht.“

Raczek rauchte weiter – auch in Vincents Wohnung. Ganz zu dessem Missfallen oder vielmehr so halb. Denn die andere Hälfte war nahtlos für Adam selbst reserviert, wie Vincent ihm nonverbal sehr deutlich mitteilte. 

„Du verdienst einen Einblick in die Wahrheit, denn in ein paar Wochen kommt es ohnehin raus, was ich getan habe. Dann wird Hölzer aussagen. Und ich werde wie ein braver, misshandelter Junge auf der Kirchenbank sitzen und der scheiß Staatsanwaltschaft erläutern, wie ich versucht habe, Hölzers Leben zu retten und ihm dann aus Versehen meinen Schwanz in den Arsch geschoben habe. Kann passieren, upsi. Vielleicht interessiert sie der Ausgleich, als er mir seinen Schwanz in den Arsch geschoben hat, und ich einen Tag später erkannt habe, dass er einer Sonderkommission angehört, die zum Ziel hatte, das Syndikat meines Vaters zu zerstören. Doppel-upsi.“

Vincents bald-Ehemann brachte kein Wort mehr über die Lippen, dafür warf Vincent ihm einen verzweifelten, mörderischen Blick zu. Adam erwiderte den Blick ausdruckslos. Ehrlichkeit war ihm wichtig, seit Hölzers Soko-Ausflug umso wichtiger. Ehrlichkeit schützte vor Dunkelheit. Oder provozierte sie. Je nachdem. Ehrlichkeit befeuerte Adams Arschlochsein. 

„Warum sagst du ihm das alles?“, fragte Vincent tonlos, nicht mehr in der Lage, mit schönen Worten herunter zu spielen, was ungeschönte Worte so deutlich in den Raum geblasen hatten.“

„Weil er die Wahrheit verdient hat.“ Eine einfache Antwort für eine ängstliche Frage. Adam wandte sich an seinen Namensvetter.

„Vincent trägt an dem Ganzen keine Schuld. Ich habe ihn da mit reingezogen, ihn mit einem Arbeitsangebot gelockt, das nett klang und ihn dann in Scheiße mit reingezogen“, ergänzte Adam, als vom anderen Adam immer noch nichts kam und ging zur Couch. Lange stehen war immer noch nicht. 

„Vincent ist zu gut für diese Welt und nachdem ich ihn vor sechs Jahren aufgelesen habe, hat er ein Herz für mich entdeckt und wollte auch nicht mehr gehen, als er begriffen hat, was für ein dummes Stück Scheiße mein Alter war und ich sein kann. Das ist das einzige Verbrechen, das man ihm anlasten kann. Und dass er mich davon abgehalten hat, dem ganzen Scheiß mit Tabletten ein Ende zu setzen. Wobei ich ihm das immer noch nachtrage.“

So still hatte Adam Vincent noch nie gesehen. So sprachlos und zum Teil auch hilflos. An seiner Bewegungslosigkeit erkannte Adam die Furcht, die er vor einer Zurückweisung hatte. Oder davor, dass Adam sie beide mit Wonne ins Gefängnis brachte. 

Die Tatsache, dass Adam Adam besser kannte als Vincent Adam kannte, war da schon bedenklich und müde deutete er auf besagten Nicht-Saarbrücker.

„Setz dich, du bist blass um die Nase“, sagte Adam fast sanft nach seinen ehrlichen, bösen Worten und langsam kehrte das Leben – und die Wut – auf Vincents hübsches Gesicht zurück. Mitnichten tat er das, was Adam von ihm wollte. 

Raczek knurrte und für einen Moment klang es verdächtig nach seinem Freund, wenn dieser wirklich wütend war. Man färbte doch mit der Zeit ab, oder? Er tigerte langsam humpelnd auf und ab, wich damit Vincents Augen aus, starrte dafür umso garstiger aus dem Fenster. Schlussendlich drehte er sich unwirsch wieder zu ihnen zurück und deutete mit dem anklagenden Zeigefinger auf sie beide. 

„Das, was ich euch anlaste, ihr beiden Arschlöcher, ist, dass ihr mich außen vor gelassen habt. Nichts gesagt. Belogen. Dass ihr es mit euch selbst ausgemacht habt, was euch in den letzten Monaten sichtbar belastet hat. Und ich habe gefragt. Immer wieder. Aber nein, alles war super. Tutti. Hölzer einfach ein blöder Bulle.“

Adam zuckte mit den Schultern und zwinkerte Vincent zu. Siehst du, ich kenne ihn, sollte es aussagen. Nur dass Vincent das immer noch nicht so wirklich sah, so bleich, wie er war. „Naja, mit Verbrechen geht man selten hausieren.“

Raczek kam auf ihn zu und einen kurzen Moment lang hatte Adam wirklich Angst vor ihm. Dummes Überbleibsel aus den letzten Momenten mit der Dreckssau. Doch kurz bevor er ihn erreichen und schlagen konnte, stoppte er und starrte missmutig auf ihn hinunter. Das war auch schlimm, aber nicht ganz so sehr. Besser war es, dass er sich da zu Vincent umdrehte, der immer noch wie die Maus vor der Schlange stand und anscheinend beschlossen hatte, niemals wieder etwas zu sagen.

„Hör zu. Schreib dir das hinter die Ohren, Mann meines Lebens, jetzt und in alle Ewigkeit. Es ist mir egal, ob ich euch beide im Knast besuchen muss, aber ich will nicht außen vorgelassen werden. Euer Wert bemisst sich nicht an euren Straftaten, klar? Auch wenn ich es vorziehe, euch eben nicht im Knast besuchen zu müssen. Auch klar?“

Unisono nickten er und sogar auch Vincent, Geradezu brav. Adam sah bedeutungsschwanger zu seinem Freund, dessen Schultern sich minimal entspannten und in dessen blauen Augen er so etwas wie ein Stückchen Frieden erkannte. Raczek humpelte zu Vincent und haschte nach dessen Fingern. Er führt sie unter Schmerzen zu seinen Lippen und küsste sie liebevoll, bevor er sich wieder zu Adam umdrehte. 

„Und Hölzer war mir von der ersten Minute an unsympathisch“, ergänzte er abfällig und schon war die aufkommende, gute, ruhige Stimmung hin. 

Nicht nur, dass der Name unerwartet schlimm traf, auch Adams Wut kochte hoch. Wut auf Raczek, dass er so über Leo Hölzer sprach, obwohl es ihm nicht zustand. Wut, dass er ihn verkannte, denn der Polizist war nicht unsympathisch. Er war verzweifelt gewesen. Unterdrückt. Er…

Adam drehte sich ruckartig weg und schwankte, als sein Kreislauf beschloss, nicht mitzuziehen. Entschlossen schüttelte er den Kopf und der schmerzhafte Druck in seinem Kopf nahm zu.

„Ich hab ihm über Monate übel mitgespielt. Und trotz allem, was er getan hat, ist er unterm Strich das Opfer, also tu mir einen Gefallen und halt was ihn angeht die Fresse“, sagte er ungewöhnlich scharf, humpelte an den Beiden vorbei in Vincents Büro, das jetzt gerade seins war. Er brauchte die Einsamkeit, als die Erinnerungen zu stark wurden. 

Schön wäre es, wenn er Leo so verdammen könnte. Aber das ging nicht.


~~**~~


Vincent war sauer. Auf seine Adams. Alle beide. 

Alle. Beide. 

Der Eine tauchte plötzlich hier auf und das, was Vincent sich wirklich wünschte – ein glückliches Leben mit ihm – war so greifbar und doch so fern, wenn er eine Haftstrafe antreten müsste. Der andere…

Vincents Puls erhöhte sich alleine bei dem Gedanken daran, was Adam mit seiner Ehrlichkeit angerichtet hatte. Er war gesehen und erkannt und konnte nicht beschönigen, was er Hässliches getan hatte. 

Wie sehr er sich vom Gesetz entfernt hatte. 

Und ja, Vincent hatte schon seit seinem ersten Arbeitstag für Adam gewusst, dass er ein Doppelleben zu führen hatte. Naiverweise hatte er angenommen, das sehr lange tun zu können. 

Lang waren nun vier Jahre gewesen. 

Eben jener Mann, den er belogen hatte, umarmte ihn nun von hinten und stöhnte auf, als sein von den Schlägen gebeutelter Körper gegen den Körperkontakt protestierte. Sorge keimte in Vincent auf und er wollte sich schon umdrehen, als es an seinem Ohr brummte. 

„Bleib so“, murrte Adam und Vincent gehorchte schweigend. 

„Du hörst mir jetzt ganz genau zu, Vincent Ross. Ich liebe dich, ohne Wenn und Aber. Ohne Bedingungen. Und ja, du magst ein schwerer Junge sein, aber du bist ein sexy schwerer Junge, okay? Also mein sexy schwerer Junge. Und egal, ob du hinter Gittern sitzt oder ich weiterhin deinen hübschen Hintern dann ansehen kann, wenn ich es möchte…ich lasse dich nicht alleine. Du musst mich nicht schonen. Mit nichts.“

Vincent erzitterte unter der Wucht der Worte und schluckte schwer. Er lehnte sich zurück und schniefte leise. 

„Danke“, wisperte er ergriffen und voller Wärme in sich. „Ich danke dir.“


~~**~~


Leo hatte mit vielem gerechnet, aber die bunten Luftschlangen, das in der warmen Frühlingssonne glitzernde Konfetti auf seinem Schreibtisch und die dutzenden, pastellfarbenen Luftballons an der Zimmerdecke ihres Gemeinschaftsbüros mit „WELCOME BACK“ gehörten eher nicht dazu. 

Dabei hatte er sich früher als gewöhnlich in die Dienststelle geschlichen, damit er nicht so vielen Kolleginnen und Kollegen begegnete, die ihn anstarrten, weil sie wussten, was geschehen war. Der Hölzer, der die Beine für Adam Schürk breitgemacht hatte, der beurlaubt worden war, der Teil einer SoKo war, die Roland Schürk ins Gefängnis gebracht hatte, von wo aus dieser im Sarg gelandet war.

Anscheinend hatte sich sein Team, wenn es denn noch sein Team war, auf seine Ankunft vorbereitet und Leo brauchte einen Moment, um all das wirklich begreifen zu können. 

Er war frei. Er durfte wieder als Polizist arbeiten. Er war wieder hier. Zumindest an seinem Schreibtisch, bis er von den Psychologen als diensttauglich attestiert wurde. 

Als die Tür in seinem Rücken aufging, wollte er sich gleichzeitig nicht und doch umdrehen, war zerrissen von all den Tumulten in seiner Seele und seinem Magen. Er kam nicht dazu, denn schneller, als er eine Entscheidung getroffen hatte, hatten ihn überraschend muskulöse Arme von hinten gepackt und pressten ihn nun an einen Frauenkörper. 

„Du bist zurück.“

Leo roch Pia, bevor er sie wirklich sehen konnte. Er hörte das Rascheln der Ballonseide ihrer Jacke und badete in der Vertrautheit ihrer Stimme. 

„Ich hoffe, du hast Hörnchen mitgebracht, Hölzer, sonst hasse ich dich pro forma schonmal jetzt“, gab auch Esther zu erkennen, dass sie da war und Leo war zum Einen froh um seine Weitsicht, zum Anderen aber auch überschwemmt von plötzlichem, warmen Glück, wieder bei ihnen sein zu dürfen. 

Da überschattete das kommende Gerichtsverfahren, in dem er gegen Adam aussagen müsste, seine Freude nicht. Wenigstens heute nicht. Dazu gab es morgen immer noch genug Zeit. 


~~**~~


„Wie bitte…?“, fragte Adam leise nach und starrte Rahel schier mörderisch in das ruhige Gesicht. Von ihr aus ließ er seinen Blick über Vincent schweifen, von ihm aus zu Zarah. Langsam, schleppend, zornig wie ungläubig. Als wären seine Gespräche mit den Geschäftspartnern seines Vaters in den letzten zwei Wochen nicht schon die Krönung gewesen. Ätzend von vorne bis hinten, während Adam sich am Liebsten in Vincents Bett verkrochen hätte. 

Gefangen in seiner Schlaflosigkeit, den ihn terrorisierenden Erinnerungen und der Erschöpfung nach seinen Therapiestunden. 

„War das eure gemeinsame Idee? Habt ihr euch das zusammen ausgedacht? Habt ihr wirklich eine Sekunde lang geglaubt, dass mich als irre darzustellen, eine gute Idee ist? Dass ich dem zustimmen werde?“

Vincent hob seine Hand, wie um ihn zu beschwichtigen, und Adam wich zurück. Er stand sogar auf, trotz der Schmerzen, die durch das kalte Wetter in seinem schwachen Körper tobten. 

„Du bist nicht verrückt, sondern traumatisiert, das ist ein Unterschied. Und das ist auch der Grund, warum du ihn erpresst hast. Weil du Schlimmeres verhindern wolltest. Du warst nicht zurechnungsfähig.“

„Ach und du auch nicht? Hättest du mich nicht davon abhalten müssen?!“

„Es scheitert bei Vincent wie bei dir auch an dem Vorwurf der Verwerflichkeit. Die werden sie euch nicht nachweisen können, nicht mit euren Motiven“, mischte Rahel sich ein und Adam hätte sie am Liebsten aus dem Raum geworfen. 

„Also war unser Tun nobel?“, spottete er bissig und Rahel schürzte unerfreut ihre Lippen. Ihr Füller bohrte sich in die vor ihr liegenden Unterlagen. 

„Nein, aber du hast einen Polizisten erpresst. Und ihn dazu genötigt, dir zu Willen zu sein. Am ersten Tag hast du ihn dazu gezwungen, dir bei sexuellen Handlungen zuzusehen. Was denkst du, was das ist? Keine Erpressung, ja, sondern Nötigung und da brauche ich Argumente gegen die Verwerflichkeit eures Handelns. Deines leichtfertigen Handelns“, entgegnete sie scharf. 

„Ich versuche euch aus dem Gefängnis herauszuhalten und falls sie dir die Geschäfte deines Vaters und Vincent seine Beteiligung daran nicht nachweisen können, dann versteifen sie sich auf die Nötigung und versuchen es darüber. Wenn ich es schaffe, dich als traumatisierten Menschen begutachten zu lassen, kann und wird das schuldmindernd wirken. Für euch beide, denn Vincent war damit gefangen in einem Teufelskreislauf. Für dich brauche ich die Schuldunfähigkeit, da du nur versucht hast, den Mann, den du doch irrsinniger Weise geliebt hast, vor dem Tod zu retten.“

Alles in Adam gefror, sein Blut, sein Herzschlag, sein Sein. 

„Halt den Mund!“, fuhr er seine Prokuristin zischend an. „Du hast doch keine Ahnung, was ich fühle! Du weißt nichts, aber auch GAR NICHTS darüber!“

„Ich muss auch nichts darüber wissen“, erwiderte Rahel scharf. „Du hast mit ihm geschlafen und dich in ihn verliebt –deine Sache. Worum es mir geht, ist, die Schuld von dir wegzuleiten. Dich als Opfer darzustellen nicht als Täter. Begreifst du das?“

„Indem du mich als irre darstellst?“

„Traumatisiert, Adam. Das ist ein Unterschied!“

„Ach ist es das? Der arme, kleine Adam, der Zeit seines Lebens vom großen, bösen Gangsterboss misshandelt worden ist und der zusehen musste, wie die Liebe seines Lebens zu Tode gewürgt wurde und aus dem Grund hat er einen Polizisten erpresst und genötigt, ihm Informationen zu geben?“, zischte Adam und Rahel musterte ihn kühl.

„Etwas wissenschaftlicher ausgedrückt, aber ja.“

„NEIN!“, schrie Adam wütend und Schmerz durchschoss seinen Rachen. Er presste die Augen zusammen, als seine Stimmbänder brennend protestierten. Ein Nachklapp seiner Zeit im Keller. Eine seiner vielen, gesundheitlichen Folgen der Misshandlungen des Alten. 

Quasi sein Erbe. Narben auf seinem schwachen Körper. Schmerzen in seinen Gliedern und Gelenken. Schmerzen auf seiner Haut. 

Rahel erhob sich langsam. Lauernd musterte sie Adam. „So dringend willst du also ins Gefängnis? Gut, dann mache ich es mir einfach, die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zu beantworten. „Stimme in allen Punkten zu und bitte darum, meinen einen Mandanten schuldig zu sprechen. Aber den Anderen bitte nicht.“… ist das, was du willst? Haben wir alle dafür gekämpft? Vincent? Zarah? Ich? Deine Mutter? Wen willst du hier mehr enttäuschen, hm?“

Eiskalte, unfaire Worte, die nicht nur Widerwillen in Adam auslösten. Sie machten ihm vor allen Dingen Angst. Aus seinem Augenwinkel sah er, wie Vincent sich ebenfalls erhob und schreckte zurück. Eigentlich wegen nichts, denn niemand hier würde ihn schlagen. Schon gar nicht Vincent.  

Sein bester Freund musterte ihn, als wollte er ihm ausreden, was immer Adam auf dem Herzen lag. „Ein Trauma ist nichts, zu dem man nicht stehen kann, Adam. Es macht dich nicht schwach. Und es ist da, das weißt du. Warum sollte Rahel das Gutachten nicht nutzen, um dich in Freiheit zu halten?“

„Weil dann jeder weiß, was er mir angetan hat!“, begehrte Adam auf und hasste die Verzweiflung, die sich in seine Worte stahl, mit jeder Sekunde mehr. Wenn er dem nicht zustimmte, würde er Vincent mit in den Abgrund reißen. Wenn er dem zustimmte, würden sie alles ausbreiten. Seine Mutter würde aussagen, Vincent, Maria. Sie alle würden ihn als gebrochenen Mann darstellen. 

Und der Welt damit preisgeben, was für ein erbärmlicher, schwacher Mensch Adam eigentlich war.

„Dann gehe ich auf ein nicht öffentliches Verfahren. Die Chancen dazu stehen gut, angesichts der Natur des Verfahrens und der zu erwartenden Aussagen.“

Adam verstummte. Auch wenn er das Leben weiterhin für scheiße hielt und der Schmerz über alles, was passiert war, ihm die Nächte und ein gutes Leben raubte, wollte er nicht ins Gefängnis. Die Vorstellung, eingesperrt zu werden, ließ seinen Puls höher schlagen und seine Hände klamm werden. Die Vorstellung, nicht aus einer Zelle herauszukönnen, wenn er es wollte, trieb ihn gefährlich nahe an die nächste Panikattacke. Vor allem aber wollte er nicht, dass Vincent wegen ihm seine Freiheit verlor. 

Er hatte keine Wahl, das sah er jetzt.

„Macht doch, was ihr wollt“, kotzte er allen Anwesenden seine Unzufriedenheit vor die Füße und humpelte aus dem Raum heraus. Weg aus dem Bunker, weg aus diesem Foltergefängnis seines Lebens. 

Einfach nur…weg. 


~~**~~


Besorgt winselte Herbert und leckte Leo in einem Moment des Innehaltens über die Finger. Den ganzen Morgen schon suchte er Kontakt zu ihm, ließ ihn nicht aus den Augen, trottete ihm überall hinterher: ins Bad, in die Küche, zurück in Leos kleines Kinderzimmer, das für sie beide fast zu eng war. 

Fast kam es Leo so vor, als wäre Herbert das Sprachrohr seiner Emotionen, wo Leo sie schon nicht äußern konnte. 

Er hatte nicht geschlafen, keine Sekunde lang letzte Nacht. Bei allen Aussagen, die er vor Gericht getätigt hatte, fiel ihm der Gang zum Gericht bei keiner so schwer wie bei dieser. Und das, obwohl das Verfahren wider aller Wahrscheinlichkeiten nicht öffentlich war. Obwohl er nur seine Aussage machen und wieder gehen musste. 

Nur.

Adam würde da sein und Leo würde ihn nach all der Zeit wiedersehen. Vielleicht würde er ihn wieder angehen, ihn beleidigen, ihn mit Hass überschütten? Würde all das passieren, was sich Leo in vergangenen, schlaflosen Nächten ausgemalt hatte? 

Dank seines Therapeuten wusste er, dass schlechte Erinnerungen auch schlechte Stimmen im Inneren hervorbrachten, die ihn als schwach und ekelhaft bezeichneten. Er wusste auch, wie er diese Stimmen leiser machen konnte. Nicht so heute. 

Heute würde sie laut bleiben, während er gegen Adam aussagte und dem Gericht alles auftischte, was in den letzten Monaten und Jahren passiert war. 

„Ich wünschte, du würdest mitkommen“, sagte er zu Herbert, der seinen riesigen Kopf an seine Hüfte lehnte und mit großen Augen zu ihm hochschielte. 


~~**~~


So. Das sollte jetzt ausreichen. 

Zittrig wischte sich Adam seine Haare aus den Augen und ließ sich auf seinen Hintern fallen. Seine Knie schrien vor Schmerz und wie er wieder von seiner heutigen Lieblingsposition vor der Kloschüssel hochkam, stand auch noch in den Sternen. Oder wie er sich anziehen sollte. 

Brav im schwarzen Anzug. Schwarzes Jackett. Goldkettchen. Dieses Mal musste Vincent gar nicht so ausufernd gegen ein Nichts drunter argumentieren. Jetzt, wo Adam nicht mehr damit rechnen musste, sich jederzeit ausziehen zu müssen, damit er als Leinwand für einen Gürtel dienen konnte, war das Nichts drunter auch eher lästig. 

Adam wollte Schutz. Er wollte nicht, dass jeder seinen schwachen Körper sah. 

Veränderungen über Veränderungen. Und sein Mageninhalt war auch nicht mehr da, wo er eigentlich hingehörte und wenn dann etwas kommen würde, würde er dem Gericht halt einfach seine bittere Magensäure vor die Füße kotzen. Auch okay. Sehr okay. 

Sehr sehr okay. 

Wenn Adam nicht daran dachte, wen er heute wiedersehen würde, dann könnte es vielleicht auch klappen. 

Er würgte, weil er daran dachte und schloss genervt die Augen. Verfluchte, dreckige Scheiße. Verfluchtes, dreckiges Leben.

Das Klopfen an der geschlossenen Badezimmertür machte es da auch nicht besser. 

„Adam, wir müssen los“, sagte Vincent und er hasste ihn dafür.


~~**~~


Wer auch immer diesen Gerichtssaal konzipiert hatte, dem gehörte der Langweiligkeitspreis des Jahrtausends verliehen, befand Adam. 

Er nahm noch eine Nase der biederen Gerichtssaalluft, die zur einen Hälfte aus muffigem, aber funktionalem Teppich zum anderen aus Holzgeruch der wuchtigen Sitzstände der am Verfahren beteiligten Stellen bestand, die links, rechts und vor dem Stuhl und Einzelpult bestand. Die Wände in dekorativem Eierschalenweiß, das vielleicht mal Reinweiß gewesen war. Irgendwann in den Siebzigern.   

Wie ein Tribunal thronten der Richter, sein Schöffe und seine Schöffin unter dem überdimensionierten Kreuz, an dem ein leidender Jesus hing. Schwarz, ein bärtiger Mann, dessen Gesicht nichts von seinen Gedanken preisgab, war Adam nicht bekannt. Er gehörte nicht zur Strafkammer, sondern war extra als unbekannte Gleichung eingeflogen worden. 

Natürlich. Es ging ja auch darum, ihn nun wirklich zu verknacken und das Urteil nicht einer korrupten oder erpressten Justiz zu überlassen. 

Beringhofen gab sich dabei alle Mühe, die Neutralität ihres vorsitzenden Richters auszugleichen und musterte alle Anwesenden fast wie Rahel auch durchdringend böse, während Schwarz die Beteiligten vorstellte. Der zweite Schöffe, Neuheimer, war Adam bekannt, aber sie hatten nie mit ihm zu tun gehabt. Das war schlecht, denn damit gehörte er nicht zu den Bestochenen. Gut, weil er nicht zu ihren Verknüpfungen gehörte. Der Protollführer Tuschmann hingegen stand schon seit Jahren auf ihrer Zahlungsliste und war willig, jedes Jahr mehr zu empfangen um seine A8 aufzubessern. Er war glücklich mit dem, was er von Adam und Vincent bekam und ebenso glücklich, die Informationen weiterzugeben.

Ihm gegenüber saß Weiersberger mit Bergen an Unterlagen. Ankläger, der nicht lange überlebt hätte, wäre die Dreckssau noch am Leben. 

Das einte ihn mit Adam. 

„Frau Schüller, bitte holen Sie die Zeuginnen und Zeugen zur Belehrung.“

Unwohl knetete Adam seine dummen, schmerzenden Finger, als die Saaldienerin die Anordnung des Richters ausführte. 

Am Liebsten wäre er gegangen. Weg von hier. Weit weg. Leo würde unter den Zeugen sein und sie würden sich sehen. Adam wusste nicht, ob er stark genug war, sich dem zu stellen. Oder der Wut in seinem Inneren, die vieles war, allem voran aber hilflos und enttäuscht. 

Rahel hatte ihm verboten, dumme Dinge zu tun oder zu sagen und Adam hatte nur verächtlich geschnaubt. Vincents Mimik war viel zu wissend gewesen und Adam hatte schlussendlich zähneknirschend zugestimmt. 

Das half ihm jetzt nur gar nichts. Vincent durfte nicht mit rein, er war auf sich alleine gestellt, während er als irre und traumatisiert dargestellt wurde.

Adam starrte auf den Tisch, als die Tür aufging und die Zeugen hineingeführt wurden. Maria Schiller, Esther Baumann, Pia Heinrich, Bastian, Vincent, die behandelnde Ärztin im Krankenhaus. Und dann waren da seine Mutter und Leo Hölzer. 

Er biss sich an dem langweiligen, hochpolierten Holz fest, während der Richter die Belehrung vorbetete, die Stimme viel zu sonor für das Chaos, das in Adam alleine ob des Wissens tobte, Leo hier vor sich zu haben – keine drei Meter von ihm weg. So nahe wie seit Monaten nicht mehr.

Leo hatte sich für die Ergebnisse prostituiert um sie nun zum Todesstoß gegen ihn zu verwenden. Wohlverdient, ätzte eine Stimme in Adam, die er abwürgt und zurück in die Dunkelheit schickte, da, wo auch die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Leo waren. 

Die Leere seiner sonstigen Gedanken konnte den Klang von Leos Stimme nicht übertönen, als dieser knapp die Belehrung bestätigte. Er hörte sich gepresst an, neutral und dennoch zog und zerrte es in Adam wie noch vor Monaten. Enttäuschung, Wut, Sehnsucht…alles geiferte und gierte nach Aufmerksamkeit. 

Nach Leos Aufmerksamkeit.

Es mochten nur Sekunden sein, aber für Adam war es eine Ewigkeit. 

Da war es fast schon eine Erleichterung, dass Rahel nach der Verlesung der Anklage seine vorher mit ihr abgestimmte Aussage verlas, die als Grundlage dazu diente, ihn als gebrochenen, nicht zurechnungsfähigen Mann darzustellen, der alles nur zum Wohl seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger getan hatte. Die Erpressungen. Die Beihilfe zu den Taten seines Vaters. Die Nötigungen. 

Adam hatte in diesem Verfahren keine Sprechrolle, weil Rahel ihm und seiner Impulsivität nicht über den Weg traute. 

Vermutlich zurecht.


~~**~~


„Herr Hölzer, in den Zeugenstand bitte.“

Nervös zuckte Leo zusammen und starrte die Saaldienerin mit großen Augen an, die soeben den Flur betreten hatte und ihn hineinbat.

Zeugenstand. Ein Stuhl vor einem kleinen Tisch, flankiert durch die Anklage und die Verteidigung. Klein machend im Vergleich zu den Tribünen links, rechts und vor Kopf. 

Er schluckte schwer. 

„Nehmen Sie Platz, Herr Kriminalhauptkommissar Hölzer.“

Leo nickte mit eisern geradeaus gerichteten Augen und folgte der Anweisung des Richters. Er bestätigte seine persönlichen Daten. Er hatte sich geweigert, als Nebenkläger in einem der anhängigen Verfahren aufzutreten und sich mit seiner Rolle als Zeuge begnügt. Auch jetzt noch bereitete ihm der Gedanke, dass Adam und Vincent ins Gefängnis gingen, Bauchschmerzen. Trotz all des Hasses, den Adam ihm gegenüber geäußert hatte. Adam war ein Opfer und das sah Leo immer noch so. 

Schwarz nickte ihm zu. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie zu den vorliegenden Ermittlungsergebnissen Stellung nehmen.“

Die vorliegenden Ermittlungsergebnisse waren sein Leben der letzten anderthalb Jahre. Sie waren sein Leiden gewesen und auch der zarte Keimling eines Glücks, der von vornherein zum Verdorren verurteilt worden war.

Leo räusperte sich und atmete tief durch. Er hatte es in Gedanken immer und immer wieder geübt, so neutral wie möglich auszusagen. Er konnte es, hatte es in vielen Gerichtsverhandlungen vorher auch getan. Das hier war im Grunde nichts anderes.

Im Grunde. Nur, dass Adam noch nicht einmal drei Meter von ihm entfernt saß und alles, was zwischen ihnen gewesen war, Leos Gefühle vereinnahmte, als würde er unaufhaltsam in Adams Gravitation gezogen werden. Tragischerweise auch jetzt noch, nachdem der Mann ihn zum Teufel gewünscht hatte. 

„Ich habe Herrn Adam Schürk vor anderthalb Jahren im Rahmen meiner Ermittlungen zum Tod von Mirko Linz aufgesucht. Mein damaliges Ziel war eine Zeugenbefragung in meinem Ermittlungsfall. Während des Gespräches hat Herr Schürk jedoch deutlich gemacht, dass er über belastendes Material verfügt, das mich ins Gefängnis bringen könnte, wenn ich nicht das täte, was er wollte. 

Hierbei handelte es sich um Tagebuchauszüge, die belegten, dass ich den Vater meines damaligen Freundes ins Koma geschlagen hatte. Aus Angst vor einer Inhaftierung und dem Verlust meines Beamtenstatus habe ich mich damals gefügt. Ich musste darauf Informationen und Unterlagen für ihn besorgen und Beweismittel aus der Asservatenkammer entwenden um sie ihm zu geben. Zum Beispiel die Uhr von Elias Schiller, einem ermordeten, jungen Mann. Herr Schürk hat mich mit Drohungen und einmal mit körperlicher Gewalt dazu gebracht, ihm zu gehorchen und ihm zu Willen zu sein. 

Ich habe darüber handschriftliche Vermerke erstellt und sie in der Dienststelle versteckt, wo sie von der ermittelnden Sonderkommissionsbeamtinnen Esther Baumann und Pia Heinrich entdeckt wurden. Sie haben mich zur Rede gestellt und mich Teil der Sonderkommissionsermittlungen werden lassen. 

In der Funktion habe ich häufigeren Treffen mit Herrn Schürk zugestimmt. Mit der Zeit haben wir uns schließlich auch körperlich angenähert und mehrfach miteinander geschlafen. Ich habe versucht, ihn auf die Seite der Sonderkommission zu ziehen, ihm Zeugenschutz anzubieten, doch das war nicht erfolgreich. Anstelle dessen habe ich festgestellt, dass ich eine Verbindung zu Herrn Schürk nicht… abstoßend finde.“ 

Leo verstummte und sah auf den schlichten Holztisch. Das war die Wahrheit, aber eben auch nicht ganz. Unruhig schob er seine Fingerkuppen über den rauen Stoff seiner Chino.

„Nach etwa einem halben Jahr wurde mir außerdem bewusst, dass es auch andere Gründe für die Erpressung gab. Herr Schürk sagte, dass die Alternative zur Erpressung der Mord an mir durch Herrn Roland Schürk gewesen sei und dass er und Vincent Ross durch die Erpressung verhinderten, dass ich getötet werden würde. 

Nachdem Herr Tangermann im Mordprozess gegen Herrn Barns ausgesagt hatte, ist Herr Schürk durch seinen Vater so geschlagen worden, dass er die nächsten sieben Tage nicht mehr aufstehen und sich nur mit Unterstützung in der Wohnung bewegen konnte. Laut Aussage von Herrn Schürk wurde er seit seiner Kindheit regelmäßig von seinem Vater misshandelt. Auch hat dieser ihn zusehen lassen, wie er seinen damaligen Partner Elias Schiller umgebracht hat. Zuletzt hat Roland Schürk seinen Sohn so schwer misshandelt, dass das SEK Herrn Schürk aus dem Keller des Elternhauses befreien musste.“

Seine Hände waren mittlerweile zu Fäusten geballt. Übelkeit drückte das Frühstück nach oben in Richtung Speiseröhre und am Liebsten wäre Leo jetzt aufgestanden und hätte den Raum verlassen. Aber Weiersberger hatte mit Sicherheit noch Fragen. Ganz zu schweigen von der Verteidigung, die zuerst kommen würde.

„Frau Stern, haben Sie Fragen an den Zeugen?“

Leos hypersensitive Ohren hörten das minimale Schnauben an Verachtung, das Adams Anwältin verließ. Natürlich hatte sie das und natürlich würde sie jetzt versuchen, ihn als den Bösen darzustellen. Leo erwartete nichts Anderes. Das einte sie mit allen Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern, die seine Aussage in Misskredit ziehen wollten. 

„Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Herr Kriminalhauptkommissar Hölzer, Sie sagten, dass mein Mandant Sie erpresst und Sie gezwungen hat, ihm Informationen und Beweise zu bringen.“

Er wusste, dass er sie anschauen musste, während er ihr antwortete. Leo hatte es in unzähligen Gerichtsverfahren getan. Stärke zeigen. Sich von Anwältinnen und Anwälten nicht unterkriegen lassen. Nun aber zögerte er, zeigte ihr, wie unwohl er sich fühlte, indem er Adams Anblick auswich und sich abrupt auf sie fixierte.

So weit, so gut. Wenn er nun nur noch sie anstarrte, konnte er es durchstehen.  

„Korrekt“, krächzte er, nicht halb so fest wie er es gehofft hatte. 

Stern nickte getragen und musterte Leo streng. „Was hat er getan, um seiner Drohung Gewicht zu verleihen?“

„Er hat seine Macht demonstriert und mir Angst gemacht.“

Kühl schürzte sie ihre schmalen Lippen und nahm resolut die Brille ab. Ihre Missbilligung war greifbar, ebenso wie Adams Nähe. „Ich habe nach konkreten Handlungen gefragt, Herr Hölzer.“

Es brauchte etwas, bis Leo antworten konnte. Damals wie heute scheute er sich, von der Zeit zu sprechen. Die Erinnerungen waren schlimm, aber noch viel schlimmer war die Scham, die neuerlich aufgekommen war, als er das Thema bei seinem Therapeuten angeschnitten habe. 

Weil es ihm so läppisch vorkam. Er hätte auch von Anfang an gefoltert werden können. So wie es Roland Schürk schlussendlich getan hatte. Adam hätte ihn in diesem Sarg einsperren können um ihn zur Mithilfe zu zwingen. Aber er hatte es nicht. 

„Er hat mich gezwungen, vor ihm zu knien. Er hat mich in seine Wohnung beordert und ist mir da körperlich nahe gekommen. Er hat ein Messer genommen und mir den Eindruck vermittelt, dass er es gegen mich einsetzen würde. Er hat mich dazu gezwungen, Filme mit ihm zu sehen und Essen zu mir zu nehmen, das ich abstoßend finde. Er hat mir schlussendlich mit der Gesundheit meiner Schwester und meiner Eltern gedroht und…“

Leo verstummte und Stern lächelte ungnädig, durch und durch unsympathisch. „Das klingt größtenteils nicht so, als hätten Sie sich als Polizist, der Sie sind, nicht dagegen wehren können. Oder als hätte es Sie nachhaltig dazu gebracht, sich seiner Erpressung zu fügen.“

Das, was Leo befürchtete, war eingetreten und es befeuerte nur sein eigenes Urteil über sich selbst. „Nein, ich…“

Mit einer unwirschen Geste schnitt sie ihm das Wort ab. „Das sind alles vergleichbar harmlose Dinge. Womit hat er Sie gezwungen, ihm wirklich zu gehorchen?“

„Er hat mir gedroht mein Tagebuch zu veröffentlichen, damit ich dadurch ins Gefängnis komme.“

„Unüblich für einen Polizisten, eine Straftat zu verheimlichen, oder?“

„Diese Frage hat mit dem Verfahren nichts zu tun“, mischte Weiersberger sich grimmig ein und erleichtert atmete Leo auf. Auch der Vorsitzende sah es so und Stern nickte grimmig. 

„Trotz dieser Drohung und der von Ihnen benannten Rücknahme der Drohung haben Sie jedoch auch danach vermehrten Kontakt zu Herrn Schürk gesucht.“

Leo nickte. „Um ihn aus dem Syndikat zu holen.“

„Welches Syndikat?“, fragte Stern und Leo erkannte, welchen Fehler er gemacht hatte und womit sie ihn gerade ködern wollte. Er schluckte trocken. 

„Aus der Verbindung zu seinem Vater“, korrigierte er seine Aussage, doch sie ließ nicht locker.

„Hatten Sie zu dem Zeitpunkt konkrete Anhaltspunkte für Ihr Urteil? Auch in Bezug auf Herrn Schürk?“

„Es gab eine SoKo“, begann er und sie schüttelte den Kopf. 

„Konkrete Anlässe. Beweise. Richtige Polizeiarbeit“, konkretisierte sie barsch und Leo ballte seine Hände zu Fäusten. 

„Es gab Ermittlungsergebnisse, Indizien, Beweise, die sich zu einem Eindruck verhärten. Etwas, das zur Polizeiarbeit dazu gehört. Und mit Herrn Schürk hätten wir jemanden gehabt, der gegen seinen Vater aussagt und ihn überführt.“

„Und dazu haben Sie sich schlussendlich in die Nähe des Mannes begeben, der Sie nach eigener Aussage unterdrückt hat, diese Treffen genossen und sich zu guter Letzt in sein Bett gelegt.“

Alles, was Leo auf diesen Vorwurf hätte antworten können, blieb ihm im Hals stecken. So war es nicht gewesen. Er hatte Lust empfunden, ja. Aber es war losgelöst vom Fall gewesen. Und ja, er hatte sich gerne mit Adam getroffen, aber doch nur, nachdem dieser bereut hatte. Das war nicht falsch. Zumindest hatte sein Therapeut ihn nicht dafür verdammt und zugestimmt, dass die Hürden, jemandem zu vertrauen, dann doch geringer waren.

„Ich habe versucht, ihn auf die richtige Seite zu ziehen“, wiederholte er und Stern nickte. Sie bohrte ihren Füller in die vor ihr liegenden Unterlagen. 

„Sie haben meinen Mandanten für sieben Tage bei sich aufgenommen, ist das korrekt?“

„Ja.“

„Welche Erkenntnisse haben Sie in dieser Zeit über meinen Mandanten erlangt?“

Sein Vorhaben, Adam nicht anzusehen, war nie so schwierig wie in diesem Moment. Was sollte er sagen? Wie sollte er antworten? Adam war schutzlos gewesen, auf ihn angewiesen, durch seinen Vater bis in die Bewegungslosigkeit gefoltert. Anders konnte man das, was dort passiert war, nicht benennen. Es zu offenbaren, schien Leo zu intim.

Oder wäre es gewesen, wenn die Frage nicht bewusst von seiner Anwältin gestellt worden wäre. 

„Herr Schürk ist von seinem Vater gequält worden. Er hat ihn so stark und so oft mit einem Gürtel geschlagen, dass Herr Schürk sich nicht ohne Hilfe bewegen konnte. Während er bei mir war, ist mir klar geworden, dass Herr Schürk schlimmste Alpträume aus seiner Kindheit hat. Was darauf hingedeutet hat, dass sein Vater ihn Jahrzehnte gequält hat. Später, nicht zu dem Zeitpunkt, hat Herr Schürk dann auch gestanden, dass sein Vater seinen damaligen Freund Elias Schiller vor seinen Augen ermordet hat.“

Stern brummte. „Also würden Sie mit mir übereinstimmen, dass er traumatisiert ist?

„Ja.“ Und das war der Punkt gewesen, an dem Leos Emotionen für Adam gekippt waren. Zum Guten hin. Zum Retten, nicht zum Verdammen. 

„Und trotzdem haben Sie sich ihm schlussendlich in sexueller Absicht genähert und ihn glauben lassen, dass Sie mehr für ihn empfanden, indem sie sich regelmäßig mit ihm trafen und sich ihm auf die intimste Art und Weise hingaben. Sie haben seine Träume eines normalen Lebens und einer normalen Beziehung für sich ausgenutzt um an Ermittlungsergebnisse zu gelangen, die sie gegen ihn und seinen Vater verwenden können. Sie haben im vollen Bewusstsein, dass mein Mandant hochgradig traumatisiert und verletzt worden ist, zu fragwürdigen Ermittlungstechniken gegriffen. So wie Ihre Kollegen im Krankenhaus, als diese meinen Mandanten trotz seiner vorübergehenden, mangelnden Zurechnungsfähigkeit ohne seine bewusste Zustimmung fotografiert und befragt haben.“ 

Wie vom Donner gerührt saß Leo auf dem unbequemen Holzstuhl. Die Zeit gefror und schien sich zu Licht zu kulminieren, das auf ihn und nur auf ihn strahlte. Was hatten die Kollegen getan? Und er hatte nicht…er war nicht…nein. 

Hilflos öffnete er den Mund, versuchte, eine Antwort auf die Vorwürfe zu geben. Versuchte, zu widersprechen. Sah zu Weiersberger, begegnete aber nur dessen ausdrucksloser Staatsanwaltspersona.  

„Ich frage Sie, Herr Hölzer“, holte Stern seine Aufmerksamkeit wieder zu ihr zurück und dieses Mal streiften Leos Augen für den Bruchteil einer Sekunde Adam. Er hatte seinen Blick auf die Tischplatte gesenkt, das Gesicht unleserlich. 

„War die Erpressung wirklich so einschneidend für Sie war oder hat das eine Ihrer dunklen Fantasien bedient? Haben Sie Lust daraus gezogen, dass mein Mandant Sie wie Herr Hofmann auch in Ihren Augen erpresst, erniedrigt und Ihnen seelische Schmerzen zugefügt hat? Haben Sie Lust daraus gezogen, dass Herr Schürk selbst traumatisiert war und Sie sein Trauma für sich nutzen konnten? Hatten Sie deswegen mehrfachen Geschlechtsverkehr mit meinem Mandanten, der erst geendet hat, als mein Mandant Ihnen klar zu verstehen gegeben hat, dass Sie sich von ihm fernhalten sollen? Haben Sie überhaupt jemals gelitten?“

Hatte er Adams Trauma für sich genutzt? Hatte er überhaupt jemals gelitten…?

Leos Kopf war abrupt wie leergefegt. Er sollte sexuelle Befriedigung daraus gezogen haben, dass ihm Gewalt angetan worden war? Er… hatte eine Vorliebe für die Detlefs und Adams dieser Welt? 

Doch war es nicht genau das, um zu kompensieren, was ihm angetan worden war? Um Lust und Erfüllung in etwas zu finden, das seine Seele beschädigt hatte? Um selbstbestimmt dem Schlechten etwas Gutes entgegen zu setzen? 

Fassungslos wandte Leo sich an Adam. Unzweifelhaft hatte dieser weitergegeben, was er sich angetan hatte. Die Männer im Wald und sonst wo, dazu gedacht, seine unreinen Triebe zu befriedigen. Niemals in seiner Wohnung. Auch Gunnar und Mika nicht, nur Adam.

Nur Adam, dem er es in einem Moment der Schwäche erzählt hatte, in der falschen Annahme, dass es bei Adam in guten Händen war.

Bei jemandem, der ihn als Hure beschimpfte und ihm den Tod gewünscht hatte. 

Leo fühlte sich entblößt und erniedrigt, Scham rauschte heiß durch seinen Körper und ließ ihn zittern. 

Adam hob den Blick und starrte zurück, das Gesicht eine einzige Maske der Missbilligung und Leos Welt verschwamm vor seinen Augen. Unwirsch verzog er die Lippen und wandte sich an seine Anwältin, die Leo siegessicher musterte. 

„Ich habe dir gesagt, dass du das nicht verwenden sollst, Rahel“, zischte er und Weiersberger schlug gleichzeitig mit der Faust auf den Tisch. 

„Diese Frage ist vollkommen unerheblich für das Verfahren, Herr Vorsitzender!“, konterte er wütend und Stern schnaubte verächtlich. „Die Einlassung der Verteidigerin über die sexuellen Vorlieben des Zeugen hat nichts mit dem Verfahren zu tun!“

Stern verzog ihre Lippen zu einem humorlosen Lächeln. „Ist sie nicht, Herr Vorsitzender, es geht darum, dass der Zeuge meinen Mandanten genötigt hat…“

Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, hatte Adam sich ruckartig erhoben. Er schwankte dabei und trotz allem war es Sorge, die Leo zuerst fühlte.

„SCHLUSS JETZT!“, donnerte er, in der gleichen, destruktiv dominierenden Tonlage, die er zu Anfang Leo gegenüber angeschlagen hatte. Wie verbrannt zuckte Leo zusammen und zog die Schultern hoch, kauerte sich weg. 

Einen Moment lang war er nicht mehr im Gerichtssaal. Einen Moment lang war er am Frühstückstisch und Adam war kurz davor, ihn zu schlagen und zu würgen, dafür, dass er auf der Seite des Gesetzes gestanden hatte. Einen Moment lang war er zum ersten Mal bei Adam zuhause und hatte Angst, dass dieser ihm seine Finger abschneiden würde. Einen Moment lang saß er auf der Couch und hatte Angst, dass Adam sich ihm aufzwingen würde.

„Herr Schürk, setzen Sie sich“, mahnte Schwarz, doch erfolglos. 

„Nein! Und ja, JA, ich habe Leo Hölzer erpresst! Ich habe ihn am Tag eins wortwörtlich auf seine Knie gezwungen, während er zusehen musste, wie mir einer geblasen wurde. Noch nicht einmal eine Stunde nach unserem Kennenlernen. Ich habe ihm gesagt, was er zu tun und zu lassen hat. Ich habe mir seine Schwachstellen gegriffen und sie ausgenutzt, zwar nicht seinen Körper, aber seine Psyche gefickt. Und wofür? Dafür, dass die Dreckssau ihn nicht umbringt, das ist richtig, und als Bonus habe ich ihn dann körperlich gefickt. Wieder und wieder und wieder. Ja, das habe ich getan. Hatte er ein Mitspracherecht? Kommt drauf an, wen man fragt.“

Entsetzt riss Leo die Augen auf und schüttelte wild den Kopf. „Was sagst du da? Du hast mich nicht dazu gezwungen, mit dir zu schlafen. Ich…“

„Adam, hör auf zu reden!“, zischte Stern und fiel zum ersten Mal aus ihrer überlegenen Rolle. Leo hörte die deutliche Angst…Angst davor, dass Adam sich daneben benahm. Und bei allem, was Leo fühlte, wenn er an Adam dachte, war es doch das, was er wiedererkannte. 

Adam missachtete sie beide vollkommen, vollkommen auf den Vorsitzenden und seine beiden Schöffen fixiert. 

„Ich bin ein schlechter Mensch, okay? Ich bin ein Arschloch. Ein Rezept gegen’s Arschlochsein gibt im Schürk-Imperium nicht, das habe ich von der Dreckssau. Das, was ich getan habe, hat ihn belastet. Alles davon. So sehr, dass er versucht hat, sich umzubringen. Und ich konnte von Minute eins an nicht von ihm lassen, mein Trauma hin oder her. Dafür war der Widerstand zu köstlich, den er geleistet hat. Dafür sah er einfach zu gut aus. Das Aussehen und die Muskeln? Wer würde da nicht…“

„ADAM, SCHLUSS!“, donnerte Stern und Leo saß wie betäubt auf dem Stuhl. Nur nebenbei spürte er, dass das Kitzeln auf seinen Wangen Tränen waren, die auf sein Shirt tropften. Wer würde nicht… alle. Weil er alle fickte als die Hure, die er war. 

„Setzen Sie sich wieder hin“, sagte der Richter ruhig, aber mit einem deutlich warnenden Unterton. „Und ich rate Ihnen eindringlich, den Zeugen weder zu beleidigen noch ihn zu bedrohen. Frau Verteidigerin, bringen Sie Ihren Mandanten zur Räson.“

Leo sah verschwommen, wie Adam sich widerwillig fügte…nach einer viel zu langen Zeit. Sie redete aufgeregt auf ihn ein, während Leo sich wieder auf den Richter konzentrierte und sich die Tränen von den Wangen wischte. Er versuchte, seine Angst zu beruhigen, die mit Adams Worten einherging. Mit seiner Aussage und seinem Leid, das gegen ihn verwendet wurde. 

Es war, als wäre Leos Innerstes nicht nur sichtbar für alle, sondern herausgerissen und entblößt, verurteilt für seine Schwäche, nicht mit dem fertig zu werden, was ihm angetan worden war. 

Schwarz schob energisch seine Akten zusammen und wartete darauf, dass sich der Saal beruhigte. Als er hochsah, stand auf seinem Gesicht weniger Strenge, sondern Nachsicht. Dies galt für Adam und Stern nicht, die er unerfreut maß. 

„Frau Verteidigerin, haben Sie oder Ihr Mandant noch etwas zum Sachverhalt beizutragen oder zu fragen?“

„Nein, Herr Vorsitzender.“

Schwarz musterte ihn und Leo zog unauffällig, so wie er hoffte, die Nase hoch. 

„Herr Hölzer, hatten Sie freiwillig Geschlechtsverkehr mit Herrn Schürk?“, fragte er so sanft, als würde Leo ihm ein Nein ins Gesicht schleudern. Als wäre er doch noch das Opfer von Vergewaltigung und Folter geworden.

Leo nickte. „Ja. Zu jeder Zeit. Ich habe den Geschlechtsverkehr initiiert und Herr Schürk hat erst gezögert, sich dann aber darauf eingelassen. Ich wollte es und ich habe es freiwillig getan.“

Schwarz nickte knapp, aber versichernd und sah dann zu Weiersberger. „Herr Staatsanwalt. Fragen?“

Weiersberger war leichter anzusehen. Sicherer. Er war nicht sein Feind, er wollte ihn nicht bloßstellen oder demütigen. „Nur eine. Herr Schürk hat geschildert, dass Sie soweit unter Druck gesetzt worden sind, dass Sie versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Waren die Monate der Erpressung ein einschneidendes und traumatisierendes Erlebnis für Sie?“

Leo brauchte etwas, bis er antworten konnte. Und als ihm schlussendlich möglich war, fiel ihm die Antwort auch nicht leicht.  

„Das waren sie. Aber die Reue, die Herr Schürk empfunden und gezeigt hat, war echt. Zumindest habe ich sie ihm geglaubt. Er hat mir konkludent begründet, warum er den Weg der Erpressung gewählt hat und Roland Schürk hat es nicht zuletzt mit seiner Folter auch bestätigt.“ 

Leo schnaubte und schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an. „Zumindest hat er mich davor gerettet, weiter gefoltert zu werden und mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus dem Folterkeller geholt.“

Wahrheit war Wahrheit und auch wenn Adam ihn auch hier als Hure beschimpfte, so war er dieser doch auch verpflichtet. 

Seine Aussage schien Weiersberger nicht zu gefallen, doch schließlich nickte er knapp. 

„Ich habe keine weiteren Fragen, Herr Vorsitzender.“

„Dann schließe ich Ihre Befragung, Herr Hölzer. Sie können nun den Gerichtssaal verlassen.“

Leo erhob sich und aus einem Impuls heraus drehte er sich nicht nach rechts zu Weiersberger, sondern nach links zu Stern und Adam. 

Für einen Moment streifte sein Blick Adams und kurz blendete Leo alles Weitere aus. Die Kälte auf dem Gesicht des blonden Mannes wich für eine Sekunde lang etwas anderem, das Leo als Zweifel klassifizierte. Doch es war zu schnell weg um gefasst zu werden und so beeilte Leo sich, weg zu kommen. 

Raus aus dem Saal. Weg von diesem Mann. 

Dass er seinen Mageninhalt in der Toilette von sich gab, war da nur der Abschluss von etwas, das unheilig mit Adam begonnen hatte und heute ebenso unheilig mit ihm endete.  


~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

Chapter 60: Ein unmoralisches Angebot

Notes:

Einen wunderbaren Sonntag euch lieben Tatort-Menschen!

Am 13.04.2020 hatte Das fleißige Lieschen Erstausstrahlung für das breite Fernsehpublikum und hat damit den Grundstein gelegt für ein Fandom, das mit jedem Tatort größer wird und sich bereichert von verschiedenen Impulsen, die durch viele Menschen eingebracht werden. ♥️ Happy Birthday und herzlichen Glückwunsch für so viel tolles Quellenmaterial, das einfach eine tolle Grundlage für jedwede Art von Fanworks bietet.

Zum Fünfjährigen gibt's dann auch das 60. Kapitel der Anatomie (🥳)...sorry, die Fünfzig konnte ich jetzt nicht timen, aber zehn Kapitel zu löschen um auf das 50. zu kommen, damit es annähernd passt, schien mir nun auch nicht zielführend. 😉

Daher viel Spaß beim Lesen und vielen vielen vielen Dank für all eure Kommentare, Sprachnachrichten, Kudos, Likes, Klicks, Reblogs... 🫂♥️Viel Liebe dafür!

Chapter Text

 

Leo hatte geweint. 

Leo hatte geweint und ihm direkt in die Augen gesehen. Fassungslosigkeit und Verrat, das hatte auf dem bärtigen Gesicht seines ehemaligen, hauseigenen Polizisten gestanden und Adams Herz hatte einen unschönen Satz gemacht. 

Die Welt eingefroren zwischen ihnen beiden. 

Geschieht der Hure recht, hatte eine Stimme in Adam gezischt, im fahlen Klang der Dreckssau. Etwas, das Adam sofort, nicht eine Sekunde später, niedergeschlagen hatte. Stumm hatte er die Stimme angeschrien, dass sie ihre Fresse halten sollte. 

Leo hätte ihn vernichten können und hatte es doch nicht getan. Er war erschüttert gewesen von Rahels Taktik, aber er hatte ihn nicht vernichtet. 

Er hatte geweint. 

Aus Verzweiflung. Und das hatte Adams Herz wieder einmal zusammengequetscht, wie nur Leo es konnte.  

Am Liebsten wäre Adam hinterher gegangen und hätte Leo zurückgehalten. Er hätte gefragt, ob…ob Leo sich wirklich für die SoKo prostituiert hatte. Jetzt, wo alles vorbei war, wäre Leo sicherlich ehrlich gewesen, oder? 

Doch er war nicht hinterhergegangen, weil er hier sitzen musste, gefangen in einem langweiligen Gerichtsverfahren, dessen Ausgang er auch jetzt schon kannte. 

Schuldig wie die Nacht. 

Adam saß stumm und unter nervöser Energie auf seinem unbequemen Stuhl. Seine Finger schmerzten, weil er an ihnen zog, um sie zum Schmerzen zu bringen. Sein Rücken schmerzte und seine Knie brannten von der erzwungenen Haltung. 

Und das, obwohl er gar nicht kniete. Adam lachte innerlich. 

Nach und nach wurden die anderen Zeuginnen und Zeugen aufgerufen und gaben ihre Versionen der vergangenen Monate und Jahre zu Protokoll. Seine Mutter, Maria, Bastian, Baumann, Heinrich, Osthorn, der Gutachter, der ihm seine Verrücktheit und Gebrochenheit bescheinigte und nichts, aber auch wirklich gar nichts ausließ, was ihn zu dem traumatisierten und gebrochenen Mann von heute gemacht hatte. 

Alles breitete er hier aus. Jeden Versuch Adams, sich als Kind der Gewalt seines Vaters zu entziehen. Jede Regung in seiner Mimik, die darauf hindeutete, wie gebrochen und kaputt er eigentlich war, nicht zurechnungsfähig, weil er Dinge erlebt und mit angesehen hatte, die kein normaler Mensch erleben und mitansehen musste. Und die dazu geführt hatten, dass er sich so roh und soziopathisch verhielt, wie er es tat. 

Es war hochgradige Ironie, dass alles, was er die letzten Jahrzehnte hatte verbergen müssen, nun in aller Epik seziert und zur Beschau ausgelegt wurde. Alle Wunden, alle Gewalt, alle Traumata…nichts davon musste er hier verschweigen, sondern sie wurden dem Gericht auf einem Silbertablett präsentiert für das größere Ganze, ihn von der Last einer Gefängnisstrafe zu befreien. 

Wenn man Adam fragte, dann war das Bullshit. 

Natürlich war er sich bewusst gewesen, dass Erpressungen und Bestechungen jenseits aller Legalität waren. Natürlich war er sich bewusst, dass er damit Menschen unter Druck setzte. Aber das war zu verkraften und außerdem konnten sie doch dabei noch größtenteils ihr normales Leben leben. 

Also Leo. 

Die anderen Bestechungen und Erpressungen konnten sie ihm nicht nachweisen, da es keine zweite Seite gab. Absolut niemand hatte ausgepackt, weil die Geheimnisse zu dunkel waren, und die Gelder hatte Zarah so klug verschwinden lassen, dass sie nicht nachzuverfolgen waren. Was mit seinen Verknüpfungen geschah hiernach, stand noch in den Sternen. Was sollte er denn auch noch mit ihnen? Er brauchte ja niemanden mehr und hatte für niemanden etwas übrig, außer, dass sie Menschen waren.  

Für niemand bis auf Leo, der des Vorwurfs des versuchten Totschlages freigesprochen worden war. Hatte Zarah herausgefunden und ihm gesteckt, als Vincent gerade abgelenkt gewesen war. Adam hatte es zur Kenntnis genommen und die Erleichterung darauf geschoben, dass die Schmerzen in seinem Rücken eine Viertelstunde später nachgelassen hatten.

Anscheinend kam ihm wohl auch zugute, dass er Leo aus den Klauen seines Vaters geholt hatte. Und dass er sich von ihm erst hatte versorgen und dann schlussendlich vögeln lassen. 

Durch und durch traumatisiert. Angst vor seinem Vater, Angst, zur Polizei zu gehen und auszusagen. 

So weit, so wahr. Jetzt durfte er es ja sagen. Sagen lassen. Analytisch hinterlegen lassen, warum er so kaputt war. 

Mal sehen, was die Geschäftspartner der Dreckssau dazu sagten, wenn sie Wind hiervor bekamen und weiterhin darauf geierten, sich das Syndikat seines Vaters unter den Nagel zu reißen. Wenn nicht das Leben der Menschen, die er mochte, davon abhängen würde, hätte Adam es ihnen mit Kusshand und Schleifchen übergeben, den Mittelfinger gezeigt und wäre gegangen. Aber so? 

Als wäre das nicht genug, wurden nun auch noch die Indizien aufgetischt. Fotos von seinem Körper, den Verletzungen, die die Dreckssau ihm zum Abschluss zugefügt hatte. Der Bericht des Einsatzkommandos, wie sie ihn gefunden hatten. Die Arztberichte aus dem Krankenhaus von seinem Ausraster und der anscheinend notwendigen Fixierung. 

Als Weiersberger und Rahel fertig waren mit ihrem Scheiß, war Adam mehr als kotzübel. Er fühlte sich gläsern und so seziert, als gäbe es ihn als ganze Person nicht mehr. Als wäre er nur eine Ansammlung aus Momenten in seinem Leben, die aneinandergereiht worden waren um sein gebrochenes Ich irgendwie am Laufen zu halten. 

Aguado-Voigt würde widersprechen, aber sie war heute nicht hier und der nächste Termin mit ihr war erst morgen. Sie hatte drauf bestanden, nicht er. Dass er nicht schon heute bei ihr antanzen musste, war auch nur seiner eigenen Sturheit zu verdanken. 

„Haben Sie noch etwas hinzuzufügen, Herr Schürk?“, fragte Schwarz in seine Gedanken hinein und Adam begriff, dass die Beweisaufnahme abgeschlossen war. Letztes Wort, rien ne vas plus, eine letzte Chance noch für ihn, etwas zu sagen. 

Adam überlegte und neben ihm räusperte sich Rahel vielsagend. Er warf ihr einen Blick zu und die hochwandernden Augenbrauen waren mehr Drohung als Warnung. 

Er musterte sie und dachte an die Arbeit, die sie für seinen Vater geleistet hatte. Für das Syndikat. Die Mühe, die sie in seine Verteidigung steckte. Auch die letzten Wochen über, als Adam nicht zurechnungsfähig gewesen war. 

Traumatisiert. Voller Angst vor der Dunkelheit, vor dem Anblick von Gürteln, vor der Erwähnung des Namens seines Vaters. Seinen Träumen ausgeliefert, die ihn nicht schlafen ließen. Seinen Tagen, die eine einzige Shitshow gewesen waren, durchtränkt von Verrat, Hoffnungslosigkeit und Schmerz. 

Sie war dagewesen, in all ihrer gemeinsamen Illegalität. Aber wer nicht dagewesen war, war der Staat.

Adam sah von ihr zu Weiersberger und von ihm zu Schwarz. 

„Wenn Sie so fragen, ja“, schnarrte Adam und Rahel legte ihm warnend die Hand auf den Unterarm. Adam zuckte, weil er sich wie immer erschreckte, wenn so etwas plötzlich kam. 

„Adam, mach es nicht“, sagte sie leise und er schüttelte den Kopf, die Augen stur auf den Tisch vor sich gerichtet. 

„Ich muss. Die Arschlöcher dieser Welt haben es verdient.“

Anscheinend war es laut genug für Schwarz gewesen, denn dessen Miene verfinsterte sich augenblicklich. Adam räusperte sich. Bevor Rahel ihm jetzt die Hände um den Hals legte und ihn erwürgte, sollte er besser anfangen. 

„Wo wart ihr, als die Dreckssau, die sich mein Vater genannt hat, meine Mutter geschlagen, ihr sämtliche Zugriffe zu allen Konten entzogen und sie unter die Kontrolle seiner Männer gestellt hat? Wo wart ihr, als sie im Krankenhaus lag und mich geboren hat, an ihren Oberarmen und in ihrem Gesicht Spuren von seinen Schlägen? 

Wo wart ihr, als die Dreckssau allen Glauben gemacht hat, ich bekäme den besten Unterricht zuhause. Nur dass der Unterricht halb Schulstunde halb Folterstunde war. Wo wart ihr, als ich mich mit acht in den Schnee gelegt habe um zu sterben, weil ich’s nicht mehr ertragen habe? Wo wart ihr, als ich mit neun zum Jugendamt gegangen bin und der Einzige, der sich darum geschert hat, wie ich aussehe, ausgerechnet Hölzer Senior gewesen ist. Und dass der Jugendamtsmitarbeiter, von meinem Vater geschmiert, mich wieder an diesen ausgeliefert hat. Er hat mich fast umgebracht mit seinen Schlägen und seinem Drang, mich in den Keller einzusperren. Ohne Essen, ohne Tageslicht, ohne Wasser. Wo wart ihr da?“

Adam löste sich von Schwarz‘ Musterung und bohrte seine Augen in die von Weiersberger, der ihn ebenso neutral maß. Friss Scheiße, du dummes Stück hilfloser Staatsanwalt, zischte Adam innerlich.

„Wo wart ihr, als die Dreckssau die ersten beiden Polizisten getötet hat und ihr nicht in der Lage wart, die Morde aufzuklären? Wo wart ihr, als die anderen dem gefolgt sind? Wo wart ihr, als er meinen… als er mich dazu gezwungen hat, zuzusehen, wie er Elias Schiller umbringt  und mich bei seiner Leiche im Keller eingesperrt hat, damit ich es lerne, nicht zu lieben und weg zu wollen? Wo wart ihr, als er euren Ermittler gefoltert hat? Wo wart ihr, als er immer gieriger nach der Macht gegriffen hat um das Saarland und Nord-Ost-Frankreich unter seine Kontrolle zu bringen?“

Adam zog verächtlich seine Lippen zurück. Wut kochte in ihm hoch. Hass auch. Hass auf die Männer, die vor ihm saßen und sich selbstgerecht darin sonnten, ihn hinter Gittern bringen zu wollen. Natürlich gerechtfertigt, aber niemand von denen…

„Ihr wart nicht da. Keiner von euch Arschlöchern. Ihr habt versagt und meine Mama und mich alleine gelassen mit diesem Monster. Ihr habt weggesehen, wo ihr es nur konntet. Nur zwei, die haben nicht weggesehen. Der eine davon hat mich nur retten wollen und sitzt jetzt auch auf der Anklagebank für etwas, das ich getan habe. Der andere…wer weiß. Vielleicht waren ein paar seiner Gefühle sogar echt, sein Schwanz in meinem Arsch hat sich auf jeden Fall sehr echt angefühlt. Die Idee, dass er sich kümmert und dass er die Dreckssau wirklich zur Strecke bringen wollte…die konnte sich auf jeden Fall sehen lassen. Im Gegensatz zu eurer Feigheit.“

Er holte tief Luft. Fertig war er noch lange nicht. Nicht nach all den Jahren, nach dem konstanten Wegschauen aller. 

Donnernde Stille begrüßte Adam, als er sich zurücklehnte und die brennenden Blicke von fünf Personen auf sich spürte. 

„Oy vey!“ Neben ihm schleuderte Rahel ihren Stift auf den Tisch und warf sich nach hinten in den Stuhl. Sie riss ihre Arme in einer, wie Adam aus dem Augenwinkel erkannte, verzweifelten Geste in die Höhe. 

Adam verschränkte seine eigenen und verzog das Gesicht, als sein Körper ihm deutlich zu verstehen gab, dass er es übertrieben hatte. Mit dem Sitzen. Mit so etwas Einfachem wie leben. 

Damals wie heute war es einfach vermessen von ihm, leben zu wollen wie es normale Menschen taten. „Und ich will einen Deal“, setzte er noch einen oben drauf spürte, wie Rahel scharf ausatmete.

„Du sollst wachsen wie eine Zwiebel…mit dem Kopf im Boden“, knurrte sie leise, nur für ihn hörbar. 

Der Rest war geradezu unheimlich still.


~~**~~


„Bewährungsauflagen für Sie und Herrn Ross, dafür keine Gefängnisstrafen? Straffreiheit für ihre Mutter?“, echote Schwarz und Adam nickte grimmig. Er stand in der Ecke des fensterlosen, abhörsicheren Raumes und hatte die Arme verschränkt. Er hätte weinen können vor Erleichterung, dass sein Rücken sich endlich bewegen konnte. Dass er seine Knie ausstrecken konnte. 

Weiersberger saß wie Schwarz auch, nur Rahel stand mit eisigem Schweigen neben ihm. 

„Ihre heißgeliebte Therapie für mich, meinetwegen bis zu meinem Lebensende oder meinetwegen auch noch an meinem Grab, wenn das Trauma bis dahin nicht abgearbeitet ist. Meinetwegen Sozialstunden für Vincent, er liebt Tiere und wäre in einem Tierheim gut aufgehoben. Das Geld der Dreckssau können Sie behalten und ich setze noch die Konten, die Sie nicht gefunden haben, oben drauf. Dazu keine Erpressungen und keine Bestechungen mehr.“

Schwarz bedachte sein Angebot und runzelte kritisch die Stirn. „Die Namensliste aller Personen, die Sie bestochen und erpresst haben ebenfalls.“

Adam schnaubte. „Es gibt keine Liste.“ Die gab es tatsächlich nicht. Sie führten keine Listen, dafür aber Akten über die Personen. Über alles, was diese ausmachten. 

„Das ist gelogen.“

„Das können Sie mir nicht nachweisen.“

Entschlossen schüttelte Schwarz den Kopf und schlug dann den Deckel seiner Akte zu, die bislang geöffnet vor ihm gelegen hatte. „Wenn Sie das nicht ernst nehmen, Herr Schürk, dann gibt es auch keinen Deal. Wir sind nicht Ihr Spielball und ich schätze es auch nicht, dass Sie versuchen, sich Ihre Freiheit mit derartigem Rechtsbruch zu erkaufen. Und uns für dumm zu verkaufen, wenn Sie uns weismachen wollen, dass Herr Hölzer der Einzige war, den Sie erpresst haben.“

Adam zog die Nase hoch, die Maske der Arroganz, die ihn über die letzten Jahre wieder und wieder gerettet hatte, wieder am Platz. „Und was wäre, wenn doch?“, fragte er provozierend und Schwarz schürzte unerfreut die Lippen. 

„Dann stellt sich die Frage, ob Herrn Hölzers Urteilsvermögen was Sie und die Schwere Ihrer Erpressung anbetrifft nicht einer weiteren Verwendung als Ermittler im LKA entgegensteht und er aus seiner Verantwortungsposition zu lösen ist.“

In seiner Wut im Krankenhaus hätte Adam wahrscheinlich gelacht und geantwortet, dass sie Leo Hölzer wegen ihm auch gerne die Urkunde wegnehmen konnten. Disziplinarverfahren und raus aus dem Dienst. Das wäre im Krankenhaus gewesen. 

Aber jetzt? Jetzt war er wieder in der Lage dazu, klar zu denken. Jetzt hatte Leo ihn verteidigt. Vor Gericht. Er hatte Dinge nicht angesprochen, die Adam den Kopf hätten kosten können.

„Leo Hölzer hat gelitten, monatelang. Ich wollte seine Gesellschaft und habe ihn nicht in Ruhe gelassen. Habe ihn damit fertig gemacht, ohne es wirklich zu wollen. Weil ich nicht verstanden habe, was ich ihm damit antue. Er hat es mir ins Gesicht geschrien und ja, heute weiß ich, wie sehr ich ihn damit belastet habe. Aber…während der ganzen Zeit war er stark. Hat gegen mich ermittelt und Ihrer heißgeliebten Sonderkommission jeden einzelnen Orgasmus weiterberichtet, den ich in ihm hatte.“

So schmutzig, wie sein Blick in Richtung Weiersberger war, war noch nicht einmal der Abfluss des Kellers im Bunker. Adam zeigte die Zähne und Weiersberger reagierte mit kalter Nichtbeachtung seiner Provokation. 

„Wie dem auch sei. Charakterlich ist Hölzer geeigneter als Sie und Ihr Staatsanwalt da drüben. Wenn ich ihm glauben kann, dass er helfen wollte.“

Was mittlerweile gar nicht mal mehr so fern war. Wieder. 

„Adam, es ist gut jetzt“, mahnte Rahel viel zu leise dafür, dass sie nicht wütend war, und Adam atmete tief durch. Was scherten ihn schon diejenigen, die darauf standen? Insbesondere die, die er bestach? Größtenteils hatte er keine weiteren Gefühle. 

„Vincents und meine Freiheit gegen die Liste. Meinetwegen auch Bewährung mit Sozialstunden oder finanzielle Wiedergutmachung. Die aber für misshandelte und missbrauchte Kinder. Die Dreckssau hat da noch Geld, das besser in den Händen von Kinderheimen oder Therapien aufgehoben ist. Das will ich.“ Damit verschränkte er die Arme vor sich und starrte Schwarz, Weiersberger und Rahel der Reihe nach missmutig an. 

Schwarz atmete bewusst ruhig ein und sah dann in seine Akte. Ohne Adam zu beachten, blätterte er in den Beweismitteln und blieb am Ermittlungsvermerk der Polizei hängen, wie Adam das auch aus der Ferne erkannt. „Ich überhöre angesichts Ihres Zustandes die konstante Herabwürdigung der Verfahrensbeteiligten, Herr Schürk. Aber das auch nur noch dieses letzte Mal. Ihr Angebot reicht mir noch nicht.“

„Was wollen Sie noch?“

Schwarz sah zu Weiersberger und Adam erkannte, dass das hier ein abgekartetes Spiel war. Deswegen waren auch die Schöffen nicht mit in dem Raum. Deswegen provozierten sie ihn. 

„Die Kontrolle des Machtvakuums nach dem Tod Ihres Vaters“, übernahm der Staatsanwalt, seine buschigen Augenbrauen sturmgeweiht zusammengezogen.

Ein einfacher Satz und doch verschlug es Adam die Sprache. Rahel schüttelte alarmiert den Kopf und auch Adam war nicht dumm genug um nicht zu begreifen, was das bedeuten würde. 

„Durch das Ableben Ihres Vaters wird Saarbrücken zur Zielscheibe der organisierten Kriminalität im Saarland und in Frankreich. Kleinere Splittergruppen werden versuchen, die Macht an sich zu reißen und die Stadt wird im kriminellen Moder versinken. 
Sie werden Ihren Beitrag dazu leisten, dass das nicht geschieht.“

Vermutlich hatten die Beiden das schon längst mit dem BKA und der französischen Polizei, ja sogar mit Europol abgekaspert. Sie wollten ihn zum gelenkten, eierlosen Fürsten von Saarbrücken machen, mit einer Hand der Polizei fest in seinem Arsch, die ihn lenkte und leitete. Ein gefährliches Spiel und noch dazu eins, das Adam nie hatte spielen wollen. Schon unter seinem Vater nicht und nun sollte er sein Leben lang Sklave für die Waage in Saarbrücken sein?

„Schon witzig. Mein Leben lang kämpfe ich gegen die Dreckssau an und mache das alles nur, damit niemand mehr zu Schaden kommt und keine Leute sterben und kaum ist der Alte Futter für die Würmer, soll ich seinen Platz für euch übernehmen? Allen Ernstes, ich soll weiter kriminell sein? Was an „Ich will das nicht, wollte das noch nie“ habt ihr nicht verstanden?“, zischte Adam und starrte Weiersberger finster ins Gesicht. 

„Sie, Herr Schürk, sollen das Geschäft Ihres Vaters so abwickeln, dass die organisierte Kriminalität in Saarbrücken nachhaltig und dauerhaft geschädigt wird.“

„Abwickeln?“

„In fünf Jahren sollen die Strukturen Ihres Vaters so zerschlagen sein, dass die OK keinen Fuß mehr ins Saarland setzen kann. Kein länderübergreifender Drogenhandel mehr, kein Immobilienbetrug. Der Menschenhandel zerschlagen.“

„Und dafür braucht ihr den traumatisierten Erstgeborenen des größten Arschlochs der Welt, der viel ist, aber nicht zurechnungsfähig?“

Weiersberger schmunzelte und die Dunkelheit, die dahinter lauerte, jagte Adam einen Schauer über den Rücken. 

„Ich glaube Ihnen Ihr Trauma, Herr Schürk. Sie haben aber nicht umsonst bis hierhin überlebt. Und alleine die Tatsache, dass Sie Ihr Netzwerk aus sogenannten Verknüpfungen gewoben und über Jahre aufrecht erhalten haben, prädestiniert Sie für diese Bedingung.“

„Überlegen Sie es sich. Gefängnis für Sie und Herrn Ross oder das hier“, stimmte Schwarz mit ein und Adam sah zu Rahel. 

Stumm fragte er sie, ob er den Deal eingehen sollte, der ihn quasi in die Dienste der Polizei stellte. Zumindest für die nächsten fünf Jahre. Stumm kommunizierten sie, wogen ab. Hinter Rahels gerunzelter Stirn arbeitete es, dann nickte sie unmerklich. 

Adam brauchte länger um sich mit der Erpressung abzufinden, die er unterschreiben würde. Damit Vincent in Freiheit war. Damit er nicht in einer Zelle verrottete. 

„In Ordnung.“ Schlichte Worte für etwas, das mitnichten schlicht war. 

„Wie viele Ihrer sogenannten Verknüpfungen gibt es?“, fragte Schwarz und wieder nickte Rahel in seinem Augenwinkel leicht. Sie wusste, dass Adam es wusste. Schließlich hatte er ein gutes Gedächtnis.

„Hundertachtundsiebzig, davon neunundsiebzig Korrupte und der Rest Menschen mit dunklen Geheimnissen.“

Dass das eine Zahl war, die weder Weiersberger noch Schwarz vermutet hatten, erkannte Adam an dem schweren, überraschten Schweigen. Wieder sah er in die Runde und zuckte schlussendlich mit den Schultern. 

„Die Dreckssau hat keine halben Sachen gemacht. Haben Sie erwartet, dass ich da Lücken lasse?", fragte er und Weiersberger knirschte mit den Zähnen. 


~~**~~


Aguado-Voigt würde hierüber nicht glücklich sein, vermutete Adam, aber sie wusste ja nichts davon. Noch nicht, also weder von dem weiß gefliesten Raum unter dem Bunker noch der fragwürdigen Erziehungsmethoden, die sich die Dreckssau hier drin bedient hatte. 

Vincent würde ihn einen Kopf kürzer machen, wenn er wüsste, dass er hier wäre und deswegen hatte Adam es ihm auch verschwiegen in seinen kurzen und knappen und vielleicht auch abweisenden Worten vor Gericht, dass er gerade Zeit alleine brauchte und dass Vincent sich alles von Rahel erklären lassen sollte. Falls diese noch für ihn arbeiten wollen würde, hieß das. Er hatte noch andere Dinge zu erledigen, so seine Aussage. 

Sich auszuziehen, zum Beispiel, hier in dem weiß gefliesten Raum, dessen Geruch er so gut kannte, als wäre er damit geboren worden. Vielleicht war er das auch, denn Adam konnte nicht schon gar nicht mehr an das erste Mal erinnern, das die Dreckssau ihn hier eingesperrt hatte um die Scheiße aus ihm heraus zu prügeln. 

Jede Fliese kannte sein Blut, er hatte sich quasi mit seiner DNA hier verewigt. Seinem Blut, seinen Tränen, seinem Bitten und Betteln um Gnade, das kein Gehör gefunden hatte. 

Aber heute war niemand da, um ihn zu schlagen. Heute war nur er da, hier in der Mitte des Raumes, nackt und unschlüssig, dafür mit dahinfliehendem Puls und einer brennenden Schwere im Magen, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. 

Adam sah an sich hinunter und überlegte, sich hinzuknien, doch das konnte er nicht. Noch nicht. Vermutlich nie wieder. Vielleicht wäre dann die Ecke ein guter Anfang, wenn er sich auf die kalten Fliesen setzen würde?

Adam tat genau das und erschauerte. Er zog die Beine an sich und schlang die Arme um seine unbrauchbaren Knie.  

Dabei gehörte er doch bestraft für das, was er getan hatte. Rahel war wütend auf ihn, Vincent mit Sicherheit enttäuscht. Das hatte er an Vincents missbilligendem Schweigen erkannt, als er ihn stehen gelassen hatte. 

Er hatte dumme Dinge getan, den Richter provoziert, überhaupt vor Gericht ausgesagt. Er hatte sich auf einen Deal eingelassen. Einen Deal. Mit der Polizei und der Richterschaft zur Zerschlagung des Syndikats. Die Dreckssau hätte ihn zehnmal dafür bestraft und deswegen war er hier, in dem Raum. Auf der Schlachtbank. 

In der niemand mehr war, um ihn zu bestrafen. 

Adam kauerte sich enger in die Ecke gegenüber der Eingangstür und starrte auf die Fliesen, unter denen sich der Sarg befand. Zu früh, gellte es in ihm. Viel zu früh. Seine Gedanken liefen Amok, seine Angst gesellte sich zu ihnen. Dunkelheit und Enge, das Gefühl, zu ersticken und lebendig begraben zu sein. Ohne die Möglichkeit zu entkommen, nur mit gelegentlichen Unterbrechungen durch Prügel. 

Adam schluckte einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Seine Kleidung lag am anderen Ende, unsauber und unordentlich. Selbst das bekam er nicht hin, wenn niemand da war, der ihm Ordnung einprügelte. Selbst das war der Dreckssau beim letzten Mal nicht egal gewesen. 

Vielleicht sollte er sich selbst schlagen, befand er, oder vielleicht reichte es auch, wenn er an all die Male hier unten dachte, in denen er gelitten hatte. Schlimm genug war es auf jeden Fall. So schlimm, dass er seinen Kopf hinter seinen Knien verbarg und mit seinen Fingernägeln blutige Halbmonde auf seinen Unterarmen hinterließ. 

Vielleicht hörte er deswegen auch nicht, wie die Tür aufgeschoben wurde und erst das entsetzte „Oh, Adam!“ seiner Mutter ihn aus seiner Trance löste und ihn erschrocken zusammenzucken ließ.

Er hörte, wie sie mit schnellen Schritten zu ihm kam und sich zu ihm kniete. Sanft legte sie ihre zierlichen Hände auf seine Unterarme und zog seine klauenartigen Hände von den halbmondförmigen Wunden weg, die er sich selbst anscheinend zugefügt hatte. Es war so ein krasser Gegensatz zu den Berührungen, die ihm sonst in diesem Raum zugefügt worden waren, dass er atemlos aufschluchzte. 

„Warum bist du denn hier unten? Warum hast du dich ausgezogen? Komm nach oben. Bitte, Adam!“ 

Wie sollte er seiner ängstlichen Mutter erklären, dass er das hier brauchte? Dass er es vermisste, bestraft zu werden? Wie sollte er das irgendjemandem erklären, wie krank er war, weil er mit einem normalen Leben so verloren war, dass er sich das hier zurücksehnte? 

„Ich gehöre bestraft, Mama“, sagte Adam tonlos und fast glaubte er, dass es zu leise war. Doch sie hatte nur Zeit gebraucht, um seine ungeheuerlichen Worte zu verarbeiten und sich vermutlich eine Gegenrede zu überlegen. 

„Du bist genug bestraft für dein ganzes Leben lang, mein Spatz“, murmelte sie leise, aber so entschlossen, wie er sie lange nicht gehört hatte. Vielleicht noch nie. „Du hast nichts falsch gemacht.“

Wenn sie doch wüsste…

„Ich habe mein Leben falsch gemacht“, entkam es Adam mehr voller Selbstmitleid als alles andere. Dass es darauf keine Antwort gab, war klar, und so waren es nur die Arme seiner Mama, die ihm widersprachen, als sie sich um ihn legten und mit ungewohnter Kraft an sich zogen. Sie waren dennoch sanft zu ihm, im Gegensatz zu allem, was hier drin passiert war.

„Unter den Umständen hast du das Beste aus deinem Leben gemacht, mein Sohn, und ich bin stolz auf dich, dass du noch lebst. Ich bin stolz, dass du ihn überlebt hast und ich möchte, dass du nie wieder für irgendetwas bestraft wirst. Schon gar nicht hier. Dieser Raum gehört zerstört, Adam. Dieser Raum ist voller böser Geister.“

Das war er und das war auch der Punkt, in dem Adam ihr zustimmen konnte. Für den Rest hatte er keine Kraft und drückte sich anstelle dessen schweigend an sie. 

In aller kakophonischen Ambivalenz seines Seins. 


~~**~~


Mit Sorge musterte Vincent den Mann neben sich im Wagen, dessen formelle Kleidung schief hing und der nichts sagte. Schon seit seinem Verlassen des Gerichtsgebäudes war Adam in sich gekehrt gewesen, nicht erreichbar für Vincent. Rahel hatte ihn auf Stand gebracht und war mit ihm die weiteren Möglichkeiten und Zeitpläne durchgegangen. Mit ihr hatte er das weitere Vorgehen geplant. Nicht mit Adam. Adam hatte ihn ausgesperrt.

Wie so oft in letzter Zeit in seiner eigenen Welt mit eigenen Entscheidungen. 

Auf Heide Schürks Bitte, ihren Sohn aus dem Bunker zu holen, hatte Vincent mit Sorge reagiert und war dann losgefahren. Als er ankam, saß Adam bereits auf der Couch im Wohnzimmer, war aber vollkommen in sich gekehrt. Wieder. Erst Frau Schürk hatte Vincent darüber aufgeklärt, wo sie ihren Sohn gefunden hatte und Vincent verstand. 

Ja, das tat er wirklich. 
 
Die jahrelange, qualvolle Konditionierung durch seinen Vater war abrupt weggebrochen und Adams Verlangen nach Stabilität sehnte sich genau danach: nach etwas Gewohntem. Etwas, an dem er sich orientieren konnte. 

Es hatte schon öfter solche Perioden gegeben, in denen Adam über die Stränge geschlagen hatte. Meistens war es immer die Zeit gewesen, in der Roland ruhiger war, ihn weniger beachtete und nicht regelmäßig schlug. Vincent hatte ihn immer wieder einfangen können und so wusste er auch jetzt, was zu tun war. Ihm ruhige und keinen Widerspruch zulassende Befehle zukommen zu lassen. 

Seine Wut über Adams Vorgehen stellte Vincent hinten an.

Schweigend und mit gesenktem Kopf war Adam ihm gefolgt, hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt und blass aus dem Fenster gestarrt, während sie durch die Stadt fuhren.

Dass Taten besser als Worte waren, hatte schon Leo Hölzer gesagt, also fuhr Vincent am Saarländischen Rundfunk vorbei zum McDonalds am nahen Kreisverkehr. Er bestellte im Drive-In zwei Kaffee und fuhr sie zum Parkplatz des nahegelegenen Möbelhauses. Wortlos reichte er Adam seinen Kaffee und hielt ihn so lange zwischen sie, bis Adam sich seiner bewusst wurde und sich auf ihn fokussierte. 

Langsam umfasste Adam den heißen, gelben Becher und erst, als Vincent sich sicher sein konnte, dass er ihn nicht fallen ließ, ließ er ihn los. Griff schließlich seinen eigenen Becher an Kaffee mit Hafermilch. 

Adam trank vier Schlucke mit stur geradeaus gerichtetem Blick, bevor er das Gesicht verzog. 

„Der schmeckt scheiße.“

Wahre, klare Worte waren das und Vincent war froh, dass er Adam wieder so weit zurück hatte, dass dieser sich über schlechten, bitteren Kaffee von McDonalds beschweren konnte.

„Willst du über den Keller sprechen?“, fragte er und rechnete mit einer stummen Verneinung. Oder auch wieder mit einem Geständnis über Dinge, das ihm die Schuhe ausziehen würde. Wie so vieles, was Adam in der letzten Zeit eigenmächtig beschloss. Ohne ihn vorher zu fragen oder sich mit ihm zu beraten. 

Eben jener wandte den Kopf ab, starrte aus dem Beifahrerfenster nach draußen, als gäbe es da eine interessantere Welt als hier zu sehen. Vielleicht war sie das auch. Ungefährlicher war in jedem Fall. 

„Ich gehöre bestraft“, sagte Adam dann die Ungeheuerlichkeit, die ihresgleichen suchte, und Vincent schluckte schwer. „Kaum ist er tot, mache ich alles falsch. Er hätte seine wahre Freude daran gehabt, mir die Scheiße aus meinem Kopf zu prügeln. Nichts kann ich. Und dann hat die Dreckssau doch Recht gehabt und ich war nur auf Spur, weil er mich da reingeprügelt hat.“

Trotz des Wissens um Adams Trauma waren seine Worte dennoch wie ein Schlag in die Magengrube für Vincent. 

„Wegen des Gerichtsverfahrens?“, fragte er sanft und Adam schüttelte den Kopf. 

„Nicht nur. Ich treffe Entscheidungen und die sind falsch. Du bist wütend. Rahel ist wütend. Meine Entscheidungen machen alle wütend und doch treffe ich sie. Und mache weiter und weiter und weiter mit den dummen Dingen.“

Rahel hatte Vincent bereits umfänglich ins Bild gesetzt, was den Deal mit der Staatsanwaltschaft und der Richterschaft anbetraf. Was die Strafen anging und die Einschnitte, die das für sie beide bedeuten würde. Den Deal, den Adam aus dem Bauchgefühl heraus getroffen hatte – wieder ohne ihn zu informieren. Ohne es abzusprechen. Nicht mit Rahel. Nicht mit ihm. 

Vincents Wut kam an die Oberfläche und er musste dreimal tief durchatmen. 

„Dabei muss ich sie doch treffen, wenn ich ihm nachfolgen will. So wie er es auch gemacht hat.“

Oh. 

Oh. 

„Du bist nicht wie er, Adam“, sagte Vincent ernst. Immer noch konnte Adam ihn nicht ansehen. 

„Du triffst deine eigenen Entscheidungen. Und was du gleich dreimal nicht bist, ist der Patriarch dieser Familie. Verstehst du das? Dein Vater hat die Entscheidungen alleine getroffen, für alle anderen, und du tust es ihm gleich, weil du das Gefühl hast, es nicht anders zu können. Aber das, was dein Vater gemacht hat, war nicht in Ordnung. Ich habe Bedürfnisse, Rahel hat Bedürfnisse und eine Strategie. Du hast da nur dir vertraut und uns hinten angestellt. Das darf nicht wieder vorkommen, Adam. Du fragst mich in Zukunft, ob ich Dinge möchte, bevor du für mich entscheidest. Und du lässt dich auf Rahel ein. Das ist ein Punkt, über den wir sprechen müssen, aber mit Sicherheit ist das kein Punkt, für den du bestraft werden musst. Niemals, Adam, niemals.“

Vincent merkte erst, wie streng er geworden war, als Adam sich zu ihm umdrehte und er in den gesenkten Schultern und den großen Augen den Jungen erkannte, der Adam gewesen war, aber nicht den Mann, zu dem er herangewachsen war.

„Ich will es nur für alle gut machen“, sagte eben jener gescholtene Mann, der plötzlich sehr jung war. Vincent legte seine Hand auf Adams und drückte sie vorsichtig. 

„Und dabei werden wir alle helfen. Das ist eine gemeinsame Sache. Was du aber nicht mehr tun solltest, ist, dich über unsere Köpfe hinweg zu setzen. Das geht nicht, Adam.“

Adam überlegte und grub seine Schneidezähne in die Unterlippe. Er dachte nach, doch bevor sich Vincents Angst erfüllte, dass Adam die falschen Schlüsse zog, senkte er den Kopf und sah zur Seite. 

„Sagst du mir dann, was ich tun soll?“, fragte das kindliche Ich, das aus Verlorenheit versucht hatte, Dinge gut und richtig zu machen. Anders und doch gleich zu seinem Vater. 

„Willst du, dass ich das tue?“

„Schon. Du kannst das besser als ich.“

Vincent seufzte und nickte dann, der warme Kaffeebecher schwer zwischen seinen Fingern. Es macht es nicht ungeschehen, was Adam für ihn getan hatte in der letzten Zeit und auch nicht, dass er es über seinen Kopf hinweg entschieden hatte. Aber es war etwas, mit dem Vincent arbeiten konnte. 

„Jetzt wärmst du dich erst einmal auf und dann bringe ich dich zu uns nach Hause.“

Adam akzeptierte das, nickte aber schließlich in Richtung Becher. „Ich will deinen Kaffee, da ist wenigstens Milch drin.“

Vincent seufzte. Da war er wieder, der alte Adam. Es war tröstlich und frustrierend zugleich, vor allem aber eins: liebenswert. Wenn auch noch zähneknirschend. Und so ganz war Vincent noch nicht damit durch, Adams Handeln zu vergessen. 

Aber jetzt tauschte er erst einmal ergeben seinen Kaffee mit Adam und hielt dessen Hand, als er seinen Becher überreicht.

„Umarmung?“, fragte Vincent sanft und Adam nickte mit zusammengepressten Lippen. Es war ein bisschen Arbeit und auch nicht ganz so bequem, aber die Botschaft kam an. Bei Adam, aber auch in Vincent selber.

Denn eines würde er nicht vergessen: Adam hatte wegen ihm alles in Bewegung gesetzt. Um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Und wenn der Richter Wort hielt und der Deal stand, dann würde Vincent mit einem blauen Auge und einer Vorstrafe davonkommen. Beides wäre…ertragbar.   


~~**~~


Leo zog das weiße Henley-Shirt aus seiner Jackentasche. Obwohl es langsam wärmer wurde und auch warm blieb, fröstelte er heute und entsprechend dick hatte er sich mit Langarmshirt und Jacke bewaffnet um an einem ruhigen Punkt der Saar zu sitzen. Fernab von der Stadtautobahn, fernab von neugierigen Blicken, die er ohnehin nicht ertrug. 

Es war vorbei. Das Verfahren der Staat gegen Adam Schürk war beendet. Kein Gefängnis, dafür eine Bewährungsstrafe mit gewaltigen Auflagen zugunsten von sozial benachteiligten Menschen und missbrauchten Kindern. Ein Riesending in der Lokalpresse, auch wenn Leo über Esther erfahren hatte, dass die Hälfte des Schürk-Vermögens als Ausgleichszahlung an Einrichtungen mit entsprechendem Hintergrund gegangen war. Einige der durch Schürk Senior erworbenen Immobilien wurden ebenso abgeschöpft und als sozialer Wohnraum deklariert.

Adam selbst hatte als Auflage ebenfalls noch die Durchführung einer Therapie bekommen und Leo hatte Zweifel, ob er sich freiwillig darauf einlassen würde angesichts seines Erlebnisses mit dem Jugendamtsmitarbeiter. 

Die Tatsache, dass Adam keine Haftstrafe erhalten hatte und Vincent vermutlich nächste Woche auch keine erhalten würde, war für Leo eine nicht unerwartete Erleichterung. Alles, was er in sich fühlte, war Ruhe und das unterschied sich so gravierend von dem, was er am Anfang für Adam und Vincent gefordert hatte, dass Leo im ersten Moment daran knabberte. An sich, seinen widersprüchlichen Gefühlen. An allem, was passiert war, vor allem an der Liebe, die er wieder hatte in sich spüren können. 

Auch deswegen war er heute hier. Weil er begriffen hatte, dass das, was er gespürt hatte, seine Berechtigung gehabt hatte. Immer noch hatte. Es war ein schönes Gefühl gewesen und eines, das er sich aufnahm, es aber auch gehen lassen musste. Er hatte sich verliebt, in einen Mann, der ihn nicht liebte. Nicht mehr. Der ihn hasste und seinen Hass kanalisierte, weil Leo etwas getan hatte, das diesen Hass hervorrief. 

Adam hatte ihn verteidigt, das stimmte und das zeigte, dass in dem Mann doch etwas Gutes steckte, aber seine Worte aus dem Krankenhaus hatten immer noch Gültigkeit. Und somit musste Leo all das, was in den letzten Monaten passiert war, gehen lassen und erkennen, dass er sein Leben weiter zu leben hatte. 

Er schraubte die Flasche Rotwein auf, die er mitgebracht hatte und füllte die dunkelrote Flüssigkeit unzeremoniell in einen Plastikbecher, den er schlussendlich hochhielt. 

„Auf mich und mein Leben“, wiederholte er das, was sein Therapeut mit ihm durchgegangen war. Dass er ein eigenes Leben hatte. Dass er Glück verdient hatte. Dass er trauern durfte, dass es schmerzen durfte, aber dass er dabei auch weiterziehen durfte. In langsamen Schritten, weil es wehtat, dann schlussendlich in schnelleren, wenn es nicht mehr wehtun würde. 

Leo nahm einen großen Schluck und der Wein brannte in seiner Kehle, bevor sich eine wohlige Wärme in seinem Magen ausbreitete, die bald zu einer schwere in seinen Gliedern und einer Leichtigkeit in seinem Kopf führen würde. 

„Auf alles, was gut gewesen ist in der letzten Zeit. Auf die Liebe.“ Auch das war wichtig und richtig – sich an die guten Dinge zu erinnern, damit schöne Momente ein Gewicht hatten. Und da gab es, wenn Leo sich ehrlich zurückerinnerte, einiges. Der Sex. Adams unverfrorene Rotzigkeit. Seine Unmöglichkeit, aber auch sein Wille, sich Leos Wünschen zu beugen. Es war gut gewesen. Und schön. Er hatte Dinge getan, die er vorher nicht getan hatte, mit keinem seiner Sexdates. Das Töpfern. Ihr Wandern. Das Picknick. Ja, auch dass sie Filme zusammengeschaut hatten. 

Leo schenkte sich nach. Unweit von ihm stand ein Mülleimer und er dachte nicht daran, eine halbvolle Flasche wieder mit nach Hause zu nehmen. Er hob erneut den Becher und trank. Auf sich. Die schönen Augenblicke. Auf ein Leben, das hätte sein können, aber nun die Grundlage bildete für ein Leben, das war und sein würde. 

Wieder frei und selbstbestimmt. 

Leo trank noch auf vieles Anderes und erst, als die Flasche leer war, die Sonne rot und tief am Himmel stand, und sein Kopf sich drehte, nahm er das Shirt, schraubte er sich in die Höhe und stolperte die wenigen Schritte bis zur träge dahinfließenden Saar. Er sollte Pia und Esther mal auf eines dieser seltsam drehenden Grillboote mitnehmen, die vorm LKA immer ihre Runden drehten. Sein Team zum Schwenken und Drehen einladen, aber vielleicht etwas nüchterner als jetzt. 

So sie denn blieben. Leo wünschte es sich von Herzen. 

Er sah auf das Shirt in seiner Hand hinunter und entfaltete es. Auch jetzt noch war das Gefühl, das er hatte, kein gutes. Immer noch spürte er Beklemmung in sich, wenn er es ansah. Und schlimme Dinge musste man gehen lassen. 

Das war gut für das Seelenheil. 

Etwas unstet warf er den weißen Stoff in die Saar und zunächst schien es, als wollte das Shirt nicht wegschwimmen. Dann aber wurde es von einem Strudel erfasst und trudelte in Richtung Nordnordwest davon. Vielleicht würde es es sogar bis zur Mosel oder den Rhein schaffen…wenn es ganz gut lief bis zur Nordsee. 

Ganz im Gegenteil zu Leo. Leo würde hierbleiben, denn er war zurückgekommen, weil er Saarbrücken liebte. Weil hier seine Familie war. Weil er die Menschen mochte und seinen Dienst als Polizist liebte. 

Leo lächelte, als er begriff, dass das ein Standbein seiner neu gefundenen, inneren Ruhe war.  


~~**~~


Vincent merkte erst, dass seine Hände zitterten, als der grimmige, grummelige Mann an seiner Seite seine schwielenbewehrten Finger auf Vincents Handrücken legte und in der Art älterer Männer, die Zärtlichkeit erst seit ein paar Jahren lernten, versuchten, Trost zu spenden. 

Er ging wirklich nicht ins Gefängnis. 

Bis zur Verkündung des Urteils gegen ihn hatte Vincent es nicht geglaubt, dass er freikommen würde. Natürlich hatte er Adam geglaubt, als dieser ihm von seinem Deal mit der Staatsanwaltschaft und dem Richter erzählt hatte. Aber nun hatte er es schwarz auf weiß gehört. Freiheitsstrafe mit Bewährung, als Auflage Sozialstunden. Hundert Stunden im Saarbrücker Tierheim um den Schaden wieder gut zu machen, den er mit seinem Tun angerichtet hatte. 

Ihrem Tun. 

Vincent war wie eingefroren, während die Welt sich um ihn herum weiterdrehte, vielleicht sogar etwas schneller als vorher. 

„Mein freier Mann“, murmelte sein Adam ihm ins Ohr und Vincent konnte immer noch nicht glauben, dass der Mann nicht schreiend weglief oder ihn verstieß. Im Gegenteil. Er blieb, kam wieder, ließ Vincent nicht gehen. Auch jetzt nicht. 

Alles, was sie jetzt tun würden, würden sie mit dem Segen von Staatsanwaltschaft, Polizei und Richterschaft tun. Es war eine durch und durch verkehrte Welt. Eine nicht ganz ungefährliche Welt. Aber eine Welt, in der weder Adam noch er irgendwo in Deutschland in unterschiedliche Gefängnisse gebracht wurden. Möglichst weit weg von ihren Familien.  

Nach all der Zeit, die er unter Strom verbracht hatte, war gerade jetzt der Moment gekommen, in dem Vincent sich fühlte wie das Duracell-Häschen, dem die Batterien leergelaufen waren. Er saß hier, auf dem unbequemen Stuhl des Gerichtssaals und begriff, was geschehen war, konnte es aber nicht verinnerlichen. 

Im Gegenteil. Er fühlte sich leer, wie ausgebrannt. Er fühlte weder Freude noch Trauer oder gar Wut. 

„Hey, Tierliebhaber“, grüßte der Mann, für den er das alles getan hatte und Vincent blinzelte. Eulenhaft sah er nach oben und da stand er, sein Saarbrücken-Adam, während der andere aus Świecko neben ihm saß und das ganze Verfahren an seiner Seite ausgeharrt hatte. Er liebte auf seine Art und Weise beide mit ihren jeweiligen einzigartigen Charakteren. Er verfluchte beide gleichermaßen. 

„Alles wird gut“, grimmte Adam neben ihm und Vincents Welt verschwamm, als seine Gedanken zu seiner Flucht zurückwanderten. An die Angst, die er vor einer Entdeckung gehabt hatte. Von da aus wanderten seine Erinnerungen zu dem Fatalismus, aus dem heraus er wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, weil er seinen Świecko-Adam nicht hatte alleine lassen wollen, nur um festzustellen, dass Roland Schürk versucht hatte, seinen eigenen Sohn zu Tode zu foltern. 

Alles aus den letzten sechs Jahren brach sich Bahn. Mitleid und Mitgefühl für Adam, Angst vor Roland Schürk, die ständige Furcht, entdeckt zu werden oder einen weiteren Mord nicht verhindern zu können. Der Frust, dass er Adam nicht so helfen konnte, wie er es gerne gewollt hätte. Stolz und Zufriedenheit, dass er Adam etwas von seinem eigenen Menschsein mitgeben konnte, die Sorge vor Leo Hölzers Bedeutung in Adams Leben und dem Chaos, das Adam in Leo Hölzers Leben anrichten würde. Die Angst, dass Roland Schürk seinen Sohn töten würde. Und jetzt…die Gewissheit, dass es für alles, was hätte passieren können, gut ausgegangen war. 

Vincent weinte, was er aber erst bemerkte, als Adam ihn an sich zog und seine rauen Bartstoppeln Vincents Haut kitzelten. Er weinte so sehr, dass es ihn schüttelte und dass sein Saarbrücken-Adam ihn mit großen Augen und Hilflosigkeit quer über seinem Gesicht geschrieben anstarrte. 

Er weinte und es tat gut, dass alles aus ihm herausfloss, was er entgegen seiner eigenen Ratschläge Adam gegenüber nicht verarbeitet hatte. 


~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 61: Die letzten Millimeter vergangener Sekunden

Notes:

Einen wunderbaren Sonntagabend euch allen,

hier der 61. Teil zur Anatomie. Ich bin dieses Mal wieder etwas eskaliert mit der Seitenzahl und hoffe auf Vergebung. 😉Dafür passiert viel und Menschen tun waghalsige und dumme Dinge. Aber lest selbst.

Ich möchte mich für all euren Zuspruch, euer Mitleiden und Mitfiebern bedanken und freue mich, dass ich auch jetzt noch, nach so vielen Kapiteln die Spannung halten kann. Vielen lieben Dank an dieser Stelle für all eure Sprachnachrichten, Kommentare, Klicks, Kudos, fürs Lesen und sowieso und überhaupt! 🤗

Nun viel Spaß und einen guten Start in die kommende Woche! (die Notes unten solltet ihr erst am Ende lesen, wenn ihr euch nicht spoilern lassen wollt)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

„Das sind die Zwinger für unsere Hunde, die müssen täglich sauber gemacht werden. Da drüben findest du unser Katzen- und Kleintierhaus. Auch hier gilt tägliche, oberflächliche Reinigung, richtig sauber gemacht werden müssen sie einmal pro Woche. Die Viecher brauchen regelmäßiges Futter, das steht in dem Abstellraum dahinten. Wir haben Listen aushängen, wer was bekommt. Wehe, du lässt Pauline in dieses Haus, dann gibt’s Ärger.“

Pauline, so hatte Vincent sich bereits vorab informiert, war die eine Hälfte eines Duos. Die andere Hälfte hieß Erwin. 

Schweigend folgte er der Besitzerin des Tierheims, die sich barsch als „Marita, Nachnamen scheißegal.“ vorgestellt hatte und ihm ohne viel Federlesens das Areal gezeigt hatte, in dem er die nächsten hundert Arbeitsstunden verbringen würde. Sozialstunden im Tierheim, weil er Tiere so gerne mochte. 

Adams Logik…

Unzufrieden darüber war Vincent nicht. Ganz im Gegenteil. Er war dankbar, dass er nicht ins Gefängnis musste, auch wenn er sich Sorgen um Adam machte. Um ihrer beider Zukunft, hin- und hergerissen zwischen der Staatsanwaltschaft und den Geschäften, die er abzuwickeln hatte. 
Aber wenigstens hatten sie nun eine Zukunft. Miteinander. In Vincents Fall mit denjenigen, die er liebte. 

„Wenn dann noch Zeit ist, kannst du dich mit den Hunden vertraut machen und mit ihnen rausgehen. Ich zeige dir, welche sich mit welchen vertragen und welche ich dir nicht anvertrauen werde, weil sie so einen Spargel wie dich auffressen werden.“

Marita war zwar resolut und stabil, dafür aber zwei Köpfe kleiner als Vincent. Ihre Hände und Arme sprachen Bände, was den Umgang mit Tieren anging, aber nichts war so prägnant, wie die Narbe, die sich einmal quer über ihre rechte Wange zog. Ihre raspelkurzen, feuerroten Haare, die vermutlich das Weiß darunter verdecken sollten, trugen nur zu dem Eindruck einer Kriegerin bei, die ihr Leben lang für das gekämpft hatte, was ihr lieb und teuer war. 

Die Tiere hier, wusste Vincent von Zarah, die sich über die Frau informiert hatte. 

„Wenn du Angst vor was hast, will ich das wissen. Ansonsten ist Pause von zwölf bis eins, zu spät kommen hasse ich und wenn du grausam zu den Tieren bist, habe ich schneller deinen Bewährungshelfer angerufen, als du nein sagen kannst. Verstanden?“

Sie war wirklich eine gute, barsche Seele. Vincent nickte und lächelte. 

„Absolut verstanden“, stimmte er zu und sie brummte. Ein bisschen war sie ein weiblicher Adam und Vincent fragte sich, ob er diese Art von Charakteren nicht unweigerlich anzog. 

Dass es gar nicht so einfach war, Pauline aus dem Futterraum fernzuhalten, erkannte er leidlich in seiner dritten Stunde. Glück für ihn, dass sie gerne getragen wurde und ihr kleiner Körper mit dem wohligen Schnurren an seiner Brust vibrierte. 


~~**~~


Esther starrte immer noch fassungslos auf die vor ihr liegende Liste. Hundertachtundsiebzig Namen, verteilt über alle Behörden und Institutionen in Saarbrücken, teilweise auch im Saarland. Ein vollständiges Netzwerk aus Informationsgeberinnen und Informationsgebern. Freiwillig und erzwungen. 

Die Freiwilligen, also diejenigen, die Bestechungsgelder angenommen hatten, wurden aus ihren Ämtern entfernt und bis zur Eröffnung der Verfahren gegen sie suspendiert. Esther musste sich dabei immer noch auf die Zunge beißen, dass derjenige, der in allererster Linie das Angebot überhaupt gemacht hatte, mit einer geringen Strafe davonkam. Auch wenn seine Absichten ach so nobel gewesen waren. 

Bullshit. Sie glaubte nicht daran, ganz im Gegensatz zu Leo. 

Die Unfreiwilligen wurden beurlaubt, bis geklärt war, was zu einer Erpressung geführt hatte.  Die dadurch entstandenen Lücken konnten nicht einfach so gefüllt werden und auch wenn Behörden anderer Bundesländer ihre Hilfe angeboten hatten, so war es doch eine riesige Lücke, die Schürk mit seinen verdammten Verknüpfungen geschlagen hatte. 

Esthers und Pias Rückkehr nach Rheinland-Pfalz war damit in weite Ferne gerückt und Esther wusste noch nicht ganz, was sie davon halten sollte. Zum Einen hatte sie sich ihr Leben hier gut eingerichtet und das Team gefiel ihr trotz allem, was passiert war. Zum Anderen…Rheinland-Pfalz war Rheinland-Pfalz. Eigentlich mochte sie Koblenz recht gerne. 

Unweit von ihr saß Leo und starrte nachdenklich auf seinen Bildschirm. Bis auf Weiteres hatte sie die Teamleitung übernommen und er stand unter Beobachtung. Es würde nicht für immer sein, nur, bis sich die Leitung ihres Hauses sicher sein konnte, dass Leo Hölzer wirklich der integre Beamte war, als der er angepriesen worden war von ihnen allen.

Pia befand sich gerade in den Besprechungen mit Europol zum weiteren, internationalen Vorgehen und würde vor heute Abend nicht zurück sein. Dementsprechend ruhig war es. Ereignislos geradezu. Das war gut nach all den Katastrophen der letzten Monate. 

„Leo?“

Verspätet sah ihr bald wieder künftiger Teamleiter von seinem Bildschirm hoch, neben ihm seine heißgeliebte und gut bewachte Tasse, die Pia und Esther ihm vorletztes Weihnachten geschenkt hatten. Die, bei deren Anblick Leo geweint hatte. Aus einem Grund, den Esther mittlerweile kannte und wegen dem sie Schürk immer noch aus tiefstem Herzen hasste. 

„Hmh?“

„Heute Abend Kino?“

Leo überlegte, wie er es so oft in der letzten Zeit tat. Er versuchte auch jetzt noch, sich in sein Schneckenhaus zurück zu ziehen, doch weder Pia noch Esther noch Rainer ließen ihn. Sie zeigten ihm, dass er willkommen war, dass sie ihn schätzten und mochten, dass sie für ihn da waren, wenn die Erinnerungen an die vergangenen Monate zu präsent wurden. Sie halfen ihm, wenn die Erinnerungen an die Folter durch einen Geruch oder ein Geräusch getriggert wurden und Leo unruhig wurde, sich versteifte. Oder versuchte, sich möglichst unauffällig klein zu machen. 

Leo schätzte das und es war auch eine Ruhe zu erkennen, die vorher nicht da war. Eine Entspannung um seine Schultern, die Esther zufrieden stimmte. 

Das konnte aber Leos nachdenkliche und sehnsüchtige Blicke über die Saar nicht verhindern, die er in vermeintlich unbeobachteten Minuten auf die andere Uferseite warf. Esther ahnte, wem diese Emotionen galten und sie wünschte sich wirklich, dass Leo den Empfänger eben jener anders kennengelernt hätte und dass Schürk nicht so ein gottverdammtes Arschloch war. Und dass sie nicht so viel über das blonde Gift nachdachte, das sämtliche Institutionen in Saarbrücken infiziert hatte. 

„Ja, gerne. Bin ich dran mit Film aussuchen?“

Zähneknirschend bejahte Esther. Leo Filme aussuchen zu lassen, war ein hopp-oder-topp-Spiel. Entweder Arthouse oder Blockbuster, aber von gutem Geschmack keine Spur. 


~~**~~   


„Hey.“

„Hallo.“

„Schön, dass ihr da seid.“

„Schön, dass du uns eingeladen hast.“

Etwas unschlüssig stand Leo in seinem Flur und sah zu, wie Gunnar und Mika sich ihrer Sandalen entledigten und nun auf nackten Füßen in seiner Wohnung standen. Es war warm heute, das perfekte Wetter zum Grillen auf dem Balkon. Perfekt auch für die geplanten Aktivitäten danach. 

Leo war so aufgeregt wie schon lange nicht mehr, auch wenn er mithilfe seines Therapeuten seine innere Stimme niedergekämpft hatte, die ihm wieder und wieder einflüsterte, dass er keine Sexdates in seine Wohnung einladen dürfe, weil es schmutzig sei. Leo drückte sich noch vor dem Gespräch über Roland Schürks Folter, also waren sie erst einmal auf dieses Thema gestoßen. Vielmehr hatte Leo es mit leisen Worten eingestanden, dass er glaubte, schmutzig zu sein. 

Ruhig und sachlich waren sie daraufhin seine Denkprozesse durchgegangen und zum Ergebnis gekommen, dass Leo versuchen sollte, ob der Bruch mit eben jenen ein gangbarer Weg für ihn wäre. Mit vertrauten Menschen, noch nicht mit Fremden. Da Mika und Gunnar die einzig vertrauten Menschen waren, war die Wahl einfach gewesen. Adam konnte er ja schlecht fragen, ob er nochmal hier mit ihm schlafen würde.

Leo brachte es nach wie vor nicht über sein Herz, Adams Nummer zu löschen. Er drückte sich regelrecht davor, vermied den Gedanken daran. 

Mika überreichte ihm die Schüssel mit Nudelsalat und strich ihm dabei über die Finger. Eine Geste, die Leo von ihm nur zu gut kannte, die ihn jetzt, hier, in diesem Moment aber noch nervöser machte. Er riss die große, vollkommen überdimensionierte Schüssel an sich und trat einen Schritt zurück. Zur Sicherheit. Erstmal. Sie würden sich später noch nah genug sein. Eventuell. 

„Kommt doch schonmal mit, ich habe alles vorbereitet.“ Alles und sich selbst, wollte er damit sagen. Den Nervenzusammenbruch, den er dabei beinahe erlitten hatte, verschwieg er geflissentlich, weil Gunnar ihn dann mit Sicherheit nicht mehr so berühren würde, wie Leo es sich wünschte.

Eilig den Gedanken abschüttelnd, ging er in die Küche und stellte dort den Salat auf die mehrfach blank geputzte Anrichte. Die beiden neugierigen Männern verfolgten ihn und Leo wurde sicht bewusst, dass er nun nicht mehr den Vorsprung hatte, ihre Wohnung in- und auswendig zu kennen. Nun lernten sie auch sein Innerstes kennen und wenn er ihre Gesichter richtig las, gefiel ihnen, was sie sahen. 

„Du hast es schön hier“, merkte Mika an und Gunnar nickte zustimmend, während er sich in Leos Küche umsah und interessiert an seinem Gewürzregal hängen blieb. Was genau an seinem Gewürzregal so spannend war, konnte Leo nicht sagen, aber auch das machte ihn nervös. 

„Sehr stilvoll eingerichtet. Es sieht sehr gemütlich bei dir aus“, murmelte Gunnar schließlich weich und Leo zuckte innerlich zurück vor dieser Häuslichkeit. Wunderbar, das würde etwas werden. 

„Und dabei habt ihr noch nicht mein Bett gesehen“, entkam es abrupt und vollkommen konträr zu seinen Gedanken seinen Lippen, als wäre das das Wichtigste in diesem Moment. Er musste ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, auch wenn es klar war, worauf es hinauslief. 

„Das werden wir sicherlich ausführlich sehen und auf Geeignetheit testen“, grinste Gunnar und Leo blinzelte erschrocken. Natürlich taten sie das, er hatte Lust auf die Beiden und Lust, sich seine Lust zurück zu erobern. Aber vermutlich wäre es tausendmal einfacher gewesen, hätten sie sich bei ihnen getroffen. 

Leo stellte sich an den verbotenen Grill, wie Caro seinen roten Nichtschwenker nannte. Er hatte eben keinen Platz auf seinem Balkon, was sollte er denn machen? Und er war hübsch, noch ein Punkt, der ihn in der Familie Hölzer zum schwarzen Grillschaf machte. Er grillte Fleisch und Gemüse durch und die anfängliche Anspannung wich aus seinen Muskeln. Langsam taute er auf, was auch an dem Rotwein in seinem Blut liegen mochte. Und dem guten, leckeren Essen wie auch den vertrauten Gesprächen mit beiden Männern. 

Die Aufregung kam erst zurück, als sich unter ihre Worte auch Blicke mischten und die Stimmung intimer wurde. Leo spürte das Begehren, die Lust in den Beiden und stellte fest, dass er dem nicht abgeneigt war. Schlussendlich war Leo derjenige, der als Erstes aufstand und lächelte. Nervös, aufgeregt, aber auch mit Vorfreude. Er ging vor, leitete die Beiden zu sich. In das Schlafzimmer. Auf sein Bett. 

Schmutzig, schmutzig, schmutzig, geiferte seine innere Stimme ein verzweifeltes, letztes Mal und Leo ertränkte sie in Gunnars Küssen und Mikas Berührungen. Er ertränkte sie in Lust, erst zögernd und vorsichtig, dann voller schamloser Hingabe und schlussendlich in erlösender Befriedigung, die keinen anderen Gedanken mehr zuließ. 

Es war schön, viel schöner und friedvoller, als Leo es sich ausgemalt hatte. Er war befriedigt, vollkommen gesättigt, lag zwischen zwei warmen Männerkörpern, die ihm Nähe und Wärme spendeten und die ihm Lust bereitet hatten, so wie auch er ihnen Lust bereitet hatte, in einem Dreiklang, den sie nun schon seit Jahren immer wieder praktizierten und den Leo nicht missen mochte. 

Und doch fehlte noch etwas. Eine Lücke war noch da, die kontinuierlich an ihm nagte.


~~**~~


Wenn Rahel ihn aus ihren gierigen Fängen ließ und Vincent bei seinen blöden Viechern war, die ihn dumm lächeln ließen, wenn er über sie erzählte als wären sie Soap-Charaktere, dann hatte Adam frei. Also so frei, wie jemand wie er frei haben konnte, der an der Leine der Staatsanwaltschaft und der internationalen Ermittlungskommissionen hing und brav Kunststücke vollführte, wenn die Arschlöcher es wollten. 

Erst heute hatte er brav neben Rahel gesessen, sich die Pläne von Europol und BKA angehört und noch viel braver vorm Antworten zu ihr gesehen. Und den anwesenden Männern den Eindruck des größten Arschlochs der Welt vermittelt. Was zum Großteil daran lag, dass er die Nacht gar nicht geschlafen hatte vor lauter Alpträumen, Schatten und luftwegnehmenden Ängsten, die auf ihn lauerten. 

Weiersberger wäre ihm auf seinen lakonischen Hinweis, dass er trotz seines anscheinend erfolgreich absolvierten Jurastudiums keine Ahnung von der Saarbrücker Drogenszene hatte und sich mit seinem Plan darin bewegen würde wir ein bärtiger Elefant im Porzellanladen, fast ins Gesicht gesprungen und das war wie ein kleiner Sieg über seinen Hass auf ältere Männer gewesen. Rahel hatte sie alle zur Räson gerufen und einen Vorschlag gemacht, der tatsächlich händelbar war. 

Und bei dem die ach so gerechtigkeitsliebenden Erpresser der Ermittlungsbehörden auch mitgingen. 

Den Rest des Tages hatte er frei und bis Vincent nach Hause kam, dauerte es noch. Also hatte Adam sich in seiner Wohnung absetzen und Rahels strenge Pläne über sich ergehen lassen und saß nun in seinem Spielzimmer, seine Beine vorsichtig vor sich ausgestreckt, ein dickes Kissen unter seinen Kniekehlen. 

Die Einzelteile des zerstörten Baumhauses hatte Vincent – der Olle - nicht wie von Adam gefordert, entsorgt, sondern in einem Müllbeutel gesammelt und in der hinterletzten Ecke des Raumes versteckt. Damit Adam diesen im Licht der Frühlingsnachmittagssonne finden und vor sich auf den niedrigen Tisch ausschütten, den bunten Haufen ungleichmäßig großer Baustücke kontemplativ nachdenklich anstarren konnte.  

Er schubste den ersten, grünen Stein zu einem anderen in der gleichen Farbe. Dann einen zweiten. Einen dritten. Er bildete einen ganzen Haufen an grünen Steinen und Blättern. Danach einen roten Haufen. Einen Schwarzen. Große, zusammenhängende Teile des Baumhauses trennte er und warf die Steine auf die Haufen.

Für jede Farbe einen. Nicht so wie…

Wie dumm, aber gleichzeitig auch meditativ. 

Dass er lange gebraucht hatte, bemerkte er erst dann, als seine Wohnungstür aufging und Vincent sein beruhigendes "Ich bin‘s!“ in die Stille plärrte. 

„Ich auch“, rief Adam zurück und sah hoch, als Vincent im Türrahmen erschien und sich innerhalb von zwei Sekunden ein Bild von der Situation machte, feststellte, dass Adam keinen Unsinn anstellte und dann erleichtert den Raum betrat. 

„Wie waren die Viecher?“

„Wie immer nett.“ Anscheinend war der Riesenköter des Polizisten nicht das einzige Tier, das Vincent anhimmelte. Wie er das machte, war Adam nach wie schleierhaft, aber andererseits hatte er sich auch nie mit der Denkweise von Tieren befasst. Vielleicht roch Vincent gut oder strahlte Ruhe aus. „Wie war es mit Rahel, Weiersberger und Europol?“

„Idiotisch, aber okay. Wir konnten sie von unserem Plan überzeugen, die Lemaire-Familie durch die beiden Brüder auszuräuchern und ihnen nicht gleich Europol auf den Hals zu hetzen.“

„Das ist gut“, stimmte Vincent zu, auch wenn sie beide wussten, dass es nicht wirklich gut, sondern gefährlich sein würde. Er setzte sich Adam gegenüber und starrte auf die Steine. „Du baust es wieder zusammen?“

„Ich hab’s erstmal geordnet.“ An die Schritte würde er sich dann morgen erinnern, Vorteil seines wirklich guten Gedächtnisses. Sowas wie Anleitungen brauchte nur ein Polizist. Der, der seine Finger schon an den Steinen gehabt hatte. 

„Vince?“

„Adam?“

„Vincent?“

„Ja, Adam?“

Adam sah hoch und schürzte unglücklich die Lippen. „Glaubst du, dass er mich verraten hat? Also, dass er sich wirklich prostituiert hat?“ Die Frage hatte sich während des Sortierens an die Oberfläche seiner Überlegungen geschlichen und blubberte nun ungefiltert in den Raum hinein. 
Vincent ließ sich soviel Zeit mit der Antwort, dass es wehtat und schüttelte schließlich seinen Kopf. Seine Hand stahl sich zu Adams und strich über seine unstet mit den Steinen spielenden Finger. 

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte er schließlich. „Ich denke, dass seine Gefühle dir gegenüber ehrlich waren. Zu welchem Zeitpunkt kann ich dir nicht sagen, aber sie waren da. Das hat man ihm angesehen und im Nachhinein sind seine Versuche, dich für den Zeugenschutz anzuwerben, dem zuzurechnen, nehme ich an. Es lag ihm viel daran.“

Adam brummte nachdenklich. „Es war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, oder?“

Die Frage aller Fragen, die er Vincent vielleicht schon an Tag eins hätte stellen sollen. Aber er war hatte blind sein wollen für die Realität. Und sie wussten beide, was es war. Das unmögliche Es. 

„Wenn ihr euch anders kennengelernt hättet, unter anderen Vorrausetzungen, mit anderen Verbindungen…dann hätte es glaube ich etwas werden können. Ihr Beiden habt euch gut getan.“ 
Vincent lächelte wehmütig und Adam starrte auf die zwischen ihnen liegenden Steinhaufen. Fast war es ihm, als würde er Leos Finger unter seinen nachspüren können, als er mit ihm Steine geklickt hatte. 

„Ich ihm auch?“, hakte Adam ungläubig nach. 

„Nicht am Anfang. Aber es gab eine Zeit, da hast du ihn aus seinem Schneckenhaus geholt. Er war entspannt in deiner Gegenwart und hat gut auf dich angesprochen.“

„Du klingst, als wäre ich ein scheiß Medikament“, erwiderte Adam verschnupft und Vincent zog ihrer beider Hände zu sich, küsste sie lachend. 

„Welches willst du denn sein?“

„Arschloch“, grollte Adam, fühlte sich nicht ernst genommen. Ausgerechnet von seiner rechten Hand.

„Ach, wogegen hilft das?“

„Nicht gegen dich anscheinend.“

Die blauen, klugen Augen funkelten herausfordernd. „Nein, ich bin unheilbar und unbehandelbar.“

Und wie froh war Adam um sein Vincent-Geschwür, das er durch nichts los wurde. Weder durch eigene, stümperhaft durchgeführte chirurgische Eingriffe noch durch äußere Einflüsse. 

„Ich möchte dir im Übrigen jemanden vorstellen“, fiel Vincent mit einer Tür ins Haus, die Adam plötzlich unsicher machte. Nervös ballte er seine freie Hand zur Faust und sah aus dem Fenster, um sich zu versichern, dass er nicht in einem Keller eingesperrt war. 

„Aha?“ Ganz so tapfer, wie das klingen sollte, hörte es sich nicht an. Eher ängstlich. Er wollte niemanden daten. Wie kam Vincent jetzt darauf? Weil er Leo angesprochen hatte? 

„Sie heißt Jolante und könnte dir gefallen.“

Adam blinzelte, für Sekunden verloren in der Frage, ob Vincent da weitermachen würde, wo die Dreckssau aufgehört hatte. Musste ein Stammhalter her? Besser nicht, besser war es, wenn die Schürk-Linie mit ihm ausstarb. Oder? Er wollte etwas Kluges antworten, vielleicht sogar ein bisschen provozieren, doch ihm fiel nichts ein. Nahezu hilflos schloss er seine Lippen wieder.

„Sie ist eine 13-jährige Maine Coon, deren Besitzerin verstorben ist. Eine alte Dame, bisschen verschroben, sehr zurückhaltend und faul. Vielleicht hilft es gegen das Alleinsein übertags, wenn du ein Tier hast, um das du dich kümmern kannst und das da ist.“

In aller Erleichterung, dass Vincent ihn nicht mit einer Frau verkuppeln wollte, ahnte Adam aber auch, was zwischen den Zeilen stand. Kümmere dich um sie, damit du lernst, dich um dich selbst zu kümmern. Damit du nicht die Lust an dem verlierst, was sich leben nennt. Tolle Wurst war das. 

„Verschroben und faul“, grimmte Adam. „Passt zu mir…ollem Tierliebhaber.“

Vincent seufzte viel zu nachsichtig. „Ich glaube, dass du das Potenzial in dir hast.“

Adam zweifelte daran. Wirklich. Ein Haustier? Hier, bei seinem Lebensstil? Und dazu noch eine Katze? „Weiß nicht.“

„Guck sie dir doch mal an.“ Vincent wusste, welche Knöpfe er drücken musste, damit Adam einlenkte. Er wusste es und wusste, dass Adam es wusste. Adam wusste, dass Vincent es wusste. 

„Gibst du dann Ruhe?“

„Erstmal.“

„Na okay.“

Das Lächeln, was Vincent ihm schenkte, war eine schöne Belohnung dafür, dass er sich in ein Zimmer mit lauter Katzen setzen würde, die ihre Haare auf seiner Jogginghose loswerden und ihn ansabbern würden. 

Vincent strahlte über das ganze Gesicht. „Du bist ein Schatz.“


~~**~~


„Das ist Tommy und das Tabby, sie sind Geschwister, drei Jahre alt und werden nur zusammen vermittelt. Das da ist Merida, der Schwarze daneben ist Jacky und der Gescheckte ist Sunira.“

Vincent, seine rechte Hand und wandelndes Lexikon, was sonstige Informationen anging, enttäuschte natürlich auch nicht hier. In dem Tierheim, neben Adam, der auf dem alten, abgegriffenen Sessel saß und gefühlt alle Katzen um sich herum hatte, die dieser Raum hergab. 

Alle, bis auf Jolante, die auf der höchsten Ebene des am weitesten entfernten Kratzbaums saß und missmutig auf ihn hinab starrte, als wäre er ein Ärgernis. Vielleicht wirkte das auch nur so, aber Adam war sich nicht sicher, ob dieses Tier nicht auch Menschen zum Frühstück verspeiste. Die einzelnen Haare ihres Fells waren länger als seine eigenen waren, was zu ganz entzückenden Verwechslungen beim Staubsaugen führen würde. 

Fast hätte Adam gesagt, dass es ihn nicht interessierte, weil er nicht selbst sauber machte, aber das stimmte nicht mehr. Er hatte zumindest vordergründig nicht das Geld dazu und hatte seine Putzfrau erst diese Woche an seine Mama weitervermittelt. Also würde es ihn interessieren müssen. 

Tommy…oder war es Tabby… kletterte auf seine Schultern und schnurrte ihm laut ins Ohr. Das kitzelte, war aber gar nicht so unangenehm wie zuerst gedacht. Ganz im Gegensatz zu den spitzen, kleinen Katzenzähnen, die sein Ohrläppchen spannend genug fanden um herzhaft reinzubeißen. 

„Ey! Mistkröte!“, beschwerte Adam sich und zuckte nach vorne, ließ damit alle Katzen in seiner Umgebung in die nächstbeste Sicherheit stieben. Auch er erhob sich zur Sicherheit und flüchtete zwei Schritte nach vorne zu Vincent, wehrte aber ab, als dieser mit sorgenvoll gerunzelter Stirn sich sein lädiertes Ohrläppchen ansehen wollte. 

„Alles okay?“ 

Als hätte Adam nicht schon Schlimmeres durchgestanden. „Ja“, murrte er. „Echt super Idee von dir, mich von den Katzen auffressen zu lassen.“

Vincent atmete beton aus. „Da haben sie aber ganz schön viel zu tun. Und außerdem macht Jolante so etwas nicht.“

Abfällig zeigte Adam mit dem Daumen auf sie. „Jolante macht vor allem gar nichts.“

„Sie ist eine alte Dame, sie will verhätschelt werden. Du könntest zu ihr gehen.“ 

Adam hatte sich geschworen, dass er auf Vincent hören würde. Er hatte es vor allem Vincent geschworen und so machte er sich motzend auf, genau das zu tun. Stieg über buntes Katzenspielzeug und auf dem Rücken liegende Katzen vorsichtig die paar Schritte zum Kratzbaum. Er trug zur Feier des Tages sogar Socken – was gelogen war, da er seit dem Tod der Dreckssau immer öfter Socken trug. Schließlich musste er sie jetzt auch nicht mehr regelmäßig ausziehen. Das machte das Anziehen morgens mit seinen Knien weniger zu einer Tortur. 

Also Socken. Um genauer zu sein: Vincents bunte, neonfarbene Socken, die so gar nicht zu seinem durch und durch bequemen Trainingsanzug passten. Mochte die Gesellschaft sich doch ficken gehen.

Jolante schien das Ganze überhaupt nicht zu interessieren. Ihre hellgrünen Augen starrten ihn desinteressiert und gelangweilt an, selbst, als er nun auf ihrer Höhe vor dem Kratzbaum stand. Eins ihrer Ohren zuckte, aber das war es dann auch. Wenigstens fauchte sie nicht.

Adam hielt ihr todesmutig den Finger hin – schlimmer als bei dem Riesenköter konnte es ja nicht werden – und sie schnupperte kurz. Sie erhob sich sogar, streckte sich, wischte ihm beim Drehen auf der plüschgrauen Plattform ihren riesigen, buschigen Schwanz ins Gesicht und miaute zum guten Schluss Vincent an. 

Natürlich. 

„Sie hasst mich und liebt dich“, konkludierte Adam und konnte sich nicht recht erklären, woher das bittere Gefühl in seiner Magengegend kam. 

„Ich glaube ni-“, begann Vincent, kam aber nicht weiter, als das Riesenvieh von einer Katze sich mit einem Satz vom Kratzbaum absetzte und Adam abrupt nur noch Fell im Gesicht hatte. Die Katze war plötzlich überall und wäre der schnurrende Körper nicht gewesen, hätte Adam kurz geglaubt, dass er ersticken würde. Aber so waren da nur Fell, Vibrationen und durchaus schmerzhafte Krallen, die sich in seine Schultern bohrten, während diese Mistkröte ihn als Kletterbaum missbrauchte. 

Automatisch hob Adam seine Arme um sie festzuhalten, sie von sich fernzuhalten, während sie ein Stück tiefer rutschte und ihn mit ihren Vorderpfoten umarmte und ihre Schnurrhaare ihn durch das gesamte Gesicht kitzelten. Wie angewurzelt blieb er stehen und bewegte sich nicht. 

„Vince…?“, fragte Adam zweifelnd über das Tier hinweg und stieß auf zuckende Mundwinkel. 

„Ich glaube nicht, dass so Hass aussieht, ich könnte mich aber täuschen“, mutmaßte er viel zu amüsiert und Adam brummte missbilligend, was aber irgendwie in dem lauten Schnurren Jolantes unterging, die wie eine Klette an ihm hing, der warme Körper ein schweres Gewicht auf seinen mittlerweile untrainierten Armen.

Er sollte mal wieder, auch, was das Kampftraining mit Zarah anging. Bislang scheute er sich noch davor, wusste aber, dass er sich nicht mehr lange verweigern konnte. Es sei denn, sein Körper machte nicht mit. 


~~**~~


Vincent atmete ruhig durch und genoss die Stille und Einsamkeit des Raumes. Er lehnte sich zurück und ließ alle Spannung aus seinen Schultern fahren.

Adam wurde von Tag zu Tag stabiler und fand zumindest tagsüber zu seinem alten, provozierenden Ich zurück. Er wurde wieder zu dem Mann, der sich an das Leben klammerte, obwohl sein Vater sich größte Mühe gegeben hatte, ihm selbiges zur Hölle zu machen. Vincent war so froh, dass er sich einem Kennenlernen mit Jolante gegenüber offen gezeigt hatte und dass es gut verlaufen war…und so etwas wie Interesse an anderen Lebewesen in Adams Augen zurückbrachte. 

Vincent selbst fand sich von Tag zu Tag mehr in seinen Sozialstunden ein und wenn er abends von der erfüllenden Arbeit kam, besprachen sie, wie sie nun weitermachten. 

Das bekannte Vermögen Roland Schürks war fast komplett beigezogen worden. Heide Schürk blieb ein kleiner Teil zum Leben, ebenso wie Adam auch. Genug, dass sie den Bunker und die Wohnungen, in denen sie wohnten, behalten und ein Leben abseits der Kriminalität führen konnten, jedoch nicht genug, um im Luxus zu schwelgen. Neue Einkünfte mussten sie darlegen und regelmäßig der Sonderkommission Bericht erstatten. 

Nicht Baumann und Heinrich, die anscheinend dafür abgestellt worden waren, die Ermittlungsbeamten des LKA zu unterstützen, nachdem Adams und seine Verknüpfungen von ihren Dienstposten entfernt oder aus dem Dienst entlassen worden waren. 

Zumindest die, die Adam preisgegeben hatte. Als Vincent die Liste durchgegangen war, hatte er festgestellt, dass sie nicht vollständig war. Gefragt hatte er nicht und Adam hatte sich auch nicht dazu geäußert. 

Ebenso wenig sprachen sie über ihre Reserven, die ihnen ein gutes Leben einbringen würden, wenn das Ganze vorbei war. Auch diese hatte die SoKo nicht finden können, weil sie wohlversteckt waren über verschlungene Wege im Finanzkosmos. 

Dafür war es gerade fast friedlich und Vincent genoss die Freiheit. Er genoss die Skypesitzungen mit seinem Adam, der wieder zurück in Świecko war und sich murrend über seine Arbeit beschwerte. 

~Ich bewerbe mich einfach auf einen Dienstposten in Saarbrücken~, pingte seine Nachricht, als hätte er Vincents Gedanken gelesen und Vincent hob seine Augenbrauen. Er und Leo Hölzer auf einem Haufen, was sollte da schief gehen? 

Lächelnd schüttelte er den Kopf.  ~Klar, damit du ein Auge auf mich werfen kannst?~, erwiderte Vincent und bekam ein Daumen hoch-Emoji. 

~Wart’s ab, ich meine das ernst.~

Er befürchtete es und seufzend legte er das Handy beiseite...

…und erschrak sich beinahe zu Tode, als die Tür aufgerissen wurde. 

„Ich habe nachgedacht. Über Jolante“, sagte Adam im Brustton der Selbstverständlichkeit und Vincent starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. 

„Das ist schön, Adam, aber ich…“

„Doch, ich meine das ernst.“

„Ja, das glaube ich dir…können wir das gleich besprechen?“

Fragend und etwas verständnislos sah Adam ihn an und Vincent deutete entschieden auf seine heruntergelassene Yoga-Hose. „Weil ich auf dem Klo sitze, du…!“ Ihm wollte keine rechte Beleidigung einfallen, auch wenn Adams Abwinken ihm schon einige auf die Zunge brachte. 

„Da sind keine beteiligten Körperteile bei, die ich nicht schon gesehen hätte. Oder die du bei mir gesehen hättest“, behauptete sein bester Freund tatsächlich dreist und Vincent knurrte. 

„Raus, Adam! Wir haben darüber gesprochen, das machen wir nicht!“, bestimmte er mit viel zu warmen Wangen. Ja, Adam hatte Recht. Nein, er würde schon gerne in Ruhe sein Geschäft verrichten. Ungestört. Am einzigen Ort in der Wohnung, in der er sein Alleinsein verlangte und darauf bestand, auch wenn andere Personen in diesem Haushalt immer noch keinen Vertrag damit hatten, diese Einsamkeit einzufordern. 

Auf dem verdammten Klo. Verdammt nochmal. 

„Aber ich glaube, Jolante könnte hier einziehen?“

Raus mit dir, Adam!

Schmollend verzog Adam sich und Vincent barg aufstöhnend sein Gesicht in seinen Händen. Alles zum Guten…anscheinend musste Vincent da Abstriche machen. Ein paar. Er brauchte Zeit. Zeit war sein Freund. Zeit würde alles richten.

Und…Moment…wieso sollte Jolante bei ihm einziehen?!


~~**~~


„Wenn wir gegessen haben, schiebe ich mir deinen Schwanz so weit in den Rachen, dass ich nur atmen kann, wenn du es erlaubst. Und wenn du fast vorm Kommen bist, dann werde ich dich langsam und genüsslich in die Matratze vögeln. Ich will, dass du jeden einzelnen Zentimeter meines Schwanzes in dir spürst. Ich werde dich mit meiner Sanftheit quälen, bis du um Erlösung bettelst und dann werde ich dich so hart nehmen, wie du es liebst.“

Adam lächelte, während er Bastian Worte ins Ohr flüsterte, die diesen erschaudern und im Gemüse schneiden innehalten ließen. Bastian legte den Kopf zurück in den Nacken, lehnte ihn an Adams Schulter, um Adam seine empfindsame Stelle zwischen Schulter und Nacken zu präsentieren. 

Und wer war Adam, dass er nicht – brav und folgsam wie er war – dieser offensichtlichen Einladung stattgab. Offen gestanden machte es ihn heiß zu sehen, wie Bastian blind, nur mit seinen Händen fühlend, das Schneiden wieder aufnahm. Es machte Adam heiß zu wissen, dass Bastian beides konnte und dass diese Nacht ihnen gehören würde.

Keine Alpträume, nur Sex. Zu Lasten seines Schlafes, aber damit konnte Adam wunderbar leben. 

Adam senkte seine Lippen auf die empfindsame Stelle und biss zu, besitzergreifend und vielleicht etwas stärker als geplant. Bastian zuckte und zischte keine Sekunde später schmerzerfüllt. 

„Oh fuck!“

Es brauchte seine zwei Momente, bis Adam begriff, dass das oh fuck kein gutes oh fuck war, sondern ein erschrockenes. Er hörte es an Bastians Ton und sah vom Gesicht seines Kochs auf das Schneidebrett, das sich in Windeseile mit Blut bedeckte. Weil das Messer nicht in der Aubergine steckte, sondern in Bastians Finger. 

Adam starrte, die frivolen, lustvollen Gedanken von gerade wie weggewischt. Er war eingefroren, unfähig, sich zu bewegen und übertrug das für einen Augenblick auf Bastian, bevor dieser in geschäftige Hektik ausbrach und nach einem Küchenhandtuch griff, das mit Sicherheit nicht steril war. 

„Scheiße. Scheiße scheiße scheiße!“ Bastian fluchte selten, meistens im Bett, aber wenn er es tat, dann klang es schön, weil Adam dafür verantwortlich war. So auch heute, nur dass es kein schön klingendes Fluchen war. 

„Adam!“

Abrupt kam er zu sich und löste sich von der dunkelroten Suppe, die viel zu sehr seinen Verwundungen ähnelte, die er immer wieder im kalten Neonlicht des Kellers gesehen hatte, während die Dreckssau ihn ein letztes Mal versucht hatte umzubringen. Er erkannte, dass seine Hände zitterten und sah mit großen Augen zu Bastian, dessen Anspannung greifbar war. 

„Entweder du bringst mich in die Klinik oder ich rufe einen Krankenwagen. Aber das hier muss versorgt werden, klar?“

Wie konnte Bastian hierbei einen kühlen Kopf bewahren? Adam schluckte schwer, versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sie wegzubringen von den vor seinem inneren Auge auftauchenden Erinnerungen. „Ich bring dich. Du…das muss schnell gehen.“

„Wenn du uns dann nicht vor den nächsten Baum setzt?“ Das Blut kam schon durch das Handtuch hindurch. Adam sah es. Dunkelrot kam es. 

„Mach ich nicht“, log er – so halb. Er wusste es nicht ganz und jetzt erst Vincent zu rufen, das würde zu viel Zeit verlieren. Anscheinend hatte Bastian da mehr Vertrauen, denn er nickte entschlossen und schlüpfte in seine durchgelatschten, altbackenen Schlappen. Adam folgte, erst langsam, dann immer schneller. 

Was es auch war, das ihn sich bewegen ließ, es sorgte dafür, dass sie unversehrt und auch nur einer auslösenden Blitze am Winterberg ankamen. Und wenn Adam jetzt auch noch seinen Führerschein abgeben musste, dann war das so. Sollten sie dann doch zu seiner Wohnung kommen und sich die traurigen Erfolgsgeschichten über Drogenhandel und Immobilienbetrug anhören. 

Er parkte seine scheiß Karre im Halteverbot des Winterbergs und brachte Bastian mit Argusaugen in die Notaufnahme, wich ihm auch nicht von der Seite, als der behandelnde Arzt sie trennen wollte. 

Erst, als er sah, wie der Finger genäht wurde und erkannte, dass Vincent schon einmal etwas ähnliches mit seinen Verletzungen gemacht hat, wurde Adam ruhiger, weniger panisch. Vielleicht lag das auch am Geruch von Desinfektionsmitteln, der ihn so sehr an seinen Aufenthalt hier erinnerte. Nachdem die Dreckssau sich an ihm ausgetobt hatte.

Es war nicht die Dreckssau, die Bastian verletzt hatte, aber er. Er war dafür verantwortlich. Hätte er ihn nicht gebissen, dann wäre das nicht passiert. Wäre er nicht…

„Ich sehe deine Gedanken bis hier, du Wunderschöner“, war Bastian viel zu nachsichtig mit ihm und zog ihn an seiner linken Hand zu ihm. Die Rechte steckte in einem dicken Verband und beinahe schützend hielt er sie vor sich. „Du bist nicht schuld.“

„Doch.“

„Nein.“

„Ich bezahle dich, also habe ich Recht.“

„Blödsinn, du Spinner.“ Bastian hauchte ihm einen unnachgiebigen Kuss auf die Wange. „Und jetzt bring mich nach Hause, den Blowjob will ich trotzdem.“

Adam zog eine Schnute, während er sich langsam in Bewegung setzte und Bastian mit Argusaugen dabei beobachtete, wie er zu ihm aufholte. „Das ist mit Sicherheit nicht erlaubt, du wirst dich schonen müssen.“ 

„Ich kann auch auf dem Bett liegend, während du dich über mich hermachst. Ich sehe da keinen Widerspruch.“

Adam nutzte die sich öffnende Tür, um sich einer Antwort entziehen zu können und blieb wie angewurzelt stehen, als die Frau, die er als letztes im Krankenhaus sehen wollte, ihnen beiden gegenüberstand und zu allem Überfluss sie auch noch erkannte. Ihn. Natürlich. Wie auch nicht?

Caro Hölzer verzog verächtlich ihre Lippen und verschränkte die Arme. Sie sah hochprofessionell aus in ihrer Krankenhauskluft, das musste er ihr lassen. Fast. Fast hätten sie es geschafft. Aber nein, das Schicksal war natürlich nicht auf Adams Seite. Wie immer nicht, wenn es um diese verdammte Bilderbuchfamilie ging. 

Adam hatte so gehofft, dass sie die Klinik ohne einen Zusammenstoß verlassen konnten. Dass Caro Hölzer, Leos Ärztinschwester keinen Dienst haben würde. Doch daraus wurde nichts, so wie Caro Hölzer zwischen ihnen und dem Seitenausgang im Flur stand und es unmöglich machte, ohne Aufsehen an ihr vorbei zu kommen. Oder ohne körperliche Gewalt. So wie sie ihn anstarrte, glaubte er nicht, dass er ohne eine Faust ins Gesicht an ihr vorbei kam. 

An seiner Seite hielt Bastian fragend inne und sah von der vermeintlich fremden Frau zu ihm. Adam seufzte. 

„Hast du dir den nächsten Mann angelacht, dem du wehtust?“, fragte sie beißend und Adam ignorierte sie zunächst zugunsten von Bastian.

„Leos Schwester“, sagte er knapp und Bastians Augenbrauen schossen in die Höhe. Ein leises „Oh“ entkam ihm, darüber hinaus verharrte er abwartend an Adams Seite. Vielleicht hatte Adam ein-, zweimal oder drölfmal mit Bastian über Leo gesprochen – nach dem Sex, nachdem er locker und leicht war, sich befriedigt und in der Lage zu sprechen fühlte. Nachdem das Band um seine Brust nicht ganz so eng war, das ihm das Atmen schwer machte. 

Liebend gerne hätte Adam jetzt aber nach Bastians gesunder Hand gegriffen und sich an sie geklammert, doch das stand außer Frage. Auch wenn er nie mit Caro Hölzers Bruder zusammen gewesen und damit auch nicht zu Treue verpflichtet war, tat es seinem Gefühl, es jetzt, hier sein zu müssen, keinen Abbruch, so dumm es auch war. 

„Soll ich euch alleine lassen?“, fragte Bastian mit einer liebevollen Hand auf seinem Rücken und wieder wollte Adam mit jeder Faser seines Seins nein schreien. Dennoch wollte er Bastian vor Caros Wut der Frau schützen, die so deutlich in ihren Augen stand. 

„Ja, bitte warte im Auto.“

Bastian drückte seinen Oberarm und Adam fischte seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Bastian nahm ihn und ging dann an Leos Schwester vorbei zum Parkplatz, hinein in die Sicherheit. Er ließ Adam mit seiner Schuld, Bastian wehgetan zu haben und seiner Unsicherheit, was sie nun tun würde, zurück. 

Wobei Letzteres klar war. Rache für ihren Bruder. Natürlich. 

„Ist er Leos Nachfolger? Dein neues Spielzeug, das du zerbrechen kannst?“ Hass war gar kein Ausdruck für das, was in ihrer Stimme mitschwang. Menschen, die ihn hassten, gab es viele und entsprechend dick war Adams Fell – nicht so bei ihr, bei der, die Leo so ähnlich sah und Emotionen in Adam aufwühlten, die besser verborgen blieben. Sie war nicht ganz so fassungslos wie Leo im Gerichtssaal, aber auf eine andere Art und Weise bodenlos von ihm enttäuscht.

Adam steckte seine Hände in die Taschen seiner Jogginghose. „Er ist mein Koch.“

„Der, der dich oral befriedigt hast, während du Leo auf Knien gezwungen hast, zuzusehen?“

Adam presste die Lippen aufeinander. Anscheinend war Leo ehrlicher zu seiner Familie als zum Richter im Strafverfahren gewesen. Bittere Galle stieg seine Speiseröhre empor und für einen Moment lang verlor er sich in alten, schlimmeren Erinnerungen. Wie er Leo auf die Knie gezwungen und ihn erpresst und ihm Angst gemacht hatte. Er konnte Leos Angst, seine bodenlose Fassungslosigkeit und Bestürzung heute noch vor sich sehen. 

Entschlossen schüttelte er sie ab. Dazwischen lagen anderthalb Jahre. Leo hasste ihn, hatte seine Genugtuung erhalten und das hatte seine Berechtigung.

Wenn es doch so einfach wäre, an die eigenen Worte auch zu glauben, sagte eine gehässige Stimme in seinem Inneren. 

„Dein Bruder hat dafür ausreichend Genugtuung und Rache erhalten.“ So ganz konnte Adam die Wut darüber nicht aus seiner Stimme halten, wenngleich Hass nicht mehr zu finden war. Dafür hatte er mittlerweile begriffen, dass er Leo nicht hasste, sondern dass Leo der leere Fleck in seinem Inneren war, der nie wieder gefüllt werden würde. Ebenso wie Elias‘ Fleck, nur anders. Und prostituiert hatte Leo sich nicht, auch daran glaubte Adam nicht mehr. 

Caro missfiel deutlich, was er gesagt hatte. Stürmisch verzog sie ihr Gesicht und sie knirschte so laut mit den Zähnen, dass Adam es selbst über ihre High Noon-Distanz hinweg hörte. 
„Mein Bruder hat…“, begann sie und brach dann ab, sah erzürnt zur Seite. 

Das war der Anlauf für den neuen Hass in ihrem Blick, erkannte Adam keine Sekunde später, als sie auf ihn zukam, als wolle sie ihn schlagen. Mit Mühe blieb er stehen und wich nicht zurück.

„Mein Bruder hat sich gerächt? Wie? Wann? Als er unter dir gelitten hat, monatelang? Als du ihn in den Beinaheselbstmord getrieben hast, nur um ihn dann emotional an dich zu binden? Und um ihn dann, nach allem, was er für dich getan und durchlitten hat, als Hure zu bezeichnen und ihm den Tod zu wünschen? Ist das die Rache, von der du sprichst, du selbstgerechtes Arschloch?“

War er das? Vermutlich. Adam wandte den Blick ab und fixierte sich auf das Notausgangsschild hinter ihr. Es war kaputt, im Fall eines Stromausfalls würde es nicht zuverlässig den Weg nach draußen weisen. Leo hatte also auch das gesagt. Warum auch nicht? Schließlich hatte er ein vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Eltern. Und seiner Schwester. Die Bilderbuchfamilie. 

Adam atmete aus, versuchte den Tumult in seinem Inneren zu beruhigen. Aber mit der Ruhe kam auch die Wut. 

Mutig suchte er Caros Blick und hielt ihn sogar…für zwei Sekunden. Er ballte die Hände zu Fäusten. „Er hat mich gefickt und die Informationen an die Sonderkommission weitergleitet und mir vorgemacht, dass er mehr für mich empfinden könnte, nur um mich in dem Moment fallen zu lassen, in dem ich ihm meine Gefühle gestehe. Das nenne ich Rache, ja.“ 

Und mit der Wut kam die Angst. Daran zu denken, was an dem Morgen vorgefallen war, raubte Adam immer noch den Atem. Zumindest spürte er die Vorboten einer kommenden Panikattacke wie unheilige Reiter der nahenden Apokalypse. Er sollte einfach gehen. Einfach hier weg und sich nicht auf Diskussionen mit der Familie Hölzer einlassen, die ihn innerlich schreien ließen.

Caro schnaubte verächtlich und Adams Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück. Funkelnde Wut glitzerte in ihren Augen. 

„Soll ich dir sagen, was mit ihm war, du Dreckskerl? Er hat dich geliebt. Trotz allem, was du ihm angetan hast, trotz all der schlimmen Dinge, zu denen du ihn gezwungen hast, hat er dich aufrichtig geliebt. Er hat es nur nicht zeigen können, weil seine Liebe vorher zu nichts geführt hat. 

Er hatte Angst, sie sich einzugestehen und du hast ihm jede Möglichkeit genommen, es dir zu erklären. Im Gegenteil. Du hast ihn beschimpft, beleidigt, ihn erniedrigt. Du hast jede Brücke abgebrannt, die er mit Vorsicht zu dir aufgebaut hat und ihn überfahren mit deinem Hass. Und das, nachdem du ihm so sehr wehgetan hast. Du glaubst, er hätte dich verraten? Nein, er wollte einen Weg finden, ehrlich zu dir zu sein. Dann musste er dich vor deinem Vater retten. Er hätte nur Zeit gebraucht und die hast du ihm nicht gegeben, im Gegenteil. Du hast alles mit Füßen getreten, was er je für dich getan und empfunden hat. 

Wenn du mich fragst, ist es gut, dass du nicht mehr in seinem Leben bist, denn du hast ihm immerzu wehgetan, hast dich in sein Leben gedrängt, um ihn mit deinem Weggang nochmal fertig zu machen. Du bist ein Arschloch durch und durch, Schürk.“

Das war er wohl, aber das war nicht das, was Adam an Ort und Stelle hielt. Caros Worte, so wütend sie auch waren, waren eines darüber hinaus: ehrlich. Offen. Sie log nicht, sondern schleuderte ihm direkt ins Gesicht, dass Leo eben nicht das getan hatte, was Adam ihn vor Monaten unterstellt hatte. Sondern dass er geliebt worden war. 

Sie befeuerte damit unwissentlich die Zweifel, die Adam in Bezug auf Leo plagten und seine Nächte desöfteren unerträglich machten. Es bestärkte seine These, dass Leo sich eben nicht prostituiert hatte und die Frage nach dem „Was wäre wenn“, die die letzten Monate für Stunden in seinen Gedanken herumgegeistert war.

Heute…heute fand sie eine Antwort, doch Adam war sich nicht sicher, ob er wirklich bereit war, diese Antwort zu hören. Entschlossen straffte er seine Schultern und zuckte zusammen, als seine Narben Schmerz in alle Richtungen ausstrahlten. 

„Du hast Recht, es ist gut, dass ich nicht mehr in seinem Leben bin“, nickte er und schob sich in größtmöglichem Abstand an Caro vorbei in Richtung Ausgang. Er musste hier raus. Dringend. Er musste weg. Weg von der Familie, die ein unerreichbares Idealbild an Liebe und Treue war. Etwas, das er hätte haben können. In einem anderen Leben. 

Doch anscheinend war die Hölzer-Schwester noch nicht fertig mit ihm. „Als er am Anfang bei uns war, hat er fast jede Nacht von dir geträumt. Er hat um dich geweint und dich angefleht, ihm nicht wehzutun. Er hat gefleht, dass du nicht gehst.“

Schlimme Worte, schreckliche Worte, die Adam einen Schritt schneller gehen ließen. Hinaus aus dem Krankenhaus, hin zu seinem Wagen. Bastian stand davor und rauchte und als Adam ihn erreichte, zog er ihn kommentarlos in eine enge Umarmung. So eng, dass kein Blatt Papier zwischen sie passte. 

„Komm wir fahren nach Hause“, sagte Bastian und Adam wusste, dass Bastian sein Zuhause meinte. Nicht Adams. 

„Mir ist aber nicht mehr danach, dir einen zu blasen“, murmelte Adam tonlos. 

„Okay, dann reden wir einfach nur.“

Adam schloss die Augen, als der Druck in seinem Schädel zu groß wurde. „Ich bezahle die Psychotante fürs Reden, nicht dich.“

„Deswegen gibt’s diesen Abend auch gratis“, schmunzelte Bastian liebevoll und küsste Adam auf die Wange. Er roch nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus, aber darunter lag etwas Vertrautes. Etwas Beruhigendes. 

„Aus dir wird nie ein richtiger Geschäftsmann“, beschwerte Adam sich, tat aber, was von ihm verlangt wurde. 

Sie redeten, bis die Nacht einem trüben Sommermorgen wich, der viel Regen versprach. Adam hatte sein Herz geöffnet, so weit wie noch nie, und Bastian hatte Fragen in den Raum geworfen. Kluge Fragen, Fragen zum Nachdenken. Fragen, die auch Vincent ihm schon gestellt hatte. Aber auch Fragen, die neu waren. Sie erweckten eine Sehnsucht in Adam, die wie nagender Hunger in Adams Magen grummelten. 


~~**~~


Wenn Adam nicht nur Bastian, sondern auch seiner Therapeutin glaubte, dann war er nicht so feige, wie er es sich selbst attestiert hatte. Wenn er ihr glaubte, dann war er wirklich mutig und stark, weil er all die Jahre eine Situation überstanden hatte, die einen Ausnahmezustand darstellte. Und weil er nun über Dinge sprach, die die Männer in seinem Umfeld gnadenlos aufgebracht hatten und die Adam nun nicht mehr in Ruhe ließen. 

Manchmal glaubte er ihr, öfter nicht. Heute war ein Tag für ersteres, weswegen er vermutlich auch in Richtung des Stadtteils ging, in dem Leo wohnte. Gekleidet in seinen rosanen Komforthoodie, der die reinste Revolution gegen die ehemaligen Kleidervorschriften der Dreckssau war. 

Spaziergänge waren auch gut, das sagte zumindest seine Physiotherapeutin, die ihn mittlerweile als blondes Gift bezeichnete, wenn er sie beleidigte, weil eine der Übungen so wehtat. Spaziergänge brachten langfristig die Mobilität in seinen Kniegelenken zurück und würden Muskeln aufbauen, die er benötigte, um würdevoll zu altern. 

Adam hatte über zwei Dinge gelacht: altern und würdevoll. Dann war ihm bewusst geworden, dass nun zumindest eins eintreffen könnte, also ging er spazieren. 

Seine Schritte brachten ihn näher und näher zu Leos Wohnung und er begriff, dass die Leere und das Ziehen in seinem Herzen auch, aber nicht nur vom Verrat kamen. Die Worte von Leos Schwester und Bastians ruhige Worte in der gleichen Nacht hallten in ihm nach, immer noch, obwohl schon drei Wochen vergangen waren. Mit ihnen auch die Möglichkeit, dass Leo nicht nur Rache wollte, sondern tatsächlich auch Gefühle für ihn gehabt hatte. Das alles hatte über die Tage gegärt und war gereift, hatte vor sich hingebrodelt und am heutigen Tag zu einer Entscheidung geführt, von der Adam immer noch nicht wusste, ob sie eine gute war.

Schneller, als es ihm lieb war, kam er bei Leos Wohnung an. Er sah an der Fassade hoch und wusste, dass Leo ihn hier nicht sehen würde, selbst wenn er nach draußen sehen würde. Leo, der Mann, zu dem es ihn immer noch hinzog. Nach all dieser Zeit. Das, was früher einmal von so viel Sicherheit und Gewohnheit geprägt war, war nun von Aufregung durchzogen. 

Adam stand tatsächlich vor Leos Haus und musterte den Eingang, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Tat er nicht, denn er kannte jeden Stein, jede Macke in den mindestens ein Jahrhundert alten Treppenstufen. Das Hausnummernschild aus Messing war neu und kitschig für seinen Geschmack, aber Leos Vermieter stand nun einmal nicht auf seiner Gehaltsliste.

Adam schnaubte über die zweifelhafte Sinnhaftigkeit dieses Gedankens, wusste aber auch, wie wahr es war. Dank seiner Therapeutin, die jeden schmerzhaften Schritt durch seine Vergangenheit mit ihm gemeinsam gegangen war und ihm für seine selbsthassenden Ansätze versöhnliche, wissenschaftliche Erklärung geboten hatte. Er war nicht schuld daran, dass er nach Elias‘ Tod nicht geflohen war, sondern bei der Dreckssau geblieben war. Weil er Angst gehabt hatte und traumatisiert gewesen war. Er war nicht schuld, dass er jahrelang nicht zur Polizei gegangen war. 

Langsam konnte Adam dieses Wissen annehmen und in Bruchteilen auch umsetzen.

Deswegen stand er auch vor Leos Haus und wollte klingeln. Seine Hand schwebte bereits über dem Schild mit dem schwungvoll kursiven Namen Hölzer. Seine Finger zitterten, und Adam ärgerte sich darüber ebenso wie über seinen fehlenden Mut, die letzten Millimeter zu überwinden, denn das würde bedeuten, sich dem stellen zu müssen, was passiert war. 

Auch seinen Taten und Worten. Leos Wut. Leo würde wütend sein, dass er ihn als Hure bezeichnet und ihm den Tod gewünscht hatte. Er hatte hier nicht mehr die Oberhand und die Gleichwertigkeit, die Leo und er vor Monaten hatten, gab es nicht mehr. Adam befand sich im freien Fall und hatte keine Ahnung, wie er richtig kommunizieren sollte, was er fühlte. 

Vielleicht war das auch der ausschlaggebende Punkt, warum er seine Hand wie verbrannt wieder zurückzog und sich ruckartig umdrehte. Er würde es nicht fliehen nennen, sondern eher ungeordneten, panischen Rückzug, doch unterm Strich kam es auf das Gleiche drauf hinaus. Nur weg von hier, ganz schnell, bevor er die Panik zu groß wurde. 

Er ging, so schnell, wie es sein immer noch penetrant schwacher Körper es erlaubte, weg von dem Haus und dem Mann, der darin wohnte, während sein Mut an der Klingel zurückblieb und Adam nur die Feigheit hinterherschickte. 


~~**~~


„Ein Wassersprudler wäre schon klug“, maulte Leo sich selbst an, als er sein Leergut die Treppe hinunterhievte und fast die Hälfte hohl kullernd in der ersten Etage verlor. 

Vielleicht sollte er heute einfach einen kaufen, Nägel mit Köpfen machen, so wie es sein Therapeut ihm beigebracht hatte. Mut zu Entscheidungen, die vorher nicht dreimal überlegt waren, weil es nicht nur schlimme Entscheidungen gab, sondern auch gute, die aus dem Bauchgefühl heraus getroffen wurden. So wie die Entscheidung mit Gunnar und Mika, die er immer noch nicht bereute und die ihm immer noch ein Lächeln auf die Lippen trieb.

Er sammelte die flüchtigen Flaschen ein und schaffte es mit leichter Verzögerung und ohne weiteres Poltern aus seiner Haustür. Eher instinktiv sah er sich nach Gefahren um, ein Blick auf die Straße, dann nach rechts, schlussendlich nach links, damit er sich versichern konnte, dass es keine Angreifer gab. Noch konnte er diese Angst nicht loswerden und das war auch okay so. Nicht alles musste von jetzt auf gleich geschehen. Das wusste er mittlerweile.

Leos Augen blieben an dem Mann hängen, der fast bei der nächsten Kreuzung war und langsam den Bürgersteig entlanghumpelte. Die Haare sahen aus wie die von… 

Und wieder keimte Hoffnung in Leo auf, dass er es tatsächlich war und dass Adam mit ihm sprechen wollte. Dass sie reden würden. Wie immer unterband Leo diese Gedanken, weil sie zu nichts führten. Und weil er in vielen blonden Männern in Saarbrücken den Mann wiedererkannte, mit dem er so viel geteilt hatte, ohne, dass dieser es wirklich jemals gewesen wäre. 

Schnaubend schlug Leo die gegensätzliche Richtung auf der sonnenbeschienen Straße ein, das schmerzhafte Pochen seines Herzens, dass es wieder nicht Adam war und vermutlich niemals sein würde, ignorierend. 

Es gab Dinge, die Zeit brauchten und Liebe war wirklich hartnäckiges Efeu in der Seele und in den Gedanken. 

 

~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Notes:

Ächäm. ÄCHÄM. Der Grund für die Länge des Teils ist, dass ich diesen Cliffhanger wollte. Schon seit dem Outline der Storyline wollte ich dieses Ende für den Teil. Faule Tomaten und Eier gibt's dafür gratis, okay?! 😁🤗

Chapter 62: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Notes:

Einen wunderbaren Sonntagnachmittag euch allen!

Hier nun, nach viel viel viel zu langer Zeit der neue Teil zur Anatomie. 🥳Wie immer wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und Mitfiebern.

Und wie immer gibt es an dieser Stelle ein dickes, fettes Danke an alle die Mitlesen, insbesondere aber auch an alle, die kudotieren, kommentieren, Nachrichten und Sprachnachrichten schicken, asks schicken oder ein Herz auf Tumblr da lassen. ♥️🌻

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

 

Gespannt verfolgte Vincent Jolantes Weg durch sein Wohnzimmer. Im Hintergrund motzte Adam, dass Tierbesitz ja nun wirklich mit Nachteilen verbunden war, während er in Vincents Gästetoilette die Katzentoilette befüllte und mit dem Sack Katzenstreu kämpfte. 

Jolante war zur Erprobung hier bei ihm, weil seine Wohnung immer noch häufiger frequentiert wurde als Adams. Vier Wochen lang würde sie hier bleiben und sie würden sehen, ob das Leben mit Jolante etwas für sie war. Mit allem Drum und Dran. Katzenstreut, Futter, Herztabletten. 

Die alte Dame war auf jeden Fall nicht uninteressiert, wenn Vincent das Zucken des riesigen, buschigen Schwanzes richtig interpretierte. Sie schnupperte ausgiebig an seiner Lichterkette, zeigte aber kein Interesse daran, mit den herabhängenden Kugeln zu spielen. Die Fernsehanrichte war ein guter Ort, um an der Kante ihre Wange zu reiben. Das mitgebrachte Katzenbett war vollkommen uninteressant, dafür verdiente aber Vincents Grünlilie die doppelte Aufmerksamkeit. 

„So, fertig. Warum kann ich nicht einfach mit ihr Gassi gehen?“, beschwerte Adam sich aus dem Flur heraus und kam in sein Wohnzimmer, klopfte sich die Hände frei von Katzenstreu. Kritisch musterte er die alte Dame und ließ sich auf die Couch fallen. 

„Weil, lieber Adam, sie in ihrem Leben erst einmal draußen war“, soufflierte Vincent hilfreich, was Marita ihm streng mit auf den Weg gegeben hatte. Sie hatte den Versuch mit Jolante schon hinter sich und es war nicht gut ausgegangen. Für beide nicht. 

Er ließ sich neben Adam auf die Couch fallen und strich dem nervösen Mann sacht über die Wange. 

„Alles wird gut“, murmelte er und Adam schenkte ihm einen Seitenblick, der viel Gegenteiliges sagte. Zu mehr kam er aber nicht, da Jolante auf direktem Kollisionskurs kam und mit einer Kraft, die Vincent ihr nicht mehr attestiert hatte, auf Adams Schoß sprang und sich wir im Tierheim auch schon ohne weiteres Gewese an ihn klammerte. 

Vincents Mundwinkel zuckten, als er nicht mehr viel außer langem Fell sah und wusste, dass er hier nicht der Lieblingsmensch war. Garantiert nicht. 

„Atmen ist vollkommen überbewertet“, murmelte es aus dem Fell heraus und Vincent lehnte sich gemütlich zurück, legte frecherweise seine Beine ebenfalls auf Adams Oberschenkel.

„Was hast du gesagt? Ich habe nichts verstanden“, spottete er sacht und genoss den Moment des lauen, sonnigen Abends zu dritt. Jolante genoss anscheinend das missbilligende Brummen, nach ihrem Schnurren zu urteilen.
 

~~**~~


Leo wusste, dass es eine dumme Idee war, nach einer Nacht ohne Schlaf duschen zu gehen. 

Er hatte gelernt, dass es zwischen den mentalen Fallstricken und den körperlichen Reaktionen einen Zusammenhang gab und hatte von seinem Therapeuten Instrumente an die Hand bekommen, die ihm Regeln gaben für seinen Alltag. Zunächst. Denn die Regeln dienten der Sicherheit, bis er mehr und mehr Fortschritte machte, die schlussendlich die Regeln nicht mehr benötigten. 

Fortschritte, über die er jetzt, in diesem Moment, nur lachen konnte. 

Sobald er die Dusche angeschaltet hatte und die ersten Tropfen Wasser auf den Duschboden prasselten, war Leo in dem grellen Keller zurückgewesen, hin zu dem unendlichen Kreislauf aus Gewalt, Schmerzen und Folter. Hin zu dem Gefühl des Ertrinkens, das sich mit Detlefs Versuchen, ihn in der Schultoilette zu ertränken, mischten. 

Leo verlor innerhalb von Sekunden die Verankerung in seiner jetzigen Realität, gefangen zwischen damals und heute. Irgendwie schaffte er es, die Dusche auszustellen, damit das Geräusch des plätschernden Wassers enden konnte und verkroch sich in einer sicheren Ecke, floh vor Häschern, die vergangen, aber nur zu real waren. Er hörte laute Worte, schlimme Worte, war sich in der nächsten Sekunde aber nicht sicher, ob es Erinnerungen waren. 

Er versuchte sich zu bewegen, doch sein Körper war steif und unkooperativ. Wie eingefroren kauerte er auf dem Boden und hoffte, dass sie nicht wiederkommen und ihn nicht noch mehr foltern würden. Anstelle zu fliehen kauerte er hier, starr vor Angst. Bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, von dem Leo sich nicht sicher war, ob es Blut war. 

„Adam“, wisperte er leise, in der fahlen Hoffnung, dass er ihn wieder retten würde. Gepeinigt stöhnte er auf, als er begriff und sich erinnerte, dass dem nicht der Fall sein würde. Denn Adam war nicht mehr da. Schon seit seinem Aufwachen im Krankenhaus war er das nicht. Ganz im Gegenteil. Adam hasste ihn. 

Das zog Leo wie nichts Anderes aus seinem Stupor, löste die Starre. 

Er selbst war für sich verantwortlich. Nur er. 

Er hatte viele gute Tage, das wusste Leo, das sagte er sich jetzt auch. Aber heute war keiner davon. Definitiv nicht. 


~~**~~


„Werte Anwesende, ich habe ein Verständnisproblem…“, begann Adam schleppend und ging langsam um die hölzerne, protzige Tafel herum, an der seine Gäste saßen. Er stützte sich dabei auf seinen Gehstock, der nur zum kleinen Teil Accessoire war. Er war froh, dass er sich auf den silbernen Knauf in Form eines Löwen stützen konnte, während er sich Schritt um Schritt vorwärts kämpfte. 

Sein rechtes Knie wollte seit zwei Tagen nicht so wie er und durch die gestrige Physiotherapie war es heute erst einmal schlimmer geworden. Dank des verdammten Regens. Ganz normal, da half nur Bewegung, sagte seine Therapeutin, was Adam nicht wirklich zufriedenstellte und in Zweifel zog.  

Der schwarze Stock klackte im Gleichklang seiner Schritte auf dem Marmorboden des alten Herrenhauses. Es stank nach der Dreckssau, nach altem Gemäuer und einer Vergangenheit, die Adam am Liebsten hinter sich lassen würde. Zunächst beschlagnahmt, wie fast alles, was der Dreckssau gehörte. Dann wieder an ihn zurückgegangen. Teil des Deals, der ihn aus dem Gefängnis hielt…zur Repräsentation, damit er den befreundeten Syndikaten auch etwas bieten konnte. 

Er war die Venusfliegenfalle, die alle zusammenschweißen sollte, bevor er sie alle über die Klippe stieß und Bücher lesend seine Freiheit genoss. 

Wenn es nach Adam ginge, eher früher als später. 

Er konnte die Visagen alle nicht mehr sehen. Die gierigen Fressen, die mit der Sucht der Menschen und mit deren Leid ihr Geld verdienten. Kunstfälschung und -schmuggel brachte niemanden um, ließ Leute nicht wie Zombies in der Ecke liegen. Drogen schon und deswegen verabscheute Adam Drogen, obwohl er schon oft kurz davor gewesen war, sich selbst endgültig abzuschießen. 

Elias hatte ihn davor bewahrt und nach seinem Tod war es die Leere in Adam gewesen, die mit nichts hatte gefüllt werden können. Selbst mit Drogen nicht. Adam war zu sehr in seine Trauer gestürzt, um sich mit Drogen einen High zu geben. Er hatte trauern, nie wieder glücklich sein wollen. 

Und jetzt?

Adam klackte sich um den Tisch herum und warf Vincent, Rahel und Zarah einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu. 

Heute verhandelten sie. Mit den Brüdern Girard, die den Drogenhandel rund um die Vogesen kontrollierten. Dem Clan Spahiu, der das Baugewerbe in Luxemburg leitete. Neu am Tisch, weil sie von ihrem elendig an einem Herzinfarkt abgekratzten Vater übernommen hatte, war Çelik. Jung, wütend und unvorsichtig. Wenn Adam raten müsste, dann wäre sie die Erste, die durch die Ermittler zu Fall gebracht wurde. Oder sie überlebte aus reiner Bosheit am Längsten. Dazwischen gab es nichts. 

„Die Routen, die mein Vater festgelegt hat, scheinen nicht mehr gut genug zu sein für die Anwesenden. Wie kommt das?“ Die Wut war gespielt und der Intonation der Dreckssau nachempfunden. Der Sohn seines Vaters, dass Adam nicht lachte. 

Aber für die Anwesenden reichte es. 

Niemand sagte etwas, während Adam seine zweite Runde um den Tisch drehte, langsam, gemächlich, gefährlich. Sie alle wussten, dass das Netzwerk des Alten sie zu Fall bringen oder ihnen schweren Schaden zufügen konnte. Sie alle glaubten mittlerweile, dass Adam seinen eigenen Vater im Gefängnis hatte umbringen lassen. Ein geltungssüchtiger Vollzugsbeamter hatte das behauptet, der seinen Auftrag von der Staatsanwaltschaft selbst erhalten hatte. 

Aber einer wollte sich auflehnen, einer war dumm genug, den Mund aufzumachen, weil Adam nicht die Dreckssau war. 

„Die Routen sind veraltet, eingetreten und gefährlich“, begehrte Antoine Girard schließlich in schwer akzentuiertem Deutsch auf und Adam humpelte weiter, als hätte er nichts gehört. Schritt um Schritt um Schritt. 

„Die Routen sind die Sichersten, die es für alle Anwesenden im Raum geben kann“, korrigierte Adam in schleppender Gleichgültigkeit und innerem Hohn. Die Routen waren schon längst bekannt und überwacht. Sie waren verminte Straßen, die alle Anwesenden zu gegebener Zeit hochjagen würden. 

„Sorgsam ausgesucht und ausgebaut durch meinen Vater…vorbei an den Bullen und dem lästigen Zoll. Und die neuen Routen? Unsicher. Unausprobiert. Unausgegoren.“ Adam lächelte das grausame Lächeln der Dreckssau. „An uns vorbei. Ein gieriger Alleingang.“

„Ihr Vater ist aber tot“, widersprach Girard, was Adam nicht wirklich überraschte. Vincent, Zarah und Rahel ebenso wenig, wie er wusste. Sie hatten Girards Charakter und seine Wünsche lange durchgesprochen, hatten seine Geschäftsbeziehungen verfolgt. Seine Kontobewegungen und seine Gier nach Macht. 
 
Adam nickte bedächtig. „Ist er. Macht das seine Arbeit damit automatisch schlecht?“

„Nein, aber es ist Zeit für Veränderung.“

Da war er, der Griff nach der Macht. Und wie gerne würde Adam ihm den überlassen, sich zurückziehen und sehen, wie hier alles vor die Hunde ging. Scheiß Staatsanwaltschaft. Scheiß übergreifende, europaweite Ermittlung.

„Veränderung?“, echote er anstelle dessen und nickte scheinbar zustimmend. Das Nicken galt Rahel, die nun den riesigen Bildschirm hinter ihr zum Leben erweckte und den Ordner mit den Videos aufrief.

Sie klickte das Erste an und Adam sah aufmerksam zu, wie Saarbrücker Polizisten ein Auto mit Drogenhändlern stoppten und die Männer festnahmen. 

„Veränderung bedeutet Sieg für die verdammten Bullen.“

Rahel rief das nächste Video auf. Jetzt war es eine Sondereinheit, die Drogendealer jagte und festnahm. Sie alle kannten den Umschlagplatz, der nun nicht mehr nutzbar war für sie.  

„Veränderung bedeutet Freiheitsentzug und offene Flanken.“
 
Rahel klickte das dritte Video an. Es zeigte, wie Beamtinnen und Beamte des Zoll eines ihrer größeren Drogenlager aushoben, die Drogen palettenweise sicherstellten und abtransportierten. 

„Veränderung bedeutet erheblichen Gewinnverlust.“

Adam blieb stehen und sah ernst in die Runde. Er bewegte sich nicht, wurde zu einer Statue, in deren Hintergrund das Video in Dauerschleife lief. Er fixierte niemand anderen außer Girard, der von Sekunde zu Sekunde blasser wurde. 

„Von wann sind die Videos?“, fragte der ältere Drogenhändler und die Stimme zitterte latent. Gut. Sehr gut. Sein Bruder rutschte unwohl auf seinem Stuhl hin und her, sich wohl nicht mehr ganz sicher, ob es das Richtige war, was sie versucht hatten. 

„Von gestern, denn im Gegensatz zu Ihnen sichere ich unsere Routen.“ Adam zog seine Lippen zurück und es war mehr ein wölfisches Grinsen als ein nettes Lächeln. Er zuckte nonchalant mit den Schultern und steckte seine freie Hand in die Tasche seiner Hose. 

„Ich frage die Anwesenden: Sind das Risiken, die Sie bereit sind, einzugehen? Weil Sie etwas Neues wollen? Weil Sie glauben, dass das, was mein Vater errichtet sei, veraltet ist und überholt werden muss? Wenn ja, steht es Ihnen frei, Girards Beispiel zu folgen. Ich werde Sie nicht aufhalten. Für alle Konsequenzen mache ich jedoch Sie verantwortlich.“

Maurice Girard öffnete den Mund, um seinen größeren Bruder zu verteidigen und Adam brachte ihn mit dem, was in seinen Augen stand, zum Schweigen. 

„Mein Vater hätte Untreue zu Ihnen nicht gewollt“, sagte Çelik an seiner statt und erhob sich. Sie war vielleicht maximal 1,60 Meter, aber ihre Präsenz war erstaunlich. Beängstigend gar und Adam taten die leid, die die Frau unterschätzen. „Er war ein weiser Mann und schätzte Ihren Vater über alle Maßen.“

Da war er aber auch der einzige, befand Adam und fixierte die Frau. 

„So stehe ich auch an Ihrer Seite.“

Georgiu Spahiu hielt es nicht für nötig zu antworten, sondern brummte nur. Sein Zeichen der Zustimmung und somit hatte Adam ihn auf seiner Seite. Der verlorenen, durch die Polizei infiltrierten Seite. 

„Gehen Sie, wenn Sie unsere Unterstützung und unser Netzwerk nicht wollen, die Herren Girard. Aber seien Sie sich nicht sicher, dass Sie lebend in Polizeigewahrsam ankommen, sollten Sie genauso wie Ihre Dealer verhaftet werden. Ich werde Ihnen die Sicherheit nicht garantieren.“ 

Ohne auf eine Antwort zu warten, klackte Adam wie mit Rahel besprochen aus dem Raum heraus. Zarah folgte ihm und gemeinsam gingen sie zum ehemaligen Arbeitszimmer der Dreckssau, in dem Adam sich erleichtert auf die Couch fallen ließ und mit einem erleichterten Aufstöhnen sein pochendes Bein hochlegte. 

Kommentarlos reichte Zarah ihm ein Glas Wasser und eine Schmerztablette, bevor sie die  Tür bewachte, während Adam ungnädig sein Telefon aus der Anzughosentasche zog. Scheiß Bullen, scheiß Sonderkommission, scheiß alle, beschloss er und musterte den Startbildschirm. Lustlos scrollte er durch seine Apps und blieb schlussendlich an seiner Galerie hängen. 

Fotos. Fotos waren ungefährliches Entertainment, während er auf Rahel und Vincent wartete, beschloss Adam und scrollte sich durch seine Bilderfavoriten. 

So ungefährlich waren sie dann nun doch nicht, denn da war er. Sein nicht mehr hauseigener Polizist. In dem französischen Museum, das sie gemeinsam besucht hatten, weil Adam ihn dorthin entführt hatte. Er stand inmitten der Kugeln und das Bild sprach von einer Weichheit, die Adam erst viel später erkannt hatte. Von sanftem Wundern über die Installation. 

Adam starrte das Bild an und belebte den Bildschirm, als dieser ausging, weil er ihn zu lange nicht mehr berührt hatte. Er starrte weiter und saß alles aus, was in seinem Inneren brodelte. Das war einiges, aber am Dominantesten war die Feststellung, dass es viele ätzende Bullen gab, dass der Mann auf dem Bild nie einer von ihnen gewesen war. Sondern jemand, der es wirklich gut gemeint hatte, trotz allem, was Adam ihm angetan hatte. 

Der Superman unter den Bullen. 

„Block mir am Samstag alles frei, ich habe Lust, wandern zu gehen“, sagte er aus dem Nichts heraus und Zarah brummte zustimmend. Sie stellte keine Fragen, warum und wieso und ihr Gesicht war mehr als neutral, als sie seinen Kalender bearbeitete. 

„Vincent auch oder nur du?“

„Ich alleine.“

„Wo?“

„In den Vogesen, zu diesem komischen See, den ich damals gesucht habe.“

Zugegeben, Adams Wegbeschreibungen waren notorisch katastrophal. Aber Zarah war, kluge Frau, die sie war, in der Lage, seine Unfähigkeit zu antizipieren. Vielleicht auch, weil sie damals mitgesucht und nichts dem Zufall überlassen hatte – für den Fall, dass Leo Hölzer doch versuchen würde, ihn umzubringen. 

„Ich trage es ein. Ich bring dich hin und hole dich wieder ab.“

Chauffeurservice inklusive Kontrolle, ob er noch lebte. Irgendeinen Nachteil musste sie ja haben.


~~**~~


Wie so oft blieb Leo vor seiner Kaffeemaschine stehen und fragte sich, wie es wohl gekommen wäre, wenn er Adam an dem schicksalshaften Tag die Wahrheit gesagt hätte. Wie so oft fragte er sich, ob nicht eine Minute ausgereicht hätte, um das alles zu verhindern. 

Die Antwort war immer die gleiche und Leo stand vor der Anrichte, fühlte Adams Arme um seinen Körper, hörte die Worte, die dieser ihm gesagt hatte, nur damit beides an der Realität verpuffte, die Leo alleine und einsam zurückgelassen hatte. 

Die Woche war nach dem katastrophalen Start von Tag zu Tag besser geworden und somit hatte Leos Bereitschaft, seinen Plan in die Tat umsetzen, an ernsthafter Substanz gewonnen. Er wollte sich nicht mehr vor so etwas Elementarem wie Wasser fürchten, also würde er mit sich in die Konfrontationstherapie gehen so weit es ihm möglich war. Er alleine, ohne Herberts vermeintliche, gutmütig-überschwängliche Doggenunterstützung, die ihn mit Sicherheit ohne Gnade ins Wasser ziehen würde. Er würde in einer positiv verknüpften Umgebung, in der er bestimmen konnte, was er wann tat, versuchen, sich dem Element zu nähern, was ihm solche Angst einjagte. 

Es sprach dabei irgendwie seine eigene Sprache, dass er sich dafür ausgerechnet den kleinen, versteckten Tümpel, zu dem Adam ihn damals gezogen hatte, aussuchte. Eine deutliche, aber was sollte Leo machen? 

Er packte den Rucksack und nahm diesen wie auch den Rest nun mit zu seinem Auto, fuhr durch die Natur des Saarlandes und schlussendlich Frankreichs die Strecke im sonnigen Spätsommer. Er erinnerte sich noch gut an sie und fand zielsicher den Parkplatz, auf dem er beim letzten Mal geparkt hatte. Damals wie heute wusste er nicht, was auf ihn zukam und entsprechend nervös war er, als er den Schlüssel aus dem Schloss zog.

Leo atmete tief durch und stieg aus. Er tauschte seine normalen Schuhe gegen Wanderschuhe und richtete sich schließlich entschlossen auf. Er reckte das Gesicht in Richtung Sonne und genoss für einen Augenblick lang die warmen Strahlen auf seiner Haut. Seit Tagen hatten sie einen wunderbaren Spätsommer. Nach dem heißen Sommer und allem, was in den Monaten  davor passiert war, war das ein Lichtblick und ein Ausblick auf etwas, das besser werden und die Wunden heilen lassen würde. Es roch nach dem Übergang zwischen Sommer und Herbst, nach kommenden, bunten Blättern. Es roch nach Tagen, die abends schon kühl waren.

Er hatte mehr und mehr Spaß daran, Dinge alleine zu unternehmen und fühlte die erdrückende Einsamkeit der letzten Monate nicht mehr wie einen Riesen auf seiner Brust sitzen. Er atmete freier, er ging immer noch gerne zur Arbeit und unternahm etwas mit Pia und Esther. Alles würde gut werden – ein Credo, das sich Leo immer wieder vor Augen hielt. Schlussendlich würde alles gut werden.

Leo schulterte seinen Rucksack und schob sein Handy in die Seitentasche seiner kurzen Hose. Er lief los, hinein in die Einsamkeit und die schattige Kühle des um ihn umgebenden Waldes hinein, der sich wie ein schützendes Dach über ihm zusammenschob. Hier und da hörte er einen Vogel oder ein etwas größeres Tier im Unterholz, aber ansonsten begegnete er niemandem auf seinem Weg zu dem See, der trotz allem positiv in seinen Erinnerungen wohnte. 

Bewusst nahm Leo sich Zeit dafür, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich nicht zu hasten, sich bewusst zu machen, was er tun würde. Sich selbst an seine körperlichen Grenzen zu bringen oder vor dem davon zu laufen, was ihn in seinen Alpträumen heimsuchte, das überließ er seinen morgendlichen Joggingrunden, mit denen er die Tage begann. 

Er lief sie aus seinem Körper, so wie es sein Therapeut ihm vorgeschlagen hatte. Er machte sich frei von ihnen und gab sich selbst die Kraft und Ruhe, zu denken. Nun ließ er zu, dass seine Gedanken ihn heimsuchten, ließ auch die Erinnerungen an die schrecklichen Stunden im Keller zu, eine nach der anderen. Wohldosiert und partiell, als wären sie Pakete, die er hervorholte und bei denen er sich bewusst machte, dass sie ihm nichts antun konnten. 

Leo wanderte im Einklang mit der Natur und fand den versteckten Weg tatsächlich, den er damals hatte einschlagen müssen. Dieses Mal folgte er ihm freiwillig, fluchend, dass er noch zugewucherter war als im letzten Jahr. Durch die dichten Sträucher sah er schon das Wasser des Sees in der Sonne glitzern und trat mit einem erleichterten Brummen aus dem Gestrüpp heraus, in der festen Absicht, sich erst einmal nach Zecken abzusuchen, wenn er den Strand betreten hatte. 

Eine abrupte Bewegung rechts von ihm ließ Leo herumfahren und er erkannte, dass er nicht alleine hier war. Innerlich fluchend, dass beim ersten Mal niemand hier gewesen war, aber ausgerechnet jetzt, wenn er alleine sein wollte...

Die Person, die bislang auf einer bunten Decke gesessen und sich anscheinend gesonnt hatte, sprang nun auf und Leo erkannte, dass es ein Mann war. Das und dass er den Mann kannte, wie ihm sein still stehendes Herz mitteilte. 

Blonde Haare, blaue Augen, ein kantiges Gesicht. Immer noch, nach Monaten des Nichtsehens dauerte es keine Sekunde, bis alles in Leo sich zusammenzog bei dem Anblick, der sich ihm bot und bei den Augen, die ihn in all ihrer Schärfe durchdrangen. Ein Adam, der tatsächlich ein Adam war und kein Mann mit blonden Haaren. Dort, wo es vorher gar nicht geschlagen hatte, pochte sein Herz nun umso heftiger gegen seine Rippen an und wollte schier aus seinem Brustkorb fliehen. 

Ein Instinkt, den Leo teilte. Er musste hier weg, schnellstmöglich. Zurück zu seinem Auto und raus aus diesem Wald. Weg von dem Mann, der… Hals über Kopf schlug Leo den gleichen Weg ein, den er gekommen war. Zweige peitschten ihm schmerzhaft ins Gesicht und sein Herzschlag rauschte so laut in seinen Ohren, dass er fast seine eigenen Schritte nicht hörte und entsprechend erschrocken zusammenzuckte, als sich plötzlich eine Hand um sein Handgelenk schloss und ihn unter dem dichten Blätterdach mit einem gewaltigen Ruck aufhielt, ihn damit fast zu Fall brachte.

Leo fing sich, wagte es aber weder, sich zu bewegen noch sich umzudrehen. Er wusste, wer ihn festhielt und das machte alles nur tausendfach schlimmer. Millionenfach. 
Jetzt hörte er auch das schnelle Atmen des Mannes hinter sich und das brachte wieder Bewegung in ihn. Er machte einen Schritt weg und wurde wieder aufgehalten. 

Die Finger um sein Handgelenk drückten so eng zu, dass es beinahe schmerzte.

„Geh nicht weg, Leo“, sagte der Mann hinter ihm und Leo kannte jede Nuance in der Stimme. Jede Silbe war ihm bekannt und der Name, sein Name, so oft gehört, dass er sich in Leos Erinnerungen gebrannt hatte. So vertraut, dass es ihm durch Mark und Bein ging.

Leo konnte nicht gegen den Druck in seinem Schädel anatmen. Er war unfähig etwas zu erwidern. Zu vergessen, was geschehen war, war eine Sache. Zu vergessen, was er mit dem Mann geteilt hatte, eine vollkommen andere, die nur so lange gut ging, so lange er diesen anscheinend nicht sah, nicht hörte und nicht spürte. 

So brach Leos mühsam aufgebaute Stärke in sich entzwei und machte Platz für Schmerz, der so akut war wie direkt nach Adams bösen Worten. Er schloss die Augen und schluckte mühsam gegen den Kloß in seinem Hals an, während Panik sich in ihm ausbreitete. 

„Leo, dreh dich um. Bitte“, sagte Adam und nichts wollte Leo lieber und weniger zugleich in diesem Moment. Er hatte die Sanftheit so vermisst und entsprechend groß war die naive Sehnsucht in ihm. Aber er würde dann nur wieder böse Worte bekommen und Leo hatte dafür keine Ressourcen in sich. Noch nicht. Heute nicht. Er war noch nicht wieder so weit. Vielleicht würde er es auch nie sein, so wie bei Detlef. 

„Ich möchte reden“, murmelte Adam und seine Stimme klang rau und belegt. Gehetzt vielleicht. Reden…nichts hätte Leo lieber getan als darüber sprechen, was vorgefallen war. Vor Monaten hätte er sofort geredet. Er träumte davon, mit Adam zu sprechen. Über alles. Aber jetzt hatte er Angst davor und das machte ihn zur lebenden Salzsäule. 

Woher er dann den Mut nahm, auch nur den Mund zu öffnen, war Leo schleierhaft. 

„Ich weiß nicht“, sagte er so leise, als hätte es nie seine Lippen verlassen und starrte angestrengt auf das Gebüsch, in dem er sich befand. 

„Leo, bitte.“

Viel mehr Mut erforderte es da doch sich umzudrehen. Ganz langsam, als würde er einer Bombe gegenüberstehen und genauso war es vermutlich auch. Denn sobald er Adam sah, ihm vorsichtig ins Gesicht und schließlich in die Augen schaute, erkannte er, wie viel das in ihm zusammenstürzen ließ und wie dünn seine Barrieren doch waren.

Leo wartete auf die grausamen Worte, die da kommen mochten, doch nichts passierte. Adams Gesicht verzog sich nicht vor Hass, er spie ihm nicht entgegen, dass er ihn hasste und dass er doch krepieren sollte. Dass er eine SoKo-Hure war. 

„Wirklich reden“, bekräftigte er und Leo zögerte. 

„Okay“, entfloh es schließlich jedoch todesmutig seinen Lippen und er fragte sich eine Sekunde später, wieso er das getan hatte. Nein, nicht wieso, das wusste er. Mit welchem Ziel und welcher Selbstdestruktivität.

Doch Adams Mimik wandelte sich nicht zu einer herablassenden Arroganz wie im Krankenhaus, sondern blieb aufgeregt neutral.

„Am Strand?“, fragte er immer noch seltsam atemlos. 

Anstelle einer Antwort huschte Leos Blick zu dem Flecken Wasser, den er erkennen konnte. Ablenkung, weil die Aussicht, dass Adam reden wollte, so unwirklich und unwahrscheinlich war, dass er schwer an einen guten Ausgang dessen glauben konnte. 

Adam nahm sein Schweigen scheinbar als ja und drehte sich um, zog ihn an seinem gefangenen Handgelenk hinter sich her. Leo ließ sich überrumpelt mitziehen, auf den hellen, sonnenbeschienen Strand und erlaubte sich mit der Weite des kleinen Sees auch den Blick auf Adam selbst. 

Als er ihn das vorletzte Mal gesehen hatte, war Adam nur ein Schatten seines Selbst gewesen. Ein gefolterter Mann, an dem es kaum einen Flecken unversehrte Haut gegeben hatte. Dieser Adam hatte sich nachhaltig in Leos Erinnerungen gebrannt und so war der Anblick des vor ihm stehenden Mannes ungewohnt, aber auch heilsam. Sein Gesicht war von der Sonne gerötet und er trug ein ungewohnt legeres T-Shirt in weiß mit einer schwarzen Shorts. 

Er war so normal, wie es Leo noch nie an ihm gesehen hatte. Dünner als vorher, auf seine Art noch schlaksiger.

Immer noch hielt Adam ihn fest und Leo war ihm so nahe, dass er die Sonnencreme auf Adams Haut riechen konnte. 

„Setzen wir uns.“

Leo begriff, dass Adam auch im Hinsetzen keine Anstalten machen würde, ihn loszulassen. 

„Ich laufe nicht weg.“ Noch nicht und vielleicht stand das sehr deutlich in seinen Augen. Zu deutlich anscheinend, denn Adam musterte ihn misstrauisch und dachte nicht daran, ihn loszulassen. Eine Pattsituation, aus der Adam sich zuerst löste. Er ließ Leos Handgelenk los und trat einen Schritt zurück, setzte sich langsam und anscheinend unter Schmerzen. 

Etwas in Leo zog sich trotz allem zusammen…oder gerade deswegen?

Er nahm seinen Rucksack ab und legte ihn neben sich in den Sand. Vorsichtig ließ er sich Adam gegenüber auf der Decke nieder, zog die Beine an seinen Körper, damit er im Notfall schnell wieder aufstehen konnte. 

„Ich hätte das nicht sagen sollen“, presste Adam ungelenk hervor, aber da war keine Wut auf seinem Gesicht. Stumm musterte Leo ihn. Oder war das die Vorbereitung, wie beim letzten Mal auch? Holte Adam ihn zu sich um ihm dann den Todesstoß zu geben? 

Leo atmete tief ein, stählte sich für seine selbstzerstörerischen Worte. 

„Wenn du mich beleidigen willst, dann mach’s bitte direkt“, bat er um Milde, von der er nicht ganz wusste, ob er sie auch bekommen würde. Im Gerichtsverfahren hatte er sie definitiv nicht zu erwarten gehabt. Adams Anwältin hatte ihn auseinandergenommen und ihn noch einmal in bissigen, juristischen Worten als Hure bezeichnet, ihn vor der Richterschaft und dem Staatswalt diffamiert, ihn bloßgestellt. Zwar nicht auf Adams Anweisung hin, dennoch… 

Verwirrt schwieg Adam, doch dann schüttelte er den Kopf. „Ich möchte wirklich reden, Leo“, sagte er schließlich. „Über…vorher. Über…alles. Über…uns.“

Uns…?

Monate des krampfhaften Vergessens lagen hinter Leo. Des Kämpfens um seine eigene Seele und um seine geistige Gesundheit. Monate der Akzeptanz einer scheinbar unumstößlichen Tatsache, dass er verloren hatte, was so zart gekeimt war. Es war besser geworden, aber für jeden Sieg, den er davongetragen hatte, hatte er doch immer auch noch Leere in sich gespürt, denn da war ein Stück aus seiner Seele herausgerissen worden. Das klaffte nun auf und Leo wusste nicht, wie er mit dem Uns, das es nicht mehr gab, umgehen sollte. Ja, er wollte reden, aber er wollte auch nicht wieder verletzt werden. Alleine Adams Anblick tat ihm weh, der Klang seiner Stimme, sein Geruch, weil er all das so sehr vermisste. 

Er senkte den Blick auf den Sand und malte Kreise in die feinen Körner. Adams Finger zuckten in seine Richtung, aber dieses Mal fasste er nicht zu, so blieb der rote Abdruck seiner Finger ein Echo des Gefühls auf Leos Haut. 

„Du bist keine Hure“, sagte Adam in genau diese Gedanken hinein und gegen seinen Willen schossen Leo Tränen in die Augen. Er zuckte zusammen, weil ihm das Wort so viel Schmerzen zufügte. Immer noch. Leo hielt inne, drückte seinen Zeigefinger in den Sand. 

„Nein, bin ich nicht“, erwiderte er dann mit einer Festigkeit in der Stimme, mit der er nicht gerechnet hätte. Wieder und wieder hatte sein Therapeut das mit ihm durchgekaut, ihm dargelegt, dass er nicht minderwertig war. Er hatte ihn aufgebaut und Leo hatte hart an sich gearbeitet, um genau das nicht zu glauben. Wie hart, das erkannte er erst jetzt.

„Ich hätte das niemals sagen sollen.“

Leo vermochte kaum, Adam in die Augen zu sehen. „Aber du hast es, weil du geglaubt hast, dass ich nur deswegen mit dir geschlafen habe. Deine Anwältin hat es vor Gericht wiederholt, weil du es ihr gesagt hast. Sie hat versucht, mich damit fertig zu machen und mich als unglaubwürdig darzustellen. Damit und mit meinen Bewältigungsstrategien.“

„Das hätte sie niemals tun sollen, Leo. Ich hätte das niemals tun sollen.“

„Aber du hast es. Und du hast mir den Tod gewünscht, weil ich Sex mit dir hatte. Nicht aus dem Grund, den du mir unterstellt hast.“ Der Sand war ein wirklich guter Gesprächspartner, stellte Leo fest. Gut anzusehen. Während er Wahrheiten aussprach, die unter der Oberfläche lauerten.

„Weswegen haben wir dann miteinander geschlafen?“ Es war mehr Aussage als Frage, dennoch schnaubte Leo. Enttäuscht. Wütend. Zumindest solange, bis er hochsah und anstelle des Vorwurfs Trauer und Verzweiflung, aber auch Hoffnung auf Adams Gesicht erkannte.

Brich ihm nicht das Herz, hatte Vincent zu Leo gesagt und in den letzten Monaten hatte Leo diesen Satz wie ein Mantra in seinen Alpträumen vor sich hergetragen. Er hatte Adam das Herz gebrochen und als er es wieder richten wollte, da…

„Du hast mich nie erklären lassen“, murmelte er erstickt.

Adam nickte schweigend. 

„Du hast mir verschwiegen, dass du zur SoKo gehörst.“

Nun war es an Leo stumm zu bejahen. 

„Erklär‘s mir“, forderte Adam leise und Leo nutzte das Glitzern des Wassers als Ablenkung. Nach dem Krankenhaus hatte er sich nichts sehnlicher als das gewünscht und über die Monate hatte sich der Wunsch nicht geändert. Er wollte, dass Adam die volle Wahrheit kannte. Doch was dann kam, das stand in den Sternen. 

„Nachdem ich damals in Berlin war und mit Raczek und Pawlak gesprochen habe, bin ich enttarnt worden. Pia und Esther haben in einer leeren Steckdose die Dokumente gefunden, die ich gegen dich und das Syndikat gesammelt habe, um euch zur Strecke zu bringen. Sie haben mich für die SoKo rekrutiert und ich habe ja gesagt, weil ich dich zu Fall bringen wollte. Du hast mir das Leben zur Hölle gemacht und mich gequält die Monate zuvor. Ich wollte Gerechtigkeit. Ich wollte, dass man dich dafür und für deine sonstigen Straftaten zur Rechenschaft zieht.“

Trotz Adams Forderung nach der Wahrheit, hatte Leo Angst, ihm ins Gesicht zu sehen, also blieb er weiterhin bei seinen Kreisen im Sand, die immer und immer tiefer wurden. Das Plätschern des Wassers am Strand verursachte ihm latentes Unwohlsein, aber es war bekannter und sicherer als das, was sich vermutlich gerade auf Adams Gesicht abspielte. 

„Daraus wurde mit der Zeit die Idee, dich für den Zeugenschutz anzuwerben, damit du gegen deinen Vater aussagst. Aus dieser wurde…ein Gewissenskonflikt, dass ich dich nicht weiter in den Händen deines Vaters lassen wollte, weil ich gesehen habe, wie sehr er dir wehtut. 

Mit der Zeit wollte dich auch nicht mehr im Gefängnis sehen. Ja, am Anfang habe ich mich auf die Treffen mit dir eingelassen, damit du keinen Verdacht schöpfst und damit ich an Informationen komme und dich auf die Seite der SoKo ziehen kann, aber schlussendlich habe ich mich aus vollkommen egoistischen Gründen dazu entschlossen, mit dir zu schlafen. Ohne, dass die SoKo das wusste. Weil ich es wollte. Weil du mir gut getan hast und ich dich attraktiv fand.“

Leo verstummte, weil es so wehtat, was ihm noch auf der Zunge lag, was seit Monaten hinaus wollte. 

„Der eine Morgen…der letzte Morgen…an dem du mich umarmt hast…in der Nacht zuvor ist mir klar geworden, was ich fühle, aber ich war nicht in der Lage, es dir zu sagen. Ich wusste nicht mehr, was richtig und falsch war, ich wusste aber, dass ich eine Entscheidung treffen muss, die weitreichende Konsequenzen hat und deswegen habe ich geschwiegen. Deine Worte nicht erwidert. Und als du dann verschwunden warst und ich dich und sonst niemanden erreicht hatte…ich hatte Todesangst um dich. Als ich dich dann bei deinem Vater gefunden habe… ich habe gedacht, du wärst tot. Ich habe gedacht, dass er dich umgebracht hat, ohne, dass ich dir sagen konnte, was ich für dich empfinde“, presste Leo hervor und keine Qual in seinem Leben tat ihm so sehr weh wie diese Worte. 

„Und was hast du für mich empfunden?“, fragte Adam und Leo sonnte sich in der leisen Weichheit seiner Stimme. Sie wärmte ihn mehr, als es die wirkliche Sonne tat, dennoch hatte er auch jetzt noch Angst vor seiner ehrlichen Antwort. 

Sein Puls rauschte in seinen Ohren und schwindelig war ihm auch. Schwindelig und schlecht

„Ich habe dich geliebt“, flüsterte Leo und sah auf das Wasser. Er hätte auch in den Himmel gestarrt um Adam nicht ansehen zu müssen. Nicht nach diesen wuchtigen Worten voller emotionaler, roher Gewalt. 

Für eine lange Zeit herrschte Stille zwischen ihnen.

„Würdest du es denn wieder tun?“, fragte Adam und langsam sah Leo zurück.

„Was?“ Adam nochmal anlügen? Noch einmal Teil einer SoKo sein? 

„Mich lieben. Würdest du mich noch einmal lieben?“

Die Stille kehrte zurück, als wäre sie ein lauerndes Raubtier, das sie umkreiste. Leos dahinrauschendes Blut pumpte ein dumpfes Echo in seine Ohren. Sein Kopf drohte zu zerbersten und er fand es mit jeder Sekunde zunehmend schwerer, Adams für die Frage viel zu neutrales Gesicht zu betrachten. 

„Ich habe nie aufgehört“, entfloh es seinen Lippen, noch bevor Leo den klaren Gedanken dazu gefasst hatte und entsetzt hielt er inne. Adam schien ebenso entsetzt, zumindest fror er in der Bewegung ein, mit der er sich gerade im Sand abstützen wollte. 

Mit jeder Sekunde mehr, die verstrich, hatte Leo das Gefühl, damit genauso etwas kaputt gemacht zu haben wie mit seiner Nichtreaktion und es war reine Verzweiflung, die seinen Magen eisig zusammenzog. Doch Adam machte sich nicht über ihn lustig oder verspottete ihn für seine Worte, sondern maß ihn ruhig, bevor er seinem Beispiel folgte und sah auf die ruhige, nur von manchen auftauchenden Fischen durchbrochene Wasseroberfläche sah. 

„Schon als du damals das erste Mal in Vincents Ermittlungen aufgetaucht bist – damals nur per Bild – hatte ich Interesse an dir. Wie Vincent es dir ja sicherlich mal gesagt hat.“ 

Adam schnaubte. „Du warst quasi von Minute eins auf meinem Radar. Ich wollte dich besitzen, mit allem, was dich ausmacht, ich wollte alles von dir wissen, ich wollte dich so haben, wie ich dich sehen wollte. Was sich daran angeschlossen hat, weißt du ja und…als Vincent mir zu verstehen gegeben hat, wie du tickst und wie ich mit dir umgehen muss, damit du mir nicht eingehst wie eine bewaffnete Primel, da habe ich erkannt, dass es falsch war, was ich getan habe. 

Ich habe ich eine andere Seite von dir kennengelernt. Weniger die des erpressten Bullen, sondern…Leo. Der Mensch Leo, der keine Angst hat, der Widerworte gibt. Der voller Leidenschaft ist und schlussendlich auch voller körperlicher Lust. 

Das, was ich zu Beginn gefühlt habe…das hat sich verstärkt. Jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben. Vincent würde es Obsession nennen und vermutlich ist es das auch. Ich durfte als Kind nie Freunde haben und weiß nicht, wann man aufhören muss, jemanden an sich zu ziehen, dessen Nähe man will. Aber du…du warst du, zuerst habe ich dir meine Gegenwart aufgezwungen, dann warst du in meinem Leben und hast schlussendlich auch meine Anwesenheit gefordert und so ist aus Lust und Obsession etwas geworden, das ich davor nur für Elias gefühlt habe. Vielleicht sogar etwas, das stärker als meine Gefühle für Elias war.“

Adams ohnehin schon raue Stimme brach bei seinen Worten und Leo wusste, dass er Zeuge von Adams seltenem Eingeständnis an seinen Schmerz war. 

„Ich wusste, dass es vor die Hunde gehen würde, aber ich habe mir die illusorische Hoffnung gemacht, dass alles gut werden würde – irgendwie. Dass sich der Status Quo zwischen uns nie ändern würde, unterbrochen von gelegentlichen Prügeln durch die Dreckssau. Doch dann kam diese Nacht und irgendwie schien sich alles zurecht zu rücken in mir. Ich habe mich ganz gefühlt, ich habe mich angekommen und weniger kaputt gefühlt als die Jahrzehnte zuvor. Am nächsten Morgen wurde ich eines Besseren belehrt und als Vincent mir gesagt hat, dass du Teil der SoKo bist, da…“

Ein dunkler Schatten huschte über Adams Gesicht und anscheinend musste er mit sich kämpfen, dass er das Kommende auch wirklich sagte. 

„…da bin ich zur Dreckssau gefahren und habe den Alten solange beleidigt, bis er mich totschlägt. Ich wollte das. Ich wollte nicht mehr in einer Welt leben, in der ich nicht geliebt werde. In der ich verraten werde. In der meine Existenz nur ein Mittel zum Zweck ist und ich nicht meinetwillen gemocht werde.“

Leo öffnete den Mund um zu widersprechen oder zumindest, um seinem Entsetzen eine Stimme zu geben, das ihn bei Adams Worten befallen hatte. Adam wurde geliebt, von Vincent, seiner Mutter und ja, auch von Leo. 

„Es kam, wie es kommen musste und du warst wirklich der Superman, für den ich dich gehalten habe. Du hast nicht locker gelassen und mich gerettet. Ich dachte sehr lange, dass es nur für die SoKo gewesen wäre und für das Ziel, das Syndikat zu vernichten und dass ich dir scheiß egal gewesen bin…dass du dich mit Berechnung von mir hast vögeln lassen. Ich war so wütend im Krankenhaus, als ich dich gesehen habe und ich wollte dich dafür bestrafen, dass du mich im wortwörtlichen und übertragenen Sinn gefickt hast. Ich wollte dir wehtun, so wie du mir vermeintlich wehgetan hast.“

Adam holte tief Luft. „Rahel ist mit mir alles durchgegangen, was passiert ist, weil sie nach einem Schlupfloch gesucht hat, mich aus dem Gefängnis zu halten. Ich habe ihr alles gesagt, weil ich mich nicht damit befassen wollte, weil alles so weh getan hat in mir und meinem Körper. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei ist, aber nicht zum Preis, dass du entblößt wirst. Als ich dich dann im Gerichtssaal gesehen habe…als ich mitbekommen habe, was Rahel dir antut und wie sehr du darunter leidest…da bin ich aufgewacht. Und habe erkannt, dass du dich nicht für die SoKo prostituiert hast.“

Mehrfach schluckte Adam. „Ich habe mich gescheut, dich danach zu fragen. Ich wollte nicht, bis ich mit Bastian in Krankenhaus musste und da deine Schwester getroffen habe, die mir den Kopf gewaschen hat.“

Bedeutungsschwanger und selbstironisch hob Adam seine linke Augenbraue und Leo spiegelte die Bewegung. 

„Was?“ Davon hatte Caro nie etwas erzählt. Wieso verheimlichte sie so etwas vor ihm? Warum sagte sie nicht, dass sie mit Adam gesprochen hatte? So wie du die wahre Natur deiner vermeintlichen Beziehung mit Adam vor deinen Eltern verheimlicht hast, fragte eine gehässige Stimme in Leo und er seufzte stumm. 

„Mein Leben ohne dich ist nicht ganz“, sagte Adam mit einer so brutalen Ehrlichkeit, dass es Leo keine Sekunde später die Luft zum Atmen nahm und ihm flau wurde von der Intensität seiner überschwemmenden Gefühle. „Ich will aber… dass es ganz ist. Dass es schön ist. Ich will endlich…auch so ein Leben.“

Adams ungelenke Worte, seine Forderung nach Glück stach in Leos Herz und ließ ihn sich an all die Momente erinnern, in denen Leo begriffen hatte, wie wenig Roland Schürk seinem Sohn ein glückliches Leben gegönnt hatte und wie wenig normal Adams Leben gewesen war. Doch der Mann, der so viel erlitten hatte, lebte noch und wollte immer noch Glück für sich. Alleine, dass Adam sich eingestand, es führen zu wollen, war heilsam und wunderschön. Aber nicht nur das.

„Was bedeutet das für mich?“ Uns wäre das richtige Wort, aber das traute Leo sich nicht. 

„Das bedeutet, dass es mir leid tut, dass ich dich verletzt habe und dass ich dich eine Hure genannt und dir den Tod gewünscht habe. Dass ich zugelassen habe, dass Rahel dir wehtut vor Gericht. Es bedeutet, dass ich begriffen habe, dass ich richtig gelegen habe, dir zu vertrauen, mich dir anzuvertrauen. Das bedeutet, dass du der Mann bist, von dem ich gehofft habe, dass er in mein Leben kommen würde. Für öfter und länger.“ 

Adam lächelte schief und beugte sich langsam nach vorne. Anstelle weiterer Worte malte er ein krummes, halbes Fragezeichen um den Kreis, den Leo mittlerweile in den Sand gegraben hatte.

Dass es kein halbes, auf ihn ausgerichtetes Fragezeichen war, erkannte Leo eine Sekunde später und er starrte mit flatterndem Puls und trockenem Hals auf das halbe Herz, das anscheinend darauf wartete, vervollständigt zu werden. 

Es lag an ihm, zuzustimmen und aus der einseitigen Willenserklärung eine beidseitige zu machen. Einen Schritt nach vorne zu tun und sich in etwas zu stürzen, dessen Ende nicht vorhersehbar und dessen reine Existenz ein Wagnis war. 

Seine Finger zuckten. Leo ballte sie zu Fäusten und wieder stand er vor seiner Kaffeemaschine. Wieder war es Morgen und Adam sagte Wahrheiten, die Leo in Aufruhr brachten wie noch nie zuvor in seinem Leben. Wieder war ein Scheidepunkt seines Lebens da und wieder musste er entscheiden, was er tun würde. 

Langsam legte er den Zeigefinger an das Ende der oberen Rundung. 

Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, war die reine, unumstößliche Wahrheit. Geäußert, in der Welt, akzeptiert, antizipiert. 

Erwidert. 

Langsam, zögerlich, aber mit Hoffnung in sich vervollständigte Leo das Herz und machte aus einer Hälfte ein Ganzes. Er nahm seine Augen nicht von dem Herz, dessen Spitze auf ihn deutete und hoffte, dass es kein fürchterlicher Plan von Adam war, ihn in den Abgrund zu stoßen. Die Angst war geringer als vorher, aber ganz war sie nicht verschwunden. Trotzdem wagte er es, hochzusehen von dem Herz.

Ein Herz mit einem Strudel innendrin und war es nicht genau das, was er fühlte? Aufruhr. Aufregung. 

Liebe. 


~~**~~


Adam wurde in seinem Leben schon auf viele Arten und Weisen gebrochen. Von der Dreckssau am Allermeisten, aber auch von Menschen, die mit ihrer Liebe durch seine Welt aus Dominanz, Gewalt und Brutalität gedrungen waren. 

Elias hatte Adam mit seiner Sanftheit gesprengt, hatte die Schale aufgeknackt, die ihn umgab. Er hatte ihm eine Perspektive auf eine neue, eine schöne Zukunft gegeben. 

Vincent hatte ihm gezeigt, dass Loyalität und Treue ein ebenso potenter Sprengsatz waren wie Liebe auch – gefährlich in Anwesenheit der Dreckssau. Aber Vincent hatte all die kleinen Festungen in Adam, die sein Vater errichtet hatte, in Schutt und Asche gelegt und war Adam ein Wegweiser gewesen, ein Navigator durch eine Welt, die anders tickte als er. 

Und dann war Leo gewesen. Leo, der all die kleinen, verteilten, versprengten Teilchen in Adam mit einem gewaltigen Erdbeben zusammengefügt hatte. Die tektonischen Platten hatten sich in die richtige Position geschoben, bevor sein gesamtes Sein in einer gewaltigen Eruption im Feuer des vermeintlichen Verrats untergegangen war. 

Die Hülle, die übrig geblieben war, lebte zwar, aber das, was sie ausfüllte, war nicht vollständig gewesen. 

Bis jetzt. 

Adam starrte auf das vervollständigte Herz im Sand und das krumme und schiefe Ding, das aus zwei Fragezeichen und einem tiefen Krater bestand, war Ursprung einer Hoffnung, die jede einzelne Zelle in Adams Körper mit Glück füllte. Er fühlte sich rastlos, ruhelos, er fühlte sich ekstatisch in einer Art und Weise, die nichts mit Lust zu tun hatte. 

Zufall oder Schicksal…was auch immer es war, das sie beide hier zusammengebracht hatte, es hatte dazu geführt, dass sie miteinander sprachen. Und was als schmerzhaftes Entree begann und einem Knie, das Adam die Hölle auf Erden bereitetet, endete überraschenderweise auf der Decke, die Adam sich mitgebracht hatte, damit er hier bequem liegen konnte. 

Adam hatte fest damit gerechnet, dass Leo berechtigter Weise vor ihm fliehen oder ihn von sich stoßen würde. Aber nein, er war ihm gefolgt und Adam hatte tatsächlich so etwas wie vernünftige Worte ohne Vincents Anwesenheit und Rat herausgebracht. 

So vernünftig, dass Leo nun seine Hand nicht wegzog, als Adam vorsichtig seine Finger auf Leos legte. Ein Herz war ein Herz, aber was folgte dem? Würde sich Leo zurückziehen? 

Nichts davon passierte. Ein Schaudern durchfuhr seinen Superman und seine Finger zuckten. Er öffnete die Lippen, als würde ihm ein Seufzen entfahren und zitterte erneut unter der Wucht der Erinnerungen. Der letzten Monate. Seine Augen wurden feucht und Adam konnte den Drang, der Trauer in sich eine Stimme zu leihen, gut nachvollziehen. 

„Ich hab dich vermisst“, murmelte er und Leo bewegte sich. Erst zögernd, dann so instinktiv und sicher, als hätte es all das zwischen ihnen nie gegeben. Er presste Adam an sich, umschlang ihn so eng, als würde er ihn ganz in sich aufnehmen wollen, als wären sie eins. Adam holte tief Luft und kam nicht weit, weil seine Kehle so eng wurde. Er schluchzte leise und barg sein Gesicht in Leos Haaren, seinem Geruch, seiner Nähe. Seinem Sein. 

Adam ließ sich fallen in sein Gefühl des Wir.

Und in die Liebe, die er warm und wohlig in sich brodeln und blubbern spürte.

 


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Wird fortgesetzt. 


  

Notes:

So *in die Hände klatscht* Da sind wir nun am Ende des Prologs der Anatomie. Ist ein bisschen länger geworden, als gedacht, aber ab jetzt kommen wir zu eigentlichen Hauptgeschichte!

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Spaß. 😁 Gruß geht raus an alle, die gerade mit Horror die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben. 😋

Ein paar Teile sind es noch, denn die Beiden haben mit Sicherheit ein Happy End verdient, das ihrer würdig ist.

Chapter 63: Cabane des Tourtereaux

Notes:

Guten Tag zusammen! 🤗

Hier nun der neue Teil zur Anatomie, ganz im Geiste des Wiederkennenlernens und der alltäglichen Herausforderungen für Leo und Adam. Für den Teil gibt es keine Triggerwarnungen, ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Und vielen vielen lieben Dank euch für all eure Kommentare, Sprachnachrichten, Kudos, Klicks und Fragen auf Tumblr. Ich freue mich sehr über euer Interesse an meiner Geschichte. ♥️

Ach ja...herzlich willkommen im 400k-Bereich. 😁

Chapter Text

 

Die Unsicherheit nach der Versicherung. Vorsichtiger Boden, auf dem sie beide sich bewegten, nebeneinander, miteinander, noch nicht wieder einander vollkommen zugewandt. Auf neutralem Terrain, damit nicht wieder etwas schief laufen konnte. 

Wie ein Gang auf Eierschalen kam Leo ihre Rückkehr zum Parkplatz vor. Immer wieder berührten sich ihre Unterarme, immer wieder stolperten sie gegeneinander. Es war eine Rückkehr von einem Ort der unwirklichen Wahrheit, der nun in die Realität überführt werden musste. Geradezu schüchtern fragte Leo sich, wie er das anstellen sollte. Wie sie das erreichen konnten, denn Adam war genauso schweigsam und themenungelenk wie er auch. 

Er räusperte sich, konzentrierte sich auf das Wesentliche. Vielleicht war das das Einfachste nach den Gesprächen am See.

„Wie bist du…?“, fragte er mit einer den Parkplatz umspannenden Bewegung, die nur seinen Wagen inkludierte. Adams SUV war nirgendwo zu sehen. 

„Zarah hat mich abgesetzt…und holt mich auch wieder ab. Sie ist so etwas wie meine Gefängniswärterin“, scherzte Adam ironisch an der Grenze zum Zynismus und ein ungutes Gefühl beschlich Leo. 

„Wie meinst du das?“, hakte er nach... immer noch mit einem Fuß auf der sicheren Landseite, um sich wieder zurück zu ziehen, falls seine Fragen zu persönlich waren. Der Adam, den er im Lauf des letzten Jahres kennengelernt hatte, hatte sich gewandelt, war neu erstanden aus dem, was passiert war. Leo war nicht Teil dessen gewesen und so fühlte es sich wie ein Eindringen an, das sanktioniert werden konnte. So wie im Krankenhaus.

„Sie passen auf. Auf mich. Damit ich nichts Dummes anstelle“, murmelte Adam und schaffte es nicht, Leo dabei in die Augen zu sehen. Adams Ton alarmierte Leos Instinkte, denn er bedeutete, dass sie es nicht einfach so taten. Sie taten es, weil es nötig war. 

„Was Dummes?“, echote er sorgsam neutral. 

„War nicht ganz so gut die letzte Zeit und ich hab ein paar Dinger gerissen. Deswegen haben sie mich unter Beobachtung, sanft natürlich, sodass ich‘s nicht merke.“ Adam rollte mit den Augen und zuckte selbstironisch mit den Schultern. „Aber ich bin ja nicht blöd. Es ist immer jemand in der Nähe und ich wette mit dir, dass sie mein Handy auch mit einem Peilsender versehen haben, damit sie wissen, wo ich bin.“

Ein schiefes Lächeln begleitete Adams Worte und etwas in Leos Herz verdrehte und quetschte sich bei dem Anblick. Es stand noch so viel Ungesagtes, so viel Nichtwissen zwischen ihnen. So viel, was sie aufholen mussten. Seine Hand zuckte, doch das Anbieten von Nähe, von Unterstützung, war immer noch mit der Angst unterlegt, abgewiesen zu werden – so unwahrscheinlich sie auch sein mochte. 

„Was ist passiert?“, hakte er anstelle dessen nach und Adam schob die Hände in die Taschen seiner Hose. Sein Hemd bauschte sich auf und der Windzug brachte Adams Geruch nach Sonnencreme und Spätsommer mit sich. 

„Wenn man Vincent fragt, war ich wohl ein apathischer Adam-Zombie.“ Wieder diese nonchalante, fast wegwerfende Beschönigung von Adams Zustand, der auf etwas Gegenteiliges hindeutete. Sorge war etwas Neues. Früher wollte er nicht, hatte Sorge mit Wut und Missbilligung übertönt. Dann hatte es die Abwesenheit von Sorge gegeben, weil Lust im Vordergrund gestanden hatte. 

Nun, mit dem Eingeständnis der Liebe, war Sorge ein noch viel größeres Fallbeil. Es machte verwundbar und unsicher.

„Warst du oder bist du?“

Adam hob die Augenbrauen und schnaubte amüsiert. „Es ist keine Nekromantie, wenn das Gegenüber noch atmet?“

Wie sehr hatte Leo doch vermisst, dass der Mann vor ihm ihn durch seltsame Kommentare aus dem Tritt brachte. Er atmete tief durch und gemeinsam umschifften sie das Thema, was passiert war. Zunächst, denn irgendwann würden sie darüber sprechen müssen. 

Wenigstens gab es ein Irgendwann. Jetzt wieder.

Mit Flattern im Bauch und Herz fischte Leo seinen Schlüssel aus seiner Tasche. „Ich kann dich auch fahren“, bot er an, im gleichen Moment, in dem ein Wagen auf den Parkplatz fuhr, den er unschwer als einen SUV aus Adams Fuhrpark identifizierte. Die Frau am Steuer, die die Situation beinahe in der Sekunde analysierte, in der sie seiner ansichtig wurde, kannte Leo auch. 

Wie auch nicht?

Zarah, so hieß sie. Zarah ohne Nachnamen. Eine stille, zurückhaltende Frau, die doch immer dagewesen war, wenn es um grobe Sachen gegangen war. Seine Befreiung. Detlef. Eine Leibwächterin mit zweifelhaften, sonstigen Fähigkeiten, tippte Leo. Das LKA hatte nichts gegen sie finden können. Sie war lediglich eine Angestellte im Schürk-Konsortium. 

Als sie ausstieg, erkannte Leo instinktiv, dass sie eine Bedrohung in ihm sah. Ihre drahtige Statur war nur so von Muskeln geprägt und Leo wusste, dass sie ihm einen harten Kampf liefern würde, falls sie es darauf anlegte. Gerade jetzt musterte sie ihn viel zu neutral, schätzte die Situation ab und schützte ihren Auftraggeber. Vor ihm. Leo hatte keine Angst vor ihr, dennoch schmerzte ihn das, was er zwischen ihnen spürte und es warf ihn ungut zu der Zeit zurück, in der er vor Adams Krankenbett gestanden und um Verständnis gefleht hatte. 

Er trat einen Schritt zurück und nur Adams Hand auf seiner hielt ihn davon ab, noch weiter aus ihrem Umkreis zu flüchten. Zarah sah die Geste und nachdenklich runzelte sie die Stirn, musterte erst ihn, dann Adam mit einer Art, die Leo an ein Raubtier erinnerte. 

„Ist in Ordnung“, beantwortete dieser ihre stumme Frage und Zarah entspannte sich fließend, als wäre nichts gewesen. Adam wandte sich ihm zu und Leo verharrte stumm. Die Blätter rauschten um sie herum und der Wind wirbelte Adams Haare herum, als wären sie nicht gegelt. 

„Sehen wir uns wieder?“, fragte dieser just in dem Moment, in dem Leos Finger zuckten, und da schimmerte helle Hoffnung auf dem schmaler gewordenen Gesicht. Das Blau seiner Augen stach durch die Sonne besonders hervor und in Leo blubberte es aufgeregt. 

„Ja“, stimmte er nur zu bereitwillig zu und das kurze Wort brachte ein breites Lächeln auf das Gesicht des Mannes vor ihm, das aber anscheinend durch einen aufkommenden Gedanken wieder gedämpft wurde. 

„Hast du meine Nummer noch?“

Leo räusperte sich. „Ich habe sie nie gelöscht.“

„Messie.“

Überrascht schnaubte Leo und rollte mit den Augen. Ich kann sie auch löschen, lag ihm auf der Zunge und zu jedem Zeitpunkt vor der Katastrophe hätte er es auch gesagt. Nun aber zuckte er nur vielsagend mit den Schultern und labte sich an Adams Aufmerksamkeit. Vorsichtiges Glück umschmeichelte sein Herz und reparierte Stellen, die zum ersten Mal aufhörten, wehzutun und zu schmerzen. Seit Monaten, aber auch seit Jahren. 

„Ich melde mich“, sagte Leo unverbindlich, auch wenn er sich nicht unverbindlich fühlte. Sich zu melden, wusste er, war eine schwierige Hürde, die er nehmen musste. Aktiv darauf zu vertrauen, dass er Mann, der sein Herz so sehr ansprach, es wirklich ernst meinte, auch. 

„Versprich es!“, forderte Adam rotzig und trotz der Tonlage war es Balsam für Leos verdammter Unsicherheit. 

„Versprochen.“

„Bei Herberts Ehre?“

„Ein Hund hat keine Ehre.“

„Das weißt du nicht.“

„Du auch nicht.“

„Ich muss es auch nicht wissen, damit es so ist“, kam der alte Adam durch, derjenige, der die Welt mit anderen Augen sah als die Menschen, die Leo kannte. Der sich nahm, was er wollte, weil er nie gelernt hatte, dass ein Schürk zurück zu stecken hatte. 

Aber auch der, der Leo zuliebe gelernt hatte, zurück zu stecken. 

„Bis bald“, wechselte Leo abrupt das Thema und kam näher. Unbewusst erst, dann sehr bewusst einen zweiten Schritt. Sie waren sich am See sehr nah gewesen, doch jetzt…jetzt bedeutete jeder Zentimeter weiter ein lohnenswerter Kampf. 

„Bis bald“, echote Adam und war so nahe, dass sein Atem Leos Wange streifte. Er fixierte sich auf die schmalen Lippen und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie sich jetzt küssten. Wenn sie niemals voneinander ließen. Adam erwiderte den Blick und die Zeit fror für sie beide ein. 

Sie wollten es beide. Und sie beide versagten es sich nun mit mehr oder minder eiserner Disziplin. Adam ging, aber nicht ohne sich umzusehen. Leo blieb noch, aber nicht ohne an das Prickeln auf seiner Haut zu denken, dort, wo Adam ihn berührt hatte. 

Bald. 

Ein Versprechen, eine Verheißung, aber auch eine süße Folter. 


~~**~~


Misstrauisch beobachtete Vincent, wie Adam sich viel zu glücklich und viel zu entspannt für die letzten Tage und Wochen ein gutes Glas Rotwein einschenkte. Genau genommen die halbe Flasche, die mit anmutiger Oberflächenspannung das Glas ausfüllte. Es war, als hätte der Nachmittag in der freien Natur einen Schalter umgelegt und als wäre der Adam, der die letzten Monate nur eine Hülle seiner selbst gewesen war, für den alten Adam in den Hintergrund getreten. 

Als wäre alles wieder beim Alten, von jetzt auf gleich. Oder als stünde ein Wechselbalg vor ihnen.

Donner grollte durch die geöffnete Balkontür und das Geräusch des auf die Erde prasselnden Regengusses übertönte fast Bastians verwirrten Fragelaut. Vincent atmete tief durch, auch um sich zu erden und seinem aus dem Ruder laufenden Bauchgefühl etwas entgegenzusetzen. Regenschwerer Petrichor drang in seine Nase und er schauderte, als das Gewitter auch Wind und damit feinen Sprühnebel mitbrachte. 

„Ich koche heute für euch alle“, grinste Adam in die Runde und hob zum Salut sein Glas, das beeindruckenderweise nicht überschwappte. Sämtliche von Vincents Alarmglocken läuteten nun so laut wie die Glocken in Notre-Dame vor vier Jahren. Natürlich sprach nichts dagegen, dass es Adam gut ging, es war sogar sehr wünschenswert, aber so plötzlich? Nach einer Wanderung durch die Vogesen? Sie hatten Adam kaum dazu bekommen können, etwas von sich aus zu essen und nun? 

Ratlos sah Vincent zu Bastian, der ebenso ratlos mit den Schultern zuckte. Zarah ignorierte ihn und stand scheinbar ungerührt neben der ausladenden Kücheninsel. Sie nippte an ihrem Tee, während ihre Mimik keinerlei Aufschluss darüber gab, was sie wusste – und was nicht. 

„Gibt es dazu einen bestimmten Anlass?“, fragte Vincent entsprechend misstrauisch und sein bester Freund und Auftraggeber schüttelte den Kopf. 

„Nein, einfach so.“

Und ob da was faul war. Aber so richtig. Mit Sicherheit war etwas passiert und die Frage war, was. Gemessen an der Art der Abbitte, schwante Vincent Übles.  

„Einfach so?“, hakte Vincent nach und er kalkulierte bereits, was Adam angestellt haben könnte. Welche Schadensbegrenzung er betreiben müsste und wie viel von dem schrumpfenden Geld, was sie noch hatten, es kosten würde. 

„Einfach so!“

Überschwänglich humpelte Adam zum Kühlschrank und riss die massive Tür auf. Wieder war Bastian ebenso ratlos wie er und erneut enthielt sich Zarah jedwedem Kommentar. 

„Curry?“

„Wie wäre es mit der Wahrheit?“, entfuhr es Vincent wider besseren Wissens und für den Bruchteil eines Moments hielt Adam damit inne, sämtliche Gemüsesorten, die Bastian gekauft hatte, aus dem Kühlschrank zu holen. Für einen einzigen Augenblick gestand seine Körpersprache ein, dass etwas faul war, dann aber drehte Adam sich um und das glückliche Lächeln, das Strahlen, welches von innen heraus kam und Vincent das Herz zerriss, weil es so schön war, übertönte jeden Verdacht. 

Zunächst. 

Dann war es Jolante, die wie die Königin ihres kleinen Reiches in die Küche stolzierte, sich umblickte und feststellte, dass es nichts Interessantes gab, die ihre Aufmerksamkeit forderte. Sie schnupperte und kam zu Adam. Eingedenk ihres Alters machte sie auf der Anrichte einen Zwischenstopp, bevor sie es sich wie ein riesiger Pelz auf Adams Schultern bequem machte und sie alle abmeldete, weil Adam zu sehr mit ihr und kochen beschäftigt war. 

Und natürlich keine weiteren Antworten gab. 


~~**~~


Fragend sah Vincent von seinem Buch hoch, als sich die angelehnte Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete und sich erst ein blonder Schopf und dann der dazugehörige Mann zum Schopf durchschob und sich wie ein Dieb auf sein Bett stahl. Ohne Kommentar oder Erklärung grub Adam sich unter die Bettdecke. Er legte sich flach hin und sah erwartungsvoll zu ihm hoch, die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Kommentarlos zog er die Beine an und wenn Vincent sich nicht täuschte, suchte bereits der Zeigefinger Kontakt zu seinem Oberschenkel.

Er klappte das mittelspannende Buch zu, legte es beiseite und streckte seine eigenen Beine aus.  Ein bisschen hielt Vincent seine Musterung noch etwas weiter aufrecht, in der Hoffnung, dass er etwas Licht ins Dunkel namens Adam Schürk bringen konnte, der sich mit Sicherheit nicht normal verhielt. Immer noch nicht.  

„Duu?“, fragte besagter Stein der Sorgeanstoßes und Vincent brummte. Adam tippte an die Seite seines Oberschenkels und machte ihn fast wahnsinnig mit dem durchbrochenen Rhythmus. 

„Ja?“

„Vertraust du mir?“

Was für eine Frage. Eine berechtigte, wenn Vincent genauer darüber nachdachte. In der Vergangenheit, insbesondere seitdem Adam Leo kennengelernt hatte, war dieser für seine Alleingänge berüchtigt gewesen. Für Situationen, die Vincents Leben um knapp fünf Jahre verkürzt hatten. Er vertraute Adam, dass sie sich liebten, wie sich Freunde liebten. Adam würde ihm nie etwas Böses wollen, das bedeutete aber nicht, dass er dabei auch wirklich begriff, was sein Verhalten in anderen auslöste. 

„Schon“, erwiderte Vincent entsprechend gedehnt und das positive Strahlen auf Adams Gesicht tat ihm beinahe körperlich weh. Wie ein Dieb stahl sich Adams Hand unter der Decke hervor zu seinen Haaren und spielte mit den Locken. Es verschaffte Adam Ruhe, also ließ Vincent ihn. Besser als das rhythmische Klopfen an seinem Oberschenkel war es alle Male.

„Und wenn ich gerade über etwas nicht sprechen möchte, dann weißt du, dass es nichts Schlimmes ist, oder?“

Vincent hob vielsagend beide Augenbrauen und legte den Kopf schief. Wusste er das? Gemessen an Adams gut gemeinten Taten in der Vergangenheit bezweifelte er das. 

„Es ist nichts, was dein, mein oder das Leben der Anderen gefährdet. Und ich mache auch nichts Dummes. Aber ich will noch nicht darüber sprechen und brauche deswegen noch etwas Zeit.“

Es war ein Fortschritt, hielt Vincent sich vor Augen, dass Adam mit ihm darüber sprach und ihn, so weit es ihm möglich war, ins Vertrauen zog. Ein kleiner Schritt nach vorne, aber es war einer. 

„Wirst du es mir sagen?“

„Schließlich schon.“

„Macht es dich jetzt schon glücklich?“

„Ein bisschen, ja.“

Vincent haschte nach Adams Hand. Sacht hielt er ihn in seiner Hand und beugte sich zu Adam herunter. Er platzierte einen Kuss auf Adams Scheitel, was diesem ein glückliches Seufzen entlockte. Jetzt wieder. Kurz dachte Vincent an die Zeit zurück, in der er Sorge gehabt hatte, Adam länger als ein paar Minuten alleine zu lassen. Duschen, aufs Klo, einkaufen…all das war mit der Sorge unterlegt gewesen, dass Adam sich etwas antat, weil das, was sein Vater und Leo mit ihm gemacht hatten, ihn gebrochen hatten.   

Doch Adam war wieder hochgekommen, er kämpfte gegen sich und seine Ängste, gegen die Alpträume und gegen das Trauma, das in ihm schwelte. Er kämpfte für eine gute Zukunft und Vincent tat es ihm gleich – gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte er noch ein Leben in Freiheit, einen Mann, der ihn liebte, einen zweiten Mann, der ihm alles in der Welt bedeutete.

„Ich bin gespannt.“

Was er mit Sicherheit auch sein durfte. Aber so war sein Leben mit Adam. 


~~**~~


„Dir ist klar, dass in Saarbrücken ein Dienstposten ausgeschrieben ist, oder?“

Zugegeben, das war nicht ganz die Begrüßung, die Leo von Nina erwartet hatte. Kritisch runzelte er die Stirn, was als Antwort über das Telefongespräch eindeutig nicht genug war um Nina mitzuteilen, dass er nicht wusste, was sie ihm damit sagen wollte. 

Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Saarbrücker Behörden waren im Zuge des Schürk-Skandals, wie es mittlerweile im Sprachgebrauch hieß, von ihren Dienstposten gelöst und entweder suspendiert oder gleich aus dem Dienst entlassen worden. Ein beispielloser Skandal der Unterwanderung, der ihr ganzes, dienstliches Gefüge auf den Kopf gestellt hatte. Die anderen Polizeidienststellen hatten bereits Hilfe angeboten und umgesetzt. Versetzungen ohne Ersatzgestellungen brachten neue Ermittlerinnen und Ermittler nach Saarbrücken, die mit dem Schürk-Syndikat nichts zu tun hatten. Jede Person wurde mit Hilfe des Verfassungsschutzes genauestens durchleuchtet, die Dienstaufsicht ging mittlerweile ein uns aus. Auch Leo hatte noch regelmäßige Gespräche. 

„Dir auch einen guten Start in die Woche, Nina.“ Montagmorgen und schon so ein Überfall.  

„Ebenso. Also, ich muss weg aus Berlin, Leo. Ich bewerbe mich darauf, klar?“

Leo blinzelte. Das kam unerwartet. Nina bei ihm? Etwas Warmes, angenehm Weiches breitete sich in Leos Innerem aus. Nina und er waren früher schon ein gutes Team gewesen. Daran hatte sich nichts geändert. Sie passten aufeinander auf, sie konnten gut miteinander arbeiten. Sie wieder zu sehen und sie um sich zu haben, wäre wundervoll. Aber…

„Nina, das ist Saarbrücken.“ In Selbstsabotage war er schon immer gut gewesen, befand Leo und Ninas Schnauben am anderen Ende der Leitung teilte ihm Selbiges mit. 

„Ja und in Berlin wartet eine kriminelle Großfamilie auf mich, die es auf mich abgesehen hat.“

Entsetzt verschluckte Leo sich an dem Kaffee, den er gerade hatte trinken wollen. „Wie bitte?!“

„Ja, ein schief gelaufener Ermittlungsfall. Ich habe eine Frau aus der Familie gerettet. Jetzt sind sie auf Rache aus. Also ab in die Provinz, da, wo sie mich nicht finden, hinein, in das skandalöse Saarbrücken.“

„Nina! Warum sagst du nichts davon?“

„Das kann ich dich auch fragen. Warum erfahre ich aus der Presse aus der Implosion deiner Dienststelle? Also? Außerdem hast DU mir angeboten, dass ich zu dir komme. Das Angebot nehme ich jetzt an. So.“

Leo räusperte sich verlegen und stützte den Kopf auf seine Hände, eine eher unbequeme Bewegung mit dem zwischen Schulter und Ohr eingeklemmten Telefonhörer. Er hatte sich die Suppe selbst eingebrockt, die er nun auslöffeln musste. „Ich würde mich freuen, nichts lieber als das, ich will nicht, dass du in Gefahr bist…aber…“

„Nichts aber. Ich komme zu dir, da fühle ich mich wenigstens sicher.“

„Nina, können wir erst einmal…“

„Freut mich, dass ich da deine Zustimmung habe.“ Leo hörte Ninas Grinsen durch das Telefon hinweg und er seufzte tief. Er hörte, dass sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihr Leben in Berlin aufzugeben und hierhin zu kommen. Er hörte es ganz klar und deutlich. Aber dass sie fortging aus der Stadt, die die atmete und die in ihrem Blut pulsierte, das war…

Leo hatte Angst, dass er mit seiner Zustimmung den Weg für ihr Unglück bereitete. Saarbrücken war nicht Berlin, es würde Nina zu langweilig werden, sie würde nicht atmen könne, die Menschen hier waren anders als in Berlin. Ihre Familie war nicht hier. Er hatte Angst, dass er sie nicht gut genug schützen konnte, auch wenn Nina jemand war, die sich exzellent selber schützen konnte.

„Du weißt, dass ich jederzeit gerne mit dir zusammenarbeite, aber ich habe Angst, dass du hier unglücklich wirst.“

„Diese Entscheidung überlass mal schön mir, Leo Hölzer. Ein paar Jahre Provinz haben noch niemandem geschadet, also werde ich mal sehen, was der Südwesten Deutschlands zu bieten hat. Außerdem sollen die Franzosen sehr tolle Liebhaber sein.“

Leo stöhnte verzweifelt auf und Esther sah von ihrer Ermittlungsakte hoch, die sie bis gerade eben noch zufrieden nach Hinweisen durchforstet hatte. 

„Ja, so sagt man.“

„Gut, dann hätten wir das geklärt. Ich spreche mit unserer Abteilungsleiterin und melde mich dann bei dir!“

Sprachs und legte auf. Ließ Leo mit dem gleichen Chaos zurück, das Adam in ihm am Wochenende angerichtet hatte. Wieder eine unerwartete Wendung. Ein Mensch, der Leo viel bedeutete. Eine Verbindung, wieder aufgelebt. 

„Leo, alles in Ordnung?“, fragte Pia und Leo wippte unentschieden mit dem Kopf hin und her, eine Geste, die ihn vage an Adam erinnerte. 

„Ich habe euch doch von Nina erzählt, meiner ehemaligen Teamleitung aus Berlin“, begann er und beide nickten. 

„Sie wird sich hierhin bewerben.“

„Sie will anscheinend aus Berlin fort. Ausgerechnet hierhin.“ Leo seufzte. Wenigstens eine Wahrheit, die er aussprechen konnte. Die andere Wahrheit…dafür war er noch nicht bereit. Erst dann, wenn es etwas Festes war. Etwas, das länger hielt. Und auch dann hatte er unterschwellige Angst, dass sie ihm deswegen seinen Dienstposten wegnehmen würden. 

Jede Überlegung in die Richtung schob er nach hinten. Heute Abend würde er Adam schreiben und nach einem Treffen fragen. Heute Abend wirklich. 


~~**~~


Michail Budrys, Wolfgang Müller, Fritz Morschke und Dmitri Wasiljew. 

Von Zeit zu Zeit rief Zarah in Gedanken die Männer auf, die Roland Schürk über Jahre hinweg begleitet hatten…als Schläger, als Mörder, als Instrumente, um seinen Sohn zu quälen. Loyale Männer, die für das Geld, was sie von Schürk Senior bekommen hatten, alles getan hatten. 

Loyale Männer, die dabei geholfen haben, den Polizisten zu foltern und Adam festgehalten hatten, damit sein eigener Vater ihn fast umbringen konnte. Loyale Männer, deren Zeit vorbei war. Budrys und Morschke saßen im Gefängnis, Wasiljew und Müller hatten sich der Festnahme entzogen und waren geflohen. Sie waren untergetaucht, nicht, dass es für Zarah ein Hindernis darstellte, sie aufspüren zu lassen. Eher ein Ansporn.

„Wann sagst du es ihnen?“, fragte sie Adam, der vom Termin mit der Staatsanwaltschaft kam und sich genervt auf den Beifahrersitz fallen ließ, während sie ihn in die Firma fuhr, um die restlichen ungeliebten Arschlochtermine zu absolvieren. Adams Wortwahl, nicht ihre. Sie hatte in ihrer Zeit im Syndikat weitaus Schlimmeres erlebt. 

„Was?“

„Du weißt schon was.“

„Nein, keine Ahnung.“

Natürlich, Adam hatte derart schlechte Laune nach seinem Termin mit Weiersberger, dass er ein Outlet brauchte und das Outlet war gerade sie. Zarah war versucht, Adam eine ausgedehnte Sparringsession vorzuschlagen, hielt aber wohlweislich ihren Mund. Sie würde Adam nur dabei helfen, sich selbst zu verletzen und damit Vincent unter die enttäuschten Augen zu treten, brauchte sie nicht. 

„Er ist wieder in deinem Leben.“

„Noch hat er sich nicht gemeldet.“

„Er wird sich melden.“

Hoffnung huschte über das Gesicht ihres Auftraggebers, bevor er seine fruchtlosen Versuche, sich auf sein Handy zu konzentrieren beendete und dafür aus dem Fenster starrte.

„Mach einen Abstecher zum Friedhof.“

Zarah musste nicht fragen, zu welchem. Nicht zu dem, auf dem Roland Schürk lag. Adam wollte zu Elias Schiller. Ihr eigenes Handy pingte und eine Nachricht ihres Teams ploppte auf. Sie sah schon an der Vorschau, dass es sich dabei um en Aufenthaltsort von Wasiljew und Müller handelte. Nicht in Deutschland war die Kurzfassung, was gut war. Leichteres Spiel für sie, außerhalb der klebrigen Hände der Sonderkommission und der französischen Ermittlungsbehörden. 


~~**~~


Leo tigerte unruhig auf dem Dach ihrer Dienststelle und fragte sich, was wohl eher kommen würde – der angekündigte Regen oder sein Mut, Adam anzurufen. Seit Minuten stellte er sich diese Frage bereits und entsperrte immer wieder sein verdammtes Telefon nur um es per Knopf wieder in die gnädige, sichere Schwärze zu schicken. 

Zu versichern, dass man sich melden würde und sich zu melden, waren zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Den ersten Schritt in die Normalität zu machen, war gewaltig groß und furchterregend unsicher.

Pflaster ab, beschloss Leo und entsperrte sein Handy, rief Adams Kontakt auf und presste seinen Zeigefinger ungeschickt auf den grünen Hörer, bevor er es sich anders überlegen konnte. Sein Telefon wählte und fast war Leo versucht, nach dreimal klingeln wieder aufzulegen, um seine Schuldigkeit getan zu haben, sich aber nicht einem Anruf stellen zu müssen. 

Den Gefallen tat ihm Adam nicht, als er nach dem vierten Klingeln abnahm und seine Stimme etwas atemlos „Leo.“ in den Hörer pustete. Fast hörte Leo den Hauch der Verwunderung, aber auch der Freude. 

„Adam“, gab er unintelligent zurück und da waren sie. Der nächste, logische Schritt wäre Smalltalk. Über das Befinden und das Wetter. 

„Du rufst an“, übernahm Adam mit einer Aussage, auf die es nur eine Antwort gab und Leo biss sich auf die Unterlippe. Er presste das Handy fester an sein Ohr und kickte ein paar Kieselsteine wild durch die Gegend. Er brummte bejahend und so kehrte Schweigen ein. 

„Ich bin gerade bei meiner Physiotherapeutin“, erläuterte Adam. „Sie denkt, ich nehme unser Telefonat als Ablenkung, um mich vor ihr zu drücken. Du solltest sehen, wie sie mich gerade mit Blicken ermordet, weil ich mich ihr entziehe. Also wenn du mich treffen möchtest, dann solltest du es bald tun.“

Adam wollte also auch. Er machte es ihm einfach. Erleichtert atmete Leo aus. „Samstag?“ 

„Ja, geht. Wo?“

„Ich war schon lange nicht mehr im Zoo. Wenn du Lust hast?“

Leo hatte sich lange überlegt, was sie tun könnten. Neutrales Territorium, das ihnen beiden die Möglichkeit gab zu gehen, wenn es doch nicht klappen würde. Etwas, das Leichtigkeit mitbrachte, aber sie auch vor neugierigen Augen aus Saarbrücken verbergen würde. Leo zumindest war noch nicht bereit dazu, Pia und Esther mit Adam unter die Augen zu treten. Das würde ohnehin eine schwierige Diskussion werden. Auch um seine dienstliche Integrität, die zumindest von Leos Seite her mitnichten in Frage stand. 

„Zoo…“, echote Adam und fast erwartete Leo einen dummen Spruch oder eine Ablehnung. „Alles klar, schick mir Adresse und Uhrzeit. Ich bin da.“

So einfach war das. Adam, er und Millionen von Kindern am Samstag im Zoo. Neutraler ging es schon gar nicht mehr. 

Leos Magen blubberte aufgeregt bei der Aussicht auf Samstag.


~~**~~


Dafür, dass Adam noch vor zwei Jahren um jedes Tier einen großen Bogen gemacht hatte, war er nun sehr gesegnet in jede Art von Geviech, befand er. Erst dieser Riesenköter, den Leo angeschleppt hatte, nun die Riesenkatze, die problemlos die Hälfte seiner Couch in Beschlag nahm und diese mit stoischem Blick auf Halbmast auch verteidigte, wenn Adam nicht schnell genug war. Heute hatte er die geballte Viechschaft vor sich, anders benannt auch ein Gang durch den Zoo, den sich der andere Mann ausgesucht hatte. So euphorisch, dass Leo überhaupt angerufen hatte, hatte Adam ja gesagt. Er hätte auch zu allem anderen ja gesagt, aber hierzu…

Wenn er sich richtig erinnerte, war er noch nie im Zoo. Tiere angucken war nicht die Priorität der Dreckssau gewesen und schon gar nicht das, was der hoffnungsvolle Nachwuchskriminelle hatte lernen sollen. 

„Okaaay“, gab Zarah gedehnt zu erkennen, was sie von der Wahl hielt, als sie auf den Parkplatz fuhren, und Adam brummte nichtssagend. Heute konnte er sich sogar ohne Gehstock bewegen, was ein Fortschritt war. Nicht zu verachten, laut Therapeutin, auch wenn Adam das weitaus ungeduldiger sah. 

„Wer guckt sich nicht gerne Viecher an?“, fragte er lakonisch und traf auf ein gleichgültiges Schulterzucken. 

„Du anscheinend jetzt schon.“
„Ich gucke mir gerne Leo an.“ 

„Vincent weiß immer noch von nichts?“

Wie gnadenlos Zarah doch seine feige Weigerung, es schon auszusprechen und sich Vincents Sorgen zu stellen, zerpflückte. 

„Ich sag’s ihm noch.“

„Wann? Wenn du mit Hölzer verheiratet bist und seinen Nachnamen angenommen hast?“

Die olle Kuh hatte viel zu viel Biss für sein dünnes Nervenkostüm, befand Adam. Unerfreut knirschte er mit den Zähnen und nickte knapp nach vorne, dort, wo auch schon Leo wartete, wie immer pünktlich, aber irgendwie genauso nervös. Ein warmes Gefühl breitete sich in Adam aus, als er Leo musterte. Warm, wohlig und aufregend kribbelnd, auch wenn es gleichzeitig nicht neu und dann doch auf eine gewisse Art und Weise doch so war. 

„Ich ruf dich an, wenn du mich wieder abholen kannst“, wich er allem aus, was als Antwort dienen könnte und Zarah brummte nachdrücklich. Sie hielt an und Adam verabschiedete sich mit einem Nicken von ihr, trat hinaus in die herbstlich kühle Sonne Frankreichs. 

Temperaturen unter dreißig Grad waren ihm jetzt noch mehr ein Graus und so war Adam getarnt mit Jeans, Hoodie und Jeansjacke bewaffnet in die Kühle des Morgens gestartet. Die Sneaker, die Vincent ihm irgendwann einmal besorgt hatte, natürlich ebenfalls mit im Gepäck, weil es sich einfacher damit lief zur Zeit. 

Alles in allem hatte er wenig mit dem Adam Schürk gemein, der diese Woche noch mit den Familien in Saarbrücken verhandelt hatte und das war auch gut so. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf Leo und sich ziehen. Leo sollte in Sicherheit sein, auch wenn dieser sich gut selbst verteidigen konnte. Es sei denn gegen…

Nein, daran wollte er heute nicht denken. Heute standen stinkende Viecher und ein gut riechender Polizist auf dem Speiseplan. 

Alles in Adam kribbelte nervös. War das hier ein Date? Eine Verabredung? Neutral ground zur Findung? Alles davon? 

Hoffentlich war es vor allem das: seine neue Normalität. 


~~**~~


Wie vorsichtige Freunde liefen sie nebeneinander durch den Eingangsbereich des Zoos, dankbar abgelenkt durch Scharen von Kindern, zwischen denen sie sich navigieren mussten. 

Leo zählte die Male schon gar nicht mehr, in denen er Adam versteckte Seitenblicke zuwarf und sich versicherte, dass der Mann an seiner Seite wirklich gekommen war. Wirklich neben ihm lief. Und dass sie so etwas wie ein Date hatten. 

Natürlich guckte er auch, weil Adam so anders aussah. Er hatte seinen Anzug zuhause gelassen und fiel in der Menschenmenge nur dadurch auf, dass er größer als 90 Prozent aller Anwesenden war und eine Aura der Unnahbarkeit um sich herumhatte. Leo konnte sich nicht genau erklären, was es war, aber sowohl Kinder als auch Erwachsene gingen ihm aus dem Weg. 

Nicht so Leo. 

Obwohl Leo immer wieder zu ihm driftete und wenn sie sich berührten, wie im Wald auch schnell wieder wegzuckte, als sei es etwas Verbotenes. Die Ablenkungen, die die Tiere da boten, waren da heilsam. Gerade eben standen sie unter einem sich an der Decke entlang hangelndem Faultier, das anscheinend genau über ihnen zu einer Pause angesetzt hatte. Adam musterte das Tier und Leo musterte Adam, fragte sich wie so oft in den letzten Tagen, ob das Glück wirklich von Dauer war, das ihm das Herz leicht machte.

„Wusstest du, dass die Weibchen sich in der Paarungszeit einen Ast suchen und dann so lange schreien, bis ein Männchen vorbeikommt?“, gab er sein krudes Halbwissen zum Besten und Adam hob zweifelnd seine Augenbrauen. Auf seinem Gesicht stand klar die Vermutung, dass Leo ihn auf den Arm nahm.

„Du verarschst mich doch. Tatsache?“

Leo nickte gewichtig. „Tatsache.“

Adam überlegte und schob seine Hände in die Taschen seiner Jeans, anscheinend um das über ihnen hängende Tier nicht zu berühren, das langsam den Kopf von links nach rechts drehte. Genauestens wurden sie unter die Lupe genommen und im Geheimen taufte Leo das Tier in Baumann um.  

„Könnten wir genauso machen“, merkte Adam schulterzuckend an und Leo war sich nicht sicher, was genau er meinte.  

„Uns in den Baum hängen?“, hakte er deswegen zweifelnd nach und Adam nickte, dann schüttelte er den Kopf.. 

„Solange schreien, bis jemand vorbeikommt.“ 

Alleine die absurde Vorstellung, wie die Bäume an der Saar voller Menschen waren, die nach potenziellen Partnerinnen und Partnern schrien, entrang Leo ein lautes, befreites Lachen, das sich gar nicht mehr einfangen lassen wollte. Was genau es war, das ihn nicht mehr aus dem Griff der Freude ließ, konnte er nicht sagen, aber es tat gut. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so befreit gelacht hatte, so unbeschwert. Es verursachte ihm Bauchschmerzen, so frei war es. 

Adam, der erst verwundert, dann mit einem stolzen Halblächeln unter roten Wangen neben ihm stand, wirkte wie eine zufriedene Großkatze, die gerade fette Beute erlegt hatte.  


~~**~~


Die Viecher mal außen vorgelassen…der Tag war schön. 

Leos Nähe, seine Anwesenheit, seine Bereitschaft, zu lachen, wieder mit Adam zu sprechen – auch wenn es nur über die Geschichten der Tiere war, also belangloses, ungefährliches Zeug. Und Adam ließ sich treiben, sah sich brav wie ein Musterschüler jedes einzelne Tier an, fand Gefallen an den Quallen, die sich federleicht im Strudel ihres Aquariums treiben ließen. Er lachte über die Pinguine, die sich gegen seitig ins Wasser schubsten und hob suggestiv die Augenbrauen. Leos Blick darauf war vielsagend gewesen, also hatte Adam nicht gewagt, ihn an die Ähnlichkeit der Situation zu erinnern. 

Sein verkümmerter Überlebensinstinkt teilte ihm mit, dass es vielleicht kein Scherz für den heutigen Tag wäre. Vielleicht war es aber auch Vincents Stimme in seinem Inneren, die er auch jetzt noch gut hörte. 

Sie wanderten langsam an den verschiedenen Tiergehegen vorbei und gelangten schließlich zu einer Art Hotelanlage. Holzhäuser auf Stelzen, die am Rand der Gehege gebaut worden waren, damit die geneigten Zoobesucher auch nachts vom Gestank und den Lauten der Tiere profitieren konnten. Wunderschön, wenn man Adam fragte, aber hübsch sah es alle Male aus. Riesige, lebend gewordene Lego-Baumhäuser. 

Interessiert studierte Leo die Informationstafeln am Eingang zu den Holzbauten und wenn Adam sich nicht täuschte, war das Interesse auf dem Gesicht seines vielleicht wieder hauseigenen Polizisten. Klar, wie auch nicht, bei jemandem, der Baumhaus als Safeword genommen hatte und mit hingebungsvoller Akribie die Steine zum Bau eines eben solchen sortiert hatte. Damals hatte Adam es als Flucht vor ihm und seiner unerträglichen Gegenwart wahrgenommen und war entsprechend überrascht über das Safeword gewesen. 

Nun standen sie beide vor einem überlebensgroßen Exemplar ihrer Verbindungen zueinander und sahen staunend hoch. 

„Cabane des Tourtereaux“, las Adam laut vor und da war immer noch viel zu viel Interesse in Leos Augen an der Hütte, als dass er es nicht gedanklich auf seine Liste des nochmal Machens setzen würde.

„Ich hatte auch mal ein Baumhaus. Ganz früher. Es verrottet mittlerweile in den saarländischen Wäldern rund um Saarbrücken. Ich habe es zusammen mit meiner Mutter gebaut, als sie noch Jägerin war. Ein Ort für mich ganz alleine. Und manchmal durfte ich auch nachts dort übernachten und den Tieren zuhören“, gab Leo etwas preis, das noch nicht einmal Vincent hatte herausfinden können. Daher also die Faszination. 

Er musterte Leos seitliches Profil und die ruhige, aber auch ein bisschen wehmütige Freude.

„Sieht aus, als wäre das das nächste Upgrade“, deutete Adam. „Wir könnten ja mal?“

Was sie könnten, ließ er offen. Schlafen? Miteinander? Nebeneinander? Den Viechern zuhören und die Nacht genießen? 

Ebenso überrascht wie angetan von seinem Vorschlag nickte Leo begeistert und zog sein Handy heraus. Es ging doch nichts über einen verbindlichen Planungsgeist, befand Adam und nahm die Reihe der Baumhäuser noch einmal genauer in Augenschein. 

„Oh.“

Adam hatte ein bisschen Angst, dass es ein schlechtes Oh war und linste auf Leos Handy, um den Grund des Ohs heraus zu finden. Vermutlich der Preis dieses Abenteuers, der Leo war auf den Monate gesehen nicht wehtun würde, aber trotzdem schon stolz war.

„Oh gut?“

„Heute ist etwas frei.“

So ein Oh also. Ein Oh, groß und kursiv geschrieben, kein oh, klein und unbedeutend. Heute war spontan, es war ungeplant, heute war noch vieles neu und sie waren auf vorsichtigem, neutralen Grund um sich abzuklären und zumindest irgendwann darüber zu sprechen, wie ihre Zukunft aussehen würde. 

Wenn er Dinge vorsichtig und langsam angehen lassen würde, hätte Adam abgelehnt und es unter fadenscheinigen Gründen abgesagt. Dafür war er aber nicht bekannt, ganz im Gegenteil. Er hatte viele Dinge mit Leo überstürzt, wider besseren Rat von Vincent und ganz zu Lasten von den Kopfschmerzen, die er Zarah bereitete. Leo war ein Mann, der dazu einlud, ein Juwel, einer aus achtzig Millionen, der Adams Herz für sich eingefangen hatte. 

Leo war das Oh im Baumhaus buchen. 

„Machen wir“, entschied Adam frei aus seinem Herzen heraus und genoss die Überraschung in den großen, grünen Augen. Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Da kann man auch essen und sogar eine Zahnbürste dazubuchen.“ Für einen horrenden Aufpreis, aber ein bisschen Geld hatte Adam den Monat noch. „Du, ich, eine Million an Viechern und ein Baumhaus.“

Leo öffnete die Lippen, schloss sie wieder. Dachte darüber nach und nickte schließlich stumm, als müsse er sich selbst die Genehmigung dazu erteilen. 

Adam zog sein eigenes Handy aus der Tasche und wählte Zarahs Nummer. Sie musste wissen, dass er heute Abend fernblieb und sie musste Vincent beruhigen. Und sie würde sich um Jolante kümmern müssen.  


~~**~~


Mit jeder verwitterten Holzstufe, die Leo nahm, klopfte sein Herz immer und immer aufgeregter. Er war immer schon dafür bekannt gewesen, dass er manchmal Entscheidungen traf, die nicht ganz überlegt waren, kleine Ausbrüche aus seinem sonst so organisierten Leben. Warum es so organisiert war, erkannte er hieran und auch wenn es etwas Gutes war, so war es doch etwas Unberechenbares. 

Eine Nacht, sie beide, in der Hütte, die grob übersetzt auch noch Baumhaus der Turteltäubchen hieß. 

Leo hatte sich nicht auf Sex eingestellt und war sich gar nicht so sicher, ob er es auch schon wollte. Viel zu viele Unsicherheiten standen da noch zwischen ihnen, als dass er es wirklich schon in Betracht zog. Zumal es, wenn sie es so machten, eine Beziehung sein würde. Mit Sex. So richtig. Nichts Unverbindliches. 

Er erreichte die Plattform und steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür ihres kleinen, rustikalen Baumhauses mit holzvertäfelten Wänden mit Tierbildern, in dessen Mitte sich ein ausladendes Bett mit ordentlich gefalteten Bezügen lag. Rosenblätter waren auf den Kissen und den Decken verstreut und die Handtücher waren in Form von zwei sich küssenden Schwäne auf dem Bett platziert. Hinter ihm betrat Adam den Raum und gab ein Geräusch, halb Zustimmung und halb Belustigung von sich. 

„Klar…hätte man sich bei dem Namen denken können“, spottete er sacht und schnippte eins der Rosenblätter in Richtung der Schwäne. 

„Fehlt nur noch der Ring“, entwich es Leo, bevor er sich stoppen konnte und brachte sie damit beide zum Stillstand. Adam starrte mit großen Augen, Leo starrte zurück, sie beide vollkommen verloren in einer guten Antwort darauf. 

„Ring“, echote Adam langsam und Leo grollte ertappt.

„Du hast das Thema zuerst aufgebracht.“

„Ach?“

„Damals.“

„Wo?“

„Als deine und meine Mutter da waren.“

Stille. Damals. Als Leo sich um Adam gekümmert hatte, nachdem sein Vater ihn halb tot geschlagen hatte. Damals, als zwar Gefühle, aber keine Liebe mit im Spiel gewesen waren, die aber dennoch den Grundstock für das hier gelegt hatten. 

Es war Adam, der sich zuerst abwandte und mit einem zynischen Schnauben auf den Wasserkocher deutete, neben dem eine kleine Station mit Instantkaffeepulver, Kaffeeweißer und Zucker stand. 

„Wusstest du, dass man in Hotelzimmern die Wasserkocher nicht benutzen sollte, weil Leute da ihre schmutzige Unterwäsche drin kochen?“

Leo blinzelte und seine nervösen Finger hörten auf, mit dem Schlüsselbund zu spielen. Er stand etwas verloren ob des abrupten Themenwechsels im Raum und versuchte sich gegen die Vorstellung zu erwehren, wie gesichtslose Fremde ihre Boxershorts darin abkochten. Lieber war er da doch froh, dass das Baumhaus ein eigenes, abschließbares Badezimmer aus Vollholz mit Toilette hatte und keinen modernen Schnickschnack mit Dusche im Zimmer und Glastür vorm Klo.

„Nein, aber danke, jetzt werde ich nie wieder einen Wasserkocher benutzen.“

Adam grinste und Leo erkannte, dass da ebenfalls viel Nervosität war, die Adam zu überspielen versuchte. Wie zwei Teenies führten sie sich hier auf und Leo beschloss, das einzig Richtige in diesem Moment zu tun: er öffnete die Balkontür und ließ herbstliches Blätterrauschen und abendliche Tiergeräusche in das Holzhaus. Es roch wunderbar und die Weite, die er von hier oben überblicken konnte, die Horden an Gnus und die Gruppe an Wölfen eine noch willkommenere Ablenkung. 

Adam kam zu ihm, in seiner Hand die Essenskarte zum Aussuchen des Abendessens, das ihnen dann hierhin geliefert wurde. 

„Hunger?“, fragte er und wie auf Kommando knurrte Leos Magen. Es war nicht ganz so peinlich, da Adams Magen gleich mit einfiel und sie beide sich angrinsten.


~~**~~


Er hatte einen Ruf zu verlieren, befand Adam, und klaute Leo todesmutig nun schon die dritte Pommes von seinem überdimensionierten Pommes und Currywurst-Teller. Er hatte den gleichen, ebenso groß, aber die Pommes vom Nachbarteller schmeckten einfach besser. Zumal er besagten Ruf zu verlieren hatte, da er ja immer noch ein böser Junge war – offiziell. 

Selbiges, einschließlich Verurteilung, teilte ihm nun auch Leos eindeutige Missbilligung mit. Vielleicht auch die hoch erhobene Gabel samt aufgespießter Pommes, die aber eher einer Drohung als einer Nahrungsaufnahme glich. 

Bis auf seinen Pommesdiebstahl saßen sie friedlich auf dem Balkon ihres Baumhauses und hatten ekelhaft gemütliche Lichterketten angemacht. Um sie herum rumorte, röhrte, blökte und jaulte es und Adam war sehr froh, dass keines der Viecher ihnen hier oben zu nahe kommen konnte. Wären sie im Wald gewesen, hätte er schon längst Zarah gerufen – Zarah und ihre Waffe. Der Geruch der Tiere kroch penetrant in seine Nasenlöcher und gerne hätte er Adam ihn mit Leos Geruch ausgeglichen. Aber dafür hielten sie noch züchtigen Abstand, eingehüllt in ihre Bettdecken. Es war kalt, die Nächte wurden länger und vor allem frischer. Auch das verhinderte, dass Adam an Leo riechen konnte – vielleicht gar nicht so verkehrt, diese Art von Selbstschutz. 

Als seine Hand ein viertes Mal in Richtung dem Verandatisch stehenden Teller kroch, kam der gnadenlose Polizist in dem Mann durch und legte seine Hand flach auf den Tisch, hielt sie dort mit seiner eigenen. Verbindlich. Warnend. 

„Adam“, wurde er angeknurrt und sein Name sorgte für eine Gänsehaut, die sich sehen lassen konnte. Also wenn es hell gewesen wäre. „Du hast deinen eigenen Teller.“ Oh ja, ein territorialer Terrier war Leo schon immer gewesen. Wohl versteckt, aber es schlummerte definitiv unter der Oberfläche. 

„Deine Pommes schmecken besser“, behauptete Adam dreist und seine Lüge wurde ebenso schnell aufgedeckt, wie er wieder losgelassen wurde. Letzteres war schade und führte dazu, dass er sich brav zu seinem Teller zurückzog und schmollend seine Pommes aufaß, die im Leben nicht so gut schmeckten wie Leos. Der Ungönner. 

Sie aßen in schweigendem Einklang, manche würden es auch Misstrauen nennen, zu Ende und schlussendlich lehnte Adam sich gesättigt mit rundem Bauch zurück. Die Weinflasche stand zwischen ihnen auf dem Tisch und er schraubte sie auf, hielt sie Leo fragend hin. Das Zögern erinnerte ihn viel zu sehr an ihre erste Zeit und schmeckte ihm dementsprechend nicht, aber schlussendlich nickte Leo. 

Also übertrieb es Adam nicht. Mäßigte sich und machte nicht das ganze Glas voll. Auch noch nicht einmal das halbe. Genusstrinken. Mit Leo. Rotwein. 

„Was ist in der Zeit danach noch passiert?“, knüpfte eben jener Rotweintrinker an ihr Gespräch auf dem Parkplatz an. Adam sah Schmerz, der über das bärtige Gesicht kroch und wurde sich bewusst, dass es die Zeit nach dem Rauswurf war, die Leo meinte. Angerissen hatte Adam es, aber auch nicht wirklich ausdefiniert. 

Nachdenklich wandte Adam sich dem unter ihnen liegenden Gehege zu und zog sein weniger schmerzendes Bein zu sich auf den Stuhl, streckte das andere aus und legte den Fuß auf das Geländer des Balkons. Die Bewegung ging immer besser, Schmerzen bereitete sie ihm aber dennoch. 

„Ich war noch einige Zeit auf dem Winterberg und bin dann nach Hause. Also zu Vincent. Ich habe mich bei ihm verkrochen und meine plötzlich hochkochenden Erinnerungen versucht zu verarbeiten. Du erinnerst dich, der Adam Zombie?" Adam schnaubte abwertend. „All die Jahre und jetzt plötzlich. Keine Dunkelheit mehr, keine Enge. Als wäre ich es nicht schon gewohnt gewesen.“

Ihm ging auf, dass Leo mit Sicherheit nicht seine kaputte Krankengeschichte hören wollte und würgte die kommenden Worte ab. 

„Ich habe nicht viel gemacht, bin gesund geworden, dann gab es die Gerichtsverhandlung und hier sind wir. Das ist alles.“ 

Das, was er versuchte, herunter zu spielen, kam dreifach als Sorge zurück. Klar und offen stand sie auf Leos Gesicht, der sich mehr an das Weinglas klammerte, als dass er es festhielt. 

„Ist es das?“, fragte Leo und hinter den ruhigen, leisen Worten schlummerten Schmerz und Enttäuschung. Wäre Vincent jetzt hier, hätte er vermutlich übersetzt, dass Leo mehr von ihm wollte, mehr Details, mehr Gleichheit. Zumindest war es damals so gewesen. Adam war sich nicht sicher, aber Vincent anrufen stand ebenfalls außer Frage. Also musste er in den Blindflug gehen.

„Ich hab am Anfang bei Vincent gewohnt und mache das auch jetzt noch, wenn es…wenn ich Bock habe.“ Wenn alles zu viel wird und ich das Gefühl habe, in dem Sarg zu ersticken, wollte er eigentlich sagen und konnte es nicht. „Wenn ich gerade nicht bei ihm bin, arbeite ich daran, den ganzen Bums in die Luft zu jagen.“

Wieder die falsche Wortwahl und dieses Mal las er in großen Neonbuchstaben ALARM auf Leos Stirn stehen. Adam seufzte. 

„Hat Weiersberger mit dir über den Deal gesprochen, den ich mit den Behörden geschlossen habe?“ Leos Unwissen sprach Bände. Natürlich hatten sie ihn außen vorgelassen. „Der Deal ist, ich habe fünf Jahre, um die Saarbrücker Unterwelt so zu destabilisieren, dass alle Ermittlungsbehörden im Saarland und Frankreich, aber auch der Staatsschutz und das BKA sich über die Reste hermachen können. Dann bin ich frei und kann machen, was ich will.“

Wenn die Familien ihn nicht vorher erledigten. 

Der Gedanke kam ungebeten und in diesem Moment auch unpassend. Er wollte doch unbeschwert mit Leo den Abend genießen – ihren ersten seit Monaten. Ihren ersten ohne die Last von Geheimnissen. Also weniger Geheimnissen als vorher. Ein paar mussten bleiben, so zum Beispiel, dass er nachts das Haus zusammenschrie, weil er so viel Angst vor den Schatten hatte. 

„Nein, Adam, das wusste ich nicht.“ Entsetzt stellte Leo sein Weinglas ab und Adam gratulierte sich zynisch dazu, dass er den Abend ruiniert hatte. Leos Hand auf seiner war jedoch schön und warm. „Es tut mir leid. Das ist…wie konnte er…?“

Adam lächelte schief. „Sie wollen die Kriminalität nachhaltig bekämpfen, was soll ich sagen? Kein Syndikat, keine Familien, keine Drogenhändler. Keine Konsortien, die Saarbrücken als Spielball ihrer Machenschaften ansehen. Und da bin ich der unfreiwillige Türöffner.“ Er zuckte mit den Schultern und tatsächlich machte es ihm auch nichts aus, denn bisher hatte er sein Leben vor sich hingelebt. Und nicht darüber nachgedacht, wie sein Leben nach fünf Jahren aussehen würde. 

Es war so ernst, dass Leo seine Kieferknochen aufeinanderpresste und so aussah, als würde er es ihm am Liebsten ausreden. „Das ist gefährlich.“

„Schon, deswegen solltest du es vielleicht auch wissen. Hätte ich dir schon am See sagen sollen.“ Hätte er wirklich, denn Leo hatte mit Sicherheit keine Lust darauf, sich weiterhin in Gefahr zu begeben, auch wenn diese dank Zarah, ihren Männern und Rahel eher gering war. Noch. Vielleicht auch nachhaltig für immer. 

Leo holte Luft und Adam befürchtete das Schlimmste. So schnell würde ihr vorsichtiges Glück miteinander also vergehen. Und wieder waren es die Bullen, die alles zerstörten. Wunderbar. Zuträglich für Adams ohnehin geringes Vertrauen in den Staat war das nicht. 

„Das stehen wir durch.“

Ein Satz, ausgesprochen mit so viel Entschlossenheit, Mut und Sicherheit, dass er Adam wider Willen die Tränen in die Augen trieb. Wir. Wie in wir beide. Wie in Adam und Leo. Wie in Ich lasse dich nicht alleine damit. Adam verstand nicht recht, woher der Kloß in seinem Hals kam und warum ihm dieser einfache Satz eben jenen zuschnürte, war das doch kein großes Ding, was noch vor ihm lag. Vor ihm. Und nun auch vor Leo. 

„Ich will dich da nicht mit reinziehen. Du hast schon genug durchgemacht“, presste Adam hervor und Leo verzog das Gesicht, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. Er ließ Adam aber nicht los, sondern fasste ihn nun noch enger. 

„Habe ich. Und hast du. Unsere Leben sind anscheinend nie darauf ausgelegt gewesen, ungefährlich zu sein.“ Da war er, der gleiche Gesichtsausdruck, mit dem Leo ihm damals gesagt hatte, dass er Roland Schürk für ihn verhaften würde. Damals, vor der Ewigkeit von vor ein paar Monaten. 

„Bist du sicher?“ Adam zweifelte dennoch erheblich, im Gegensatz zu Leo. 

„Sehr sicher.“

„Blöder Superman.“

Leo hob seine strenge rechte Augenbraue und Adam fühlte sich seltsam sicher und geborgen. Er fühlte sich, als dürfe er sich darin fallen lassen und als könne er sich auf Leo verlassen, so wie er sich auf Vincent, Zarah und Rahel verlassen konnte. Trotz allem, was er Leo angetan hatte. 

Adam atmete stoßweise und zittrig aus. 

Du bist wertlos, tönte die alte Litanei der Dreckssau in seinen Ohren und wurde genullt von dem Wissen, dass es anscheinend mehr als einen anderen Menschen gab, der das nicht dachte. 

Er verschränkte seine Finger mit Leos und lächelte schräg, vielleicht auch ein bisschen verlegen und immer noch voller Staunen darüber, dass es Menschen gab, die ihn mochten.

 

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Wird fortgesetzt. 

 

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