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Höllenreigen

Summary:

Was tun, wenn ein totgeglaubter Teufel und all der unverdaute Hass zurück sind - und plötzlich alles in Frage gestellt wird? Und was, wenn sein Vorhaben dieses Mal so monströs ist, dass Tav ihn gar nicht töten, sondern retten muss?

Slowburn-Drama für Tav und Raphael.

Update Juni 2025: Wie angekündigt habe ich aus dramaturgischen Gründen die Reihenfolge der Kapitel geändert; der ursprüngliche Prolog ist etwas nach hinten gewandert.

Chapter 1: 1 Traumtöter

Summary:

"Hope: You'll what, Raphael? Kill a child in front of me? Torture a family? Hang another dreamcatcher around my neck? Go ahead, you flaccid-horned fuck. Go right ahead. I will never give you what you want. Hear me? NEVER!"

Oder: Das eine Mal, als sich Mephistopheles von Raphael inspirieren lässt.

Notes:

Was zuvor geschah ...
Wir kennen die Geschichte von Tav, die auf dem Nautiloid landete. Doch diese Tav schlug einen etwas anderen Weg mit anderen Gefährten ein. Zusammen mit einem Kumpel und einer Hand voll Verbündeter überredet sie den Drider Kar'niss, sich ihrer Sache anzuschließen. Rasch entwickelt Tav Gefühle für Kar'niss, der immer noch der Absoluten treu folgt und alles tun würde, um wieder ein Drow zu sein - sogar seine Seele verkaufen. Der Käufer? Ein gewisser Teufel, mit dem Tav einst ein gemeinsames Lanzbrett-Hobby teilte. Man könnte sogar sagen, dass die beiden Freunde waren.
Im Haus von Hope hat Tav plötzlich einen Flashback, eine längst verdrängte Erinnerung an den Tag, als sie unfreiwillige Zeugin von Raphaels krankhafter Besessenheit wurde. Schockiert von dieser Erkenntnis schlagen sie und ihre Verbündeten ihn nieder und schnappen sich den Vertrag. Doch Kar'niss vernichtet ihn nie, und der Teufel überlebt. Als Tavs eigene Lüge ans Tageslicht kommt, erschlägt Kar'niss in seiner Rage Orpheus und stirbt daraufhin selbst durch Dame Aylins Hand.

Notizen:
1) Ich stelle mir Mephisto als einen kalten und bösartigen Daniel Day-Lewis aus „Gangs of New York“ und „There will be Blood“ vor. Bill the Butcher meets Daniel Plainview. FilmkennerInnen werden das ein oder andere versteckte Filmzitat entdecken.

2) Zeit in den Höllen vergeht wohl langsamer als auf der Materiellen Ebene. Soweit ich verstehe, ist ein Monat in der Hölle zwar auch ein Monat in Faerûn, aber der Körper altert in den Höllen nicht so schnell und alle körperlichen Bedürfnisse sind entsprechend reduziert. Das ist für zukünftige Kapitel wichtig zu wissen.

Chapter Text

Donner zog krachend über Cania. Er ließ die Mauern der Burganlage erbeben und jagte jedem Lebewesen, das es wagte, sich in dieser stürmischen Nacht im Freien aufzuhalten, einen gehörigen Schrecken ein. Blitze durchzogen den Himmel wie Risse aus Licht und tauchten die Zitadelle von Mephistar kurz in einen grässlichen, kontrastreichen Schein, bevor die Dunkelheit sie wieder verschlang. Unwetter wie dieses waren in der achten Höllendimension selten, und doch war dieser Zufall dem Anlass ganz kommod. Denn heute Abend würde er reich speisen.

Mephistopheles verpasste seinem Spielzeug einen kräftigen Zungenschlag, damit es wieder zu Bewusstsein kam. Die kleine Kreatur stotterte und würgte an dem schmelzenden Regenwasser, das ihren Körper hinunterrann und in ihre Nase lief. Sie atmete schwer durch die Überreste ihrer einst weißen Zähne. Jedes Mal, wenn sich ihre eine noch funktionierende Lunge zusammenzog, rasselten die Ketten, an denen die elende Kreatur hing, leise. Mephisto genoss das Geräusch von Klirren und Klappern inmitten des schweren Eisregens, der durch das Loch in der Kerkerdecke herunterprasselte. 

"Ein Traumfänger, na so was", sagte er erstaunt, "mein Spion hat mir seltsame Dinge erzählt, während du geschlafen hast."

Mit einer Klaue bohrte er sich bis zu ihrer Speiseröhre durch. Die Kreatur zuckte stöhnend und schnaufte dampfende Atemwölkchen in die frostigkalte Luft.

"Früher war dein Geist voller Ideen, die einst dein Vater in dir entfacht hatte. Aber nun nicht mehr. Ich erkenne dich kaum wieder."

Was Wunder, unter all dem Blut, Rus und den Verstümmelungen. Mephisto ließ die Ironie seines Kommentars kurz gären.

"Mein Inkubus erzählte mir von einer Technik, zu der selbst ich erst Informationen einholen musste: ein omuanischer Traumfänger. Psychologische Folter in Reinstform. Bewundernswert." 

Er schmunzelte. "Du hast einen Sinn für das Kultivieren von Terror. Mir fehlte immer die Geduld und das Taktgefühl, wenn es darum ging, andere zu überzeugen, ohne sie am Ende umzubringen. Ich sei zu launisch, sagen viele. Zu untalentiert für das Lesen zwischen den Zeilen. Ein guter Foltermeister brauche diese Eigenschaften. Alles Narren. Aber sie haben Recht." 

Mephisto steckte einen Strohhalm durch das neue Loch und gab der Kreatur zu trinken. Nach zwei Monaten fast ohne Flüssigkeit fühlte sich der süße Portwein für die Kreatur sicher wie Balsam an. Nur, dass sie keine Zunge hatte, um den Geschmack zu genießen. 

"Heute ist eine besondere Nacht, mein Kleiner. Ich will dir den Bauch füllen, bevor das große Finale beginnt: mein Hauptgericht."

Unzählige Experimente hatte Canias Höllenfürst und oberster Zauberer durchgeführt, um den Geist anderer zu sezieren und ihn seinem Willen zu beugen (er hielt sich deshalb selbst für eine Art verrücktes Genie). Und doch sagte man ihm nach ein wandelnder Widerspruch zu sein: ein brillanter Arkanist mit Kalkül, der wahrscheinlich sogar Asmodeus hätte überlisten können, zwar. Aber auch ein heißblütiger Teufel mit zu viel Leidenschaft und Neugier in der Brust. Das musste an den schlechten Genen liegen. Mephisto liebte es natürlich, andere zu enteignen, sei es von ihrem Eigentum oder ihren Organen. Und, wie es sich für einen Erzteufel schickte, tat er dies auch regelmäßig. Aber diese menschliche Schwäche namens Leidenschaft & Neugier auszumerzen, ja, das war sein ehrgeizigstes Projekt. Und leider oft mit Misserfolg gekrönt. Denn jedes Mal, wenn er eine seiner Frauen oder eines ihrer unterentwickelten Neugeborenen tötete, empfand er nicht die Freude, wie sie ein wahrer Teufel empfinden sollte. Er fühlte nur Schrecken. Genauer gesagt: Eine schreckliche Verachtung für alles, durchsetzt mit existenzieller Bitterkeit.

Mit seinem jüngsten Versagen als Erzeuger von würdigen Nachkommen erreichte dieser Gefühlszustand langsam einen neuen Tiefpunkt. Schlechte Gene und schlechte Lebensentscheidungen, nannte er es. Es waren immer die Mütter, die die Qualität des Nachwuchses vergifteten. Das hätte er wissen müssen. Er hätte das Mädchen nicht schwängern sollen. Er hätte das Kind nicht am Leben lassen dürfen. Es war Zeit diesen Fehler auszumerzen.  

"Aaah, ja, ich sehe es wohl, das Entsetzen in deinem Gesicht." 

"Vater..."

„Du warst immer ein schlauer Junge. Hast dich hochgeboxt, ohne die Aufmerksamkeit der Erzschlampe zu erregen. Immer clever gewesen. Aber dann wurdest du leichtsinnig.“

„Vater, ich...“

Mephisto zog den Strohhalm heraus und schloss das Loch mit einem Wink seiner Hand. 
„Du riechst köstlich nach Blut und Geschrei“, sinnierte er, „hm. Ich dachte, du hättest eine Zukunft. Nicht als mein Nachfolger, wohlgemerkt, eher als kleiner Seelenfänger. Als bescheidener Händler des Schmerzes, nur eine Fliege in den Augen der Großen Herren der Neun Höllen. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass du deinen Platz im großen Rad des höllischen Glücks gefunden hast... Deine Gier nach der Krone von Karsus hat mich amüsiert. Ehrgeiz ist der Gestank der Dummheit der Jugend. Doch es ist nicht das, was mich so verärgert.“ 

Die Kreatur spuckte Blut und rang nach Luft. Irgendetwas schien ihre Atemwege zu blockieren.

„Sei artig und ich verschone dich vielleicht. Aber sei dir bewusst: Wenn mir deine Antwort missfällt, werde ich dich heute Nacht töten. Endgültig.“

Er konnte es kaum abwarten.

„Also, ich möchte etwas über drei Bekanntschaften von dir wissen. Erstens: Wer ist diese Hope? Ich habe gehört, dass ihr ewiges Brabbeln meinen Inkubus fast in den Wahnsinn trieb. Du hast die Erlaubnis zu antworten.“

„- Aah.“

„Wenn das Blut in deinem Rachen dich am Sprechen hindert, darfst du ausspucken. Junge. Jetzt.“

Und die Kreatur tat es.

„Wer war sie?“

„Dickköpfig, Dienstverweigerin“, würgte sie, und ein rotes, blasenschlagendes Rinnsal lief ihr über die Lippe, dann über Wange und Schläfe. „Herrin über das Haus der Hoffnung.“

„Sie hat also die Macht über das fliegende Schloss und in all den Jahrhunderten konntest du sie ihr nicht nehmen?"

Schweigen. 

"Oder war da noch etwas anderes zwischen euch? Fühltest du dich zu ihr hingezogen? Bist du schwach geworden?"

Zappeln, Gurgeln, dann ein halbersticktes "Nein".

Der Erzteufel ließ seine Krallen über die bebenden Rippen gleiten. "Lügst du mich an?"

"Nein!"

"Warum hast du sie nicht körperlich gebrochen?"

Die gestammelte Antwort ging in einem Husten unter und Mephisto öffnete die linke Flanke. Der Gefangene schrie auf.

"Wie war das?"

"Langweilig!"

Mit einem enttäuschten Seufzer lehnte sich Mephisto zurück und leckte seine Klauen.

"Gut. Du bist also all die Zeit nicht in der Lage gewesen, eine mickrige Zwergin zu dominieren und hast dich damit begnügt, sie als Batterie und Gelegenheitsspielzeug zu halten. Ich nehme das so hin, auch wenn es furchtbar müßig klingt. Ich kenne aber faulere Erzteufel als dich, deine Bequemlichkeit sei dir also verziehen. Und jetzt zum nächsten Punkt: Du hast einen Menschenknaben gehalten, bis er dir davonlief. Warum?“

„Klug. Potenzieller Diener... das Gate beeinflussen.“

„Wozu?“

„Um mehr Seelen zu ernten. Und später... Die Krone.“

„Ah ja, Haarlep hat mich darüber informiert, dass dieser Junge einen von Karsus' Steinen besaß“, Mephistopheles schnalzte mit der Zunge, „wenn das stimmt, muss ich dir entweder zu deiner beeindruckenden Weitsicht gratulieren oder zu deiner perversen Portion Glück, die du in diesem Spiel hattest. Wie auch immer, es hat dir doch alles nicht geholfen. Nun zur letzten Bekanntschaft.“ 

Er ließ sich Zeit und leckte über den nackten Oberkörper, wobei er immer gieriger wurde. Es blitzte erneut und die Silhouette des Verstümmelten erstrahlte in grellem Schwarzweiß.

„Erzähl mir von dieser anderen Sterblichen. Wie war ihr Name doch gleich... Tav.“

Krachend fuhr der Donner über sie hinweg und alles, was nicht massiver Stein war, erzitterte.

„Eine menschliche Abenteurerin“, erinnerte er sich langsam, „ein Niemand, der später in den Besitz der Krone kam und sie irgendeiner unbedeutenden Göttin schenkte. Ich bin neugierig. Was war dein Ziel hier?“

Der Gefangene blieb still. Mephisto stieß ihn an und ließ ihn wie ein Pendel baumeln.

„Dein Schweigen spricht Bände, weißt du. Welcher Art war eure Beziehung? War sie für dich, Raphael? Sprich und vielleicht darfst du leben.“

„Sollte mir die Krone ausliefern...“

Er hustete noch mehr Blut.

„V-Vertrag.“

„Aber nicht von Anfang an."

„Ich hatte einen Plan...“

„Oh Raphael. Du bist ein schlechter Lügner.“

Wieder Stille.

Mephisto schnaufte unzufrieden. Warum wiederholte sich Geschichte immer? 

Das Verhör hatte ihn jetzt richtig hungrig gemacht. Sein Reißzahn kratzte an Raphaels Fußsohle. Entlockte seinem verstümmelten Körper, der kopfüber hing, noch mehr Blut. Die Schwingen und das rechte Bein hatte er bereits gegessen. Dann war seine Leber dran gewesen. Die Serviette um Mephistos Hals war blutig rot. Ah, sein Sohn schmeckte nach einer Sünde, die selbst die des Erzteufels übertraf. Seine Säfte waren durchsetzt mit Müßiggang, Ausschweifung und zu viel unnötigem Umgang mit Sterblichen, was eines Teufels oder Unholds unwürdig war. Er war zu sehr ein Bastard. Ein niederer Kambion. Kind einer Menschenfrau. Ein Freak.

„Ich sage immer: „Begehrst du mit deinem Schwanz, so handle mit deinem Schwanz. Denn nichts anderes wird funktionieren. Entweder du fickst oder du schneidest ihn dir ab, aber du lässt - ihn - nie - unbeachtet.“

Er stemmte die roten Fäuste in die Seiten und schüttelte den Kopf wie ein enttäuschter Vater. 
„Du hättest sie dir nehmen und dieses Verlangen STILLEN sollen. Aber du bist einfach so verklemmt. Das ist nicht nur widerlich", sagte er und wedelte mit dem Finger, “es ist auch gefährlich. Es gefährdet deine Weltordnung. Und habe ich dich nicht die Wichtigkeit von Ordnung gelehrt, mein Sohn? Ah, dieses Vögelchen muss dir wirklich den Kopf verdreht haben. Vielleicht statte ich ihm einfach einen Besuch ab, wenn ich mit dir fertig bin.“

Die Kette rasselte. Ein Ächzen. Doch der Herr von Cania drehte sich nur um und nahm ein Schmuckstück aus geflochtenen Netzen und Steinen von einem Tisch, der in der Nähe stand. Es leuchtete und schien zu summen. Er trat erneut heran und legte es um Raphaels schwarz gewordenen Beinstumpf. 

„Traumfänger, hah. Was für eine entzückende Idee. Vielen Dank, dass du mir diese bemerkenswerte Technik nähergebracht hast. Doch jetzt", er hob sein Fleischermesser auf, das auf dem nassen Steinboden gelegen hatte, “werde ich mein Messer wetzen gehen. Und wenn ich zurückkomme, werde ich dich verspeisen, mein Kind. In der Zwischenzeit viel Spaß mit diesem kleinen Ding hier. Es enthält keine Alpträume, so wie dein Traumfänger, sondern vielmehr die letzten Stunden deiner Mutter mit mir; es ist nicht gerade ein Kinderkonzert, aber genieß die Geräuschkulisse trotzdem. Wir sehen uns gleich wieder.“

Chapter 2: 2 Ein Fuchs kam in die Küche

Summary:

Das Teppichgeschäft macht sie vielleicht nicht unbedingt stinkreich, aber es hält sie beschäftigt. Hilft ihr dabei, die Vergangenheit zu vergessen. Bis Tav plötzlich einen Geist zu sehen scheint.

Notes:

Tavs Song: Sheryl Crow - Riverwide

Kurzes Who's Who
Tav ist eine klassenlose, menschliche Nichtkämpferin, die in Das Netz Teil I mit ihrem Kumpel Barth zu neuen Abenteuern auszog, um der Langeweile ihres Berufs zu entgehen. Sie verirrten auf den Nautiloiden und wurden infiziert. Die beiden haben sich bis Akt 2 nur mit Wylls und Scratchs Hilfe durchgeschlagen. Das heißt, Tav ist Gale, Shadowheart, Karlach, Astarion, Lae'zel, Minthara, Withers und Glücksbärchi nie begegnet.

Chapter Text

Es heißt: Mann sieht sich immer zweimal im Leben. 

Tav ist in ihren jungen Jahren so viel herumgekommen, hat die Größe der weiten Welt erlebt und so viele Persönlichkeiten kennengelernt und nie wieder gesehen, dass sie mittlerweile am Wahrheitsgehalt des Sprichworts zweifelt. Es kann nicht wahr sein, die Gesetze der Welt verbieten es.
Vor allem aber hätte sie es hinsichtlich einer ganz bestimmten Person niemals unterschrieben, weil sie dieser - gemessen an ihrer eigenen bürgerlichen Herkunft und arbeitssamen Natur - niemals hätte begegnen dürfen. Nicht ein einziges Mal, geschweige denn ein zweites Mal. Das erste ist noch ein Versehen gewesen, ein wundersamer Zufall. Wundersam, weil sie ihren ersten Inkubus traf, einem infernalischen Wesen, das üblicherweise nicht einfach ungefragt auftaucht. Dieser Inkubus war seinem Herrn mehr oder minder entlaufen und stieß im Tempel der Anwälte und Bürokraten, namentlich im Schrein von Asmodeus, welchen die junge Frau gerade im Rahmen ihres allerersten Teppichauftrags ausschmückte, mit ihr zusammen. Tav erinnert sich noch an das, was sie damals getragen hat: zum einfachen, farblosen Arbeitsgewand eine sinisterschwarze Schürze mit blutroter Borte. Sie hatte die Schürze dem religiösem Anlass entsprechend gewählt und dazu schweren, roten Ohrschmuck angelegt, mit dem Haarleps Klauen spielten. Dieses Aufeinandertreffen, das ihr übrigens den ersten Zungenkuss bescherte, bevor der ungehaltene "Besitzer" auftauchte und seinen Lustgeist von ihr runterzog, ist exakt 13 Jahre her. Damals hat sie noch darüber gelacht.

Das letzte Mal, dass er - der Besitzer - und sie sich begegneten, ist im Haus von Hope gewesen. Mit ihrer Peitsche um seinen Hals und dem Kambion auf den Knien.

Am Morgen ihres 32. Geburtstags zog Tav ihre Wasserkanister durch den Bach, der außerhalb der Stadtfestung nahe am Waldrand verläuft, weil irgendein Diabolist mal wieder das Trinkwasser verseucht hatte. Da sah sie ihn. Nein, das war nicht möglich. Sie hatte ihn besiegt. Getötet und ihn in Mephistopheles' mörderische Fänge befördert. Aber dort stand er nun, Raphael, auf der anderen Uferseite, in Fuchsgestalt und beobachtete sie seelenruhig. Hätte sie eine Bombe dabei gehabt, wäre diese in sein Fuchsgesicht geflogen. Hatte sie aber nicht, also starrte sie ihn nur böse an und ging nach Hause. Am Abend, als sie von ihrem kleinen Geburtstagsumtrunk mit ihren Cousins nach Hause kam, stieg Tav in ihr Netz und dachte an all das, was sie vor drei Jahren verloren hat. 


"Tav," flüsterte er ihr nachts ins Ohr, "MÄUSCHEN."
Sie saß kerzengerade im Bett und starrte in die Dunkelheit. Es war niemand da, nur die olfaktorische Visitenkarte von nassem Hund hing noch in der Luft. Kein Schwefelgeruch.

Zwei Tage lang meidet sie den Fluss. Dann ist der große Kanister leer und es gibt keine Ausreden mehr.


Bei ihrem nächsten Treffen hat sie dieses Mal eine Peitsche dabei. Es ist die älteste in ihrer Sammlung. Das Ende der Treibschnur ist zerfleddert, und der Knauf löst sich auf. Aber es ist die Peitsche, mit der sie ihn besiegt hat: Es erfüllt sie mit dem Gefühl göttlicher Rechtschaffenheit, als sie wieder am Waldesrand damit nach ihm schlägt. Sie glaubt, sie hat den Fuchs an der Vorderpfote erwischt, aber er springt blitzeschnell zur Seite und dann zurück. Es wird schnell klar, dass er nicht verschwinden will, also lässt sie den Kanister fallen und geht in den Kampfmodus, um den Albtraum ihrer Vergangenheit zu verjagen. Ihre Peitsche ohrfeigt ihn ein paar Mal, bis sich der Schwanz endlich um seine Kehle schlingt und ihn ruckartig von den Füßen zieht. Jaulend fliegt er durch die Luft, über den Graben und in dieser Sekunde verwandelt sich das Tier in eine Menschengestalt, das heißt: Es reißt Tav zu Boden und landet mit dem Gewicht eines ausgewachsenen Mannes auf ihr. Tav fliegt die Peitsche aus der Hand und sie kann vor Staunen nichts anders tun als zuzuschauen, wie Raphael über ihr abrollt und auf allen Vieren im Herbstlaub landet, elegant wie eine Katze. 

Wie eine verwilderte und splitterfasernackte Katze. Schon hat er sich die Peitsche vom Hals gerissen und fortgeschleudert. Bevor Tav aufspringen und zu ihrem Dolch am Gürtel greifen kann, ist er wieder auf ihr. 

"Hör auf", ruft er und seine Stimme klingt heiser und gebrochen, "aufhören, sonst werde ich-" 

Sie tut, was so manche Frau in ihrer Situation tun würde: Sie reißt das Knie hoch und stößt den jetzt japsenden Mistkerl von sich. Knurrend reißt sie die Peitsche im Laub an sich und krabbelt etwas unflink zurück auf die Füße; sie ist bereit für den nächsten Angriff. Nein, sie wird sich nicht vom Teufel holen lassen. Sie lässt ihn noch einmal die Knute spüren und Raphael stolpert kauernd fort, sein blanker Hintern das letzte, was sie sieht.

 

Den ganzen Tag denkt sie an ihn und wie er sie angefallen hat.

Sie versteht selbst nicht, wieso sie ihn in seiner Fuchsgestalt wiedererkannt hat oder gar unter all dem Dreck und dem lang gewordenem Haar. Vor ihrem inneren Auge sieht sie die Striemen, die ihm ihre Peitsche verpasst hat, ein rotleuchtendes Paar quer über seine Grimasse, was sie mit einer gewissen Befriedigung erfüllt, wenn sie daran zurückdenkt.

Sein verwilderter Zustand bringt sie allerdings ins Grübeln sowie die Tatsache, dass er ihr nackt und ohne Widerstand erschienen ist. Sie beschäftigt sich an diesem Tag nicht mit komplexen Aufgaben, lässt die ungeliebte Logistik auf dem Schreibtisch ihrer Buchhalterin liegen, und widmet sich nur den freundlichen Gesprächen mit den gelegentlichen Ladenkäufern und Auftraggebern, die die nächste Fuhre an Teppichen abholen. Der Großteil ihrer Ware geht mittlerweile nach Neverwinter sowie bis nach Menzoberranzan; seit ihrer Parasiten-Odyssee hat sie sogar Abnehmer in Baldur's Gate sowie eine exzentrische Kundin aus Avernus, die ihr aber, den Göttern sei Dank, nur selten einen Direktbesuch abstattet (Wyll hat sich ausreichend darüber empört, als er erfuhr, welches "Teufelsweib" sich Tav angelacht hat). Ansonsten ist Gus Tava, Weberin von Helm's Hold, für nichts Besonderes bekannt. Keine Ehrenmedaille, keine Einladungen zu Hofe. Und mittlerweile auch wenig Freundschaftsbesuche aus dem Süden.

Sie macht einen kurzen Check an ihrem magischen Webstuhl, der seit acht Jahren tadellos und fast wie von selbst alle Webarbeit für sie erledigt, und zieht sich mittags, als das Tageslicht ideal fällt, für ein paar Stunden in ihre kleine Werkstatt zurück, um an einem neuen Teppich zu arbeiten. Sie knüpft ihn per Hand. Es ist eine Technik, die sie erst nach Ende ihres großen Abenteuers aufgenommen hat. Das Erlernen und allmähliche Perfektionieren der Technik verschafft ihr... Ablenkung. Gibt ihr etwas anderes als immer nur im Stillen Urnen zu polieren und der Toten zu gedenken.

Der Arbeitstag geht spät zu Ende; Tav lässt das Licht im Geschäft noch weit nach offiziellem Ladenschluss brennen. Ihre Cousinen, Zwillinge verheiratet mit Zwillingen, kommen vorbei und sie lädt sie zu Wein ein. Aber auch diese zwei Flaschen sind bald geleert und sie gehen, als ein schwerer Regenschauer über die Stadt hereinbricht. Unruhig sieht Tav ihnen hinterher und schließt dann die Tür ab. Heute fürchtet sie die Dunkelheit. Und vielleicht sollte sie das auch. Denn noch in der gleichen Nacht kratzt etwas an der alten Holztür, das zum finsteren Lager hinunterführt. 

Chapter 3: 3 Saure Trauben

Summary:

Eine Fortsetzung des letzten Kapitels... Der Fuchs ist jetzt in der Küche. Was nun?

Notes:

Ich verweise hier und da auf Das Netz Teil I, Kapitel "Tick" und "Tock". Man muss sie aber nicht gelesen haben, um mitzukommen.

Chapter Text

Sie öffnet und vor ihr steht Raphael in Fuchsgestalt.

Er hat seine großen, schwarzen Ohren angelegt und blickt zu ihr hinauf. Eins seiner Gehöre ist eingerissen, aber es muss schon älter sein. Die rechte Vorderpfote ist angezogen und Tav sieht auch warum. Ihre Peitsche hat ihn so knackig erwischt, dass sie eine blutige Scharte in sein Fell geschlagen hat. Und auch an Gesicht und Rücken hat er die vertrauten Striemen, die sie anfangs so tief befriedigt hatten, als sie an sein menschliches Gesicht zurückdachte. Jetzt allerdings köchelt das schlechte Gewissen in ihr. Das Tier ist braucht Hilfe. 

'Verflixt nochmal, das ist kein Tier, das ist Raphael,' schimpft sie sich in Gedanken.

Der Unhold. Der umstürzlerische Kambion, der versucht hat sie UMZUBRINGEN. 

"Wenn ich dich hereinlasse, willigst du in die Regeln dieses Hauses ein. Das heißt: kein Töten, Bedrohen, Diebstahl oder Vandalismus. Verstanden?"

Er hechelt und blinzelt zwei Mal mit den Augen, was alles Mögliche bedeuten könnte. Und sie lässt ihn trotzdem herein (in ihrem Lagerhaus ist er ja schon) und er trippelt geschwind in ihr Geschäft. Seine Schritte sind schnell und ungleichmäßig und sein Fell stellenweise lückenhaft, als sei es ihm herausgerissen worden. Ach ja, er ist außerdem pitschnass.

Nach einmal kurz schnuppern hoppt der Teufel die Treppe zu ihrer Wohnkammer hoch, bevor sie ihn greifen kann, seine buschige Lunte pendelt dabei hin und her. 

"Hey!" ruft sie erbost und läuft ihm nach.

Er sitzt schon auf der Lesebank ihres winzigen Erkers im Flur, als sie ihn einholt, und starrt aus dem Fenster. Sitzt mit seinen dreckigen Pfoten auf ihrem cremefarbenen Lesekissen. Tav will es ihm unter dem Hintern wegziehen, aber Fuchs-Raphael wendet den Kopf und knurrt sie scharf an. Sie lässt von ihrem Vorhaben ab und er dreht sich wieder seiner Observation am Fenster zu, das ihm einen hervorragenden Ausblick auf die Stadt und Hauptstraße gibt. Seine orange-braunen Fuchsaugen starren aufmerksam und er leckt sich nur zwischendurch kurz die lahme Pfote. Davon abgesehen ignoriert er vollständig Tavs Anwesenheit.

In dieser Nacht schließt sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Tür zu ihrem Schlafgemach ab und geht mit ihrem Dolch zu Bett. Nicht, dass diese Maßnahmen einen ausgewachsenen Mann oder gar einen Kambion aufhalten könnten. Natürlich schläft sie ausgerechnet heute Nacht hervorragend. Der Wein ist ein Komplize des Teufels.

 

Als sie am frühen Morgen die Tür aufsperrt und mit dem Dolch in den Flur lugt, ist der Fuchs immer noch auf der Fensterbank. Oder besser gesagt 'wieder': Sie sieht Pfotenabdrücke auf ihrem Läufer im Flur und später unten im Geschäft. Murrend, und zwar so laut, damit ER es hören kann, schrubbt sie den Boden sauber, um keine Kunden mit diesem Saustall zu vergrätzen. Danach stampft sie an ihrem ungebetenen Gast vorbei, um Katzenwäsche im Bad zu machen. Er tut so als schlafe er, aber seine großen Ohren drehen sich wie ein Schalltrichter in ihre Richtung. Wahrscheinlich weiß er das gar nicht. Beim Fertigmachen für das Tagesgeschäft stellt Tav sich vor, dass er fort ist, wenn sie gekämmt und herausgeputzt herauskommt. Aber natürlich ist er nicht verschwunden. Und warum sollte er? Der Teufel will ja etwas von ihr. Tav schließt das Lager auf und wirft den Webstuhl mit dem magischen Kennwort an, holt die teuren Läufer und Kleinteppiche zur Anschauung in den Hauptraum und öffnet die Ladentür. Ja, er will etwas von ihr. Sie wird wohl warten müssen, bis er bereit ist, es ihr mitzuteilen.

Es vergehen Stunden, bis der erste potenzielle Käufer das Geschäft betritt und im Übrigen auch die halbe Straße an den Stiefeln mit hineinträgt. 

 


 

Raphael fläzt auf der Treppe und sieht zu, wie sie einen Abtreter nach dem anderen aus dem Bestand holt und die geistlosen Fragen einer geldigen Bürgerin beantwortet, die am Ende drei Exemplare "totschick" findet und keinen einzigen kauft. Sie kommentiert lediglich die Anwesenheit des wilden Fuchses, den Tav zuvor unauffällig mit Blinzeln und Zähneknirschen fortzudiktieren versuchte. Tav gibt auf und antwortet: "Das ist ein Hausgeist... Ich dressiere ihn." Mit unterschwelliger Aggression gegenüber der blasée Oberstädterin, die endlich davonstöckelt, und mit offener Animosität für den Teufel auf ihrer Treppe, rollt Tav die ganzen Läufer wieder ein und stapelt sie lautstark aufeinander.

"Was willst du?" fragt sie ihn mehrmals, aber er hechelt nur träge, also trägt sie mit einem genervten Seufzer die Ware zurück ins Lager. 

Wieder zurück stellt sie sich mit den Fäusten in den Hüften vor ihn (natürlich sitzt er so weit oben, dass sie zu ihm aufschauen muss, dieser arrogante Kleinfürst) und mustert ihn scharf. Sie teilt ihm mit, dass sie ihn weder füttern noch medizinisch versorgen wird und dass er sich gefälligst zu waschen hat, wenn er ihr Mobilar nochmals zu nutzen gedenkt. Er zieht sich zurück und leckt sich das Fell. Tav schwört sich, ihn hungern zu lassen und auf keinen Fall weich zu werden, weil sie doch weiß, wer der Fuchs in Wirklichkeit ist.

Am Abend stellt sie ihm eine Schüssel mit Wasser und einem Rest Schweineschwarte hin. Raphael kommt an und schnuppert als könnte es vergiftet sein (oder, besser gesagt, als wäre es unappetitlicher Menschenfraß); er wirft ihr einen missfälligen Blick zu und beginnt dann zögerlich zu fressen. Er schafft es tatsächlich mit seinen kleinen spitzen Fängen auszusehen, als nähme er die Schwartestückchen mit gespreizten Adelsfingern. Dieser affektierte Lackaffe.

Sie fragt sich, warum er sich von ihr füttern lässt. Wieso verwandelt er sich nicht?

Nachts liegt er auf der Lesebank und starrt hinaus. Zwei Dinge kann sie sich nicht erklären: Warum sie die beiden Totenurnen zum Teufel nochmal vom Kaminsims im Esszimmer entfernt hat. Und warum es ihr wichtig war, dass er es nicht mitbekommt.

 


 

Am dritten Tag macht eine Meldung in der Gazette, nun ja, nicht unbedingt die Schlagzeile, aber immerhin eine Randbemerkung auf der zweiten Seite. Die ist so kurios wie bedeutsam in dem Puzzle namens Raphael: Angeblich tauchen gehäuft tote Füchse in der Region auf, deren Zahl dramatisch steigt, je näher an Neverwinter. Angeblich haben mehrere Personen außerhalb der Stadt eine ganze Gruppe von Warlocks gesichtet, die die Tiere abschießen und seltsame Zauber an ihnen wirken. Einer Zeitungsrecherche zufolge zieht sich die Blutspur in drei Himmelsrichtungen. Es scheint, als würde der Fuchsbestand in diesem Teil von Faerûn gerade dramatisch dezimiert werden.

Den ganzen Tag hat sie ihn nicht zu Gesicht bekommen, und das macht ihr überhaupt nichts aus, denn sie beide haben (wohl) Besseres zu tun, als sich gegenseitig auf den Senkel zu gehen. Am frühen Abend erwischt sie ihn aber im Lagerraum; der einzige Grund, weshalb der Fuchs sie nicht hat hören kommen, ist weil Tav nach einer weiteren Runde mit dem Wischmopp auf barfüßenen Zehenspitzen durchs Lager geht.
In dem labyrinthischen Teppichgemenge hat er ihre Truhe gefunden. Ihren geheimen, höchstpersönlichen Tresor. Verflucht nochmal. Sie sieht, wie er an dem schweren Holzkasten schnüffelt und dann rasch zweimal hintereinander niest. 

"Was machst du da?" bellt sie.

Der Fuchs schreckt über ihre Stimme auf und dann, mit Ohren so flach wie ein Brett, schenkt er ihr ein kaum hörbares, tiefes Knurren. Als staube er sich ungeniert die Schulter ab, will er locker an ihr vorbeitraben, aber sie versperrt ihm den Weg.

"Ich weiß, dass du dich bei mir versteckst, Raphael," sagt sie schnell und blockiert erneut den Ausgang. Er wirft ihr ein mörderisches Augenfunkeln zu und hebt die Lefzen. "Und bald wissen es auch die Warlocks. Sie sind schon vor Helm's Hold, weißt du das eigentlich? Sie schlachten gerade Nordfaerûns gesamten Fuchsbestand ab- Hey!"

Er huscht durch ihre Beine und Tav bekommt ihn am Schwanz zu fassen. Mit dramatischem Fuchsgeheul wirft er sich auf den Rücken und schnappt nach ihr. Tav zieht zischend die Hand zurück, aber er hat bereits ihre Finger erwischt.

"Verflixt," keift sie und hält sich die blutende Hand, "als Nächstes werden sie die Stadt durchkämmen. Und was dann, haust du wieder ab?" 

Sie brüllt ihm nach. "Flucht? Ist das dein grandioser Plan? Bitte schön!"

Grummelnd überprüft sie, ob die Truhe noch abgesperrt ist und sieht dabei immer wieder über ihre Schulter.

 


 

In den frühesten Morgenstunden des vierten Tages - am Himmel grüßt schon das erste Blau - reißt sie plötzlich ein furchtbares Heulen und Meckern vom Flur aus dem Schlaf, dass Tav das Blut in den Adern gefrieren will. Stockstarr liegt sie im Bett und lauscht. Es klingt, als war eine Ziege in den Wringer gefallen und strample und kreische im Todeskampf, und für einen Augenblick denkt sie: Ein Lich! Nein, in Helm's Hold, das kann nicht sein. Eine alte Drude vielleicht, die der Teufel zu Tode beißt? Das Kreischen geht in ein hohes, schwaches Fiepen über und sie findet den Mut die Zimmertür zu öffnen, nur einen Spalt natürlich, und mit ihrem Dolch in der einen und einer Viole Alchemistenfeuer in der anderen Hand. Im Dämmerlicht erkennt sie nicht viel, aber der Anblick erinnert sie stark an ihren damaligen Ausflug zum Bhaal-Tempel. Blut. Fell. Zwei Hörner. Ein atmender Klumpen, mehr nicht. Und obenauf ein länglicher Tierschädel mit einem schief aufklaffenden Kiefer, und aus dem Maul entweicht ein Weh und Schmerz, der ihr das Grauen über den Rücken jagt. Der Fuchs: verschwunden.

Tav knallt die Tür zu und riegelt sie ab. Nein. NEIN. Sie geht von jetzt an nicht mehr vor die Tür. Tav läuft in Kreisen durch ihr Zimmer, lauscht den Geräuschen aus dem Flur und läuft weiter. Läuft, bis der Morgenhimmel babyblau wird und mit den Nachtschatten das Grauen aus den Adern schwindet. Sie beschließt, den Feind in ihrem Haus entgegenzutreten. 

 

Als sie schwer bewaffnet in den Flur tritt, sitzt er nackt unter der Fensterbank, die Arme auf den Knien gestützt, und sieht Tav mit einem übellaunigen Stirnrunzeln an. Der Fellklumpen ist fort, lediglich eine eingetrocknete Blutlache unterm Fenster zeugt davon, dass Tav sich das deformierte Ungeheuer nicht eingebildet hat.

"Ein Bad. Ich brauche eins," sagt er. Das zottelige Haar hängt ihm über die Augen. "Und was zum Anziehen."

 


 

Hätte sie gewusst, dass sie den Vormittag mit Wasser schöpfen und Zuber aufheizen verbringen würde (sie kann schließlich nicht zaubern), und welchen Dreck ihr Gast schon wieder verursacht hat, hätte sie den Fuchs nie in ihr Haus gelassen. Es war dumm von ihr, ihm überhaupt die Tür geöffnet zu haben. Aber der Fuchs ist jetzt ein Mann, also bezahlt Tav ein paar Kinder von der Straße fürs Wasserholen, wirft die Heizsteine ins Feuer und bereitet Frühstück für zwei vor. Erst beim Brotschneiden merkt sie, dass ihre Hände zittern.

Für gewöhnlich lässt sie keinen Mann in ihr Bad, weil es in ihrem privaten Schlafgemach steht und nur durch einen Vorhang vom restlichen Raum getrennt ist. Und für gewöhnlich leiht sie keinem Mann eins ihrer Handtücher, geschweige denn Seife und Striegelbürste. Das sind alles Dinge, die sie selbst benutzt. Aber Tav war schon immer ein wenig adelshörig und ob es nun der blaublütige Bürgermeister oder ein Prinz der Hölle ist, spielt keine Rolle, beides triggert ihre kleinbürgerliche Erziehung. Es mag auch an seiner dünkelhaften Attitüde liegen, die er mit einer Selbstverständlichkeit ausstrahlt wie die Sonne das Licht. Sie stellt ihm sogar eine Heillotion für seine Verletzungen hin, die kurioserweise immer noch sichtbar sind. Raphael ist in der halben Woche nicht genesen, zumindest nicht in der Geschwindigkeit, die sie bei einem seelenfressenden Unhold vermutet hätte. 

Als er sich satte drei Stunden später an den gedeckten Tisch in dem kleinen Esssalon setzt, ist er nur in ihr Handtuch gewickelt. Er weigert sich die Kleidung, die sie ihm hingelegt hat, anzuziehen. Ein Affront des guten Geschmacks, sagt er, während er eine der teuren Tafeltrauben isst und vom exquisiten Apfelsaft ihres Vetters kostet. Verzieht den Mund zu einer Grimasse: Die Trauben sind ihm nicht süß genug. Frechheit. Außerdem hätten die Stiefel nicht die richtige Größe. Tav hat heute Morgen 80 Goldstücke in den Wind geblasen, um ein verfluchtes Outfit zusammenzustellen. Aber sie sagt es ihm nicht, sondern sitzt nur brütend am Tisch. Mit einem Ohr hört sie auf die Klingel ihrer Ladentür, aber ihre Augen kleben an seinem nackten Torso und können sich nicht davon lösen. Er ist immer noch etwas feucht vom Bad, denn in der lichten Behaarung seiner Brust glitzern die Wassertropfen. Als er ihre Verlegenheit bemerkt, lacht er amüsiert. Tavs Blick fällt tiefer auf seine mitlachenden Bauchmuskeln.

"Sei ein braves Hündchen und besorge mir etwas Neues zum Anziehen. Und investiere das nächste Mal etwas mehr Kupfer in deinen Einkauf."

"Was kriege ich dafür?", fragt sie, als sie endlich die Fassung wiederfindet.

"Meine ewige Dankbarkeit," sagt er naturgemäß arrogant, aber dann fällt ihm noch etwas ein, "in Form einer einstündigen Pause von meinem Fleischerhaken."

Sie erinnert sich an sein einstiges Versprechen: "Und wenn ihr mir die Krone weiterhin verwehrt, nehme ich mir eure Seelen. Dann kommen wir vereint im Hause von Hope zusammen, ich in meinem besten Dress und ihr gehäutet an einem Fleischerhaken im Angesicht eurer brennenden Welt." 

"Wow, gleich eine ganze Stunde."

"Gemessen an dem vollen Jahrhundert, das du an ihm hängend verbringen wirst, ist es nur ein kurzer Atemzug." Und schon gewinnt sein zerkratztes, stoppeliges Antlitz wieder etwas von seiner alten, teuflischen Schärfe zurück. "Doch diese Stunde wird die süßeste aller Erlösungen sein, das verspreche ich dir."

Ihre Blicke kreuzen sich und sie muss wegsehen. Sie spürt, wie ihre Ohren glühen. Raphaels Kommentare hatten schon immer einen frivolen Anstrich, ohne dass wirklich etwas dahintersteckte (außer Tod und Folter vielleicht); es ist nichts, was sie nicht schon einmal in irgendeiner Taverne gehört hätte. Nur jetzt bringen seine Anspielungen sie aus dem Konzept und sie wünscht sich, sie könnte sich vor seinen Augen verstecken, nun, da er so halb entblößt vor ihr sitzt wie ein verlotterter Adonis.

Glücklicherweise hat er die Augen schon wieder gesenkt und widmet sich der kleinen Frühstücksselektion vor sich. Tav linst ebenfalls auf das Angebot und beobachtet, wie er eine Scheibe Brot erst großzügig mit Butter und dann dick mit Fleischpastete bestreicht. 

"Wer will dich umbringen?"

"Soll ich dir eine Liste mit all den Namen anfertigen?" 

"Ist es ein Erzteufel? Mephistopheles?"

Er zögert nur für den Hauch einer Sekunde beim Verstreichen der Pastete, aber es entgeht ihr nicht.

"Und ich wundere mich: Wie kommst du ausgerechnet auf diesen unseligen Namen?"

"Ich sah dich in seinem Folterkeller hängen, nicht lang nach unserem Kampf im Haus von Hope."

Sie sieht seinen Kiefer arbeiten. "Und dein großes Heldinnenherz ließ mich einfach baumeln wie einen Fisch an der Angel? Ich bin untröstlich."

"Ich hatte die Schwertküste vor einem Nesserhirn zu retten, du verstehst."

"Ich hing dort noch eine ganze Weile."

"Und ich war eine ganze Weile in Trauer," erwidert sie frostig.

"Ah, ist das also, was du in deiner Truhe aufbewahrst? Erinnerungen an eine verlorene Liebe?" raunt er unerhört heiter, "dachte ich mir doch, dass ich das fischige Odeur von Chitin gewittert habe."

Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber die Erwähnung von Kar'niss schmerzt immer noch wie ein Stich in der Brust. Raphael muss so verflucht stolz darauf sein, dass er die Seele des Driders kurz vor dessen frühem Tod zu stehlen vermochte.

"Und die Warlocks?" kommt sie umstandslos zum Thema zurück, "wem gehören die?"

"Ich habe nicht die blasseste Ahnung, meine Liebe."

"Werden sie hierher kommen?"

"Je länger ich in Menschenform bleibe, desto wahrscheinlicher ist das."

Sie schenkt ihm ein Stirnrunzeln.

"Warum verwandelst du dich nicht einfach in ein anderes Tier?"

"Oh, Mäuschen, ich weiß, wie gern du mit allerlei Tierchen kuschelst." Wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt so durchlöchert wie waterdhavianischer Käse. "Aber wenn du glaubst, ich würde für den Rest meines Lebens in Tiergestalt herumlaufen, hast du dich leider geirrt. Doch keine Angst, ich habe einen Plan."

"Du hast letzte Nacht versucht dich zu verwandeln, stimmts?" unterbricht sie ihn. "Und es hat nicht geklappt. Huh." 

Sie kann die Warnung in seinen Augen förmlich aufblitzen sehen, bevor er es hinter einem neuen polierten Hausiererlächeln verbirgt.

"Mein Plan sieht es nicht vor, noch weiter in Tierform zu darben; ich habe weit Größeres im Sinn. Und dies inkludiert dich, meine emsige Weberin. Allerdings bedarf es einer gewissen Bewegungsfreiheit meinerseits und, nun ja, dazu gehört passende Bekleidung."

"Warum zauberst du dir nicht einfach ein Kostüm herbei?"

Er seufzt leicht genervt. "Ich werde dich nicht mit Details langweilen, nur so viel verrate ich, damit wir diesen noiose Fragen einen Riegel vorschieben: Die Säulen der Seelen, die du zerstört hast, standen nicht zur reinen Deko in der Empfangshalle. Ich dachte, das sei dir bewusst gewesen: Deine Kumpanen zertrümmerten sie damals mit einer Hartnäckigkeit, dass ich annahm, ihr hättet es mit Absicht getan. Huh, was für ein Glücksfall für euch."

Sie korrigiert ihn gar nicht erst.

"Du bist von deiner Magie abgeschnitten."

"Nicht per se, ich bin nur etwas... ausgelaugt."

Er lächelt dünn und ja, es lenkt ihren Fokus auf die Schatten unter seinen Wangenknochen. Raphael sieht abgeschlagen aus. Seine Augenringe sind so tief, dass man vermutlich eine Goldmünze hineinwerfen und auf das Auftreffen am Grund lauschen könnte.

"Die paar herumstreunenden Seelen in Avernus, die ich einzufangen vermochte, konnten mich nicht vollständig sättigen."

Seelen wie die von Kar'niss. Er nimmt einen herzhaften Bissen. 

"Ich werde dir nicht helfen," sagt sie sofort.

Er kaut genüsslich, bevor er antwortet. "Ich wusste, dass du mich ablehnen würdest, auch wenn mich deine Herzlosigkeit erneut schockiert. Was ist mit der warmherzigen Gus Tava, die für ihre Freunde durchs Feuer geht, geschehen, hm?"

"Zum letzten Mal, Raphael: Wir sind keine Freunde."

"Noch jedes Monster fand ein Plätzchen an deinem Lagerfeuer."

"Nicht für echte Monster."

"Wie dem auch sei, ich bin gewillt dich für deine Hilfe reich zu entlohnen."

"Du hast nichts, was ich will." Sie mustert ihn verächtlich. "Du hast noch nicht einmal die Macht mir irgendetwas zu erfüllen."

"Noch nicht. Aber ich bin dabei das schnell zu korrigieren. Ich gebe dir einen vollen Tag, dir deinen Wunsch zu überlegen."

"Ich wünsche mir, dass du verschwindest."

"Und das werde ich, sobald es sicher genug ist. Hilf mir dabei und du hast mich aus dieser charmanten Baracke schneller raus, als du Baldur's Gate sagen kannst."

"Ich hetze die Warlocks auf dich."

"Tu das und wir sind beide des Todes, Retterin von Baldur's Gate," sagt er mit einem süßlich drohenden Tonfall.

"Du weißt also doch, wer sie geschickt hat. Ein gemeinsamer Feind? Zariel?"

Er zuckt mit den Schultern und schenkt ihr ein bedauerndes Lächeln. Tav atmet tief durch und schweigt. Sie will ihn nicht hier. Nicht an ihrem Tisch, nicht in ihrem Leben. Und doch sitzt er da, mit derselben unerträglichen Gelassenheit, demselben gespielten Gleichmut, den er auch damals trug, als er sie glauben ließ, sie sei etwas Besonderes. Sie sollte schreien und - Asmodeus hole ihre verstandesverwirrte Seele - sie tut es nicht. Er steht für alls Verderbte und Verlorene in ihrem Leben: für den Tod des Geliebten einerseits, und dessen Seelenraub andererseits. Für den ultimativen Verrat an ihrer Freundschaft, aber auch für ihre Treudoofheit. Für ihre Demütigung, doch ebenso für ihre gebrochene Unschuld. Es tut weh. Der Ekel, die Enttäuschung. Wie blind sie doch war - so blind, dass sie jetzt am liebsten wegschauen würde.

Stattdessen schaut Tav dem Teufel stockstarr dabei zu, wie er wieder das Essen aufnimmt. Er streut sich Pfeffer auf seine Fleischpastete und schneidet sich dann eine dicke Scheibe vom luftgetrockneten Schinken ab, die er oben auflegt. Es ist erstaunlich, dass der Teufel überhaupt mit Besteck umgehen kann. Vermutlich musste er sich noch nie in seinem Leben etwas selbst abschneiden. Zumindest nichts, das nicht schrie.

Und doch sitzt er da - halbnackt unter ihrem Dach, fröhlich ein Liedchen summend, als sei dies ein Morgen wie jeder andere. Als hätten sie sich nie aufs Blut bekämpft. Als hätte er sich niemals an ihrem Abbild vergangen. Als hätte er ihr nie dieses, ihr Mädchenherz herausgerissen und es zuckend zurückgelassen. 

"Und wer kommt für meine Kosten auf?" 

Er kaut zweimal und lässt das Brot mit einer flitternden Bewegung seiner Finger auf den Teller zurückfallen. Auch jetzt verzieht er kurz das Gesicht - hach, ihr Essen schmeckt dem Teufel einfach nicht. Zähneknirschend wartet sie, bis er runtergeschluckt hat und mit Apfelsaft nachspült.

"Schreibfeder?" fragt er dann noch mit dem Blick auf dem Trinkglas.

"Ich unterschreibe keinen Vertrag," erinnert sie ihn.

"Kein Vertrag, sondern eine Absichtserklärung meiner Rückzahlungswilligkeit."

"Was garantiert mir, dass du sie einhalten wirst?"

Er hebt langsam den Blick und sieht sie durchdringend an. "Wenn du doch einen Vertrag willst, kleine Maus, setze ich dir gern einen auf," bietet er an.

Sie steht auf und holt ihm Feder, Tinte, Papier. Raphael rümpft die Nase über das Firmenwasserzeichen auf ihrem Pergament und greift stattdessen nach seiner unbenutzten Serviette, dieser Hund.

"Heb sie gut auf. Es gibt keine Kopie," sagt er unterm Schreiben.

Nach seiner schwungvollen Signatur tupft er sich mit der Serviette die Lippen ab und hält sie ihr hin. Tav schnappt sie ihm aus der Hand und murrt ein zynisches "Wunderbar". Ohne sie seiner weiteren Aufmerksamkeit zu würdigen, steht Raphael auf, schiebt sich summend die Brotscheibe in den Mund und verlässt den Raum zurück Richtung Fensterplatz. Tav schaut ihm nach, ihre Augen auf der Statur, die mit nur noch einem leichten Hinken locker davonparadiert, als sei der ganze Raum Publikum. 

"Ich trage avernische Schuhgröße 8." 

"Schön für dich!"

Sie schwört, sie wird ihm Tabaxi-Schlappen kaufen.

Chapter 4: 4 Der Deal

Summary:

Tav willigt ein, Raphael nach Avernus zu begleiten und Hope davon zu überzeugen, dass sie ihn anhört. Sie ist sich sicher, dass er keinen Erfolg haben wird. Doch so oder so, wenn sie ihm hilft, ist er ihr etwas schuldig. In diesem Kapitel stellt sie ihre Bedingungen.

Chapter Text

Sie bringt ihm am Abend ein Outfit nach Hause, das sie gern an ihrem Liebsten gesehen hätte: ein gut verarbeitetes Leinen, farblos; dazu Hose und Überbekleidung in dunklen Grau- und Blautönen. Es hätte Kar'niss' Alabasterteint gut zur Geltung gebracht... Die Halbstiefel kauft sie mit Absicht eine Nummer zu groß, als wäre sein stolpernder Gang in irgendeiner Weise ein ausreichender Tribut für all den Schmerz, den der Teufel in dieser Welt gestreut hat. Aber eigentlich will sie nicht, dass er sich Blasen läuft, sondern dass er pronto aus ihrem Leben verschwindet. Nun steht sie vor zwei Dilemmata: einer emotional unbefriedigenden Racheaktion, der Raphael mit paternaler Missbilligung begegnet, und vor der Tatsache, dass ihm diese Farben ausgesprochen gut stehen. Sie geben dem sonst gockelhaften Teufel kühle Gravitas, als habe er gerade einen sinistren Familienfluch geerbt. Er hingegen ist entsetzt über die Knielänge der Weste. Sie verhülle seine ansehnliche Statur, merkt er an und beäugt seine Heckseite über die Schulter wie ein Modell auf dem Titelblatt der Evoké (eine Zeitschrift, die aus Tavs Sicht bislang noch keinen Fetzen nicht super-extraordinär fand). Fast fragt sie ihn, ob es ihm etwa lieber sei nur im Handtuch herumzulaufen, aber auf seinen doppeldeutigen Kommentar kann sie verzichten. Wie dem auch sei, der Teufel ist insgesamt sanft gestimmt, denn das Leinen hat verspielte Rüschen und die Schuhe sind zumindest frisch besohlt. Warum hat sie ihm überhaupt gehorcht, fragt sich Tav. Verfluchte Duckmäusererziehung. Schon immer hatte sie Probleme damit, den Feind als solchen zu behandeln, wenn sie nicht gerade Klingen kreuzen. Sie wünscht, sie wäre kälter und verächtlicher. Es ist schwer, wenn er unentwegt in ihrer Nähe ist.

Tav konzentriert sich darauf, dass er ihr von Nutzen sein kann - hat es ihr selbst angeboten. Dass er nicht eher verschwinden wird, wenn sie einen Pakt mit ihm eingeht.
"Was muss ich tun, damit du gehst?" will sie wissen, während er sich vor ihrem Stehspiegel dreht und wendet.

Seinem Spiegelbild sichtlich wohlgesinnt, zieht Raphael den Kragen seiner Weste firm wie ein Casanova, der gleich auf die Piste geht. Und dann erst antwortet er: ihn nach Avernus begleiten. 

Sie denkt sofort an Hope. "Sie wird dich töten, wenn du einen Fuß über ihre Türschwelle setzt."

Er lächelt sein wohlwollendes Mäzenenlächeln, offensichtlich erfreut über ihre schnelle Auffassungsgabe. "Und darum brauche ich dich, kleine Zwergenflüsterin."

Nach einem Augenblick der Stille entfleucht Tav ein ungläubiges Lachen. Kopfschüttelnd tigert sie auf und ab, fragt ihn, was in ihn gefahren sei, und unterdessen greift Raphael zu Bürste und Handspiegel und striegelt sich die Mähne, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Ihre Sorge, dass er erneut Hopes Zuhause einnehmen wolle, sei unbegründet, gurrt er unterm Bürsten. Alles, was er brauche, sei ihr Freundschaftsbonus, um die Zwergin von einem Treffen mit ihm zu überzeugen. Raphaels Haar ist frisch gewaschen und unpommiert, und fällt sogleich in weichen Wellen zurück über die unrasierten Wangen. Am Rande ihres empört kreiselnden Gedankengangs nimmt sie das satte Kastanienbraun wahr, wo früher ein leichtes Pfeffergrau geschimmert hatte. Auch hat er weniger Falten auf der Stirn. Kurios. Er werde Hope in Nullkommanichts dafür gewinnen, ihn zurück in ihr Haus zu lassen. Als Untermieter, sozusagen.

"Du bist wahnsinnig, wenn du glaubst, sie würde sich darauf einlassen!" ruft sie am Ende.

"Mach dir über meinen Geisteszustand keine Gedanken," erwidert er herablassend, "ich gedenke mich nur zeitweilig in meine alten Gemächer einzuquartieren; Hope soll nichts genommen werden, was zuvor ihr Eigentum war. Deine einzige Aufgabe besteht darin, sie daran zu erinnern, dass auf dein Wort Verlass ist. Tu mir den Gefallen und sei überzeugend."

Hope wird ihr eher die Freundschaft quittieren, als ihrer Bitte nachzukommen. 

"Schaffst du das, kleines Mäuschen, steht dir ein Wunsch frei." 

"Darum versuche ich es gar nicht erst: Es ist unmöglich."

"Oh, ich dachte, du willst mich loswerden," sein Grinsen wird schärfer und schon lodern die Flammen in seinen Augen, als er sie über den Spiegelrand hinweg ansieht, "ich werde nämlich einen Teufel tun und bleiben, wenn du mir nicht hilfst. Richte dich auf einen sehr blutigen Besuch von den Warlocks ein. Vertrau mir dahingehend, wenn ich sage, dass sie dich töten werden. Ihr Patron ist mächtiger als deine drei gescheiterten Götter des Todes aus Moonrise Towers zusammen. Nicht einmal ich bin ihnen gewachsen."

"Wer hat die Warlocks geschickt, Raphael?"

Er antwortet nur mit einem geschlossenen Grienen und Tav dreht sich um, um ins Lagerhaus zu stapfen. Dort kniet sie über einem Stapel Teppiche und krallt die Hände in den Stoff. Als sie mit ihrem inneren Zwiegespräch fertig ist, hinterlässt ihrer Buchhalterin eine Abwesenheitsnotiz, schließt alle Türen ab und geht anschließend zu ihrem Kleiderschrank, um zu packen. Raphael steht mit verschränkten Armen vor dem Fenster im Flur und tappt mit dem Fuß. 

 


 

Sie ist nicht der strategischste Kopf. Ehrlich gesagt hat sie meistens ihren alten Freund Barth, der sie üblicherweise von einem Abenteuer zum nächsten schleifte, dabei, damit er die cleveren Entscheidungen traf und bei Gelegenheit sie beide aus dem Schlamassel redete. Praktisch, so ein Barde. Aber Tav hat mit der Zeit den einen oder anderen Trick abgeschaut. So wie Trick 17: einen Deal eingehen, aber erst vor dem sichtbaren Ziel des Vertragspartners verraten, was sie dafür haben will.

So stehen sie vor einem frisch gebauten Siegel, das sich wie ein Portal in ihrem Zimmerboden auftun wird, sobald Tav den letzten der Portschlüssel hinlegt: den Schädel eines Goblins. Wie Raphael diesen aufgetrieben hat und das in so kurzer Zeit, verrät er nicht. Aber die übrigen Objekte, die in einem sechszackigen Stern auf dem Holzboden angeordnet sind, stammen alle aus Tavs Privatbesitz: ein Halbedelstein, eine Mammonmünze aus den Schattenlanden, Räucherstäbchen und eine infernalische Murmel, die Barth bei Helsik hat mitgehen lassen.

Mit der Reisetasche über eine Schulter und ihrer gewachsten, wenn auch verstaubten Abenteurerkluft am Leib, wendet sie sich Raphael zu, der neben ihr steht und wahrscheinlich innerlich schon mit den Hufen scharrt, es aber derart gut versteckt, dass sie sich wundert, ob er überhaupt noch Interesse an Hopes Festung hat, die einst meilenweit über Avernus schwebte.

Er wartet mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck auf ihre Ansage, nur sein feines Riechorgan kräuselt sich von dem Mottengeruch ihrer Aufmachung. Doch genau dieser Ausdruck, der nichts verraten will, tut genau das: Ein relaxter Raphael würde sie mit einer hochgezogenen Augenbraue begutachten, den Mundwinkel leicht süffisant verziehen und ihr einen arroganten Schlafzimmerblick über die Nase hinweg geben. Seine jetzige, viel zu neutrale Pokermiene ist ein riesiges, blinkendes Ausrufezeichen auf seiner Stirn.

"Bevor wir gehen, möchte ich dir meinen Wunsch mitteilen, sofern es mir gelingt, Hope zu überzeugen," spricht sie also und hält ihm den ausgebleichten Schädel vor die Nase.

Raphael runzelt die Stirn, aber erinnert sich dann wohl daran zu lächeln. "Ich höre," sagt er mit einer Kopfneigung.

"Ich wünsche mir, dass du Kar'niss' Seele aus deinen Diensten entlässt."

Sie sieht es: Den Atem, den er tief einzieht, und das Zucken seiner Tränensäcke. "Oh, kleine Tav, ist das dein finaler Rettungsversuch eines alten Freundes oder ist es ein Akt des Egoismus, frage ich mich. Wessen Herz dienst du mit diesem Vertrag?"

"Gar keinem!" entgegnet sie, irritiert über seine Anmaßung, "Ich verlange ja nicht, dass du ihn wiederbelebst."

Mit gespielter Überraschung legt er seine Hand auf der Brust ab. "Ach, nein? Dabei wäre es so einfach."

"Ist es das?"

Kann es so einfach sein? Macht es sie zu einem Monster, dass dieser Satz mehr als nur eine Bahn in ihrem Kopf zieht? 

"Nichts ist unmöglich."

"In welchem Zustand käme er zurück?" Er hebt nur lächelnd die Schultern und als sie nachhakt, sieht er seufzend weg.

Es ist klar, was das bedeutet. Dass sich Marynas tragische Geschichte wiederholen würde: Ihr wiedergekehrter Geliebter wäre nur eine verfaulte Marionette, die dem Befehl eines Zauberstabs folgt. Trotzdem muss sie sich äußerst mühevoll von Raphaels Antlitz losreißen und die Einbildung, mehr darin zu erkennen als nur mildtätige Abschätzigkeit, ausmerzen. Mit einem Kopfschütteln wirft sie den Gedanken über Bord.

"N-nein, das ist nicht, was ich von dir will," spricht sie und fühlt, wie ihr Nein mehr schmerzt, als gedacht, "seine Seele verdient etwas Besseres als ewiges Höllenfeuer."

"Was ist, wenn ich seine Seele schon längst verschlungen habe?" erwidert er nach einer Denkpause. "Du weißt, wie groß mein Hunger nach meiner kleinen Folterkur in Cania war." 

"Hast du?" fragt sie leise. Sie hasst, wie klein ihre Stimme klingt.

"Nein."

"Hast du ihn in irgendeiner anderen Weise verwandelt, verletzt, verkauft, ... vernichtet?" 

"Das habe ich nicht. Aber ich war auch über drei Jahre fort. Wer weiß, welchen Schaden seine Seele in der Zeit genommen hat. Oder in wessen dämonischem Cellarius sie von der Decke hängt."

"Wo ist sie? Wo ist seine Seele?"

"Mein Mäuschen," spricht er in die Ferne, "wie lautet nun dein Gesuch? Dass du deinen Liebhaber ausfindig machst oder seine Seele von mir freikaufst?"

Sie versucht den Bluff in seiner Miene zu erkennen, das Licht, hinter das er sie stets führen will. Doch der Teufel ist feindselig und sie spürt, dass er ihr kein bisschen entgegenkommen wird.

"Also?"

Tav gibt ihm einen letzten forschenden Seitenblick und blickt dann auf das unfertige Hexagramm vor sich. "Ich denke, es wird leichter sein, wenn ich selbst nach ihm suche, sobald wir hier fertig sind," denkt sie laut nach. Raphael schweigt geflissentlich. "Also gut, ich wünsche mir, dass du Kar'niss' Vertrag vernichtest."

"Du möchtest, dass ich keine Macht über die Seele deines Drider habe?" fragt er vorsichtig nach.

"Von nun an bis in alle Ewigkeit."

Raphael dreht sich ihr zu und hebt die Hand. Eine rauchende Schriftrolle erscheint und sein Dreitagebart ist einen Moment lang in rotes Höllenleuchten getaucht. Eine buschige Schreibfeder tanzt vor ihr und Tav ergreift sie. Bevor sie das Dokument unterschreibt, bedenkt sie ihn mit ernster Miene. 

"Und wenn Hope ablehnt, ist unser Tête-à-Tête beendet."

"Ich wünsche, dass du verschwindest, war der ungefähre Wortlaut," zitiert er mit einer leichten Kopfneigung, "es ist bereits vermerkt."

"Nicht nur aus meinem Haus - aus ganz Helm's Hold," präzisiert sie, "ich will auch keine Überraschungsbesuche vor den Toren meiner Stadt oder auf meinen Geschäftsreisen in andere Regionen. Weder du noch deine Spione folgen mir heimlich."

Er verdreht die Augen. "Du nimmst dich gerade sehr wichtig, meine Liebe. Ich versichere dir, dass es da draußen eine Myriade an Seelen gibt, die mein wirtschaftliches Interesse mehr verdienen, als dein flatterhaftes Lichtchen."

Oh, was für ein Lügner. Hatte er in ihrem erbitterten Kampf in Hopes Haus nicht gedroht, dass er "tausend Seelen verfeuern" würde, nur um die ihre an sich zu reißen?

"Ich muss vorsichtig sein. Wylls Ärger mit Mizora hat mich die Fatalität der vertraglichen Schlupflöcher gelehrt."   

"Nun, ich habe begriffen, was du mir damit sagen willst, Tav," erwidert er kühl, "ich soll dein kleines Weberparadies in Ruhe lassen. So soll es sein. Du wirst mich nie wieder in Helm's Hold sehen, wobei nach deinem Ableben" er macht eine bedeutungsschwangere Pause, die sie misstrauisch die Stirn runzeln lässt, "ich mir das Besuchsrecht wieder hole, das versteht sich von selbst."

"Und du schwörst, dass du mich nicht benutzt, um dir gewaltsam Zugang zu Hopes Haus zu beschaffen!"

"Die Liste wird ja immer länger."

"Schwöre es, sonst ist der Deal geplatzt." 

"Selbstverfreilich."

Sie nickt langsam und unterzeichnet. Kaum hat sie den letzten Buchstaben geschrieben, verpufft der Vertrag und es scheint, als läge plötzlich das beißende Parfum von Schwefel und Kirschen in der Luft. Ein Willkommensgeschenk zu ihrem neu geschlossenen Pakt. Raphael deutet auf das Siegel vor ihnen. 

"Nun?"

Tav nickt. "Gut," sagt sie und wiegt den sauber gebleichten Schädel in ihrer Hand, "dann klopfen wir mal an Hopes Tür. Wollen wir hoffen, dass sie keinen Herzinfarkt kriegt."

Sie öffnen das Portal, orangefarbenes Licht füllt den gesamten Raum und der bittere Gestank von Baator wabert in der Luft.

 

Chapter 5: 5 Das Wartezimmer in der Hölle

Summary:

Raphael schleppt Tav mit nach Avernus. Entgegen Tavs Erwartungen landen sie aber nicht im Hause von Hope, sondern mitten in der zerstörten Ebene drunter. In diesem Kapitel erkundet sie die nahe Umgebung und macht eine gefiederte Überraschung.

Notes:

Deprimucke:
Castle Rat - Mirror und Cry For Me
Faetooth - Strange Ways

Ich fürchte bis zum "expliziten" Part wird noch etwas Zeit vergehen (nämlich bis Kapitel 12, wenn es bei der aktuellen Reihenfolge bleibt). Jetzt erstmal ein wenig Landschafts- und Charakterbeschreibung.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Tav blickt sehnsüchtig zu der entfernten Festung hinauf, die hoch über den Gebirgsketten schwebt. Sie ist nur deshalb am orangegefärbten Wolkenhimmel auszumachen, weil immer wieder der gigantische Raketenantrieb unterhalb des Festungsfundaments angeht und Feuer spuckt. Schwarzgrauer Qualm steigt über den Dächern auf. Ob Hope zu Hause ist? Ob sie ahnt, dass Tav ganz in der Nähe ist? Gern hätte sie sie in den letzten Jahren besucht, aber mit ihrem Geschäft in Helm's Hold kam irgendwie immer etwas dazwischen. Und ehrlich gesagt, weiß Tav nicht mehr, wo sie Helsiks Anleitung für den Bau eines Portals verlegt hat.
Könnte sie Hope nicht ein Signal schicken, damit die Zwergin sie von hier abholen kommt? Was muss sie hier warten und hoffen, dass Raphael jegliche Intel und Portschlüssel hgesammelt hat, damit sie endlich weiterreisen können?? Er könnte sie doch vorschicken, damit Tav sich ein Bild von Hopes Geisteszustand macht und sie vorab ein wenig auf sein Kommen einstimmt! Dazu hat er sie schließlich angeblich mitgezerrt.

"Ich bedaure, dass wir diesen kleinen Umweg nehmen mussten, kleine Tav," hört sie ihn in ihrer Erinnerung sagen, "aber Hope hat wohl die Zugangsschlüssel zu ihrem Haus verändert. Ich weiß, wie wir dort hingelangen können, aber ich muss das Siegel Stück für Stück neu zusammentragen. Der Weg nach Avernus ist leicht, doch von hier zum Haus benötige ich zusätzliche Objekte, damit ich nicht direkt in ihren Gefechtstürmen lande."

"Die Warterei ist mir zu blöd!" hat sie ihm gesagt, "ich muss doch sicherlich nicht in dieser Elendswüste herumeiern, während du auf Schnitzeljagd bist. Bring mich wieder nach Hause."

"Oh nein, das ist leider ausgeschlossen. Aber wenn dir zu langweilig ist, geh doch ein wenig spazieren, mein kleines ungeduldiges Mäuschen, sieh dich um und wetz dein Messer: Etwas Bewegung tut deinen weichen Händlerbeinen gut."

"Meinen WA-"

Es fühlt sich an, als sei es schon Tage her, doch die Zeit in den Höllen ist trügerisch: Sie hat bislang weder Schlaf noch Essen gebraucht, obgleich die innere Uhr schon längst Alarm geschlagen hat. Vor allem aber hat sie absolut nichts zu tun. Sie weiß, dass Raphael nicht nur Portschlüssel sammelt, sondern auch Seelen jagen geht (das ist sein Ausdruck für "essen"). Wie ers anstellt, weiß sie nicht; aber es ist klar, dass Raphael mit jedem Tag stärker wird. Die ersten beiden Male kommt er zurück zur Höhle geflogen und trabt bei der Landung direkt in Deckung, als wolle er sich vor feindlichen Blicken verstecken. Danach erscheint und verschwindet er mit einem Fingerschnippen, so wie früher. Bei jeder Rückkehr sieht er voll und zufrieden aus, seine Augen sind satt orangeglühend und im Gepäck hat er ein paar neue Gegenstände. Nur ihr bringt er nichts mit, außer der gelegentlichen Erzählung, wie er irgendein neues Monster überlistet oder getötet hat. Großartig. 

All das Gerede über üble Nachthexen, Ghouls und Untote, die das Land verseuchen, können sie am Ende nicht mehr in dieser verfluchten Höhle festhalten. Also packt Tav ihren Groll und ihre Waffen - Peitsche, Dolch und Sprengstoffgürtel - und begibt sich unter freien Himmel.

 

Das ist jetzt eine Stunde her und sie ist immer noch unterwegs. Nicht zu weit, freilich, es ist mehr ein weiter Bogen, den sie um ihr Versteck schlägt, und versucht von Deckung zu Deckung zu schleichen. Avernus ist eine Überraschungstüte voller Salzlakritz, in die ein-zwei Kakerlaken gekrochen sind: Das Land bietet scheinbar nichts als verbrannte Erde. Zumindest in diesem Teil der Ebene, betrachtet sie die ganzen herumliegenden Felssplitter und gähnend weiten Krater, aus denen tiefe, fremdartige Spuren schweren Gefährts führen. Aus klaffenden Erdspalten spritzen orangefarbene, gasige Geysire hoch, die das fauchende Geräusch nach loderndem Krematorium, das man von überall aus hören kann, zischend durchbrechen. An den Rissen riecht die Luft besonders pestilent, nach sauren alten Socken und verdorbenen Eiern, ein Duft, der in den Nüstern klebt wie übler Erkältungsschleim in den Nebenhöhlen: wann kann kaum noch atmen, zugleich lässt es sich so wenig abschütteln wie der Teufel Avernus' Odem abschütteln konnte, als er noch hier lebte. Wer weiß, vielleicht wäre der Spaziergang auf dieser Ebene erträglicher für die Lungen, wenn ihre flatulenten Narben nicht ständig aufrissen. Tav zieht sich das Halstuch über Mund und Nase und schlägt, trotz der Hitze, ihren Mantelkragen darüber. Natürlich hilft es wenig.

Doch es gibt auch Faszinierendes in dieser zerstörten Welt. Man muss nur genauer hinsehen, die Ruinen von Gebäuden und Mauerreste ausblenden, die verstreuten Knochen gefallener Soldaten und Krieger, oder die dornigen Bäume, in denen die Überreste verlorener Seelen hängen, ignorieren. Man muss nur die tiefen Gräben der monströsen Maschinen von jenen Warlords, die durch die Ödnis walzen, um noch mehr sinnloses Territorium (sinnlos, weil am Ende der Woche doch wieder der hart erkämpfte Quadratkilometer verloren geht) und noch mehr Seelen zu ergattern, einmal beiseite lassen. Und dann bekommt selbst der Fluss Styx, der brennend durch die schwarzen Täler schiebt und sich zwischen den glühenden Bergen schlängelt, eine melancholische Ästhetik, der Tav etwas abzugewinnen vermag. In ihrem Kopf malt sie sich schon die nächste Tapisserie mit einem avernischen Landschaftsmotiv aus, aus purer Seide natürlich, um den finsteren Fluss schillernd zur Geltung zu bringen. Noch nie hat sie einen solchen Ort erlebt: Er ist bösartiger als jedes Bhaalisten-Nest und wahrscheinlich tückischer als die schattenverfluchten Lande. Aber es gibt in Avernus etwas, das sich mit Händen und Füßen gegen jede Invasion sträubt, einen Trotz, den Tav auszumachen glaubt, weil trotz der Zerstörung auch deutlich Narben der Heilung zu sehen sind - Bäume in Felsspalten, Steppengras in Explosionsschluchten. Als heile sich das Land selbst, mit einem blutigen Grinsen.

Sie hält nach etwas Essbarem Ausschau, aber findet noch nicht einmal Wasser. Sie blickt auf die metallenen Bäume, in denen die Leichen der Seelen wie Fetzen weißen Greisenhaars baumeln und mit denen der faulige Wind spielt. Immerzu weilen ihre Augen etwas länger an diesen Gehängen, immerzu drängt sich ihr die Frage auf: 'Ist Kar'niss unter ihnen?' Aber nie sieht sie ihn und es ist ein unerträgliches Hin und Her aus Agonie und Erleichterung. Der Mann, der seine Seele an den Teufel verkauft hat und verstarb, bevor er seinen Vertrag zerreißen konnte, bleibt weiterhin verschollen.
Sie steht auf einer Anhöhe, die Raphael die "Hügel von Haruman" nennt, und zieht einen weiteren Blick über die Landschaft. Sie sieht die Gewitterfront über der Gebirgskette brodeln und ein langer Schrei wie der eines sterbenden Drachen verhallt in der Ferne. In der Ebene unter ihr verlieren sich die Spuren einer einst befestigten Straße in der Ferne und an ihr entlang zerkrümeln ein paar wenige Mauerreste wie das zerrüttete Gebiss eines alten Mannes. Daneben steht ein windschiefes Wachtürmchen, vom Blutkrieg geköpft. Der Anblick stimmt sie poetisch.

"Ascheneb'nen dampfen,
Feuerschatten lungern,
Eiskalt glimmt sein Bernstein
Lässt mich ewig hungern."

Dreht sie sich in die andere Richtung und stellt sich vor, das hochaufragende Felsenmeer vor ihr sei gläsern, würde sie in der Ferne den andauernden Kampf zwischen zwei gigantischen Armeen sehen. Sie wäre zu weit weg, um einzelne Kombattanten zu erkennen, aber Zariels Luftflotte wäre mit dem bloßen Auge sichtbar. Die mächtigen, vertikal schwebenden Schlachtschiffe und die Kreaturen, die wie Geiger um sie herumschwirren, sind ihr vom Flug mit dem Nautiloiden noch gut in Erinnerung geblieben. Horrific visions of demonic armies as the nautiloid had torn through this landscape of fire, blood while on the other side devils with their bat-like wings hurl magic and weapons down upon their foes. Die Schönheit der zerklüfteten Landschaft kaum noch sichtbar. Es ist eine seit Äonen andauernde Zerstörung wahnsinnigsten Ausmaßes under an ember sky.

Schaudernd wickelt sie sich in ihren flatternden Umhang ein und steigt hinab in Richtung eines ausgetrockneten Flussbettes. Die Erinnerung bringt ein Fernweh vergangener Zeiten in ihr zum Klingen. Sie versteht Raphaels Pragmatismus sich in einer fliegenden Festung zu verschanzen, denn damit entgeht er leichter dem Horror; aber Tav fühlt sich gerade sehr nutzlos. Und verdammt durstig.

'Hmm, was, wenn ich...' denkt sie mit einem Blick auf den staubtrockenen Flusslauf, aber führt den Gedanken nicht zu Ende.

In der Nähe dichten, noch lebenden Gebüschs hockt sie sich hin. Sie lässt die behandschuhten Finger durch den aschedunklen Grund in dem Flussbett gleiten und verreibt das Kohlschwarz zwischen den Fingern. Kein Tropfen Flüssigkeit. Sie zieht ihre Handschuhe aus und bohrt ihre Hand in den Grund. Als ihre Finger etwas Hartes spüren, zieht sie es mit etwas Rütteln heraus: Es ist ein Knochen. Unmöglich, dass alles tot sein kann, denkt sie lippenkauend. Tav nimmt den Knochen und gräbt die Asche auf, stochert im Boden herum und irgendwann kommt unter dem Massengrab dunkle, feuchte Erde zum Vorschein. Kühler, wohlriechender Lehm. Tav bindet ihr Halstuch los und schüttelt es aus. Sie geht in den Schneidersitz und wartet.

Vielleicht weiß auch der emotional verschlossene Teufel dieses Land mehr zu schätzen, als es den Anschein hat, sonst wäre er nicht zurückgekehrt, nicht wahr? Würde nicht versuchen, sein altes Domizil zurückzugewinnen. Warum sie hier ihre Wartezeit absitzen muss wie eine arme Seele, ist ihr allerdings ein Rätsel. Vielleicht will er sie nicht aus den Augen lassen, andererseits ist Avernus ein viel gefährlicherer Ort als Baldur's Gate. Sie versteht ihn einfach nicht. 

Plötzlich vernimmt Tav ein neues Geräusch, ein leises Kratzen, Piepsen, das das ewige Lodern durchbricht. Tav erstarrt und blickt um sich, ihre Hand unweit vom Dolch, der an ihrem Oberschenkel hängt. Ihr Adlerblick fällt rasch auf das einzige Versteck in mehreren Metern Umkreis, ein Baum. Sie kann weder Dämon noch Teufel oder sonst etwas Feindliches daran ausmachen, also erhebt sie sich langsam und mit gezückter Klinge tritt sie näher heran. Der Baum ist nur mehr ein schwarzweiß verbranntes Gerippe, seine Rinde lange fort, und die Arme tot in die Luft krakelnd. Es ist schwer vorstellbar, dass er einmal Laub getragen hat. Tav umrundet die Baumleiche, bis sich das Piepsen wiederholt - nun lauter. Und sie sieht ein Loch im Stamm, das kaum zu ihrer Brust reicht, ein altes Loch, denn die Kante ist glatt und rund geschliffen. Es mögen schon viele Tiere das Loch als Unterschlupf genutzt haben, früher, als das Gewächs noch gelebt und die Verletzung mit neuem Holz überwachsen hatte. Jetzt steht Tav vor der Öffnung und lugt in eine kleine Höhle hinein und darin auf ein Nest mit Stroh und Federn und Knöchelchen und darin drei kleine gefiederte Lebewesen, von denen sich nur noch eins bewegt. Die anderen beiden, feuerrote Vogelwesen mit Zähnchen, Teufelsschwanz und Krallen an den Flügelenden, sind halb verwest und ihre Schädel bevölkert mit kräuselndem Gewürm. Es scheint, als hätten die Eltern das Nest aufgegeben oder seien den Gefahren dieses Landes zum Opfer gefallen. Der überlebende Piepmatz reckt müde ein Beinchen in die Luft - er liegt halb auf dem Rücken, sein krummer Fügel unter ihm und um seinen Schnabel die Überbleibsel von den Maden, die er sich aus seinen Geschwisterchen gepickt hat, um zu überleben. Eine echte Kämpfernatur. Aber eine, die bereits an der Schwelle zum Tod steht. Tav fackelt nicht lange herum und holt den Nestling aus seiner Höhle. Und da liegt es, dieses kleine Lebensatom, das mit seinen fast schwerelosen Füßen gegen die Innenseite von Tavs Daumen drückt. Der Flügel, auf dem er wohl eine Weile gelegen hat, ist verkümmert. 

"Hallo Kleiner," murmelt Tav und ihr Herz will brechen. Sie sieht die vielen kleinen Punkte, die auf ihm herumhüpfen und in Schnabel und Augen krabbeln. 

'Er ist nicht lebensfähig,' sagt eine Stimme in ihrem Kopf. 'Er verdient eine Chance,' sagt eine andere.

Viele verdienen eine Chance und bekommen sie nicht. Das versteht nur der, der den Tod kennt: der Soldat, der tötet, die Mutter, die totgebärt. Lieber es schnell und schmerzlos beenden. Die Würfel sind gefallen.

Das Junge sieht sie aus seinem runden, blauen Reptilienauge an, blind und hungrig. Stachelig auf ihrer Haut. Ein komisches Mischwesen ohne Eltern, in einer Heimat, die sich nicht für ihn interessiert. Aber am Leben. Und keine Verletzung, kein Blut. Tav spürt plötzlich, wie ihr Rücken gefriert. 

"Gütiger Ilmater, das ganze Blut," sagte eine Frauenstimme über ihr. "Das geht nur mit Magie aus den Laken raus."

Jemandes Würfel waren an dem Tag gefallen, und zwar auf die Eins. Sie isoliert die Erinnerung von ihrem restlichen Dasein und sitzt in ihr wie in einer Lache aus schwarzer Depression. Ihre freie Hand arbeitet unterdessen mit einer fremdgesteuerten Selbstverständlichkeit, die ihr Gehirn übertrumpft. Wenige Griffe später hat Tav seinen Lebensfaden durchtrennt. Schnipp. Sein Schnabel hängt auf. Sie legt ihn zurück zu seinen Geschwistern. 

'Ich bringe auch nur den Tod,' denkt sie, als sie wie fremdgesteuert zu ihrem gegrabenen Loch zurückkehrt, kaum auf ihre Deckung achtend. Sie ist eine kleine pragmatisch denkende Killermaschine. Ihr ganzer Körper tötet. 'Kein Wunder, dass sich Raphael auf mich eingeschossen hat.' 

Im Loch hat sich mittlerweile Wasser gesammelt, einen Fingernagel hoch. Tav tunkt das Halstuch ein und saugt dann dran. Es schmeckt bitter.

 

Notes:

Tav ist momentan auch mental an keinem guten Ort. :(

Chapter 6: 6 Vertragslücken

Summary:

Irgendwie hat Raphael Hope davon überzeugt, ihn als Untermieter in ihr Haus zurückzulassen. Tav ist ratlos - aber gut, das bedeutet hiermit, dass sie ihren Teil des Vertrags erfüllt hat und er nun an der Reihe ist. Nicht wahr?

Notes:

1) Mehrere Verweise auf das Kapitel "Tock" aus Das Netz Teil I in Bezug auf Tavs komplizierte Gefühle ggb Raphael.
2) Ich habe keine Ahnung von der Juristerei, dementsprechend habe ich bzgl. Tavs Vertrag, der möglichst verklausuliert klingen sollte, ChatGPT zur Formulierungshilfe herangezogen. Alles andere ist mein eigenes Schreiben gepfeffert mit Zitaten aus Baldur's Gate 3.
3) Tav schnuppert in DnDs Sagen- und Religionskultur...

Chapter Text

Die Torflügel schwingen stöhnend auf und Raphael kommt herausmaschiert, ganz Bild des aufrechten, unaufhaltbaren Herrschers. Verdutzt weicht Tav ihm aus und lässt ihn wortlos mit seinem flatternden Gehrock und dem harten Klack Klack seiner Stiefelsohlen abziehen. 
Sie tritt durch das offene Tor und ins Archiv, in dem er und die Herrin des Hauses gut eine Stunde lang konversiert haben. Das Archiv ist kaum wieder zu erkennen. Gleich den Korridoren sind die Wände und Säulen nun weiß und goldfarben angestrichen, aber hier und da klettert Efeu hinauf und in der Mitte, wo einst der orphische Hammer brillierte, wächst jetzt ein Baum aus dem Steinboden. Der Stamm ist glatt und schlank und sein grünes, gesundes Laubwerk hat die gläserne Decke, von der das ewige Dämmerlicht hereinbricht, lange nicht erreicht. Es ist vermutlich nicht das beste Klima, um kostbare Schriften aufzubewahren, doch es schmeichelt dafür der Raumästhetik. Wäre da nicht der überbordende Papierunrat und Krempel, der alle Ecken des Raumes einnimmt.
Tav muss nicht lange suchen: Hope sitzt an einem der gedämpft beleuchteten und hoffnungslos überladenen Lesetische zur linken Seite und starrt vor sich hin, ihre Finger am zerronnenen Wachs einer Kerze pickend. Als Tav ihren Namen ruft, schreckt die rothaarige Zwergin auf und rutscht räuspernd von ihrem etwas zu hohen Stuhl auf die Füße. 

"Hope? Was ist passiert?" 

Erst wirft sie Tav ein bitteres Lächeln zu und dann - ganz manisch - klatscht sie plötzlich mit großen, nervösen Augen in die Hände. "SO! Wo war ich!" Sie macht ein Luftzeichen und eine blau schimmernde Magierhand erscheint, die sofort zu den höher gelegenen Bücherregalen des Archivs fliegt.

Die Zwergin wendet sich vom Tisch ab und beginnt ihrerseits Werke im Sortiment zu inspizieren. Was auch immer vorgefallen ist, Raphael hat bekommen, was er wollte. Was bedeutet, dass er Hope dazu gebracht hat, ihn wieder einziehen zu lassen. Trotz allem, was er ihr angetan hat!

"Nein, erzähl mir jetzt bloß nicht, dass ihr beide einen Deal eingegangen seid." Tav stromert hinter der emsigen Zwergin her und tritt dabei versehentlich auf eine Papierrolle, die unter ihren Füßen knistert.

"Die Hoffnung stirbt zuletzt. Hoffen wir, dass der Zweck nur vorübergehend die Mittel heiligt," ruft diese und wie immer ergeben ihre Worte wenig Sinn. "Aber was alt ist, muss weg, und was neu ist, braucht - Platz!"

Sie greift nach einem Buch und wirft es im hohen Bogen hinter sich. Im Hintergrund huscht die Magierhand umher und sortiert ebenfalls Werke aus - handschriftliche Journale und dicke Schinken. Eins, zwei, drei, mit einem raschen Handgriff reduzieren die Hausherrin und ihr Helfer das Sortiment und lassen es lose Seiten regnen. 

"Die Alten auf den Müll! Platz Platz Platz! Wir werden ein neues Ordnungssystem brauchen: postmoderne Schriftsteller und zeitgenössische Historiker. Und endlich auch eine Sprachenabteilung für Neu-Infernalisch."

"Hope, hast du dir den Kopf gestoßen?"

"Kein Kopfgestoße," Hope hält inne, aber sie schnauft vor Anstrengung, und Tav sieht das bittere Grinsen wieder, das über ihr Gesicht gehuscht war. "Kein Drohen. Eine Notwendigkeit, sagte er. KABOOM - ich verstehe. Ja. Ich bin DAFÜR." Und so aufgeregt- ja beinahe begeistert, wie sie eben klingt, wird ihre Stimme plötzlich ganz weich und fragil. "Er hat nach Korrilla gefragt."

Tav fällt ein, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hat, sich nach dem Befinden ihrer Schwester zu erkundigen. Verlegen fasst sie sich an den Nacken. "Wie geht es Korrilla?" 

"Sie schlägt sich durch, irgendwo in Faerûn. Wir... reden wenig."

Tav atmet durch, hin- und hergerissen, wie sie mit dem Gespräch weiter fortfahren soll. Sie würde gern verstehen, was zur avernischen Hölle Raphael ihr angeboten hat, doch die Zwergin geht ihr klar aus dem Weg. Sie kann nicht verstehen, warum sie es überhaupt riskieren will, alte Erinnerungen wieder aufzuleben. Erinnerungen an ihre Gefangenschaft in Ketten, die Marter, die ewigen Drohungen. 

"Ich will nur, dass es dir gut geht, Hope. Nur, wenn er hier ist,... Er- er hat dich doch gequält. Lässt du das Monster wieder in dein Leben, könnte es dich zerstören."

Aber Hope ist nicht nachtragend, es ist ihr Körper, der nicht vergisst - die Narben im Gesicht, alles Tränen der Pein und Trauer, haben sich für immer eingebrannt, und die Zuckungen ihres schreckhaften Geistes, sind unweigerlich Teil ihres Charakters geworden. Sie lächelt Tav aus diesem vernarbten Honigkuchengesicht an und ergreift ihre Hand.

"Ich weiß. Ich bin froh, dass du hier bist, Freundin," sagt sie. "Manchmal vergesse ich, was wahr und was eingebildet ist. Du hier - es erinnert mich an wahrhaftige, starke Momente in meinem Leben: Wir haben zusammen den Drachen erschlagen. Es gibt keine bessere Motivation weiterzumachen als die Erinnerung an das."

Sie umarmen einander und Tav spürt, wie sie eine Ruhe überkommt. Alles wird gut, denkt sie beinahe überzeugt. Ah, süße Hoffnung.

"Ich kann dir leider nicht verraten, worüber wir sprachen," murmelt die Zwergin in Tavs Gewand, während sie sich noch an sie drückt, "vertraulich und so... Aber er ist völlig verrückt. Ja, das ist jetzt offiziell. Hope ist verrückt, Raphael ist verrückt. Jetzt fehlst nur noch du im Klub der Durchgeknallten." 

"Vielleicht ein andermal," seufzt Tav und blickt um sich, "mir gefällt, was du aus dem Haus gemacht hast. Ein kleiner grüner Dschungel inmitten der Hölle."

"D-danke. Es hat lange gedauert, bis ich mich zu einer Veränderung durchringen konnte. Seine Berichte... ich hätte sie längst entsorgen sollen."

"Wessen Berichte?" 

Mit einem Seufzer löst sich die Zwergin aus der Umarmung und nimmt Tav erneut an der Hand. Sie will ihr das Archiv zeigen, ihr ihre Pläne für das Haus erzählen. Die Magierhand baut spiralenförmige Türme aus den Büchern, die Hope aussortiert hat. Tav kniet kurz hin, um die Titel zu entziffern. Sie glaubt, ein gewisses Muster zu erkennen. Es sind zum einen staubige Artikel von anno dazumal, die Daten alle viele hunderte, sogar tausend Jahre alt. Zum andern taucht immer wieder ein Name auf: Hope mistet Raphaels Bücher aus. Dort, wo in langen Reihen sein "Oeuvre" aus Journalen stand, wird nun aufgefüllt mit Wägelchen voller neuer Autoren und Neuwerke. Sie bleiben vor einem stehen und, beeindruckt von der Qualität der Binderei, greift Tav zu einem brandneu aussehenden Kompendium über Baators Teufel. Es ist in Gemeinsprache und entzückt beginnt sie hier und dort zu lesen.

"Kapitel "Kambione"," liest sie mit unverhohlener Neugier.

"Wenn du mehr über deinen Teufel erfahren willst, wirst du in seinen peino Traumtagebüchern deutlich schneller fündig," merkt die Zwergin trocken an und deutet mit dem Kinn in Richtung Bücherhaufen auf dem Boden. 

Pfft! Als wolle sie mehr über ihn wissen, winkt Tav ab und blättert schnell weiter.

"Er wird bestimmt ein paar seiner Meisterwerke retten wollen, vor allem die mit der grottenschlechten Poesie," merkt sie an, aber Hope winkt nur ab und verschränkt die Finger, um die Gelenke knacken zu lassen. Tav landet auf einer Seite mit irgendeiner Radierung von einem knienden Teufel, die Klauen demütig zum Gebet gefaltet.

"Darstellung von Nusemnee, niedere Göttin der Reformation. Statue aus dem oberen Unterreich, Datum unbekannt."

Sie kennt sich mit teuflischen Göttern und Patronen recht gut aus - Helm's Hold ist nicht zuletzt Hort vieler Asmodeus-Anhänger. Aber Nusemnee, Göttin der Reformation? Demütig kniend? Für einen Augenblick sträubt sich alles in ihr, dieses Abbild mit ihrem Wissen über Teufel in Einklang zu bringen. 
Grummelnd schlägt sie das Buch zu und legt es ein wenig ruppig aufs Wägelchen zurück. 

"Was ist eigentlich mit dem Boudoir passiert?" ruft sie, eher als Versuch der Ablenkung gedacht als des echten Interesses. "Ich nehme an, du wirst dich seines Inhalts entledigt haben?"

"Der Dämon darin wurde entlassen und ist vermutlich zu seinem wahren Herrn zurückgekehrt. Alles andere... steht auf meiner meilenlangen Prioritätenliste an unterer Stelle."

Nach eintretender Stille dreht sich Tav zu Hope um und sieht den niedergeschlagenen Blick in ihrem Gesicht. Plötzlich scheint es, als sei das unheimliche, oppressive Gefühl, das einst das Haus beherrscht hatte, zurückgekehrt. In Gedanken hört sie wieder Wylls Frage, nachdem die Gruppe sie befreit hatte: "Hope, jemals im Boudoir gewesen?" 

Sie erinnert sich, wie die Stimme der Zwergin kurz gebrochen klang. "Nie auf freiwilliger Basis."

Natürlich. Einige Dinge bleiben ungesagt. Tav spürt die Übelkeit in ihr aufsteigen.

"Verzeih, das Thema ist sensibel, ich sollte es besser wissen," sagt sie, während ihre Wangen immer heißer werden, "i-ich kann das Zimmer für dich kurz und klein schlagen, wenn das hilft? Niederbrennen? Die Tür zumauern? Alles machbar."

"AACH," ruft Hope viel zu laut, um überzeugend zu wirken, und macht eine wegwerfende Handbewegung. "Ich weiß, was du denkst! Aber nur keine Sorge: Raphael hat nie Hand an mich gelegt, noch hat er seinen Inkubus jemals angeordnet, sich an mir zu vergreifen. Für die sichtbaren Spuren waren vielmehr Zariels Generäle und Hohen Inquisitore verantwortlich, die hier ein- und ausgingen."

"I-ich will ihn nicht verteidigen, Hope, ich meinte nur-"

"Gewiss. Er ist ein Widerling, der andere die schmutzige Arbeit machen ließ und zu feige war, Hausgästen Einhalt zu gebieten, die über ihm standen. Er selbst kann Sterblichen sich nicht aufzwingen, wenn er sie nicht besitzt. Aber er hat es freilich auf andere Weise versucht. Er hat mit meinem Geist gespielt wie eine Katze mit der Maus."

"Dann- dann hat er nie... ?" Tav atmet tief aus.

"Oh, nein! Raphael ist absolut GESTÖRT!" Hopes erneuter Ausbruch lässt Tav kurz zusammenzucken. "Versteh mich bitte nicht falsch. Er hat nie in den fleischlichen Vergnügungen teilgenommen, dafür war sein Inkubus verantwortlich. Die Gierigen dachten immer, vom Original gekostet zu haben, und noch ehe Blut oder anderes floss, hatten die meisten einen Knebelvertrag unterzeichnet. HA! Bei den Unwilligen hat die Masche nicht funktioniert. Die Unwilligen, die er wirklich wollte, hat der Alte höchstpersönlich gefoltert. Mit Halluzinationen, dem Trietzen geheimer Wünsche, die Raphael ihnen irgendwie entlockt hat, und Flammen, die sich nicht real anfühlen dürften... Aber keine Angst, er ist frei von körperlicher Schuld. Also, mit Ausnahme von diesem Nekrokink, natürlich ..."

Sie kratzt sich am Hinterkopf. "Was das für ein Schock für dich gewesen sein muss, habe ich recht? Ich mein, wer kommt auf die kranke Idee -? Dein Teufel hat echt was aufzuarbeiten."

Für einen Moment läuft es Tav kalt den Rücken hinunter. Sie hatte glatt vergessen, dass Hope Raphaels furchtbares Geständnis selbst mitgehört hat. Nicht nur die wieder wachgerüttelte Erinnerung an das perverse Zeugnis selbst, sondern auch dass ihre Gefährten diese Offenlegung miterleben mussten, ist so erniedrigend, dass Tav am liebsten aus dem Raum fliehen würde.

"Er ist nicht MEIN Teufel, Hope," korrigiert sie sie stattdessen, "Wir haben eine Abmachung, das ist alles."

Die Zwergin schnüffelt an Tav und lehnt sich dann wieder zurück. "Aber ihr riecht nach gemeinsamer Vergangenheit."

"Korrekt, Vergangenheit," sagt Tav nun pointiert, "was mich betrifft, ist der Vertrag mit ihm erfüllt." Sie rümpft stolz die Nase. "Ich muss den alten Schleimball ab sofort überhaupt nicht mehr riechen, denn er hat per Vertrag die Anordnung, mir nicht mehr in die Quere zu kommen. Ich habe ihn aus Helm's Hold verbannt."

Hopes Augenbrauen wandern die Stirn rauf. "Ah ja?"

Und allein der Klang dieses kleinen, unverbindlichen Ausdrucks reicht, um die Saat der Zweifel zu säen.

"Natürlich! Schließlich habe ich-," Tav beginnt unwillig mit den Zähnen zu knirschen. "Warum guckst du so, Hope?"

"Ich gucke nicht, nein, nein! Ich bin absolut nicht am Gucken. Ich kann dich gar nicht SEHEN! Denn du bist so gut wie gar nicht HIER, haha! Du bist in Helm's Hold, gut gut!"

Sie weiß selbst, dass sie erst noch abreisen muss, will sie am liebsten augenverrollend sagen. Doch bald, bald schon ist dieser Albtraum vorbei und sie kann in ihr kleines "Weberparadies" zurückkehren!

So lautet der Plan, was sonst?

Warum hat sie plötzlich ein ungutes Gefühl...?

"Ich würde gern meinen Vertrag einsehen." 

 


 

Sie starrt auf das glimmende Dokument, das Hopes Magierhand von der ansonsten recht leeren Wand in Raphaels altem Arbeitszimmer geholt hat. Da steht ihr Name und drunter das Datum des Vertragsabschlusses - nach faerûnischem und avernischen Kalender. Es ist also zweifellos ihr Vertrag. Hope übersetzt ihr gerade den Inhalt in die Gemeinsprache, oder versucht es zumindest. Der Text ist für so eine kleine Vereinbarung ganz schön lang und verklausuliert. Zwischen Hopes Ähms und Öhms hört man irgendwo aus einer Ecke des Raums gelegentliches Papierrascheln und das Nachrutschen des Bücherberges, der die Raummitte einnimmt. Raphael könnte in diesem Augenblick irgendwo auf der anderen Seite des Zimmers sein, denn hinter dem Turm aus Dokumenten, Aktenordnern und aufgeschlagenen Gesamtwerken, hört man ein tiefes Grummeln und Schnauben und einmal steigt sogar eine Stichflamme auf. Jetzt allerdings starrt Tav auf ihre eigene verfluchte Signatur. Sie kann endlich den Blick davon losreißen und reckt räuspernd die Schultern. 

"Was steht da unten? Der Abschnitt da mit dem Sternchen."

Hope blinzelt, um das Kleingedruckte zu entziffern.

"Dies umfasst jede Form der verdeckten Überwachung, Einflussnahme oder physischen Präsenz, solange die genannten Bedingungen erfüllt bleiben. Du meine Güte, von dieser Poesie krieg ich noch Kopfschmerzen."

"Und weiter unten beim Doppelsternchen?"

"Nichtsdestotrotz wird nachdrücklich festgelegt, dass Vertragspartner R, durch die inhärente Natur dieses Vertrags, das uneingeschränkte und unwiderrufliche Recht vorbehalten bleibt, Vertragspartner T in der vollen Ausübung dieses Vertrags, sowohl rechtlich als auch physisch, an sich zu binden, und zwar bis... oh... und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem Vertragspartner R, und ausschließlich Vertragspartner R, physisch und geistig in der Lage ist, und ohne die Notwendigkeit einer weiteren vertraglichen oder gesetzgeberischen Begründung, seinen Teil der Vereinbarung gemäß Klausel 1, Abschnitt 3 zu erfüllen. Vertragspartner R behält sich, ungeachtet aller gegenteiligen Annahmen, das uneingeschränkte und unveräußerliche Recht vor, die mit dieser Bindung verbundenen Privilegien bis zu ihrem vollständigen Ablauf in maximalem Umfang zu nutzen."

Tav und Hope brauchen beide einen Moment, um die Worte sacken zu lassen. Und als das passiert und alle Unklarheiten beseitigt sind, fällt es wie eine Dachlawine auf ihre Schultern.

"Scheiße."

"Ja, in die bist du volle Kanne getreten, was, haha! Aber du wirst das schon deixeln. Sorg einfach dafür, dass du deine Haut nicht verlierst, und alles ist gut," murmelt die Zwergin nervös.

"Der Teufel und fair... FAIR! Von wegen! Dieser verdammte Mistkerl!"

Wutentbrannt ruft sie seinen Namen. Als das Echo in der Stille verhallt und sonst nichts geschieht, marschiert Tav um den massiven Berg, der geradezu den Raum teilt. Und da steht er in seiner impressiven Kambiongestalt wie ein Waisenkind vor dem Grab seiner Eltern, auf das Durcheinander starrend, das einst seine persönliche Bibliothek gewesen ist. Tav ist zu aufgebracht für jede Netiquette und tritt Fäuste ballend in seinen Blickwinkel.

"Auf ein Wort!"

"Nicht jetzt."

"Doch, jetzt!"

Hope, kein Fan von Wutausbrüchen und eskalierender Gewalt, verdünnisiert sich schnurstracks mit einem Wink. Tav ignoriert es.

"Du hast mich hereingelegt! Wir werden jetzt darüber reden und diese Kalamität richten, sonst schwöre ich dir, werde ich nicht aufhören, dir ins Gesicht zu brüllen, du billiger Betrüger!"

"Haltung, Tav, ich bitte dich. Was scheint denn das Problem zu sein?"

"Haltung? Willst du mich verarschen? Was ist mit dem "Teufel, der stets nach Fairness strebt"?" 

"Was ist mit ihm?"

"Er hat mich in einen Knebelvertrag gelockt!" schnappt sie. "Mich sowohl 'rechtlich als auch physisch' an dich zu binden? Wirklich?"

"Ah, du meinst in einen Vertrag mit deinen sogenannten 'Schlupflöchern', die du unbedingt vermeiden wolltest, aber am Ende vergessen ihn auf diese zu prüfen?" kontert er und legt den Finger ans Kinn.

Natürlich weiß er längst, wovon sie spricht. Offensichtlich hat er nur darauf gewartet - wenn nicht gar ganz erpicht -, diesen Streit mit ihr zu führen.

"Ich hatte nicht die Gelegenheit, das Kleingedruckte zu lesen!"

"Du hättest fragen können."

Für einen Augenblick muss sie das Gesicht in ihren Händen vergraben. So unerträglich es sich auch anfühlt, er hat nicht ganz unrecht. "Aber du- Ich- OK, das war mein Fehler. Nur-"
Es tut weh, dass zu ihrer immer noch andauernden Trauer und Lebensleere sich nun auch noch die PEST gesellt.
"...nach all den Jahren, die wir uns schon kennen, hätte ich nie gedacht, dass du deinen eigenen Prinzipien untreu werden würdest. Ich dachte, du wärst ein Stück weit besser als Mizora. Jetzt darf ich warten, bis du physisch und geistig in der Lage bist, deinen Part zu erfüllen - was auch immer das heißt."

C'est la vie sagt er ihr mit einer geschürzten Unterlippe. "'Not kennt kein Gebot', kleine Maus. Wäre ich mit offenen Karten zu dir gekommen, hättest du nie in meins eingewilligt."

'Ganz recht', denkt sie.

"Du hattest dich so tief in deiner idyllischen Kleinbürgerblase verschanzt, dass ich keinen anderen Ausweg sah." 

"Als ob das der Grund ist, warum ich nie eingewilligt hätte!" zischt sie bitter. Es ist bizarr, dass er noch nicht einmal auf die Idee kommt, dass sein eigenes Verhalten der Grund sein könnte, warum sie nichts mit ihm zu tun haben will, oder dass er in seiner Annahme falsch liegen könnte, sie habe sich aus Glückseligkeit in ihrer idyllischen, perfekten, scheißleeren Kleinbürgerblase verschanzt.

Tav mahnt sich zur Ruhe. 

Sie will sich gerade die Haare ausraufen, aber schüttelt stattdessen mit einem Blick zur Decke das Haupt, während er geduldig wartet. Wozu braucht er sie jetzt noch? Warum kann er sie nicht in Frieden lassen?

"Ich habe die Krone nicht," knurrt sie schließlich.

"Aber du hast meinen Zorn, mein Mäuschen," erwidert er, als sie nicht weiterspricht. Seine Miene ist geradezu diabolisch finster. "Die Krone interessiert mich nicht mehr. Ich habe ein neues Ziel vor Augen."

Die Hand an seinem Kinn ballt sich jetzt zur Faust. „Und bis dieses Ziel erreicht ist, wirst du das volle Ausmaß meines Zorns erleiden, ebenso wie die Demütigung, die ich erlitten habe, während du stolz damit hausieren gingst, dass du mich in meinem eigenen Haus erschlagen hast.“

Verärgert senkt sie die Arme. Was redet er da? Sie hat nie damit geprahlt, ihn besiegt zu haben. Im Gegenteil...

"Mach dich schonmal auf all die Qualen, die die Neun Höllen zu bieten haben, gefasst."

"Du hast mich in diesen Vertrag geschmiert, nur ums mir heimzuzahlen? Bist du zwölf, oder was?" keucht sie und sein Schurkengesicht wird ein wenig säuerlich. "Lass mich auf der Stelle gehen, sonst mach ICH dir die Hölle heiß."

"Wie putzig. Wie dem auch sei," sagt er mit einem ennuierten Wink, "mein Plan ist es nicht, dieses Unterfangen unnötig in die Länge zu ziehen. Ungleich zu meinem vorherigen Vorhaben Herrschaft über Baator zu erlangen, wird diese neue Mission innerhalb eines Augenzwinkerns vollbracht sein. Und du darfst in der ersten Reihe sitzen und dabei zusehen. Ah, ich weiß, was du denkst: "Was hat er vor? Plant er eine Revolution, baut er sich eine Armee aus Ghoulen und Teufeln, die ihm, dem unwürdigen Usurpator, dienen?"" Er lacht wohl amüsiert über die eigene Beleidigung. "Wie gewöhnlich. Meine Ansprüche sind viel höher. Und jetzt habe ich sogar meinen eigenen Hofnarren, der mich auf dem Weg zum Ziel unterhält."

"Verdammt... das ist wirklich ein Rachefeldzug, nicht wahr?" sagt sie leiser. Sie spürt schon die Kapitulation.

"Rache, hmmm." 

Statt zu antworten, tritt er langsam an seinen Schreibtisch, der unter Stapeln von Schriften versinkt. „Du warst bereit dir dein selbstverschuldetes Dilemma einzugestehen, nun erweist das Monster dir die gleiche Ehre. Du hast recht: Ich habe meine Ehrlichkeit verloren. Einige der Ordnung Tugenden haben wohl meine Zeit im Mephistopheles' Kerker nicht mitüberlebt. Und dafür fühle ich mich... billig."

Er lehnt sich gegen den Schreibtisch, schlägt ein Bein über das andere und beäugt seine Fingernägel.

"Das heißt...?"

"Ich werde nicht weiter darauf eingehen, denn es ist, was es ist: nicht vertragsrelevant. Klausel 4, Abschnitt zwölf hingegen... - Diese Bindung, die sowohl auf der vertraglichen als auch auf der physischen Ebene wirkt, bleibt in vollem Umfang bestehen, bis Vertragspartner R seine in Klausel 1 beschriebenen Leistungen erfüllt hat. Ergo, ich kann deine Anwesenheit erzwingen,“ sagt er mit einem Fingerschnippen, „wann ich will, so lange ich will."

"Bis du in der Lage bist, deinen Teil der Abmachung zu erfüllen," ergänzt sie.

Er schenkt ihr ein träges Lächeln und Tav blinzelt. Das orangefarbene Licht, das ins Arbeitszimmer fällt, scheint röter zu werden.

"Nur zu, stell dich quer," offeriert er triumphal, "versuch den Vertrag, von dem es genügend Kopien gibt, zu zerreißen. Aber da du keine magischen Kräfte hast und auch sonst keine große Unterstützung," Grinsend blickt er um sich, als suche er nach Tavs vielen Freunden, "rate ich davon ab."

Sein Lächeln verzerrt sich zu einem Teufelsgrinsen und für eine Sekunde glaubt sie, in der Ferne ein bedrohliches Donnergrollen zu hören. Wie macht er das nur? 

"Um es kurz zu fassen, Tav: Du bist jetzt ganz in meiner Hand. Und ich kann sehr unangenehm werden, also gib mir keinen Grund dazu."

"Wenn es nur darum geht, mich zu bestrafen, kann ich kaum etwas ausrichten, um dich davon abzuhalten."

Seine Augen leuchten auf. Nach einer Sekunde des Innehaltens stößt Raphael sich vom Tisch ab und schlendert heran. Er kommt vor ihr zum Stehen und alles um sie herum scheint in Schwärze zu versinken, alles außer seiner geflügelten Gestalt. Sein Gesicht ist in ein unheimliches karminrotes Licht getaucht. 
„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wie kreativ meine Bestrafungen sein können."

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, hat er sie an den Schultern gepackt und schleudert Tav in eine Alptraumvision aus endlosen Kerkern, aus Lust und Leid, und unerträglichem, köstlichen Juckreiz, der nur mit noch mehr Schmerzen zu tilgen ist, bis sie sich den Arm abkauen will. Sie sieht, wie es andere in ihren Visionen bereits erlebt haben, Mauern in Blut und anderen Körperflüssigkeiten getüncht, und dekoriert mit eingehämmerten Körpergliedern, die immer noch zucken. Ein Flammenmeer lodert auf so heiß, dass sie kaum atmen kann, und am Rande der Feuersbrunst tummeln sich dunkle Figuren, die gierig nach denen im Feuer greifen, mit blutigroten Ketten rasseln oder vulgär masturbieren. Tav ist unter den brennenden Seelen und genauso verloren. Zwischen züngelnden Flammen und sich windenden Körpern schreitet der Teufel auf sie zu, nun in schwarzer Kluft und mit schillerndem Gehörn. Er wird immer größer, bis seine aufblitzenden Eckzähne sie in Größe übertrumpfen. Er sieht sie an, als hätte er sie aus all den Seelen erkoren, sein Lieblingsspielzeug zu werden; Es ist berauschend, ein Privileg, ihre wahre Bestimmung. Tav erschauert. Der Teufel umklammert sie und sie spürt die Krallen in ihrem Fleisch. Seine Stimme, ein tiefes Beben unter all dem Gebrüll, durchfährt sie bis ins Mark, und als er spricht erfüllt sie jede Faser ihres Seins mit rasender Enthemmung:

----   Gefällt dir das?   ----

Ja, das tut es. Es fühlt sich so gut an, sie will sich die Augen auskratzen!!

"Oi, da bist du ja! Hat mich drei Ewigkeiten gekostet dich in dem Kasten zu finden."

Und auf einmal ist sie wieder zurück, das Arbeitszimmer erleuchtet, doch sie lehnt jetzt gegen eine leere Bücherwand, und der Teufel ist über sie gebeugt. Durch verschwommene Augen nimmt sie eine rote Gestalt hinter ihm wahr, und dann - es dauert ein paar Sekunden, bis die Worte ihr Gehirn erreicht haben - eine schneidende Mädchenstimme, die ihr irgendwie bekannt vorkommt.  

 

 

Chapter 7: 7 Die Wette

Summary:

Im Hause von Hope trifft Tav auf die neue Korrilla des Teufels: Es ist Mol!

Notes:

Musik: Borislav Slavov - Endless Spring und I want to Live (City Version)

Hinweis:
- Es gibt ein paar Referenzen an Teil 1 der Serie: Mol hat damals Kar'niss' Schwert gemopst und ist damit schnell Richtung Avernus verschwunden. Die Gute haben wir also im Endkampf gar nicht zu Gesicht bekommen.
- Viele BG3 Zitate.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

"Nö, du kannst das Schwert nicht zurückhaben!"

"Wieso sollte ich ein Schwert haben wollen?"

"Das habe ich längst für gutes Gold verkauft. Das kannst du auch nicht haben! Ist längst investiert."

"Ich will weder Schwert noch Gold von dir. Ich freue mich einfach, dich wiederzusehen. Es ist schon so lang her."

Der bärbeißige Tieflingteenie schnaubt immer noch sehr skeptisch.

"Kann sein", murrt sie.

Mol wirkt so viel älter als Tav sie das letzte Mal sah. Ein wenig größer und schlaksiger ist sie geworden. Aber es ist die Aufmachung, die Tav zweimal hinschauen lässt: Mol ist ganz in fein gestanztes Leder gekleidet, trägt teure Leisetreter und statt der schmutzigen Augenbandage von früher ziert ihr Gesicht nun eine messingumrandete Augenklappe, die die Metalladern in ihrem rechten Horn zur Geltung bringt. Wenn ihre Kleidung auch nur einen Hinweis auf ihren Schirmherrn liefert, dann ist es das satte Karminrot ihrer Kluft. Vor ihr steht eine von Raphaels Schurken. Der rosige Apfel, endgültig gepflückt.

"Kommt mir wie eine Ewigkeit vor," sagt sie und ihre kleine Mädchenstimme hat immer noch diese schneidende Schärfe, die einen vor zu viel Vertrauen warnt, "du hast uns damals im Druidenhain gerettet. Nicht einen Goblin entkommen lassen. Und generell so üble Gesellschaft warst du auch nicht." Sie nickt wohlwollend. "Hast noch nicht einmal geschimpft, als meine Bande stehlen war, nein, stattdessen haben deine Freunde und du drei meiner Leute gerettet: einen vor den Harpien, eine vor der Schlange und eine vor dem Schattenfluch. Klar erinnere ich mich! Hätte dir sogar mein Leben anvertraut."

"Und nun?"

"Jetzt bin ich alt genug selbst zuzustechen."

Mol grinst finster und dreht den Dolch, den sie gerade schärft, in ihrer Hand. Tav beugt sich zu ihr herab, damit sie auf Augenhöhe sind.

"Du hast einen Pakt mit Raphael geschlossen," sagt sie langsam.

"Sich die richtigen Verbündeten zu suchen ist doch nur vernünftig. Der große Raph hat mich nicht in der Hand. Er gibt mir nur die Mittel, mich und meine Familie am Leben zu erhalten und uns zu nehmen, was wir verdienen."

"Die Diebesgilde?"

Sie lacht dreckig. "So isses. Der neue Kopf der Diebesgilde kann schließlich nicht in alten Fetzen rumlaufen."

Und mehr sagt sie nicht dazu. Tav mustert sie nachdenklich. "Wir haben dich beim Endkampf damals vermisst, Mol. Aber ich bin froh, dass du es nicht miterleben musstest."

"Hah! Stell dir vor, wie überrascht ich war, als ich zurückkam. War nur ne Minute weg. Dann höre ich, dass der Alte erledigt wurde und bin schnell wie der Wind nach Hause. Aber da stand schon die ganze Stadt Kopf, meine Leute in alle Winde versprengt!"

Tav brummt verständnisvoll. Ja, sie erinnert sich an das Chaos und die Verluste.

"Wie geht es Mirkon, Arabelle und den anderen?"

Mol gibt endlich ihre Defensivhaltung auf: Sie rollt die gepolsterten Schultern zurück und hebt stolz das Kinn. "Hervorragend, dank dir und deiner Rettungsaktion in Baldur's Gate", sagt sie und Tav fühlt, angesichts des Lobes einer sonst unbeeindruckten Diebin, wie ihr Ego ein wenig anschwillt, "die Jungs und Mädels konnten in den Trümmern viel abräumen - das hat ihnen einen guten Start ermöglicht."

Übersetzt heißt das: Die Kinder haben nach der Schlacht ohne Maß und Regel geplündert. Tavs Ego verzieht sich in eine dunkle Ecke und weint, während Mol weiterprahlt. "Und mit dem Gold, das ich mitgebracht habe, war die Übernahme der Gilde so gut wie gesichert."

Flunkert sie? "Und jetzt bist du wieder hier ..."

Das Mädchen zuckt mit den Achseln, als wäre es eine lapidare Angelegenheit, und sieht doch nicht mehr so glücklich aus. "Ach, hatte gerade eine kleine Durststrecke im Geschäft, da meldet sich doch der alte Teufel. Das konnte ich nicht ablehnen, musste zurück nach Avernus."

"Ein neuer Vertrag?"

"Nur Kleingedrucktes aus dem alten, nichts weiter."

Der Tiefling weicht aus. Aber Tav begreift. Sie hat gesehen, was passiert, wenn eine gebundene Seele aus ihrem paradiesischen Schlaf gerissen wird: Sie muss dem Ruf ihres Meisters folgen, ob sie will oder nicht. Wyll Ravengard ist das lebende Exempel. Tav hatte schon damals Mol nicht davon abhalten können sich mit dem Kambion zusammenzutun. Die Diebin ist stur - „frech wie ein Lamm, das in die Höhle des Löwen strawanzt“, wie Wyll einmal sagte. In Wirklichkeit hat sie ihre Unabhängigkeit an die Hölle verkauft und der kluge Raphael mit ihr ein neues Werkzeug akquiriert.

"Bitte hass mich nicht für das, was ich jetzt sage, aber: Das wird kein gutes Ende nehmen, Mol. Er lässt dich glauben, dass du gewinnst. Er lässt dich denken, du bist schlauer, schneller, besser. Und dann, wenn du glaubst, sicher zu sein -"

"Dann zieht er den Vorhang weg und du stehst ohne Hose da? Jo, kenn ich, nennt sich Pokerspielen mit Zwergen."

Das Mädchen begutachtet sie mit vorgeschobener Unterlippe. "DU scheinst ja auch nicht gerade seine Nähe zu scheuen. Was hat es damit auf sich?"

Sie hebt sogleich die Hand mit dem Dolch, den sie immer noch schleift. Jetzt muss Tav doch bitter auflachen. 

"Ich bin in die gleiche Falle wie du getappt und hielt mich für clever. Aber er hat mich ausgetrickst. Ich bin physisch an ihn gebunden, bis er entscheidet, dass ich genug gelitten habe. Jetzt heißt es meine Zeit abzusitzen."

"Oh je!" ruft Mol eher belustigt als bestürzt und gackert ihr typisches fieses Teufelslachen, "das klingt nach elendsvielen Lanzbrettrunden."

Tav schnaubt kichernd, aber korrigiert sie nicht. Bislang haben sie auf ihrer gemeinsamen Reise noch keine einzige Session gespielt.

"Ich fand sie sterbenslangweilig", kichert die Kleine, "am ödesten waren seine ewigen Lektionen."

"Lass ihn das bloß nicht hören."

"Ach, der Alte ist so harmlos wie ein Kätzchen."

Und dann erscheint eine Magierhand vor ihnen und macht eine herrische Bewegung mit dem Zeigefinger. Widerwillig hüpft Mol vom Sofa und steckt den Dolch zurück in die Scheide. Grummelnd salutiert sie Tav und folgt der lavaroten Hand zurück in Richtung des Arbeitszimmers, wo Raphael auf sie wartet. 


 

Es war einmal in Helm's Hold. Wir schreiben das Jahr 1486 DR - sechs Jahre also, bevor eine kleine Bande auszog, um das Nesserhirn von Baldur's Gate zu bekämpfen. An einem goldenen Herbstnachmittag saßen zwei Gestalten am berühmten Lanzbrettstein von Helm's Hold - jenem Felsentisch, an dem einst der kleine Schmied Zestin Geldzegen den berühmten Spieler Marbol Etcheen aus Vesperin geschlagen haben soll. An diesem Tag aber, unweit der Kathedrale unter dem gelben Blätterdach einer Birke, fand kein Match des Jahrhunderts statt, denn es gab weder Publikum noch stand der Underdog der beiden auch nur im Entferntesten davor zu gewinnen. 

Lippenkauend starrte Tav auf Raphaels Mystra, dann auf ihren Schurken, dann zu ihrem Kleriker, und zurück. 

"Ein wenig mehr Mut würde nicht schaden", durchbrach der Teufel die Stille.

"Hm", brummte sie nur und stützte das Kinn in der Hand ab.

Ein Wind zog auf und ließ das Blätterwerk über ihnen aufrascheln. Es regnete goldenes Herbstlaub und Tav zog den viel zu großen Pelzumhang ihrer Mutter (möge sie in Frieden ruhen!) enger um die Schultern. Von jenseits des hohen, bewachsenen Eisenzauns, der das religiöse Gelände umschloss war nur das gedämpfte Klänkern und Rattern städtischen Treibens zu hören. Sie rutschte auf ihrem kleinen Dreibein hin und her, während der Teufel auf seinem herbeigezauberten Stuhl wie ein König thronte.

"Du spielst heute, als hättest du deine Seele zu verlieren", kommentierte er und sie würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, ihr kleiner Finger zwischen den Lippen, "liegt dir etwas schwer im Magen?"

"Ich denke nach."

Er musste nicht wissen, dass ihr in den vergangenen sechs Wochen wegen der Mäuse im Keller ihres neuen Ladens vier Abnehmer abgesprungen waren und dann auch noch der Schädlingsbekämpfer eine horrende Rechnung verlangt hatte. Sie wusste noch nicht, wie sie sie bezahlen sollte. Die Zeiten waren hart. 

"Das ist offensichtlich." Er seufzte schwer und warf ein Bein über das andere. "Doch ich spüre meinen Körper rapide altern, je länger ich dir dabei zusehe."

"Ich will nicht noch mehr wertvolle Figuren verlieren."

"Du wirst nicht jede Seele retten können, Gus Tava. Der Wert liegt im Spieler, nicht in seinen Figuren."

"Mhm."

"Heute verstehst du es wirklich die langweiligsten Antworten überhaupt zu geben."  

Er griff dazwischen und unter Tavs protestierendem Hey! stellte er die Figuren auf ihre Startposition zurück.

"Was soll das?"

"Ich hätte gewonnen. Das weißt du."

"Aber es war immer noch MEIN ZUG!"

"Es tut mir ausgesprochen leid, doch Zeit ist unerbittlich."

Etwas baff lehnte sie sich zurück und entschied ihren Ärger tief auszuatmen, statt ihm eine Szene zu machen. Verflucht, sie wusste, sie hätte nicht mitten im Doppelkontergambit einen Rückzieher machen sollen. 

"Komm, lass uns den Einsatz erhöhen, das Spiel etwas nachschärfen. Das macht das Gewinnen lustvoller, meinst du nicht? Du darfst auch eröffnen."

Sie spielte mit dem Fläschen in ihrer Rocktasche. "Hm, ich muss leider in -" sie versuchte den Stand der Sonnenuhr auf dem Kirchplatz abzulesen, "30 Minuten weg."

Nämlich die Gedankenlesen-Tinktur zu ihrer Cousine bringen. Ihrer Cousine Selena, die voll auf diesen Typen aus irgendeinem Kaff stand und unbedingt wissen wollte, ob er "nur gute Absichten" ihr gegenüber hegte . Zufällig kannte Tav jemanden (ihren Kumpel Barth), der jemanden kannte (Barths Onkel), der das Zeug auf dem Schwarzmarkt vertickte. Selena hatte bestimmt schon Hummeln im Hintern, weil Tav sich gerade Zeit ließ. Kein Wunder, die Mische war extrem teuer. Und zwar so teuer, dass einem von dem Preis schwindelig wurde. Konnte nur bedeuten, dass das Zeug superstark war.

... Hm.

"Und sowieso: Meine Mutter hat immer gesagt: Geh keine Wette mit dem Teufel ein," sagte sie, doch würzte ihre Worte mit einer Prise Herausforderung.

"Das schmerzt mich sehr, meine Liebe. Misstrauen macht unattraktiv."

Raphael lehnte sich nun ebenfalls zurück und legte Fingerspitze an Fingerspitze. "Doch ich nehme es deiner Frau Mamà - möge sie in Frieden ruhen - nicht übel: Die meisten Teufel halten nichts von Fairness und arbeiten in der Regel mit hinterhältigen Methoden. Ich, hingegen, stehe zu meinem Wort. Wenn du unter zwanzig Minuten gewinnst, bekommst du, was dein Herz begehrt. Ganz ohne Falltür."

So so. Das machte hellhörig. "Und wenn ich verliere?"

Er legte einen Finger ans Kinn und schien zu überlegen. Sein Markenzeichen, wie sie rasch festgestellt hatte. Die meiste Zeit hielt sie es für Show.

"Deine Gestalt."

Sie blickte an sich hinab. "Meine ... Du meinst meine Figur?"

"Dein Abbild. Wenn ich gewinne, darf ich es mir für ein Weilchen borgen."

"Was willst du damit?"

"Oh", atmete er aus und genoss offensichtlich den idyllischen Ausblick auf den Platz vor der Kathedrale, deren steinerne Außenmauern immer noch vom Ashmadai-Angriff von vor sieben Jahren angeschlagen aussah, "furchtbar schändliche Dinge, meine Liebe. Zum einen würde ich deinem exquisiten Abbild das Lanzbrett richtig beibringen, um wenigstens vorübergehend in der Illusion zu leben, dass du jemals meinen Anweisungen ohne Scherereien folgen kannst."

Er lenkte den Blick zu der jungen Frau zurück. In sein süffisantes Dauerlächeln war plötzlich etwas gekrochen, das sie nicht zu deuten wusste. Es war keine Kälte und auch keine Häme, doch er schien einen Hintergedanken zu haben, wie ein Schlachter, der auf dem Rossmarkt das ideale, ahnungslose Kaufobjekt gefunden hatte.

"Und weil es eine artige Gestalt ist," fuhr er etwas leiser fort, seine Augen fest auf ihren, "würde ich dem Abbild anschließend alle erdenklichen Flausen seiner Eigentümerin aus dem Kopf jagen und ihn mit ... etwas ... etwas anderem zu füllen."

Er blinzelte. Der seltsame Stotterer ließ Tav in einem Wechsel aus Konfusion und Fremdscham wegschauen. Raphael sich gerade verhaspelt. Als sie einen Blick riskierte, sah sie, dass er jetzt zur Seite starrte, der Kiefer am Arbeiten.  

"Und das ist alles, was du mit meiner Form willst?" fragte sie, "Ein Mannequin mit meinem Gesicht soll dich bespaßen."

"Ich gebe zu, ich wäre gern häufiger zu Besuch, um mehr von deinen Neckereien zu genießen. Du bist mir eine Wonne, meine Liebe. Wie eine frische Brise über dem schalen Kellergeruch meiner vielen Klienten. Es muss wohl daran liegen, dass du keine Angst vor mir hast. Vermutlich auch unterstützt durch dein wahrhaft engelsgleiches Antlitz; es ist gar niedlich anzusehen, wenn du brütend auf den Fingern herumkaust."

Tav verdrehte die Augen, spürte aber die Glut in ihre Wangen steigen. Welch seltsamer Wunsch. Und schmeichelte er ihr oder war es versteckter Sarkasmus?

"Doch da wir beide schrecklich beschäftigte Leute sind und nur wenig Zeit für dieses schöne Hobby haben, würde ich mir eben deine Gestalt holen. Es wäre nur dein Abbild, nichts weiter. Ich werde unsere ohnehin raren Spieletreffen dadurch nicht vernachlässigen, das verspreche ich dir."

Stirnrunzelnd schob sie eine Strähne hinters Ohr. "Und wie willst du dir mein Abbild holen?" fragte sie skeptisch aber in Gedanken schon beim Gewinnen.

Sein Lächeln wurde breiter und er schlug die Augen nieder. 

"Mit ein wenig Magie und Liebe." Er fasste sich ans Herz. "Mehr nicht."

"Ich könnte aber auch gewinnen."

Und er sah sie wieder an, wissend. "Gewiss. Und in dem Fall steht dir ein Wunsch frei."

Ihr Blick streifte das Himmelsblau, das zwischen dem Baumwipfel hindurchschien . "Dann wünsche ich mir eine steile Karriere als Weberin. Ich möchte ein florierendes Geschäft, das fast wie von selbst läuft."

Den letzten Satz unterstrich sie mit einem Fingerschnippen. 

"Ah, Ambition," lachte der Teufel nach anfänglicher Überraschung und zog die frische Luft hörbar durch die Nüstern, "das köstliche Parfum am Anfang eines jeden Stelldicheins. Das ist ein großer Wunsch." 

"Verlange ich zu viel?"

"Nicht mit deinem Engelsgesicht."

OK ok ok, genug mit der Schleimerei. Errötend senkte sie den Blick und zog schniefend den Umhang enger. Das Fläschchen schon heimlich zwischen die Brüste gedrückt und Finger am Verschluss. Wenn er wüsste, dass ihr Gesicht nur vor Aufregung erhitzt war... 

"Hmm ..." Er schien zu überlegen. "Hat dir deine Mutter denn auch noch andere Dinge beigebracht, die du mit dem Teufel niemals tun solltest?" fragte er plötzlich.

Ihre Blicke kreuzten sich und Tav spürte auf einmal, wie sich ihr alle Härchen aufstellten. Hatte er etwas mitbekommen?

"Wie zum Beispiel?" flüsterte sie, ihre Stimme versagend. 

War es ein Ratschlag? Eine Drohung? Dass sie ja nicht versuchen sollte, den Teufel aufs Kreuz zu legen?

Oder sich von ihm auf ihr Kreuz legen zu lassen ... ... Heiliger Helm und Herr über alles, was keusch war, was dachte sie da!

Raphael lehnte sich vor und fasste ihr kaum merklich an den Kopf. Tav gefror für einen Moment, als er ein gelbes Birkenblatt aus ihrem Haar zog. 

"Ihn warten zu lassen. Du bist am Zug."

Notes:

Raphael macht der jungen Tav den Hof, aber sie kapiert es nicht.

Chapter 8: 8 Ansichten eines Teenagers

Summary:

Ein kurzes Hallöchen von Mol.

Notes:

Meint ihr nicht auch, dass sie ein perfekter Sidekick für "Taphael" wäre? Der Teenager, der für die bissigen Kommentare zuständig ist haha...

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Sie kommt in den Raum und kriegt erst einmal das Kotzen von dem Anblick. Der Gestank von Teufel - dickes schwefeliges Gas - steigt ihr in die Nüstern. Das Menschenweib riecht im Übrigen nicht weniger schlimm; ihre Grundnote ist weniger sauer als Raphaels, aber dafür auf eine ähnlich gierige Weise verzweifelt wie die der ungewaschenen Junkies in der Gosse von Baldur’s Gate.
Aber wen versucht sie hier mit ihrem "guten Riecher" zu verkackeiern – Mol hat schließlich Augen im Kopf, und die kleben gerade auf der sichtbaren Ausbeulung in Raphaels Hose.

Das ist so widerlich. 

"Oi, da bist du ja," sagt sie und guckt nach oben weg, damit sie nicht weiter auf sein Gemächt starren muss. "Hat mich drei Ewigkeiten gekostet, dich in dem Kasten zu finden."

"Oh, es ist Mol!", ruft das Menschenbild schwach, der Kopf puterrot.

Ja, Mol, wer sonst? Aber jetzt muss sie doch unwillkürlich grinsen, denn sie erkennt endlich, wer sich da in Raphaels Giergriffeln windet: die Heldin des Druidenhains. "Teufelsschlächterin". Na, guck einer an.

Raphael lässt Tav wie ein heißes Stück Kohle los und richtet sich räuspernd auf. Mol sieht das kleine Zucken – er will sein Haar nach hinten werfen, hält aber mitten in der Bewegung inne, als würde er einen Reflex unterdrücken. Erst neulich hatte er das gemacht, und sie hatte seine Fransen "Pony" genannt, woraufhin er etwas stinkig geworden war.

"In der Tat. Also, Mol, was hat dich aufgehalten?", fragt er mit seiner typisch milden Arschlochstimme.

"Das kann ich dir sagen, die scheiß-Barrieren," erwidert sie. "Diese Zwergin hat mich doch tatsächlich verhört als wäre ich eine Kriminelle. Hat die ganze Zeit rumdiskutiert, wer ich sei und warum ich dich wohl kenne. Hat mich dann doch reingelassen, aber denkste, sie sagt mir, wo ich dich finde? Nö. Hat mich nur stumm angeglotzt, und fertig."

Sie mag die Leere dieser Festung nicht. Räume sind dazu da, dass sie gefüllt werden, mit schweren Möbeln und mit Leuten, die auf den Möbeln sitzen oder Dinge darin verstecken. Das einzige, was es hier gibt, ist Staub und Gerümpel. Big Raph hat sie beauftragt, "Accessoirs" (wie er es nannte) zu sammeln, aber wie das die Bude verschönern soll, weiß sie auch nicht.

"Und?", drängt der Boss.

"Hab ihr den Stinkefinger gezeigt."

"Mol."

Sie rollt mit den Augen und lässt den Sack mit der Beute, den sie mit sich schleppt, zu Boden fallen. Er wirft einen neugierigen Blick darauf, während sie darin rumwühlt. "Konnte das whisky-getränkte Holz aus Baator nicht finden, das du haben wolltest. Sonst ist alles da: der Metallschrott, Obsidian, Kalkstein, Schwefelstein… Fläschchen mit saurem Regen, n'Seil, n'rostiger Schlüssel, Drachenschuppe, gebleichte Eierschalen, n'alter Stiefel, äh ... bisschen weibliches Schamhaar und, mal sehen ... Fäkalien eines Riesen. Kann ich jetzt gehen? Ihr zwei seid mir zu widerlich, da kommts mir gleich hoch."

"Gut gemacht. Du darfst gehen. Aber bleib in Rufweite, ich habe da noch einen Auftrag für dich."

Sie verlässt den Saustall von einem Raum und macht sich auf die Suche nach irgendeiner Beschäftigung. Guckt in ein paar Zimmer und Schubladen, aber nichts von Wert oder klein genug, um es einzustecken. Sie tastet Bilderrahmen und Kerzenhalter an den Wänden ab, auf der Suche nach versteckten Türmechanismen. Reiche Leute lieben so was in ihren Häusern. Aber alles ist leer. Eigentlich kein Wunder; die verrückte Zwergin macht nicht den Eindruck jemand mit teurem Geschmack zu sein.

Sie war nicht ganz ehrlich zu ihm; ein paar der Objekte, die sie gesammelt hat, sind nicht das, was er verlangt hat. Das Büschel Schamhaar? Wahrscheinlich nicht von einer Frau. Und die Riesenscheiße? Wahrscheinlich von irgendeinem großen Tier. Sie hat versucht, wie befohlen die Artikel innerhalb von achtundvierzig Stunden zu besorgen, aber sie kann sich nicht alles aus dem Arsch ziehen. Eine "Drachenschuppe"? O bitte, da hätte er genauso gut nach einem lebenden Drachen fragen können. Und dieses "in Schnaps getränkte Fassstück aus den Tiefen der Verderbnis" – pfff!
Seit seiner Rückkehr ist Raphael richtig anstrengend geworden. Fing schon damit an, dass er sie mitten in der Nacht nach Avernus beordert hatte.

"Ich honoriere lediglich unseren Vertrag, Mol. Die Konditionen verlangen Kontinuität," hatte er in der Nacht gesagt, damals vor sieben Monaten.

"Was für’n Recht hast du eigentlich, andren deine Konti-wasauchimmer aufzwingen?" hatte sie in ihrem Bett geknurrt, halb blind vor Müdigkeit. "Lass den Leuten doch ihre eigene Konti- ach!"

Ja, "Ach", sie ist an den Vertrag gebunden, und daraus gibt's kein sich Winden. Sie dachte, er sei tot gewesen, und hatte sich schon damit abgefunden, dass ihre Zukunft futsch ist. Und dann, puff! Da war er wieder, und riss sie aus ihrem (mehr oder weniger) erfolgreichen Tagesgeschäft. Man kann ihr kaum verdenken, dass sie von diesem Hin und Her richtig genervt ist. Als sie realisierte, dass die Geschichten von seinem Tod nichts als Märchen waren, ist sie fast in die Luft gesprungen. Verflucht sei Tav und ihre Truppe aus lustigen Lügnern. Wahrscheinlich haben sie eine Party geschmissen und ordentlich Gold eingesackt, nachdem sie Mols Zukunft beerdigt hatten. Sie erinnert sich noch genau, wie Raphael gekocht hat, als sie ihm das erzählt hat. 

Etwas unpraktisch, dass der Boss sie gerade jetzt herrufen musste. Mol hat eigentlich mordsviel um die Ohren – sie muss ihrer Fratzenbande Bescheid sagen, dass sie erstmal auf Geschäftsreise ist. Und das bedeutet, den Deal mit dem drachengeborenen Schmuggler auf Eis zu legen. Ein wirklich unglücklicher Zeitpunkt, aber sie traut ihrer Gang einfach noch nicht zu, so nen großen Job ohne sie zu stemmen. Vielleicht leiht Raphael ihr seinen Teleport-Ring, dann könnte sie kurz zurück nach Baldur's Gate springen, ihren Deal abschließen (und vielleicht anschließend in Avernus noch ein bisschen plündern gehen)? Das wär ne feine Sache. Das Gate ist seit dem Wiederaufbau einfach nicht das Gelbe vom Ei, alles teurer geworden und die Leute geiziger. Das Gold käm ihr gut gelegen. Doch der neue Raphael ist knauserig mit seinen Gaben. Wo bleibt der Pomp? Wo der Luxus? Was ist bloß aus seiner Großzügigkeit geworden?

Mol lässt sich auf eine Chaiselongue am knisternden Kaminfeuer fallen und genießt die Wärme. Es ist so gemütlich, dass sie sich fast ausstrecken möchte, der Hitze gestatten sich um ihre Knochen zu wickeln. Es erinnert Mol an das Häuschen, das ihre Familie besaß, bevor die Söldner sie niedergebrannt haben – samt Eltern und Brüdern.

Sie holt den Wetzstein raus und beginnt, ihr Messer zu schärfen. Lässt die Gedanken baumeln. Sie hat von einer ganzen Stadt gehört, die angeblich erst kürzlich in Avernus gesaugt wurde – mit Straßen, Häusern, Leuten und allem. Da muss doch irgendwo was Stehlensswertes sein, irgendetwas Kleines, das sich einstecken lässt. Mol wird schon einen Weg finden, das zu erkunden, ja ja.

"Wartet's nur ab," denkt sie laut, während sie sich eine gesichtslose Menge vorstellt, die all die Erwachsenen repräsentiert, mit denen sie in ihrem Leben schon rumstreiten musste. "Mein Leben geht schon noch stromaufwärts." Nicht in Flammen - wie bei Raphaels anderen, nämlich dämlichen Klienten. Dafür ist sie zu clever. Zu sehr Visionärin. Eine furchtlose Tiefling – von der Sohle bis zu den Hörnern.

 

 

Notes:

Wie wäre es mit ein klein wenig Spice im nächsten Kapitel?

Chapter 9: 9 Distractio interrupta

Summary:

Tav und Raphael bereiten sich auf einen Kurztrip nach Baldur's Gate vor, lenken sich aber gegenseitig ab.

Notes:

Hinweise:
- Ein Hauch von pikant
- Viel In-Game-Dialog

Chapter Text

Am Abend oder Mittag, schwer zu sagen in diesem ewigen Dämmerlicht, hat Tav sich frisch gemacht und alles gepackt was sie für ihre Mission nach Baldur's Gate braucht. Es ist nicht viel, nur ihre Waffen und ein kleiner Rucksack, der mittlerweile Löcher hat, weil sie für eine Neuanschaffung zu geizig und fürs Flicken zu beschäftigt war. Sie hatte ihn lange nicht gebraucht und die Motten durften sich eine Zeit lang in Ruhe daran verköstigen. Auch ihr Gürtel für die Granaten und Feuerknoten hat Risse, weil sie ihn Jahre nicht mehr eingefettet hat. Es ist eine Schande, wie ihr einst strapazierfähiges Reiseequipment durch bloßes Nichtstun zu Schaden gekommen ist.

Es ist das erste, was sie tun wird, wenn sie wieder nach Hause kommt: stopfen, wachsen, fetten. Während Tav auf der ausladenden Reling ihres gigantischen Zimmerbalkons sitzt und das diesige Panorama vor sich begutachtet, nimmt sie sich vor, die vielen Städtewanderungen, die sie immer aufgeschoben hatte, endlich anzugehen. Ihre Finanzen sollten es ja mittlerweile zulassen. Vielleicht wird sie dann auch endlich die Reise nach Menzoberranzan antreten.

Schwer seufzend lässt sie den Blick über das avernische Panorama gleiten. Sie lehnt den Kopf gegen die Mauer und streckt die Beine aus. Wenn der Teufel wieder voll zu Kräften erlangt ist - und das wird er, sobald er genügend Seelen konsumiert hat -, sollte es keinen Grund geben, sie weiter an ihn zu knebeln. Außer er macht seine Drohung tatsächlich wahr und schleift sie mit auf seinem Weg zur Herrschaft durch die Höllen (wenn das überhaupt sein großer Masterplan ist). Vielleicht tötet er sie auch am Ende, wenn er keinen Nutzen mehr für sie hat. Nach wie vor findet sie seine Argumentation, laut der es ihm nur um Vergeltung gegen sie gehe, wenig plausibel. Die Schlupflöcher im Vertrag, die er ausgenutzt hat, um sie an sich zu ketten, verwirren Tav derart, dass sie ihrem eigenen Verstand nicht mehr traut. Was hat er vor? Mit ihr, mit seiner geheimen Mission?

"Schon aufbruchsbereit, wie ich sehe." 

'Wenn man vom Teufel spricht...'

Raphael steht in der Tür zu ihrem Zimmer. Hatte sie die Tür zu ihrem Schlafgemach nicht sogar abgesperrt? Er trägt Uniformrot mit Schärpe, als sei er auf dem Weg zu einer formellen Abendveranstaltung, und hat die Hände hinterm Rücken verschränkt. 

"Kaum hast du dich zurück in die Villa eingemietet, schon missachtest du alle Grenzen der Privatsphäre," sagt sie und wendet schnaufend den Blick ab.

"Wer kann, der kann."

Er tritt hinaus ans marmorne Geländer. Immerhin ist er zwei ganze Meter von ihr entfernt. Ihre Privatsphäre wahrend. Nicht nur die Uniform sitzt wie angegossen, sondern auch das Haar ist wieder gestutzt und coiffiert. Es scheint, als gehöre er in diese Umgebung: der schwarz-weiße Marmorboden, die rubinroten Vorhänge vor den Fenstern und der weiche, helle Sandstein des Geländers und der Säulen und Wände rücken seine Gestalt in ein sehr schmeichelhaftes Licht. Andererseits sieht der Teufel immer perfekt aus, selbst, wenn er auch nur ein Handtuch um die Hüften trägt. Wie unfair, diese arrogante Schönheit.

"In der Tat. Wolltest du etwas Bestimmtes?"

"Du bist nicht zum Diner erschienen."

Er sagt Dineee. Seine Art Wörter in Fremdwörter zu verwandeln ist immer so etepetete. Weiß er, wie affektiert er klingt?

"Hatte Besseres zu tun."

"Wie kindisch," sagt er, "und leichtsinnig. Weißt du nicht, was passieren wird, wenn ein anderer als ich Kar'niss' Seele fängt?"

Für eine Sekunde gerät etwas in ihr aus dem Gleichgewicht. Will sie von der Reling stürzen. Stattdessen spuckt sie wie im Reflex ihre Defensive aus. "Ich entsinne mich nicht, dass du mich herbeigepfiffen hättest."

"Ich habe nach dir schicken lassen. Wie du weißt, sind meine Kräfte noch nicht wieder vollständig hergestellt, ich kann dich also nicht einfach herbeiwünschen."

"Tja. Solange du nicht die Macht hast den Berg zu bewegen, wirst du wohl leider selbst zum Berg kommen müssen. Wer kann, der kann, und wer nicht, der, nun, du weißt schon..." Sie hebt scheinbar ungerührt die Schultern. Verbirgt wie sehr sie seine versteckte Drohung erschüttert hat. 

"Du wirkst schlecht gelaunt."

Ihre Hände ballen sich in ihrem Schoß zu Fäusten.

Raphael dreht den Kopf und betrachtet sie, und Tav merkt es auch nur, weil sie hört, wie seine Stimme zu ihr herübersäuselt. "Wir hätten den kommenden Auftrag besprechen können. Außerdem... warst du früher gern in meiner Gegenwart. Vielleicht könntest du..." sie hört förmlich, wie seine Zunge kurz über seine Lippe leckt, "dich wieder dazu erwärmen."

"Also dieser Auftrag von dir," unterbricht sie ihn scharf und ihre Augen wandern langsam von der Schlucht unter ihr zu seinem leicht missfälligen Antlitz, "nur damit ich es richtig verstanden habe: Wir besorgen die Beute von diesem Seelenfänger, der irgendwo in Baldur's Gate steckt. Damit hast du dann genügend Macht, um das Haus von Hope für eine ganze Weile zu betreiben. Im Gegenzug darfst du hier wohnen und deine alten Gemächer nutzen. Richtig?"

"Ja..."

"Damit hätten wir alles besprochen." Sie hält inne. "Außer eine Angelegenheit."

Sie dreht sich jetzt zu ihm und blickt ihm todernst ins Gesicht. "Wozu brauchst du mich dafür? Bist wohl einsam ohne mich?"

"Aber aber, kleine Maus," sagt er mit geschürzter Lippe. "Du bist von größerem Nutzen für die Welt, als du denkst. Jemand muss ja das Gepäck tragen." 

Also das ist seine Bestrafung: Herabwürdigung. Nun, wenn das alles ist, kann sie damit leben. Wenn sie nur sicher sein könnte, dass ihn dieses Spiel nicht eines Tages langweilen würde. Tav sucht nach der Versicherung in seinem Antlitz, aber alles, was sie darin findet, ist ein Spiegelbild des Monsters, das ihr im Zorn fast das Herz herausgerissen hätte. Das ihre Unschuld an einen Lustgeist verwettet hätte. Das sie erst kürzlich mit einer Höllenvision eingeschüchtert hatte. Nein, Raphael mag menschliche Wurzeln haben, doch er ist ein Teufel, und das Wesen eines Teufels ist nun einmal das eines Sadisten. Gierig und gefühllos. Eines Tages wird er mehr wollen. Was wird er dann von ihr verlangen?

"Nun schau nicht so wie am Boden zerstört, meine Liebe. Das ist nicht die Tav, die ich kenne," sagt er mit affektiertem Ansporn, ihre Reaktion wohl irrtümlich für Verzweiflung haltend, "Sei stark und du wirst schon lebend aus dieser Nummer herauskommen."

Hohle Worte, die in dieser drückenden Luft rasch verklingen. Er mustert sie nun mit voller Aufmerksamkeit. Ihr Schweigen, das offensichtlich nicht von reinem Trotz herrührt, lockt ihn wohl an, lässt ihn sich ihr zudrehen, damit seine Argusaugen ihre ganze Gestalt aufnehmen können.

"Weißt du, also du dich mir damals widersetzt hast - zum zweiten Male übrigens", sagt er immer noch mit einem Hauch Ironie in der Stimme, "war ich sehr wütend. Diejenigen, die versuchen, diesen Teufel zu überlisten, überleben es normalerweise nicht. Aber alles vergeben, alles vergessen."

Tav verkneift sich den Kommentar übers Vergeben und Vergessen und entscheidet sich fürs Schweigen, sodass er sich hoffentlich bald langweilt und geht. Sie will nicht reden. Sie will allein sein. Sie will einfach nur in die Leere starren, den schweren Blick auf dem ockerfarbenen, felsigen Fundament des Hauses weilen lassen. 

Raphael monologisiert stattdessen ungestört weiter. "Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich sah vielversprechende Geschäfte schrumpfen und den Abgrund sich unter meinen Füßen auftun. Aber noch nie musste ich einen Traum aufgeben. Ich gebe zu, es war das erste Mal. Alles, was blieb, war Asche, Blut, Tränen und keine Krone. Keine Krone..."

'Bedauernswerter Prinz,' denkt sie zynisch und hebt nun den Blick zu der orangenen Reflektion in der einen Pupille, die sie sehen kann. Orange ... Alle Farbe in dieser Welt scheint eine Synthese aus Dreck und Tangerine zu sein. Man kann sich nur auf die Silhouette verlassen.
Raphael hat sich wieder abgewendet und lässt sie über das höllische Panorama, seine Hände immer noch hinter dem Rücken. Sein Tonfall trägt wie immer den Hauch arroganter Gewissheit, selbst jetzt während seines Geständnisses. Aber jetzt, aus dem Profil, kann sie sehen, wie rigide er seine Finger verknotet.

"Wenn ich in Mephistopheles' Kerker etwas gelernt habe, dann das: Ehrgeiz, Mut, Hoffnung ...," lacht er düster und seufzt, "sie alle verbrennen dich am Ende."

"Eine ziemlich düstere Weltsicht," sagt sie leise.

"Alles andere ist Kinderei," erwidert er plötzlich bar jeder Freundlichkeit.
Er dreht sich wieder zu ihr um. Seine Augen werden hart und klein und mustern sie wie ein Lehrer seine naseweise Schülerin. "Und du willst in dieser Welt kein Kind sein, vertrau mir. Aber genug von meinem Gerede. Ich sehe, wie müde du vom vielen Plaudern bist."

"Das ist wahr. Ich bin müde", sagte Tav und blickte auf die karge Einöde unter ihnen. "Aber Ruhe finde ich keine. Es ist dieser Ort ... Mir fehlt Faerûn. Vielleicht wirds morgen besser. Sofern es hier so etwas wie ein Morgen gibt."

"Nachdem du dich ausgeruht hast, meine Liebe," ergänzt er wieder milder, aber es ist, als wolle er mehr sagen. Oder vielleicht wartet er auch nur darauf, dass sie ihn für diesen Abend verabschiedet. Da ist jedenfalls sein fast unmerkliches Luftholen und ein Zucken in seinen Schultern, als könne er sich sehr gerade noch zurückhalten.

"Raste wohl," sagt er plötzlich kurz angebunden.

Sie nickt ihm zu. Raphael dreht sich langsam um und verlässt, schlendernd - oder ist es Zögern?, den Balkon.

Eine seltsame Kälte legt sich über Tav, als sie ihm nachblickt, bis seine Gestalt vom Schatten verschluckt ist. Ihr fröstelt, aber noch ist die Wärme nicht ganz erloschen, sie verschiebt sich nur, füllt etwas Klaffendes in ihr, das sehnsüchtig schmerzt. Tav wendet den Blick ab und hinab in die gähnende Leere von Avernus. Die Ruinen einer alten Zivilisation unter ihr ragen auf wie stalagmitische Folterinstrumente, aus dieser Entfernung sind sie nur nadelgroß. Ein Blitz durchzieht den sepiafarbenen Himmel, dann noch einer, und die Ränder der Wolken sind kurz in einen gleißenden Rahmen getaucht. Sehen die Götter, was hier geschieht? Betreten sie überhaupt diesen Ort? 

"Was soll ich tun?" murmelt sie.

'Stürz dich vom Balkon,' flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. 'Mal sehen, was passiert.'

Sie sehnt sich nach Privatheit, doch selbst wenn sie die im Moment hat, wabert immer noch der Gestank von Avernus in der Luft, erinnert sie daran, in wessen Händen sie ist, dass ihr in Wirklichkeit jede Entscheidungsfreiheit geraubt wurde. Sie ist unfrei, selbst in Faerûn. Ein Zustand, den sie im Leben immer absolut zu vermeiden versucht hatte. Sogar Götter betet sie keine an. Doch jetzt würde sie sogar Fharlanghn beknien, damit er sie aus diesem Schlamassel, der weit länger andauert, als sie sich bislang eingestehen wollte. Ja, sie würde sogar einen Pakt mit ihm eingehen... Allein der Gedanke, dass der Drider all diese Zeit irgendwo in Avernus mäandert, eine verlorene Seele auf dauernder Flucht vor seelensammelnden Räubern und Baatezu-Warlords, lässt ihr Herz unerträglich anschwellen.

Das Nichtstun treibt sie fast in den Wahnsinn. Verwandelt sich in eine Hitze, die gefüttert werden will. Sie will etwas zerschmettern, ihren Frust ablassen. In einer anderen Welt zu einer anderen Zeit hätte sie sich von Kar'niss nehmen lassen.

'Er ist tot...'

Aber seine Seele könnte noch hier sein.

Kar'niss. Welch ein cleverer und stets von Freund und Feind gleichermaßen unterschätzter Nutzer der Illithidenkräfte, einfallsreich und gewandt unter seiner scheinbaren Irrenmaske. Tav ruft sich sein Bild ins Gedächtnis, die Augen schwarz wie Onyx und das Haar wie gesponnenes Silber. Seine Klauen so flink, dass, wenn er sie anfasste, nichts an ihr unberührt blieb. Könnte sie ihn nur noch einmal sehen. Könnte sie es bloß wieder gut machen! Wären bloß ihre Freunde hier, um ihr zu sagen, was sie tun soll. Aber die einzigen sind eine halbwahnsinnige Klerikerin, und ein skrupelloser Teufel.

Immer wenn Tav sich so einsam fühlt, dass es sie scheinbar zerreißen will, spannt sie ihr Netz aus Seilen auf und hängt sich ein. Es hat gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wo am Körper sie die Knoten schnüren muss, um die Blutzufuhr nicht zu beeinträchtigen, welche Art Strick sich gut eignet und wie sie es im Gebälk anbringt, damit ein ähnliches Gefühl der Schwerelosigkeit entsteht, wie damals in der sturmumtosten Nacht vor Rivington.

Kar'niss und sie in der alten Scheune. Ob sie noch steht? Sie hatten danach im Heu gelegen und er sie bis zum Morgen in seinen Armen gehalten. Sein Atem an ihrem Nacken, seine raue Stimme an ihrem Ohr.

Der Gedanke an sie beide, umschlungen und quasi nackt, lässt Tav erschauern. Zwischen ihren Schenkeln schwelt die Glut. Es ist so lange her, dass sie sich um dieses Feuer gekümmert hat. Sie starrt auf ihre staubigen Hosenbeine und dann zu den Oberschenkeln, wo sie unter dickem Stoff und Geschnüre zu diesem vernachlässigten Punkt zusammenlaufen. Seufzend legt sie eine Hand darüber - Schloss und Siegel auf das Buch ihres Verlangens. Dreht aber den Arm. Zwei Finger rutschen zwischen die Schnürung. Sie spürt durch den dünnen Stoff der Unterwäsche ihre eigene Wärme. Tav atmet tief aus. Unwillkürlich gleitet ihr Blick in Richtung Zimmer. Sie ist allein. Ihre Finger zucken zaudernd.
Dann drückt sie genau dort, wo sie am heißesten ist, wo Unter- und Oberkörper sich treffen, wie einst der Spinnenmann und die Weberin auf so mannigfaltige Weise; mit der Fingerkuppe reibt sie über ihren verhüllten Schritt. Es bringt Erleichterung. Es murrt nach mehr. 

Es ist ein Wunder, dass sie sich ineinander verliebt haben, denkt Tav. Sie, die unspektakuläre Menschenfrau mit einer ausgeprägten Arachnophobie und er, ein Spinnenmonstrum mit ein, zwei Schrauben locker, das zu allem Übel auch noch auf der Gegnerseite gekämpft hatte. Auch er: ein furchtloser Krieger mit mehr Leidenschaft im Herzen als jeder Dichter. Sie hat so viel von ihm sehen dürfen und doch so wenig verstanden. Kar'niss ist wie die hohe See gewesen: schwer und mächtig und voller Dunkelheit, die sie nie durchdrungen hat. Ihnen war nicht die Zeit dazu gegeben worden. Das Richterschwert Aylins hatte sein Ziel, das Tav noch in den Moonrise-Türmen schützen konnte, am Ende doch noch gefunden (und es hat lang gedauert, bis sie ihr dafür vergab). Aber in den wenigen Wochen ihrer Annäherung hat er sie verändert. Sie vorangetrieben, mit seiner Liebe gewiegt, mit seinem fanatischen Verlangen umspült. Der Sex mit ihm war ein unruhiger Wellengang gewesen, in dem sie erst das Schwimmen lernen musste. 

Tav fasst sich erneut an und erfreut sich daran, wie ihr Körper langsam weich wird wie ein Fass ungekühlter Butter. Ihr Rücken schmiegt sich an den Marmorstein, ihre Muskeln umschmelzen ihre Knochen, ihre Schenkel umschließen ihre Hand... völlig versunken sucht sie nach der Erinnerung seiner Berührungen.

"Jaluk," seufzt sie leise, zeichnet die Pfade nach, die er einst durch ihre Haut in ihre Seele gekerbt hat. Pfade, die einst vertraut waren und so sakrosankt wie eine heilige Pilgerfahrt zum Tempel des eigenen Gottes... Ihre Lippen sind gelöst, wo sein Spinnengift einst netzte. Nur jetzt suchen Tavs Finger verzweifelt nach eben jenen Reaktionen, die ihr Geliebter hinterlassen hat. Sie sind verblichen.

Sie krümmt sich zusammen, reibt Zahn auf Zahn, bis der Kiefer schmerzt, droht das Gefühl von ihm zu verlieren. Sein Antlitz im Augenblick der Ekstase - aber nein, sie erinnert sich kaum noch. Da schleicht sich ungefragt ein anderes Gesicht in ihren Kopf. Das des gehörnten Teufels, umgeben vom Höllenfeuer aus ihrer - seiner - Vision. Und sein Schlafzimmerblick ist auf ihr.

"Gefällt dir das?" 

Seine Stimme. Es ist, als kippe sie Öl ins Feuer. Murmelnd drückt sie den Rücken gegen das Gemäuer und zieht ein Knie an, bedenklich nahe am Abgrund. Ihr Hand erstarrt.

Oh Götter. Oh Hölle! Nein. Neinneinnein. 'Warum jetzt?', denkt sie panisch. 'Warum ER? Bitte, nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick.' 

'Nur ein wenig. Wenn es hilft...?'

Schaudernd ringt sie mit sich selbst. 'Fang bloß nicht damit an. Was soll das überhaupt? Ist das irgendein verdrehtes, perverses...?? Argh, was ist los mit dir? STOP.'

"Verfluchter Teufel," grummelt sie irritiert und lässt den Kopf zur Seite rollen. "Verfluchter Mist, fuck, fuck..."

'Warum habe ich überhaupt damit angefangen? Bin schon in einem Albtraum - und jetzt mach ichs nur noch schlimmer.'

Selbst als sie kurz innehält und ihr Hemd lüftet, um sich abzukühlen, muss sie wieder an ihn denken. Ihre Hand beginnt sich von allein zu bewegen. Ah, es ist hoffnungslos.

Tav findet Trost in diesem traurigen Akt der Selbstliebe. Raphaels Erscheinen - dieser VERRAT - katapultiert sie vorwärts, nährt die Flamme derart köstlich, dass sie ihren Höhepunkt bereits erahnt. Sie hofft es, inständig, damit sie danach schnell vergessen und sich selbst vergeben kann. Doch es ist ein von Suchtsymptomen durchsetzter Reigen: Je mehr sie an den Teufel denkt, desto mehr radiert er alle anderen attraktiven Reize und Gedanken aus, bis nur noch er existiert.

'Nur kurz. Nur noch ein paar Mal.'

Sie schließt unweigerlich die Augen, zwingt sich dazu, den heiser pfeifenden Wind in Kar'niss' atemloses Säuseln zu verwandeln, das ihr Süßes ins Ohr flüstert. Als stattdessen Raphaels tiefe Stimme erklingt und ihre Finger eilig über den feuchten Stoff flattern, kann Tav sich nicht mehr zurückhalten, ihre Fantasien gehen mit ihr durch. Die Vorstellung, dass er sie begehrt oder zumindest irgendwann einmal begehrt hat, ist zu machtvoll. Sie stürzt die Spirale der Amoral hinab und ihre Libido einhundert Meilen hinauf, während sie sich ausmalt, wie er nun in seinem Boudoir steht und sich erneut indirekt an ihr vergeht: er in entblößter Teufelsgestalt, Haarlep hinter ihm zugange, während sie eine fremde Frau vor ihm liegt und ihren Mund aufhält.

Es ist beschämend, wie leicht es ist, all diese Bilder heraufzubeschwören, wo doch Tav zuvor so um ihren Geliebten getrauert hat. Aber Kar'niss ist schon zu lang fort, und die Tage mit dem Teufel sind gezählt (er hat ja bald seine blöden Dukaten), und außerdem ist da ...

Etwas an dem Teufel, das sie reizt.

In ihrem Kopf keucht er ihren Namen, als er in ihrem Mund zum Höhepunkt kommt.

'Oh Götter, ja, das ist es.' Sie spürt ihren eigenen rasch nahen, will ihm entgegenstreben.

Endlich.

Statt zu kommen, beginnt sie zu kippen. Tav reißt die Augen auf und sieht noch, wie ihre Umgebung schwankt.

"Woa ff-!"

Tav zieht ihre Hand aus der Hose und, bevor sie vom Geländer fällt, krallt sie sich an der Mauer fest. Während sie noch auf die Balustrade starrt, von der sie soeben beinahe in den Abgrund gestürzt wäre, erlischt das Feuer schlagartig in ihren Lenden.

Was bei den Neun hat sie sich nur dabei gedacht! 

"Teufel nochmal," stößt sie atemlos aus und lacht dann.

Ja, genau an den hat sie gedacht. Und das allein hat sie fast in den Abgrund gestürzt. Sie lacht noch lauter.

 


 

Als ihm Tav nach ihrer kleinen Ruhephase wieder vor die Nase tritt, riecht Raphael immer noch ihre Erregung. Er kann nicht umhin, ihre kleine, vermeintlich private Nummer auf dem Balkon mit dem Aroma, das sie zuvor im Arbeitszimmer verströmt hatte, miteinander in Verbindung zu bringen. Er weiß, wie ihr aktives Lustzentrum riecht, er hat es in ihrem Leben schon häufiger erlebt, nur noch nie so frisch und aus nächster Nähe. Frei von jeder olfaktorischen Wertminderung durch irgendwelche Sexualpartner, sondern rein und mächtig wie ungefiltertes Baator-Destillat. Es macht ihn ganz schwindelig.

Er harrt im Empfangssaal ihrer Ankunft, wie ein Page mit den Händen im Rücken verschränkt und dem Kinn hoch erhoben. Eine Zumutung ist es, dass er, Raphael (Sohn des Erzteufels von Cania), auf andere warten muss. Vor ihm kreucht die Herrin des Hauses, noch kleiner als sonst, da auf den Knien, und ihr strohiges Haar steht ab wie das einer Wilden. Ihr Anblick beginnt ihn derart zu langweilen, dass er schon  überlegt ihr Rattennest in Flammen zu setzen. Da endlich schwingen die Torflügel auf und - ah! - herein kommt seine Schwarzgelockte Furie, sein Kleines Mäuschen! Die Weberin marschiert sogleich auf ihn zu wie eine grummelige Fürstin der Orcs. Samt Sack und Pack, alles dabei. Kurz bevor sie ihn schweren Schrittes erreicht, vollzieht sie eine seltsam scharfe Linkskurve zur Zwergin, die gerade die Portalschlüssel setzt, und begrüßt diese mit einem kuriosen Zusammenschlagen ihrer Hacken. Sein Kopf ist völlig benebelt von dem Schwall an Pheromonen, die seine feine Baatezu-Nase füllen, und die ihm in nur diesen paar Sekunden ihres Vorbeigleitens allerlei erzählen. Tav hat sich offensichtlich gewaschen, denn er riecht die parfümierte Seife auf ihrer Haut und das Pflegeöl in ihren Haaren, die mit jedem ihrer Schritte auf ihren Schultern auf- und abwippen. Das, was sie so verführerisch macht, ist die gleiche apokrin verunreinigte Kleidung, die sie seit ihrer Ankunft in Avernus trägt, denn an ihr haftet das lustvolle Bouquet - diese vollmundige, buttrigwürzige Note, die Tav eigen ist - hartnäckig wie altes Blut. Es ist so reichhaltig und potent, dass es ihm am Gaumen klebt. Raphael schüttelt seinen inneren Teufel aus der Betäubung ihres Duftes und folgt wimpernschlagend Tavs plötzlichem Richtungswechsel zu Hope. Er lässt den Moment unkommentiert.

Die Zwergin aktiviert das Siegel nach Baldur's Gate und die Frauen sprechen ihren vorläufigen Abschied von einander aus. Es ist ein Nonsenseakt, denn in wenigen Tagen werden sie zurück sein. Natürlich muss Tav wieder eine große Sache daraus machen.

'Sterbliche... Hah!' Er will am liebsten auflachen. 'Immer die eigene Vergänglichkeit fürchtend.'

Da sagt die Zwergin etwas Gefühlsduseliges und die Weberin antwortet mit einem leisen, lachenden Schnaufen. Es ist eine kurze Sequenz kleiner Atemausstöße gefolgt von gieriger Einatmung. Nichts weiter. Und trotzdem spürt Raphael, wie ihm ein daunenweicher Schauder über die Haut schlängelt und mitten in die Lendengegend hinein. Er wird kerzengerade (er allein und nichts anderes) und mustert böse den Rücken jener Frau, die ihn so ablenkt. Er steht gerade außerhalb ihres Blickfeld und wird ohnehin nicht beachtet, aber er muss sich nun trotzdem abwenden. Er fixiert stattdessen die Staubpartikel, die in dem Licht, das aus dem Portal strömt, umherflirren und lässt sich eiligst von diesen irritieren.

'Ah,' denkt er geradezu froh, 'unter Hopes Hand ist das Haus so verkommen!' Er weiß ganz genau, was er als Erstes tun wird, wenn er die Seelenmünzen ergattert hat: Er wird das Haus putzen (lassen)! Er wird jedes Staubkorn jagen und vernichten, bis-

"Hallo-o! Jemand zu Hause?"

Tav hat wohl zum mehrfachen Male nach ihm gerufen und ihr Tonfall ist von atemloser Entzückung in kühle Missgunst gerutscht. Ein Jammer. Ein Segen. Ihr Duft.

"Sind wir fertig?" sagt er über die Schulter, ohne sich umzudrehen. "Dann können wir endlich gehen."

Tav tritt heran und wirft ihm ihrerseits ein Stirnrunzeln zu, dass er noch wahrnimmt, bevor er rasch an ihrer Nase vorbei ins strahlende Licht stiert. 

"Meinetwegen," sagt sie säuerlich, "je schneller wir es hinter uns bringen, desto eher eher sind wir zurück und ich mindestens ein Stockwerk von dir getrennt."

"Immer noch schlecht gelaunt, wie ich sehe," erwidert er und kommt jetzt doch nicht umhin, den Blick über dieses vertraute Halbprofil streifen zu lassen. Das Licht des Portals verschluckt die meisten ihrer Sommersprossen und lässt ihre Augen strahlen. Ihre Farbe so braun wie das dunkle Erdreich. "Liegt es wirklich an der avernischen Luft oder sind wir heute aus einem anderem Grund aufgestaut?" 

Tav beäugt ihn mit einer Skepsis, die nicht weniger wird je sturer er lächelt. Ein kleines Zucken seiner gespitzten Lippen, das reicht, um alles Mögliche zu suggerieren. Er will es so. Will sie vor ihm erröten sehen.
Und ja, als der Groschen fällt, sieht er das Blut in ihren Wangen aufsteigen, oh Höllen, sie muss heftig sein, denn selbst das grelle Licht kann es bald nicht vollständig verbergen. Kurz stellt er sich vor, dass es dasselbe Knallrot sein muss wie in dem Augenblick, als sie unterhalb seines offen stehenden Bürofensters fast vom Geländer purzelte - der Beinahesturz ein kleiner Schock, auch für ihn. Wie im Automatismus hatte er schon den Fensterrahmen ergriffen, um ihrer fallenden Gestalt nachzufliegen. Kein Erfolg war süßer als die Erleichterung, die ihn ergriff, als sie festen Boden unter ihren Füßen fand. Für diesen Schreck hätte er sie am liebsten übers Knie gelegt und ihr den Hintern versohlt, am liebsten mit einem beschlagenen Lederpaddel. Kaum zu glauben, dass dieses enthemmte Menschenweib nie dem Inkubus zum Opfer fiel. Und gar wunderlicher, dass Raphael noch auf dem Balkon darüber nachgedacht hat, sie zu trösten, wenn wohl die eigene Hand ausreichte, um ihre Stimmung zu heben. Er hat sich noch nicht entschieden, ob es sie mehr zum Primaten macht oder weniger zu einem dummen Sentimentalchen. Jedenfalls sieht sie gerade alarmiert aus, so mit ihrem verkniffenen Blick. 

"So geniert," flüstert er ihr verschwörerisch zu, als wolle er ihr kleines Geheimnis hüten.

"Hab keinen blassen Schimmer, was du meinst," sagt sie eindeutig ausweichend.

Obgleich sie vermutlich ahnt, dass ihre Fingerei ('was für ein amüsanter Kraftausdruck, Mol!') nicht unbeobachtet geblieben ist, begreift sie offensichtlich nicht die Tragweite ihrer Handlung. Dass er zum Beispiel jedes ihrer gemurmelten Worte mitgehört hat. Ihr geseufztes Drowisch, die vulgäre Sprache. Er war am Fenster gestanden und hatte ihrer schnellen Atmung gelauscht, als plötzlich ihre Worte fielen: "Verfluchter Teufel..." Wie indigniert und erregt sie geklungen hatte. Atemlos. Und dann das Stöhnen.

Grummelnd wendet Raphael sich ab und dabei geht das Lächeln über Bord. Sein Geist dreht sich schon wieder im Kreise. Es ist ermüdend. Er merkt, wie sein alter Begleiter, die Obsession, ihn wieder fest im Griff hat, nur ist es jetzt schwerer sich auf sein eigentliches Geschäft zu konzentrieren, wenn das Objekt seiner Begierde ständig in seiner Nähe ist.

'Vielleicht sollte ich sie lieber auf Abstand halten.'

Wieder diese Verengung in der Brust. Er schnappt leise Luft.

Ein paar Fragezeichen zu Zariels Seelenhändler - Biktul, einem emsigen advocatus diaboli, der seit längerem die südliche Schwertküste unsicher macht - bleiben noch. Es scheint wie ein großer Zufall, dass die Lücke, die Raphael hinterlassen hat, so schnell aufgefüllt wurde. Als hätte Zariel genau gewusst, dass Raphael nicht aus Cania wiederkehren würde. Ein zu großer Zufall, für Raphaels Geschmack, zumal dieser Biktul immensen Umsatz gemacht hat als habe er Lebensjahre zu verbrennen. Glücklicherweise (und hier kehrt für ein Sekündchen sein Gewinnerlächeln zurück) ist nun Raphael zur Stelle, um für etwas Ausgleich zu sorgen. Es ist Zeit, Zariels Einkommen zu schmälern - und wer eignet sich besser zum Melken als ihre dickste Cashkuh?

Aber zu Tavs Undank ist Raphael in den letzten Stunden nicht in der Lage gewesen, um den Plan zu verfeinern. Sein Kopf zu voll mit Thesen darüber, was ihre leisen, lustvollen Worte bedeuten könnten. Sein Kiefer schmerzend vom Zähneknirschen und er völlig entnervt von der eigenen Unproduktivität. Noch im Arbeitszimmer hat er aus dem wirren Papierhaufen ein leeres Schreibheft gefischt und seine Beobachtung aufgezeichnet. Zunächst schien es schnell erledigt zu sein: jede seiner Theorien à eine halbe Seite. In Summe drei Seiten.
Aber dann kam er zur letzten Theorie, der riskantesten der sechs, nämlich dass sie während ihrer Selbstbefriedigung an IHN gedacht hatte und nicht an die Spinne. Aus der halben Seite wurden drei volle Seiten schlampigsten Schreibhandwerks, die Liste möglicher Maßnahmen zunehmend pornografisch. Ungefähr an der Stelle, an der er sich vorstellte, wie sie seinen Namen schreien würde, spürte er wieder diese Beklemmung in seiner Brust, die ihm die Luft aus den Lungen drückte und seine Gedanken in Gefilde führte, an denen ein hoher Unhold wie er nichts zu suchen hatte. Das Heft glitt zu Boden, während er unter dem Schutz seiner Flügel gegen eine leere Bücherwand fiel und seine Erektion in den unwilligen Schlaf zurückdrängte. Weil er darüber zu erhaben sein hatte, weil es wehtat und er sich sowieso nirgends hinsetzen und ausgiebig Erleichterung finden konnte.

'Ach, stimmt,' kommt es ihm, 'jemand hat meinen goldenen Herrensessel aus dem Arbeitszimmer entfernt.' Raphael atmet tief ein und nimmt sich vor, nach seiner Rückkehr einen neuen anzufordern.

Tav, die nicht länger auf seine Antwort warten will, tritt als Erste in das leuchtende Portal und -WOOSH! - ist unter Funkensprühen davon. Der Teufel nickt seiner einstigen Gefangenen kurz zu und, ohne ihre Reaktion abzuwarten, folgt seiner unartigen kleinen Maus nach. 

Chapter 10: 10 Untertöne

Summary:

Sie debattieren über Hochkultur und legen dabei Baldur's Gate's brandneues Opernhaus in Schutt und Asche.
Warum? Keine Ahnung. Ich wollte einfach eine Szene, in der sie unter Schusswechsel über klassische Musik reden.

Notes:

Musik:
Léo Delibes - Blumentduett (aus Lakmé)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

"Es ist das Klosettduett zwischen der Arinine und ihrer Amme Sulpra aus dem ersten Akt von 'Sin Fano'," sagt Tav und schiebt ihren Sprengstoffgürtel zurecht.

"Welcher Komponist?"

"Mossa Dsharif."

Raphael prüft die Armbrust mit einem geübten Blick. "Nie gehört, fürchte ich." 

"Sie dirigierte vor über 200 Jahren das Helm's Holder Sinfonieorchester," sagt sie nicht ohne Stolz.

"Na so was, kleine Maus. Ich hätte dich nie für eine Enthusiastin klassischer Musik gehalten."

Er hat innegehalten und mustert sie mit der Neugier einer alten Krähe, die nur ein echter Raphael-Kenner erkennen würde, weil sie sich einzig in einer winzigen Fraktur von seinem üblichen Faux-Erstauntsein unterscheidet: Seine Augen weilen einen Atemzug länger auf ihr als sonst. Bohrend. Raphael hatte genauso reagiert, als Tav ihr berühmt-berüchtigtes Lanzbrettduell gewonnen hatte. 

Sie rollt mit den Augen. "Du hältst von den wenigsten Sterblichen etwas, Teufel."

Er schnaubt lachend und seine scharfen Zähne blitzen auf. "Was hat mich verraten?"

"Auch ich entwickle meinen Geschmack für das Schöne weiter..."

Dank einer kleinen Affäre mit einem Paukisten vor vielen Jahren.

"Und ich weiß, dass Sin Fano als eine der schönsten Opern Faerûns gilt!"

"Bedeutend für einen Kontinent der Bauern und Bartresen, vielleicht," korrigiert er sie mit unerträglicher Süffisanz und, verflucht nochmal, sie haben für so eine Unterhaltung eigentlich überhaupt keine Zeit, "du hast offensichtlich nie die Oeuvres der infernalen Meister gehört."

Er zählt seine Pfeile und im Hintergrund trabt das Prelude gen Ende, dem das Duett der beiden Hauptdarstellerinnen folgen wird. "Nein, nicht gehört, sondern erlebt. Die vortrefflichsten Arien - Koloraturen über vier Oktaven! Die fulminanten Ouvertüren - den Engelsmelodien Nesserils mindestens ebenbürtig! Und vor allen Dingen," er seufzt und drückt die Pfeile dramatisch gegen die Brust, "die Libretti - zum Sterben schön."

Er versieht die magere Auswahl an Pfeilen mit einem Schwächungszauber, der seine Energie nicht zu sehr erschöpfen wird, aber ihnen einen kleinen Vorteil gegenüber ihren Feinden verschafft, und steckt alle bis auf einen ein. Raphael ist aufgekratzt, merkt sie nicht ohne Belustigung, und gut gelaunt, und zwar schon seit sie in Baldur's Gate angekommen sind. Er mag Mimik und Stimme zur Perfektion konditionieren, dieser kleine Schauspieler. Doch der Adrenalinschub summt und brummt in jeder seiner theatralischen Gesten, und strahlt als kampfeslustiger Glanz in seinen Augen ... Tav würde ihr Gespräch gar genießen, wäre da nicht der herannahende Sturm von Zariels Warlocks, der sie gleich in knusprige Grillwürstchen verwandeln will. Ihr teuflischer Begleiter hat bereits die Schatulle mit den Seelenmünzen an sich genommen und eine Münze daraus zerbrochen, um sich die Seele darin einzuverleiben; nun warten sie wie auf glühenden Kohlen sitzend auf das Einsetzen der Wirkung.

Er atmet tief durch die Nase und schwellt die Brust. "Ah, nur noch wenige Augenblicke. Ich kann die Macht bereits in mir spüren."

"Es wäre ganz wunderbar, wenn sich deine Macht beeilen würde," murrt sie mit einem Blick in Richtung Eingang, "und ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir nicht wissen, ob du uns beide gleichzeitig von hier wegschnippen kannst."

Er neigt den Kopf und das kalte Lächeln kehrt auf seine Lippen zurück. "Nun, wenn meine Magie versagt, werden wir wohl in den Genuss von Zariels feiner Kerkerausstattung kommen. Möge uns dieses Schicksal erspart bleiben."

Tavs Magen zieht sich zusammen, ein eisiger Schauer kriecht ihren Rücken hinauf. Seine Worte, obgleich spöttisch, sind wahrscheinlich nicht ohne Wahrheit. Sie schluckt und kann nicht umhin erneut zur Tür des Theaters zu linsen, hinter der sie schon das herannahende Trappeln der Hexenmeister zu hören glaubt. Der Teufel schüttelt lachend den Kopf, als sei sie ein Dummerchen.

Tav lehnt sich zurück und räuspert sich. Mustert ihn, wie in Erwartung, die Veränderung an ihm sehen zu können. Unterdrückt ihre eigene Angst. Tavs letzter Kampf ist eine ganze Weile her und ihr fehlt ein Kampfgefährte, mit dem sie eingespielt ist, den sie einschätzen kann. Raphael ist mehr die Katze im Sack als eine Erleichterung, egal wie stark er ist.

'Wir hätten nicht einen solch stark bewachten Unterhändler ausrauben sollen,' denkt sie. Die Kassette, die zwischen seinen Beinen liegt, wirkt von außen wenig spektakulär. Allerdings hat der Raub eine ganze Gruppe von infernalischen Hexenmeistern auf den Plan gerufen, die in der Nähe versteckt Wache gehalten hatte. Zariel mag zwar noch nicht wissen, wer hinter dem Diebstahl steckt, doch wenn die Warlocks sie gefangen nehmen, fliegt Raphaels Deckung auf und Tav, nun ja, klein Gus Tava wird die längste Zeit ihres Lebens Teppiche geknüpft haben. In den Fängen der Erzteufelin wird sie als Blutwurst von der Decke hängen.

'Schnell was anderes denken. Heiteres denken! Heiteres denken!' betet sie.

Durch die Wand rumpeln die Trommeln und galoppiert das Orchester im Arpeggio die Noten hinauf.

"Du magst also die schönen Geschichten an Opern, ja?" sagt sie mit einem Räuspern, "Ich war der Annahme, dass Opern immer gleich enden. Entweder wird lustig geheiratet oder tragisch gestorben. Erzähl mir nicht, es wäre bei euch anders."

"Natürlich ist es das. Wir heiraten nicht, wir zerfleischen. Oder erobern und zerfleischen," statuiert der Teufel.

"Und genau darum ist und bleibt Sin Fano unangefochtene Hochkultur."

Er legt den verzauberten Pfeil ein und spannt die Armbrust, ein klappriges Teil von eines Räubers Waffe, die er da aufgesammelt hatte. Aber besser als nichts. "Regionale Kleinkunst."

"Nun, was der Bauer nicht weiß, macht ihn nicht heiß," reimt sie, während sie ihm einen eindeutigen Ganzkörperblick schenkt. Ganz klar, wen sie hier für den Bauern hält.

"Und wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus," kontert er ihren Vergleich aber nicht ohne ein charmantes Lächeln, das wie Balsam auf ihrer offenen Nervosität ist, "meine liebe Tav, du machst mich schwach: Wenn diese Kalamität von einem Abenteuer zu Ende ist, bin ich versucht, dich in die Vergnügen echter Hochkultur einzuweihen."

"Tu es auf deine wachsende Liste der Vergnügen, die du mit mir versuchen willst, und hoffe darauf, dass wir überhaupt dazu kommen," sagt sie und mit einem verspielten Unterton. Und es läuft ihr erst kalt und dann heiß den Rücken herunter, noch bevor sie seine Reaktion sieht.

Raphael ist genauso geschockt wie sie. Sein Mund klappt auf und sein Blick rutscht ihren Körper entlang. 

Ja, sie hat gerade subtil mit ihm geflirtet. Und entscheidet sich dazu, es stur zu ignorieren.

"Du kannst sagen, was du willst, aber nichts in den neun Höllen wird jemals so engelsgleich sein wie dieses Duett," schießt sie rasch hinterher, um das Schweigen zu entschärfen, und hebt den Finger, um auf die Musik zu verweisen, die nun anschwillt. 

Sie lauschen dem sanften Anstimmen der beiden Opernsängerinnen. Sie kann es unter ihrem donnernden Herzschlag kaum hören. Er räuspert sich.

"Ganz gleich ob Engel oder Dämonen: Ich hoffe für das Publikum, dass das Forte besonders fortissimo ist," merkt er an und er klingt schon, als wäre nichts gewesen, "denn unser Auftritt wird gleich sehr laut werden."

Die Musik setzt zum Übergang an und das Tor zur Empfangshalle des brandneuen Stadttheaters schwingt auf. Die erste Feuerkugel schießt fauchend an ihnen vorbei und wie auf ein Fingerschnippen verlangsamt sich die Zeit zu einem Tropfen Melasse. Tav sieht alles mit kristallener Klarheit. An der Einschlagstelle sprengen heiße Funken in alle Richtungen und dann, hinter dem schillernden Feuerregen, segelt ein zähnefletschender Raphael seitwärts die Reling hinunter, seine Armbrust in der Linken, die Rechte austarierend. Tav folgt dem Pfeil, den er abschließt und der sofort den Feuerwarlock mit einem Verstummungszauber auf die Knie reißt. Aber sie darf nicht verweilen, denn schon surrt ein Kugelblitz knapp über ihren Kopf hinweg und schlägt in eine der massiven, sicherlich teuren Marmorsäulen ein, die sogleich in knisterndes Licht gehüllt wird und feine Risse bekommt. Armerudernd stürzt sie vor und macht eine unelegante Rolle zur nächsten Säule, während von drüben ein schillernder Sopran über den Mezzosopran hinwegglissiert als sei er eine Eiskunstläuferin auf dem Neverwinter-Fluss.

Grimassenschneidend tastet Tav nach ihrer Schleuderkettengranate und brüllt ein wüstes Schimpfwort in Richtung des Eingangs, bevor sie versucht den Zünder zu entflammen - freilich mit Streichhölzern, die nicht entfachen wollen. Sie duckt sich fluchend und blickt über ihre Schulter. Raphael hat es nicht nur geschafft, weich zu landen, sondern er ist schon längst beim Nachladen. Ein Teufel, der gar nicht in Teufelsgestalt kämpfen muss, um allen anderen um ihn herum die Show zu stehlen. So ein Angeber.

Er pariert einen Kugelblitz, fällt auf die Knie und zielt direkt auf das Herz eines zauberschmiedenden Warlocks. Schuss und - leider kein Treffer, denn der Mann hat einen Schutzschild hochgezogen. Aber egal! Tav grinst finster, denn endlich züngelt die Flamme, und nicht zu früh! Zariels Warlocks strömen nun in dichter Formation herein. 

Mit einem Warnschrei wirft sie den Strick mit den aufgereihten Sprengstoffbommeln in Richtung Eingang hinab. Hinter den geschlossenen Türen des Konzertsaals schmettern die Opernsängerinnen endlich den Gipfel ihres Crescendo, da erschüttert eine gigantische Explosion den Saal. Die Erde bebt und Tav fliegt zu Boden. Knistern, ein Knall aus purem Schall, zischende Säure und jede Menge Feuer unterschiedlichster Farbe: rot, gelb, pink, lassen die Luft plötzlich sehr heiß werden. Es regnet Staub und Stein und Tav purzelt gegen die Wand. Geschrei und sehr viel ersterbendes Stöhnen des Todes. Und dann wird es langsam wieder ruhig.

Strampelnd kommt sie auf die Beine. Tav zieht sich an der übel mitgenommenen Balustrade hoch und wagt einen Blick in die Halle. Durch den Qualm und Nebel aus Staub sieht sie das Gemetzel aus rauchenden Körperteilen; es sind nur noch zwei feindliche Krieger übrig, die inmitten dieses Schlachtfeldes stehen und geschockt um sich blicken. Drüben hat die Musik gestoppt und ein aufgeregtes Gebrüll ist aus dem Konzertsaal zu hören. Dann rasselndes Metall. Sehr viel Metall. Ah, es sind Rüstungen.

Es ist ihr Signal schnellstens zu verschwinden.

Auf der einst schneeweißen Marmortreppe springt Tav parkourartig über die blubbernden Säureflecken (zweifelsrei Überreste ihrer gebastelten Granatenkette). Und dann Türen, die auffliegen und die alarmierte Stadtwache, die im Gänsemarsch hereingeklappert kommt. Oh, das wird Hausverbot auf Lebenszeit geben!

'Und ein paar Jährchen in der Zelle. Mal sehen, wie ich mich da wieder raus befreien kann', denkt sie und stolpert die letzten Stufen hinab, bis sie fast hinfällt. Ehe es so weit kommt, hat sie eine fremde Hand am Revers gepackt und zieht sie hinter eine halbzerfressene Säule. Raphaels Ärmel sind zerfetzt, seine Nase schwarz mit Rus und seine Locken stehen ab. Auf seinem Gesicht ein ungestümes Lachen. Tav starrt dieses fremdartige jungenhafte Antlitz an und vergisst für einen Augenblick alles um sich herum. Er zieht sie ungefragt mit der Schatulle unterm Arm an sich und sie verpuffen in der Luft, bevor irgendjemand sie entdeckt hat.

 

Alles, was bleibt, ist eine Eingangshalle in Trümmern. Rauch liegt in der Luft, als die Stadtwache den Raum mit Stimmen füllt, ihre Stiefel knirschen auf zerschlagenem Marmor und Geröll; freilich zu spät, um die Übeltäter zu fassen. Wo Tav und Raphael einst standen, riecht es nur noch schwach nach Schwefel.

Der Stadt "größter Steuerschlucker", wie Baldur's Mouth das Openhaus betitelt hatte, sah genau drei Aufführungen, bevor es zur erneuten Baustelle degradiert wurde.
"Es hat unsere Musikherzen erobert und wurde von Vandalen zerfleischt" kommentiert später ein Tieflingredakteur im Feuilleton der Lords & Laws. Titel des Artikels: "Der Versuch von Hochkultur in Baldur's Gate. Ein Abgesang."

Notes:

Wie war das mit den Tags wie "Hate Sex", "Raphael bad in Bed" und "Dubious Consent"? Ich habe sie nicht vergessen. Bald. Sehr bald.

Chapter 11: 11 Dein Fleisch, mein Diner

Summary:

Als sie das erste Mal miteinander schlafen, ist es wie Krieg.

Warnung: Wir widmen uns ganz kanonisch Raphaels berüchtigter Performance im Bett und es geht rau zu. Tav beginnt mit ihrer mentalen Selbstheilung.
Im Übrigen unterscheiden sich die deutsche und englische Version vor allem in Part 2 stellenweise stark von einander. Im Englischen ist Raphael ein Pseudo-Zarathustra, im Deutschen Hegelianer.

Notes:

 

There's a devil waiting outside your door
He's bucking and braying and pawing at the floor
And he's howling with pain and crawling up the walls
He's weak with evil and broken by the world
He's shouting your name and he's asking for more
- "Loverman" by Nick Cave & The Bad Seeds (cover by Martin Gore)

If you want inside her, well,
Boy you better make her raspberry swirl
- "Raspberry Swirl" by Tori Amos (Andy Gray Spectrum Feels)

Chapter Text

1. Jetzt

 

Als sie das erste Mal miteinander schlafen, ist es wie Krieg. Ein vermeintlich lautloser Krieg. Über das knisternde Kaminfeuer hinweg hört man nicht nur schwerfälliges Keuchen, sondern auch die Tischbeine rhythmisch über den Holzboden rutschen. Kurz gesellt sich das Klatschen von Haut auf Haut dazu, als sie protestierend gegen seinen nackten Oberschenkel schlägt. Aber Raphael vergibt nichts: Er rächt sich mit einem harten Stoß von hinten. Tavs Keuchen mündet in einem aufheulenden Schrei.

"Kämpf ruhig, wehre dich, bettle! Es ändert nichts", knurrt er in ihr Ohr, und jedem Wort folgt die nächste Vergeltung, "deine Seele gehört mir. Kein- Pakt- erforderlich." 

Sie sind Feinde und ihre Rivalität hat das nächste Level der Zerstörung erreicht.

Tav sucht die Stütze des Esstischs. Sie war auf seinen obszön großen Höllenphallus nicht vorbereitet. Sein Penis fühlt sich wie ein gerippter Knüppel an; die Äderchen am Schaft müssen aus rauem Granit sein, denkt sie in ihrer Qual und drückt wieder die Faust gegen sein Bein.

"Lass es zu," erwidert er unter lüsterner Anstrengung, als heize ihr Wehren ihn nur noch mehr an.

Sie kneift die Augen zu und atmet durch. Zwingt sich zur Entspannung, spreizt die Schenkel statt zu verkrampfen und versucht diesen Angriffskrieg auf ihren Körper in einen anderen Winkel zu leiten. Er hält sie immer noch am Schopf fest, mit beiden Klauen, ihre Schultern zwischen seine nach unten drückenden Ellbogen geklemmt, und presst sie in die Tischkante. Der ganze Druck und Zug von allen Seiten ist überwältigend und macht sie stocksteif. Sie betet, dass sie endlich bald feucht wird, um mehr Bewegungsfreiheit in Rücken und Hüfte zu wagen. Versucht sich ihre Schmiere herbeizuwillen. Sie denkt an Jaheiras Militäransprachen: 'Konzentration! Konzentration!' und salutiert mit ihrer inneren Soldatin. Sucht nach der Lust, die irgendwo hinter der Pein warten muss. 

Seine Zähne an ihrem Hals. Sein tiefes Brummen auf ihrer Haut. Es ist ... zumindest ein Anfang, denkt sie, besser als das irritierende Kratzen der Tischbeine ist es allemal. Sie braucht nicht den Hautkontakt oder die Stellung, um sich zu erregen, sondern Geräusche. Die Tonspuren seiner Lust, der sexuellen Anstrengung. Und doch, wenn der Schmerz zwischen ihren Beinen nicht gleich aufhört, wird sie das Ganze abbrechen, egal, wie sehr er sie danach verhöhnt.

Seine Zähne weichen und sie hört ihn dicht an ihrem Puls: Sie sei einfach zu eng, wispert er ihr gebrochen zu, sie werde ihn noch zermalmen, ruinieren und seinen Schwanz explodieren lassen. Er sei noch nicht einmal zur Hälfte drin und sie melke ihn jetzt schon wie eine Steinfaust. Es hilft. Raphaels zur Abwechslung vulgäre Sprache ist eine einzige Schockwelle der Stimulation. Spätestens jetzt gesteht sie sich ihre Schwäche für seinen sonoren Singsang ein. Er lässt sie aufseufzen und ganz verloren ihre Schläfe gegen seine reiben, bis sie endlich mit der Hand, die ihn zuvor geschlagen hatte, seinen Teufelsmund zurück an ihr Ohr drückt, damit seine kultivierte Stimme und seine absolut verkommenen Worte weiter ihren Gehörgang liebkosen. Sein leises, triumphales Lachen, das im Schnaufen beinahe untergeht ...

Genau das lässt sie weich werden. Die Erotik seines Keuchens macht die blutigen Krallen in ihrem Skalp vergessen. Sie will ihm sagen, dass sie mehr davon braucht, dass er niemals, niemals still sein soll. Aber das käme einer Niederlage gleich.

 


 

2. Eingangs

 

"Ich bin..."

Sie stockte.

"Was bist du? Noch nicht fertig, das bist du. Damit du überhaupt etwas sein kannst, musst du das Risiko eingehen, etwas anderes zu werden. Du musst etwas schaffen, das jenseits deines Ursprungs liegt. Du, Tav, beginnst erst mit dem Fall deiner Unschuld," Raphael schwenkte das Glas in seiner Hand und beobachtete durch das Kristall wie sich der Rotwein träge bewegte, "das vermeintliche Paradies, in dem du vorher gelebt hast: der Teppichladen, die freundlichen Familienbesuche, dein ruhiges Städterleben, all das war nichts; dein Paradies gibt es nur im Rückblick. In Wirklichkeit war es nichts und du warst nichts darin. Dann kam der Parasit und dein Verrat an der Moral und du bist gefallen. Du hast Schmerzen erfahren, Schuld, Leben, Lust. Macht. Nein, mein Mäuschen, das Paradies ist kein Zustand. Wir beginnen erst mit dem Sündenfall. Doch nun willst du den letzten Schritt nicht gehen. Du willst nicht erkennen, dass du noch nicht ganz du selbst bist. Oder dass ich dir dabei helfen kann."

"Wobei? Meinem Sündenfall?" fragte sie. 

"Oh, wie verloren du bist, mein kleines Schäfchen" er musterte sie mit entzücktem Bedauern und schnaufte dann lachend, während sein tiefes Brummen immer noch in ihrem Brustkorb nachhallte, "doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Apfel gepflückt wird."

"Danke, Herr Professor Doktor Dualist," sagte sie die Augen verrollend, ganz mit der Absicht, die Intensität seiner Worte abzufedern. Schon spürte sie ihre Wirkung, wie sich eine Beklommenheit in ihr einnistete. Obwohl sie seine Analyse für pseudopsychologisches Palaver und ihn für einen Scharlatan hielt, der sich gern selbst reden hörte, schlug ihr Herz schneller. Raphael hatte einen sechsten Sinn fürs Dramatische und wusste geschickt Rhetorik einzusetzen. Er verkaufte Angst wie warme Brötchen. 

"Ich bin kein Dualist, denn ich glaube nicht an die Trennung von Widersprüchen, sondern an die Einheit ebendieser."

"Ah ja, eine wunderbare Metapher für dein einstiges Bestreben, die Neun Höllen 'zu vereinen'."

Er schürzte grinsend die Lippen.

'Einheit, jaja.' Sie seufzte und unterdrückte den Reflex, darauf hinzuweisen, dass er es nicht geschafft hatte, ihr eine anständige Schlafstätt zu organisieren, während er im luxuriösesten Zimmer von Sharess' Caress hauste. Ihr Blick huschte zu der eingeklappten Liege, die in einer Ecke des Zimmers lag, und auf der sie erneut schlafen würde. DAS war Klassentrennung erster Güte.

"Nur dass du philosophischen Unsinn über mein Selbst schwadronierst, wenn es in Wirklichkeit um Politik geht," ergänzte sie.

"Ich spreche nicht bloß von deinem Selbst. Sondern von unser beider Selbst."

"Du willst dich mit mir vergleichen?"

"Was habe ich dir einmal gesagt, kleine Maus? Ich bin so böse, wie du von mir denkst; ich bin du, wenn du ..."

"Ich bin kein bisschen wie du und du kein bisschen wie ich, Raphael. Wir sind wie Tag und Nacht. Hör auf das immer wieder zu behaupten."

"Genau deswegen sind wir gleich. Je heller dein Tageslicht strahlt, desto näher kommst du meiner Dunkelheit. Es ist unausweichlich."

"Reden wir hier über etwas Bestimmtes oder ist das einfach der seltsamste Aufriss aller Zeiten?" 

"'Aufriss'? Ist das ein neumodischer Begriff für das Erringen des intellektuellen Sieges über den Gesprächspartner?" fragt er etwas spitz.

Tav biss sich auf die Lippe und nahm dann schnell einen Schluck von ihrem billigen Neverwinter-Fusel. Raphael schien ihre Amüsiertheit nicht bemerkt zu haben, denn er wartete ernsthaft noch auf eine Antwort. Als ihr Mundwinkel unterm Trinken dann doch zuckte, räusperte er sich.

"Ah, ich verstehe. Die Welt der Sterblichen hat neue Ausdrucksformen gefunden, derer ich mir nicht bewusst bin. Sei ein Schatz und erkläre mir das, was ich nicht kenne."

"Was kriege ich dafür?"

Gemütlich nippte er an seinem eigenen teuren Wein und nahm sich dabei sehr viel Zeit, bevor er das Glas wieder absetzte, die Finger ineinander verschränkte und den Kopf leicht zu ihr drehte, ohne sie direkt anzusehen. "Einen Haken mehr, an dem ich dich aufhängen könnte."

"Autsch," schnaufte sie und pickte sich einen neuen Hühnerflügel von dem Teller auf dem Tischchen.

"Keinesfalls. Jeder Haken verringert den Zug am restlichen Körper," erklärte er mit abgeklärter Süffisanz, während seine Augen ihrer Hand folgten.

"Droh mir so viel du willst, Unhold. Du kannst mich nicht foltern, denn ich bin keinen Vertrag mit Bringschuld eingegangen," erwiderte sie und biss in den Flügel.

"Du bist auf dem besten Wege dorthin," versprach er und fixierte sie nun mit einem Augenfunkeln. Sie merkt, dass sein Starren sie vom Essen abhalten sollte. Vermutlich war er ein wenig allergisch auf das Gefresse der Sterblichen. Sie ignorierte es natürlich. Seit sie von ihrem Siegeskurs in der Oper zurückgekehrt waren, war die Stimmung gut, beinahe freundschaftlich; Tav war zu stolz auf ihren gemeisterten Kampf, um seine Gewaltfantasien ernst zu nehmen, und Raphael, nun ja: Er saß fett und zufrieden in seinem überkandidelten, unbequemen Herrensessel wie ein Kater nach dem Fang des Tages und säuselte Dinge vor sich hin, die ganz klar der Wein ankurbelte

"Wir beide haben in der kurzen Zeit meines Besuchs einen Haufen Verträge abgeschlossen," sagte er mit der Intensität eines Märchenzählers, der endlich zur spannenden Stelle der Geschichte kam, "kleine Abmachungen, Hausregeln, Versprechungen. Gib es zu: Du gerätst immer tiefer in mein Netz."

"Meine Hausregeln? Ist das dein Ernst? Nichts davon würde meine Seele riskieren."

"Aber sie gehört doch bereits mir."

Sie lachte auf, ein Hauch von Frust in ihrer Stimme. Fing er schon wieder damit an, dachte sie irritiert. Drohen - schmeicheln - witzeln und wieder drohen. Seit sie Avernus verlassen hatten, wurde es immer schwieriger, die aufgeladene Stimmung ihres üblichen Tauziehens zu ignorieren. Unmöglich dem Sog diess umgänglichen, gar flirtenden aber stets kontrollsüchtigen Teufels zu entgehen. 

"Meine Seele gehört niemandem, damit das klar ist," flüsterte sie viel zu brüchig, aber er lachte auf.

"Meine Liebe, auch wenn deine Gottlosigkeit schon immer eine deiner reizenden Eigenschaften gewesen ist, liegst du so grundfalsch," erwiderte er mit einem belustigten Kopfschütteln und griff erneut zum Glas, trank aber nicht daraus, "denn dräut einmal der Gott des Todes, bieten alle Sterblichen ihr ängstliches Lichtlein feil. Doch wenn es so weit ist, werde ich der einzige sein, der dich erhört. Sei gewiss: Kreuzt sich dann dein Licht mit meiner Dunkelheit, wartet schon die Klaue auf dich. Und auf mich ein Festmahl."

Blinzelnd sah sie in das plötzliche Auflodern von Flammen in seinen Augen, während er seine nächste Todesdrohung als zuckersüßes Versprechen verhüllte. "Dein Fleisch mein Diner."

Sein leicht verschwommener Blick glitt an ihr entlang und ein Schauder erfasste sie. Es schien, als streifte nicht sein Blick, sondern seine Hand über ihre Haut, und sie konnte nicht sagen, ob die Unerträglichkeit, die sie dabei erfasste, wirklich so unwillkommen war. Er tauchte langsam und mit absurder Doppeldeutigkeit den kleinen Finger ins Weinglas.

"Dein Blut mein Wein."

Er steckte den Finger in den Mund und als er ihn mit einem Saugen rauszog, ging das Weinglas in Flammen auf - komplett. Wie bei einem Taschentrickkünstler waren seine Hände leer und nur der Blick voller düsterer Verheißungen.

"Deine Seele mein Spielzeug." 

Seine Worte hingen wie ein betäubendes Parfum in der Luft und, so schmierig der Teufel auch war, es schien fast unmöglich sich ihrer Wirkung zu entziehen. Sie wand die Augen ab und versuchte vergebens ein zitterndes Schnaufen zu unterdrücken.

'Natürlich,' schalt sie sich, 'er ist schließlich der Teufel.'

Was hat sie erwartet? Für eine kurze Zeit hatte sie fast vergessen, dass sie immer noch Feinde waren und sie unter seiner Knute. Jedes kumpelhafte Wort zwischen ihnen war nur eine Lüge von ihm und naive Fahrlässigkeit ihrerseits. Er würde sie in den Abgrund stoßen, "Freundschaft" hin oder her. Ehre und Vergebung lagen nicht in der Natur des Bösen.

Würde sie sich davon kleinkriegen lassen? 

Vielleicht musste sie ihn einfach daran erinnern, wer hier in der Bringschuld war.

"Schwing nur große Reden. Aber sobald du zu alter Kraft zurückkehrst, musst du deinen Vertrag erfüllen," sprach sie leise, ihr Blick fest auf seinem, "und dann bin ich weg."

Tav bugsierte den abgekauten Hühnerknochen ins Kaminfeuer und schwang sich aus ihrem teuren Grafenstuhl, Peitsche sofort in der Hand. Raphael sah zu, wie sie sich nun vor ihm aufbaute, und schenkte ihr ein trotziges Grienen. Sie wollte es ihm vom Gesicht wischen. Tav knetete die Peitsche in ihren Händen und gab ihm Zeit, sich gut zu überlegen, ob er wirklich diesen Streit wollte.

Es passierte genau das Gegenteil, von dem, was sie erwartete. Er spreizte die Beine für sie. Nur ein wenig. Es war eine Einladung näherzutreten. In seinen Raum. Und Dendar verdamme sie, aber sie ließ sich auf das Spiel ein. Sein Knie streifte ihren verdeckten Schenkel und er grinste zu ihr hoch. Dann tappte er mit der Hand auf den Oberschenkel, als wollte er, dass sie sich auf seinen verfluchten Schoß setzte.

Tav sah seinen verräterischen Adamsapfel aufspringen und die Erinnerung an ihrer Peitsche um seine Gurgel, während er vor ihr gekniet hatte, flammte auf. Sie hob das Leder zu seiner Wange und streifte sie, langsam.

Er schluckte hart und als der kleine Knopf verräterisch hüpfte, packte sie ihn mit einer blitzschnellen Bewegung an der Kehle. Die öligen Finger schlossen sich um seinen Hals und für einen klitzekleinen Moment weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Sein ganzer Körper wurde steif. Sie beugte sich vor, die Peitsche in der Linken mit einem Schnalzer ausfahrend, und wollte ihm eine Beleidigung ins Gesicht spucken. Doch sie hielt inne, bedachte die Botschaft, die nun in seinem heißen, herausfordernden Blick lag: 'Wag es und du wirst schon sehen'. Huh. Ob Warnung oder Verlockung, sie konnte nicht sagen, was es sein sollte. Er hob nur eine Augenbraue.

Tav war ihm so nah, dass sie jedes noch so kleine Rasseln in seiner Lunge vernahm. Grimmig musterte sie den winzigen Schatten von Ruß in den Lachfältchen und drückte zu. Nicht fest. Sie nannte es den Kar'niss-Druck: eine freundliche Warnung, die in einem anderen Universum eine Offerte gewesen wäre. Ihre Finger pressten in sein rosiges Fleisch und sie spürte die Schwellung seiner Muskeln. Raphaels Lider flatterten, sein Mund öffnete sich leicht und für eine Sekunde glaubte sie, Entzückung über seine Züge huschen zu sehen. Ein Hauch von Röte auf den Wangen. Er war schön, wenn er sich selbst vergaß.

"Raphael."

Sie hatte ihm sonst nichts zu sagen, zu vereinnahmt von dem, was in seinem Gesicht geschah. Er atmete scharf ein und fixierte sie mit einem Blick, der sich einen Weg zu ihrer Seele brennen wollte, um sie sich mit roher Gewalt zu holen. Stattdessen hob er seinen Arm, umfasste ihren Nacken und versuchte sie zu sich hinabziehen. Tav sträubte sich und verstärkte alarmiert den Druck an seiner Gurgel.

Er probierte es wieder, insistierend, versuchte sie zu- was? Beißen? Zu küssen? Ihr eine seiner süßen Drohungen ins Ohr zu wispern? Was auch immer sein Vorhaben war, nein, sie gestattete es nicht. Sie wollte ihn töten. Sie wollte ihm weh tun. Aber als der Kambion schnaubend den Arm auf die Stuhllehne zurückfallen ließ, ließ auch sie ihn los und entfernte sich rasch, taumelte in die Mitte des Raums. Ihr schwirrte der Kopf.

Tav drehte sich auf der Hacke um und griff nach dem nächsten Möbelstück, um sich zu fangen. Ihr war schwindelig und absurderweise fühlte sie sich, als hatte sie gerade eine dumme Wette verloren.

"Mach dich nicht lächerlich," murmelte sie ungewollt atemlos und warf die Peitsche mit aufwallendem Ärger auf den Tisch, den sie sich krallte. Sie konnte nicht sagen, ob sie Raphael oder sich selbst meinte. Sie wusste nur, dass er die gute Stimmung zwischen ihnen ruiniert hatte. Hatte sie dazu verleitet ihn anzufassen und zu strangulieren.

Bald war sie weg. Bald war er weg.

Tav hörte den Stuhl hinter sich umfallen und zuckte zusammen. Seine schweren Schritte, die auf sie zukamen. Prompt war seine Körperhitze an ihr, beißender Schwefelgeruch in der Luft, kaum unterdrückt von seinem blumigen Parfum. Der alte Seelenfänger war endgültig zurück, und der Odem der Hölle mit ihm. Der Henkersmann in ihrem Rücken.

Dann ergriff er ihren Kiefer, fast schmerzhaft, und keuchte unter dem Rauschen ihres Blutes in ihr Ohr: "Tav. Du spielst mit dem Feuer, aber willst dich nicht an die Regeln halten. 'Ganz oder gar nicht', Mäuschen. Entscheide dich."

Er war jetzt in seiner infernalischen Gestalt, die sie um fast zwei Köpfe übertrumpfte und alles Licht in dieser Ecke des Raums verschluckte. Sie spürte seinen schweren, tierischen Atem heiß auf ihrer Schulter. Seine Erektion drückte gegen ihr Gesäß und Tav musste sich am Tisch abstützen, damit er sie nicht samt Mobiliar wegschob.

'Du wusstest, dass es passieren würde.' Das Unvermeidbare. 'Nur warum jetzt?'

"Entweder bist du verrückt oder besoffen, alter Mann. Oder beides,"  schnappte sie ganz erhitzt und nur allzu verwirrt von alldem, was sie herbeifürchtete.

Bald würde sie weg sein.

Seine Teufelspranken ließen ihr Gesicht los und glitten nun zu ihrer Taille. Langsam umschlossen sie sie, komplett wie das Handgelenk eines Kleinkindes. Zum ersten Mal berührte er sie auf diese Weise. Elektrisierte sie.

"Immer die Unentschlossene, nicht wahr?" 

"Du verstehst einfach Frauen nicht, deren Komplexität die eines Lemuren übersteigt,"  flüsterte sie und erwartete, dass er laut auflachte.

Stattdessen kamen seine Worte nur dünn, als würgten sie ihn. "Ich werd dir schon zeigen, wie verständig ich in fast allem bin."

Und dann merkte sie das Zittern in seinen Fingern. Er drückte kurz zu: Eine Frage, auf die sie mit einer Rotation der Hüfte antwortete: Ja.
Sie hörte seine schweren Schwingen aufspannen, und der Sog ihrer Bewegung zog sie fester zu ihm heran.

Er schluckte hörbar. "Zeit für das Diner. Und ich diniere deine..." 

Das Ende ließ er unausgesprochen. Was wollte er? Ihre Seele? Ihren Körper? Ihren leblosen Körper? Er hatte gesagt, dass er ihr helfen würde. Er hatte es vielleicht anders gemeint, aber jetzt wollte sie, dass er sie von dieser Entscheidung erlöste. Sie wollte, dass er sie alles vergessen ließ: ihren Schmerz, die Einsamkeit. Er war der Teufel - er hatte sicher die Macht und Vorstellungskraft dazu. 
Tav legte den Kopf auf seine Brust und lenkte seine Klaue zu ihrer Brust: 'Tu es endlich', sollte es heißen. Kein Zweifeln mehr. Raphael verstand und riss sie an sich.

Es war ein Angriff auf ihre Sinne. Seine Hände und Lippen waren plötzlich überall, attackierten ihre verhüllten Brustwarzen, ihren Hals; er biss in ihr Ohrläppchen, während er, selbst überwältigt von seinem Verlangen, in ihr Haar schnaufte und sich stoßweise gegen sie presste. Tav musste sich gegen den massiven Tisch stemmen, um keine frontale Landung auf die Platte zu machen. Raphael war so, wie sie ihn sich beim Vorspiel vorgestellt hatte: selbstsüchtig und ungeduldig. Sein Hunger hätte schmeichelhaft sein können, wäre da nicht die Kälte zwischen ihnen gewesen. Mit seinem heißen Teufelsatem in ihrem Nacken kickte er ihre Füße auseinander und sie verstand, dass er sie im Stehen nehmen wollte. Eine kleine Enttäuschung, wenn sie ehrlich war. Sein sonst so kultiviertes Benimm hatte sie auf mehr Romantik hoffen lassen- Tav schüttelte den Gedanken ab. Es ging hier nicht um zarte Gefühle, also was sollte die Reue.

'Du kannst froh sein, dass du ihn nicht anschauen musst.'

Seine krallenbewehrten Finger fuhren unter ihr Kleid. Sie ließ ihn gewähren und schloss unwillkürlich die Augen als seine warmen, großen Hände ihre Schenkel hinaufglitten. Ein flüchtiger Moment des Innehaltens, der Raphaels eigenes Wanken verriet. Ein kleiner, sinnlicher Riss in der sonst perfekten Maske, die er aufhatte. Ihr beider zitterndes Schnaufen in der Stille. Sie merkte, wie er kurz den Atem anhielt, ihre Reaktion beobachtete. Sie dreht den Kopf, um ihn anzusehen - und da ist der Moment auch schon vorbei, und zwar plötzlich. Seine Finger bohren sich in ihre Unterwäsche und der unerwartete Schmerz durchfährt Tav wie ein Schock, der ihren Kopf nach vorn schleudert. Zu schnell, das alles. Zu grob. Er schlüpfte unter den Stoff. Scharfe Nägel, harsche Bewegungen an ihrer empfindlichsten Stelle. Sie bäumte sich auf und wollte herumfahren. Aber er fixierte ihre Schulter, um sie still zu halten. Die Schlacht hatte begonnen.

"Zu spät, Mäuschen. Ich nehme mir jetzt, was mir zusteht." 

"Sanfter, verdammt."

"Sag 'bitte'."

Der hörbare Spott in seiner Stimme, während er marginal zärtlicher an ihr herumfingerte, ließ sie mit dem Ellbogen in seine Rippen fahren. Sie stieß so hart und fest zu wie sie konnte, und heimste, nicht ohne Schadenfreude, ein dumpfes "Uff" von hinten ein.

"Sofort."

Raphaels Finger verschwanden aus ihrer Intimsphäre. Ein kleiner Sieg, mit Furcht und Erregung durchsetzt. 

"Dann kommen wir eben gleich zu Sache."

Er zerfetzte ihre Unterwäsche und sie sah sie mit pochendem Herzen in eine Ecke fliegen. Und dann drückte etwas Nacktes und sehr Hartes gegen ihr Gesäß. Er hatte sich Hose und Stiefel einfach weggezaubert und schob sein Glied zwischen ihre Schenkel. Ohne jede Vorbereitung. Tav vergaß kurz zu atmen.

'Das wird also wirklich nicht mehr als ein Quickie. Wie bizarr!', dachte sie, und was zuvor Schock oder Enttäuschung gewesen war, erblühte in ihr auf einmal zur Erregung. Etwas in diesem Dämon, der sonst nur mit dem schnöden Pomp und Ordnungsdrang eines Diktators unterhielt, hatte mit verstörender Wucht einen Schalter umgelegt, sodass er sie stehend und halb bekleidet gegen einen Tisch nahm. Es war wie eine lebenszerstörende Explosion, die niemand hatte kommen sehen. Und die wegen ihr eskalierte.

Tav blinzelte, versuchte den Gedanken festzuhalten, aber sie war zu sehr mit den auf sie hereinprügelnden Kräften beschäftigt.  

"Achtung, der Anfang wird etwas schmerzhaft sein," säuselte er kalt, während er langsam zwischen ihre Schamlippen fuhr und ihr ein Stöhnen entlockte, "aber du bist ein großes Mädchen, nicht wahr? Also, schön die Zähne zusammenbeißen - und keine Sorge wegen der Nachbarn."

Er griff ihr ins offene Haar und riss ihren Kopf zurück. Tav schnappte zur gleichen Zeit nach Luft, als er seufzend ausatmete. Er liebte die Inszenierung. "Sie dürfen dich ruhig schreien hören."

 


 

3. Jetzt

 

Die Tischkante berührt jetzt die Zimmerwand und mit jedem Stoß rammt er sie hinein und schickt Klopfsignale in den Flur. In diesem Etablissement dürfte das kein ungewöhnlicher Klang sein, aber es ist so vulgär, dass es sie peinlich berührt. Es ist eine Farce, dass sie sich jetzt noch geniert. Oh Götter, sie hat gerade Sex mit einem Wesen aus der Hölle, einem Prinzen, der so viele Jahre lang freundlich-hohle Konversation mit ihr betrieben hat. Ja, Raphael mochte immer ein etwas schmieriger Cavaliere servente gewesen sein, aber sie hatte ihn als harmlos abgestempelt. Und gewiss, er hat sich später als ernstzunehmender Gegner und harter Verhandlungspartner erwiesen. Aber als einer mit Werten. Einer, der auf Ordnung und Etikette pochte. 

Oh, sie ist so naiv gewesen. Die 32 Jährige spürt, wie diese Naivität jetzt aus ihr rausgefickt wird.

Und dann lacht er. 'Ernsthaft? Was ist so verdammt lustig?' Hat sie etwas getan, das ihn amüsiert, oder ist es pure Gehässigkeit? Er stößt härter zu, als mache das seinen mangelnden Können wett. Immer brutaler und doch so unbeholfen, als sei die Bewegung unnatürlich für ihn. Sein infernalischer Körper strahlt Hitze aus wie ein offenes Feuer, während er ständig aus dem Rhythmus gerät. 

"Fuu-Verdammt!" flucht Tav. "Scheiße! Au!"

"So ordinär," keucht er, "was gäbe ich jetzt nicht alles für was Feines zum Maulstopfen!"

"Feines? Wie wäre es mit mehr F-" Er stößt ihr die Luft aus den Lungen. "-inesse!"

Und sie triezt ihn weiter. 'Du Idiotin.'

Ab einer gewissen Stufe boxt er wie ein Baumeister beim Abriss gegen ihre Organe, sodass sie ihn mit ihrer Faust und ein, zwei harschen Kommentaren auf Abstand halten muss. Tav starrt auf die Peitsche - das völlig abgeriebene Ende des Leders floppt mit einem Stoß über die Kante, und der Anblick fühlt sich an, als bestünde auch sie aus nichts als überanspruchtem Fleisch und Knochen. Könnte sie nur danach greifen und so etwas wie ein Stück Gleichheit wiederherstellen! Zumindest ist sie endlich feucht genug, damit sie sich zu seinem rachevollen Rhythmus zu bewegen traut, ein gemeinsames Vor- und Zurückwiegen. Sie weiß, sie wird diesen One-Night-Stand morgen bereuen, also möchte sie es zumindest jetzt in diesem Augenblick genießen, will, dass dieser Riesenfehler sich gelohnt hat. Sie hat es sich dammt nochmal verdient. 

'Mach das Beste draus, Tav,' sagt sie sich. 'Er mag ne härtere Nummer als gedacht sein, aber dass er nicht nett sein würde, wusstest du.'

Aber, oh, sie beschleicht endlich die Erkenntnis, dass es sich nicht lohnen wird; der Kambion ist miserabel beim Sex. Jeder Reibungspunkt, der sich ansatzweise gut anfühlt, ist ein Zufall in einem Haufen anstrengender Reibungspunkte. Der Inkubus hat mit seiner Aussage nicht übertrieben. Was Wunder, wer Jahrhunderte - wenn nicht Äonen - nur durch den Hintereingang seines Ebenbildes gebohnert wird, der hat irgendwann vergessen, wo bei Frauen der Haupteingang ist. Raphael arbeitet sich zu seinem eigenen Vergnügen ab, badet vermutlich in dem grandiosen Gefühl ihres weichen, warmen Inneren, durch die er wie ein Raubritter zieht.
Tav spürt ihre Frustration mit voller Kraft aufblühen. Der Verlust ihrer Würde ist umsonst gewesen! Der einzige, der von ihrem Stelldichein etwas hat, ist derjenige, der es am wenigsten verdient.

Raphael fährt gnadenlos in sie hinein und sie schluckt die Tränen hinunter. 'Kar'niss, was habe ich getan?' Es ist der dümmste Fehler ihres Lebens.

"Warum bist du so still?" keucht er auf einmal und stolpert abermals in seinem Stoßtempo.

Sie hasst ihn dafür, dass er überhaupt etwas bemerkt hat und beißt die Zähne zusammen.

"Wird das eine Vergeltungsaktion?" knurrt er, und sie hört seine wachsende Frustration.

Raphael greift um sie und findet, nach etwas Suchen in ihrem Rocksaum, ihre Klitoris. Er beginnt die kleine Perle mit seinen flachen Fingerkuppen zu reiben, aber ist dabei so grob wie ein trotziges Kind mit einem ungeliebten Spielzeug. 

"Oh, ich bringe dich noch zum Schreien. Wollen wir wetten?"

Sie kann nicht. Die Angst versehentlich gekratzt zu werden und sein rauer Umgang sind zu viel.

"Nein," stöhnt sie kopfschüttelnd. "Nein, nein, nein!"

Mit einem tierischen Grollen, das seinen Unwillen verrät, verbeißt er sich noch mehr in ihre Figur und drückt sie jetzt mit voller Wucht gegen den Tisch. Japsend stemmt Tav sich auf und zerrt erst die Kralle zwischen ihren Beinen weg und schüttelt dann die andere von ihren Schultern ab. 

"Genug! Runter von mir!"

Sie drückt die Tränen hinunter.

Es braucht wieder ihren Ellbogen, bis er kapiert, dass sie es ernst meint. Tav fährt herum und findet einen schweratmenden Kambion vor, mit irritiert peitschendem Teufelsschwanz und einer dunkelrot geschwollenen Latte, die den Saum seines Wams' hochhebt. Tav nutzt die zurückgewonnene Freiheit, um ihre steifen Schultern zu lockern. Raphael sieht aus, als wolle er etwas mit seinen baren Händen zerreißen.

"Was?", speit er mit einem heißen Grienen, "entspricht meine Ausstattung nicht deinen Vorstellungen? Oder ist sie einfach zu viel für dich?"

Seine böse, ungeduldige Fratze. Er tritt auf der Stelle wie ein scharrender Stier. Sie erkennt ihn nicht wieder. Er ist eine tollwütige und instinktgetriebene Kreatur, die ihre menschliche Hälfte aufgefressen haben muss. Tav starrt auf die fast echsenhafte Hautstruktur seiner Oberschenkel, gegen die sich Stränge von Muskeln und Adern stülpen; pervers, seine maskuline Physis. Wozu das Ganze? Warum hat er diese Figur, wenn er immer nur mit sich selbst schläft? Ist es aus reiner Selbstverliebtheit? 

"Du meine Güte, hat der Hammer dem Nagel die Sprache verschlagen?" Er fasst sich an und beginnt erneut gierig zu pumpen.

"Dein Hammer ist tadellos," sagt sie endlich und mit dem Blick fest auf seiner Grimasse, obschon nicht blind gegenüber der Handbewegung im Augenwinkel, "es ist die Hand, die ihn nicht zu führen weiß."

"Hat sie etwas an meiner Führungsart auszusetzen-"

"Sie grauenhaft."

Er schnaubt, aber seine Statur verliert ein wenig von dem bebenden Berg aus Testosteron, das er mit jedem Atemstoß durch seine Poren zu pumpen scheint.

"Du weißt nicht, wie eine Frau angefasst werden will," fährt sie fort, "offensichtlich hattest du in den paar Tausend Jahren deiner Existenz wenig Gelegenheit dazu."

Kurz zögert er - nur für den Hauch einer Sekunde - und der Schatten alter Verbitterung huscht über sein Antlitz. Doch Tav mag es sich eingebildet haben, denn der Moment ist vorbei und Raphael lässt jetzt zähnebleckend von seiner Erektion. Sie sieht die aufglimmende Rage in seinen goldenen Augen und macht sich bereit für seinen Angriff. Wenn es dazu kommt, kann sie seinen tierischen Fängen nur ausweichen und vermutlich noch aus dem Fenster springen. Das wird sie bestimmt ein paar Knochenbrüche kosten.

Doch stattdessen weicht er zurück. 

"Vorsicht," knurrt er mit einem wölfischen Winseln und der Zunge zwischen seinen Reißzähnen und es entspricht so gar nicht dem polierten Geschäftsmann Raphael, "die Klaue kann dich unverhofft treffen."

"Deine Klaue hat mich längst getroffen, du Monster," erwidert sie kühl und wischt sich einen laufenden Blutstropfen von der Stirn, "und ich lebe immer noch."

Sie streckt den Rücken und hebt das Kinn. Atmet tief durch und - sie kann es selbst kaum fassen, dass sie ihm eine zweite Chance gibt. "Weißt du was? Ich glaube, dass ich jetzt mit Zuwendung dran bin ... Es ist Zeit für Spaß, wie ich ihn mir vorstelle."

Seine Augenbrauen schießen in die Höhe. Anscheinend hat er nicht mehr auf eine Fortsetzung ihres Stell-dich-eins gehofft. Tav setzt sich halb auf die Tischkante und betrachtet ihn vorsichtig. Gespannt, ob er das verletzte Ego spielen wird oder doch anbeißt. Er rührt sich nicht von der Stelle, aber sein Schweif peitscht rastlos hin und her. Hat sie ihn zu sehr gedemütigt?

"Spaß, wie du ihn dir vorstellst?" wiederholt er mit tiefer Skepsis, seine Augen auf ihr wie auf einem Beutetier, dessen Tage gezählt sind. Sie antwortet mit einer nuancierten Spreizung eines Schenkels. Ihre Beine sind bis auf die Stiefeletten immer noch bar - sie kann seinen heißen Blick förmlich wie ein Brennglas spüren.

"Mir ist aber nicht nach Fesselspielen, meine Liebe," schnurrt er, sein Ton ein wenig seidiger, und schleicht näher, "falls dir das vorschwebte. Ich bin nicht das Folgeexemplar deiner Spinne."

Natürlich meint er ihre erste Liebesnacht mit Kar'niss. Das Ereignis ist längst zu so was wie Raphaels Lieblingsreferenz geworden: Tav, gefesselt, aufgehängt und ausgeliefert. Raphael kann es einfach nicht sein lassen, ihr mit einem ähnlichen Schicksal zu drohen; allerdings würzt er seine Drohung mit einer satten Portion Folter.

In diesem Moment ist er aber ihrer Offerte nicht abgeneigt - sie muss ihn nur ein wenig mehr verlocken. Tav hebt ihren Rock bis sie den Luftzug auf ihren Lippen spüren kann. Sie sieht die sengende Erregung in den verengten Pupillen. Er leckt sich die Lippen. 

"Oh, das Vertrauen müsstest du dir erst verdienen," erwidert sie und starrt gebannt in dieses Augenpaar. Wahrlich, seine Anziehungskraft ist hypnotisch. "Und bis du die Grundpraxis verstanden hast, nun, bin ich wahrscheinlich längst zu Staub zerfallen."

"Dein freches Mundwerk..." murmelt er, als er vor ihr zum Stehen kommt, seine Schwellung in einer Hand zuckend.

Sie ignoriert seine Drohung. "Ich will deine menschliche Form."

Sie sieht seinen Kiefer arbeiten. "Hammer zu groß?"

"Deine Nägel. Sie sind mir zu scharf. Und außerdem habe ich für deinen Hammer etwas anderes im Sinn."

'Nämlich dieses Drecksding nie mehr anzufassen.'

Er runzelt die Stirn und kurz entspannt sich sein Gesicht in fast mildem Erstaunen.

"Also?"

Er dreht den Kopf und lässt den Nacken knacken, wie um die Blase mentaler Last auszuwringen. Als er tief ausatmet, scheint auch etwas von seiner instinktiven Gewalttätigkeit zu entweichen.

Sie ist insgeheim überrascht, als er sich verwandelt. Vor ihr steht wieder der Mensch Raphael mit seiner Föhnfrisur und den noblen Wangenknochen, deren tiefe Schatten immer noch von einer harten Zeit sprechen. Lediglich hüftabwärts bietet er ein schändliches Bild für die Götter.

"Bitte zieh das aus," sagt sie mit einer Kopfbewegung und meint sein Brokatwams. Mit dem Zeigefinger deutet sie ihm an, näher ans Kaminfeuer zu treten, damit sie ihn besser betrachten kann.

Amüsiert verzieht er den Mund und tut ihr den Gefallen, wie ein Hauptdarsteller zur dritten Zugabe schlendert er zwei Schritte ins Rampenlicht und sie erhascht einen äußerst begehrlichen Blick auf sein Gesäß. Er schwingt lässig zu ihr herum und beginnt sein Werk. Sie beobachtet ihm beim Entkleiden und merkt, dass so etwas Lapidares wie der offene Kragen seines Leinenhemds ihre niederen Instinkte ansprechen. Mit jeder Bewegung seiner langen Finger sieht sie ein klein wenig mehr von seiner Haut, doch im Schlagschatten seiner Gestalt bleibt noch immer genügend der Fantasie überlassen. Wimpernschlagend hebt Tav den Blick und merkt wie er sie spöttisch anlächelt. Raschelnd fällt die letzte Hülle zu Boden. Für einen Moment ist nur das Knistern im Kamin zu hören.

Sie beobachtet, wie seine Finger erneut zu seinem Glied wandern, und wischt sich nervös eine Strähne hinters Ohr. "Gut. Und jetzt auf die Knie."

Raphael verschluckt sich an seinem eigenen Speichel. Die Pranke an seinem Schwanz erstarrt - aber Tav hat ein scharfes Auge. Sie sieht, wie er die Faust enger macht. Den Druck am Schaft erhöht.

"Ich warte."

"Du wartest vergeblich, Menschlein," brummt er missmutig, aber er kann ihr nichts vorgaukeln. Seine Begierde ist zu groß.

"Entweder du bleibst der unwissende Prinz, der diese eine Chance verpasst hat. Oder ... du findest heraus, was eine Frau wie ich wirklich braucht." Sie legt beide Hände an ihre Leiste und lässt vier Finger langsam über ihr feucht glänzendes Zentrum fahren. Sein Blick fällt auf die Bewegung. "Und wie ich es brauche ... Was darf es sein, Raphael? Kapitulation und die nagende Unwissenheit? Oder endlich Erkenntnis?"

"So komplex wie du tust, bist du nicht," erwidert er.

"Ist das deine Entscheidung?" Sie lässt von sich ab. "Ganz oder gar nicht, Raphael."

Sie sieht, wie er tief durchatmet und sich seine freie Hand fest schließt. Wahrscheinlich stellt er sich gerade ihre Gurgel zwischen seinen Fingern vor. Er könnte sie gegen ihren Willen nehmen. Mit einem angespannten Lächeln versucht sie die Furcht zu ersticken. 

"Für diesen Affront denke ich mir eine besondere Züchtigung für dich aus," grummelt er finster.

"Denk was du willst," sagt sie und atmet innerlich tief aus.

Seine Augen sind wie an ihren Händen festgekettet. Raphael geht zu Boden.

"Versuch gar nicht erst mir einen Vertrag aufzuschwatzen," droht er noch auf den Knien, kann aber nicht die Augen von ihrem Schauspiel abwenden, "ich bin der Meister aller Pakte."

"Das bist du," gurrt sie.

Sie hebt einen Stiefel, legt ihn auf seiner Mitte ab (und gibt ihm eine Sekunde, um den Ausblick zu genießen) und schiebt. Murrend lässt er sich auf seinen Rücken nieder, die Ellbogen in den Boden gestemmt. Er wirkt alles andere als entspannt. Also bietet sie ihm eine kleine Show, bauscht ihren Rock weiter auf und zeigt ihm in einem anzüglichen Hüftschwung ihr freies Hinterteil. Sie hört ihn seufzen, sieht aus dem Augenwinkel seinen Brustkorb schwer arbeiten. Am Ende ist die Sohle zurück auf seinem Solarplexus. Ein sanfter Druck. Er widersteht.

"Ich kann dir nicht wehtun," sagt sie, "du hast die volle Kontrolle."

Ja, die hat er, und das allein sollte ihr eigentlich Warnung genug sein, davor, mit diesem Spiel fortzufahren.

Er lässt diese Zusicherung gelten. Raphael legt sich langsam mit ihrem Stiefel auf der Brust auf den Rücken und streckt die Beine aus. Da liegt der Teufel, in all seiner Pracht. Tav muss für ein, zwei oder mehr Sekunden in stiller Bewunderung innehalten. Im Zustand der Erregung ist sein Körper durchsetzt von straffen Muskeln; kein Gramm Fett an ihm erkennbar, nur warme, von Schweiß und der eigenen Vorstellungskraft geküsste Kurven und Kanten und ein scharf hervortretendes Schlüsselbein unter dem spitzen Adamsapfel - eine Kombination, die sie beinahe poetisch werden lässt. Sie sieht ihn nicht zum ersten Mal oberkörperfrei und tut es doch.

Er ist ein schlechtes Omen. Sie sollte seine Schönheit nicht so bewundern. 

"Gefällt dir mein Anblick?" fragt er mit einem arrogantem Säuseln.

Mit einem Stirnrunzeln beäugt sie den Rest: seine schmale, athletische Hüfte, die fast perfekte V-Linie, die unter einem weichen, dunklen Flaum sowie, überraschenderweise, diversen Narben bis zu seiner stolz stehenden Erektion verläuft. Welche im Übrigen normalsterblich proportioniert ist. 'Das bedeutet keinen weiteren Boxkampf mit meinen Kanopen', und sie ist erleichtert, muss sich aber dann korrigieren: Sein Genital wird sie ja nicht mehr brauchen (was er noch nicht weiß). Es hat seinen zweifelhaften Dienst für immer an ihr getan.

"Jepp", antwortet sie endlich.

Er brummt zufrieden. Während sie auf ihn zutritt, mustert sie seine perfekt pedikürten Füße und schnauft verächtlich. Erwartungsgemäß ist alles an ihm makellos. Zehen enthaart, Nägel poliert, die rosige Sohle frei von jedem bisschen Hornhaut - wovon Abenteurer und arbeitendes Volk wie sie nur träumen können. Nur sein rechtes Bein trägt nicht den warmen Teint seines restlichen Körper, sondern ist heller und - wenn es keine Täuschung des Lichts ist - dünner als das andere. Hm. Tav drängt diese Beobachtung in den Hintergrund und fokussiert sich auf ihr eigentliches Ziel: 

Der Teufel liegt zu ihren Füßen. Sein Verlangen zeichnet einen geraden Schatten über seine Bauchmuskeln bis zu seinem Bauchnabel. Ihn so zu sehen – offen und wartend auf ihr Zeichen – erfüllt sie mit einer Befriedigung, die fast einem Kampfessieg gleichkommt. Hier ist derselbe Raphael, der sie einst zu töten versuchte, Tav jetzt "ausgeliefert" und bereit, sich ihrem Wunsch zu beugen. Es ist fast so befriedigend, wie den Gott des Todes selbst zu stürzen.  

Sie sammelt den Rock in ihren Armen und lässt sich auf seinem Brustkorb nieder. Schwer entweicht der Atem seinem offenen Mund, die Hände sind sofort an ihren Schenkeln, wenn auch verhaltener als zuvor. Er scheint sie zu observieren, wahrscheinlich bereit für einen unerwarteten Gegenschlag, ein verstecktes Messer. Tav lässt die Hüfte kreisen, genießt den warmen, feuchten Hautkontakt. Er antwortet mit einem tiefen Brummen, das angenehm vibriert. Sie kann seinen Herzschlag fühlen. Er rast. Hm.  

"Zeig mir deine Geheimnisse. Gib es mir. Gib mir alles," haspelt er leise.

Er presst seine theatralische Rede hervor, als sträube er sich gegen sie. Und trotzdem, oder genau deswegen, stellt seine Stimme etwas mit ihr an. Das muss wohl daran liegen, dass ihre Vulva auf seinem brummenden Brustkorb liegt. Sie seufzt.

"Ich gebe nicht, ich nehme."

Sie stämmt sich auf die Knie, rutscht hoch und nach einem vielsagenden Blick zu ihm herunter, setzt sich Tav auf seinen wartenden Mund. 

Raphael beginnt in ihr weibliches Gut einzutauchen. Sie kiekst leise. Zu rau, zu viel.

"Langsam," weist sie an, "ich bin kein schneller Happen auf die Hand."

Er atmet schwer aus und sie merkt, wie er versucht unter ihr die Schultern zu entspannen. "Du wolltest mir zeigen, was dich so besonders macht," raunt er und sie sieht nur seine Nase, was etwas komisch ist, "ich gebe dir diese eine Chance, also sieht zu, dass-"

"Leck mich." Sie wippt vor und zurück und er verstummt, ohne freilich weiterzumachen.

"Sag 'bitte'."

"Bitte sei still und leck mich endlich."

Innerlich verdreht sie kopfschüttelnd die Augen zur Decke, aber spürt das lachende Brummen in seiner Kehle. Als seine Lippen schließlich ihren Venushügel umfassen, wirft Tav entzückt den Kopf in den Nacken, und er beginnt an ihr zu saugen.

"Ja, so," haucht sie, nun endlich auf dem richtigen Pfad des Vergnügens. "Viel besser."

Er ist nicht übel, aber auch alles andere als perfekt.

"Zu seicht..." Er saugt weniger als dass er pustet, wohl in der Hoffnung, das sei erotisch genug.

"VIEL härter..." Die zarte Nipperei macht sie ganz kribbelig.

"Hmm..." Tav verlagert das Gewicht, um ihm zu mehr Hautkontakt zu zwingen, und sieht zu ihm hinab. "Machst du das etwa mit Absicht?"

Er grummelt fragend und zieht die Augenbrauen zusammen.

Sie seufzt. "Also gut, stell dir vor, dass... dass du nach einem Schatz gräbst. Er gehört schon dir. Keine Feinde, keine Eile. Aber es ist ein sehr wertvoller Schatz, den du erst freilegen musst. Also pack deine Schaufel aus, ok, mach dir die Hände schmutzig- ah!"

Seine Zunge überrascht sie mit einem Teppich aus knisternder Stimulation und sie japst. Tav muss sich an seiner Stirn festhalten. Sie spürt wieder sein Lachen.

'Oh ja.'

"Oh ja."

Ihr Hirn ist wie leer gefegt.

Ihre Anleitung scheint an der Gehemmtheit des Unholds zu rütteln: Er grummelt und seine Nase reibt gegen ihre Schamlippen. Tav ist überwältigt, mit welchem Verve er sich in ihren Körpersäften suhlt, als verwandelten ihre Worte ihn in ein hungriges Tier. Sie erschauert, als seine Lippen abermals diesen einen, perfekten Zug direkt über ihre dichteste Nervenbahn machen. Ihre Begeisterung darüber, wie schnell er lernt, kommt in schnellen, gekeuchten Nonsense-Aufforderungen: 

"Ah, so gut, l-leck mich, raub mir die Seele, tiefer, mehr ..."

Diese Aufforderung versteht Raphael. Er packt sie an ihren Oberschenkeln - schlanke, langgliedrige Hände, die sie wie Spinnweben umfassen - und kennt kein Halten mehr. Tav hatte bislang nur das Vergnügen mit Raphaels verbaler "Silberzunge". Doch sie hat noch so viel mehr Talente: Raphael benutzt seinen ganzen Mund, nicht nur die Zunge. Er verzehrt sie wie einen weichen Pfirsich: er macht eine Sauerei zwischen ihren Schenkeln und stöhnt dann so laut auf, als wolle er Tavs Geräuschkulisse Konkurrenz machen. Es dauert nicht lang und seine Tollwut ist erneut entfacht, und dieses Mal reißt er sie mit in diese Höhen.

Raphael versucht sie mit einem Ruck auf den Rücken zu drehen und sie zu übermannen. Sofort klemmt sie ihn zur Warnung zwischen die Schenkel - ihre "weichen Händlerbeine", wie er sie genannt hat. Er muss unten bleiben. Raphael nimmt es hin, rächt sich aber an ihr. Als seine Zähne den richtigen Nerv innerhalb ihrer Lippen streifen, schreit sie kurz auf und krallt sich so fest in sein Skalp, dass er sie eigentlich wegdrücken müsste. Stattdessen umfasst er ihr Gesäß und vergräbt sich noch tiefer in ihr. Sein Atem geht immer schwerer, Mund und Nase vermutlich fast gänzlich von der Luftzufuhr abgeschnitten; gleichwohl, sie ist rücksichtlos, reitet sein erhitztes Gesicht mit schierer Gewalt und fantasiert dabei, dass er erstickt, während sie ihren Klimax erreicht. Der Gedanke daran und ihr Rachedurst wirken wie ein Aphrodisiakum, und jagen ihr eine wohlige Gänsehaut über die Knochen.

Könnte sie ihn auf diese Weise töten? Wäre das nicht fabelhaft? Oh, dann würde sie die ewige Verdammnis endgültig verdienen. 

Seine Bewegungen geraten ins Stottern, sie stolpern und als sie - völlig selbstvergessen in ihren Gedanken - zu ihm hinuntersieht, starrt sie in ein vor Lust halbgeschlossenes Augenpaar, das wie ein dämonisches Spiegelbild zurückstarrt. Wie hypnotisiert fällt ihr Geist in diese Pupillen, um die sich ein flammender Irisring bildet und bei jedem Pulsieren heller strahlt. Ihr Atem stockt. Er ist-

'Bildhübsch.'

Perfekt, da wo er ist. So exstatisch sieht er aus, er verliert sich gerade selbst. Er ist so unverfroren leidenschaftlich in seinem Verlangen, dass es ihr fast den Atem verschlägt. Ein Portrait, das sie sich für später merken will.

Er trifft immer wieder den perfekten Punkt, ihr Zentrum aus Haut und Nerven, dass in ihr nun eine Woge funkelnder Kettenblitze aufsteigt, durch ihre Glieder fährt. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Drang, ihm zu entkommen, und dem Wunsch, tiefer in seine Berührung zu sinken. Sein warmer Muskel drängt und schlägt, in jedem Puls ein stummer Befehl an sie, es durchzustehen. Sein Blick, voller fordernder Glut, dringt in sie hinein, ähnlich wie seine Finger in ihre errötete Haut; da buckelt er unter ihr, seine Lider flattern und für mehrere Sekunden heften sich Mund und Hände so fest an sie, dass sich seine Zähne und Nägel schmerzhaft in ihr Fleisch bohren. Raphaels Brustkorb erzittert und aus voller Brust gibt er ein langes, atemloses Stöhnen von sich. Ein Blick über ihre Schulter bestätigt -er kommt. Raphaels Glied spuckt seinen Höhepunkt aus und besudelt seine Brust; ein einzelner dicker, weißer Tropfen; es zuckt nach, verzweifelt und dunkel, während Raphaels Lungen ein hohes, erledigtes Keuchen singen. Es entfacht ein noch größeres Feuer in ihr und sie reitet auf seiner momentan erschlafften Zunge weiter.

"Noch- nicht- fertig!" 

Er schnauft schwer und kommt, nach einem scharfen Atemzug, ihrem Wunsch nach, züngelt tief in sie hinein, bis Tav an seinen Haarwurzeln zerrt. Sie wird ihm sicher einige ausreißen. 

"Oh, so gut. Du machst es perfekt so. Hör nicht auf," brabbelt sie. Er summt, was vage nach "Lauter!" klingt, aber sie könnte sich irren.

Als sie nicht gehorcht, gleitet eine Hand hinter Tavs Rundung und zwischen ihre Beine, um sie zu benetzen. Dann streift er zwischen ihre Pofalte und - oh. Es ist nur eine Andeutung, das Kreisen eines feuchten Knöchels, aber er drückt die andere Hand gegen ihre Pobacke und dann einen Finger hinein, an diesen geheimen Nervenstrang, der ihr bislang unbekannt gewesen ist, und damit hat Raphael sie besiegt.

Ihr Unterleib zieht sich wie von selbst zusammen. Eine Welle, die auf sie zugewalzt kommt, heiß und prickelnd. Wenige Sekunden kommt sie seinem Befehl endlich nach und schlittert in einen Schrei, der in einem Krächzen endet. Sie fällt auf ihre Hände, zitternd. Der Höhepunkt hat sie unerwartet und intensiv erwischt. So anders als die beiden Male mit Kar'niss. Sie spürt den Orgasmus bis in die Beine.

'Hui, alle Achtung,' denkt sie, 'und einen Kelch feinsten Mazticanischen an wen auch immer man seinen Lehrer nennen darf.'

Es vergehen mehrere Atemzüge, bis Tav merkt, dass er sie mit seinen Händen abstützt. Seine Daumen streicheln über ihre immer noch verhüllten Rippen. Sie kann die die kleine Bewegung trotzdem fühlen. Tav rollt sich sofort von ihm ab, und er lässt sie ohne Widerrede los. Im Zimmer ist es dunkler geworden, das Feuer im Kamin fast niedergebrannt. Doch sie sieht immer noch den nassen Film auf seinem scharfen Profil. 

Als Tav aufsteht, will sie den Teufel keines Blickes mehr würdigen. Und es ist alles in Ordnung, denn er fühlt sich auf dem Boden sichtlich wohl, hat ein Bein angewinkelt sowie seinen Arm unter den Kopf geschoben und wischt sich mit dem Handrücken jetzt den Mund ab. Sie muss kein Gespräch mit ihm führen, kann ihn allein lassen. 
Tav verlässt das Kaminzimmer und verschwindet hinter dem Paravent, dort, wo Kelle und Eimer bereitstehen. Sie entkleidet sich, reinigt Hals und Dekolletee sowie die Stelle zwischen ihren Beinen; wäscht ihn von sich ab, als sei er Dreck und Schweiß eines harten Arbeitstages. Am Ende bleibt nur noch der Phantomschmerz seiner Hände und das dumpfe Pochen in ihrem Unterbauch. Sie nimmt etwas Heilungsbalm, nur einen Fingerhut. Sie hat diese Art Trank lang nicht mehr gebraucht und dosiert ihn lieber vorsichtig. Es ist genug, um das Unbehagen zu lösen.

Sie kehrt ins Esszimmer zurück und natürlich ist niemand mehr da, also lässt sie etwas frische Luft herein, räumt das Essen weg und stellt ihre Liege neben dem Kamin auf. Es scheint, als sei er nie hier gewesen, nur ein böser Drogentraum. Doch ihr Blick weilt einen Moment lang auf der Stelle, wo er vor ihr gekniet hat. Sie glaubt einen Hauch von Rosen und Schwefel zu riechen. Sie rückt den Tisch zurück in die Mitte des Raums und geht dann, ohne Raphael ein einziges Mal zu sehen, zu Bett. Aber es ist OK so. Sie hat sich exorziert, der Dämon ihrer Vergangenheit ist vertrieben, zumindest für den Moment. Keine Reue. Kein Schuldgefühl.

 

Chapter 12: 12 Sündenfall

Summary:

Das eine Mal, das nicht nur ein einziges Mal war.

Notes:

1) Inspiration für dieses Kapitel:
"Vivid, beautiful hallucinations flashed through his mind: He would flog her to death with a rubber truncheon, he would tie her naked to a stake and shoot her full of arrows like Saint Sebastian. He would ravish her and cut her throat at the moment of climax. Better than before more over, he realized why it was that he hated her. He hated her because she was young and pretty and sexless, because he wanted go to bed with her and would never do so."
- 1984 by Georg Orwell
2) Musik: Kristen Barry - Ordinary Life

Chapter Text

Avernus, Haus von Hope, 1486 DR. Es war einer dieser Tage, an denen nichts Absonderliches geschah außer der Abscheulichkeit, zu der er sich nach getaner Arbeit hinreißen ließ. Raphael nannte es selbstironisch die Tage Wahren Verbrechens, wenn er sich in sein Büro hockte und Verträge bearbeitete, dabei ein paar Gläser Wein trank und sich voll und ganz dem trockenen Schreiben hingab, und erst viele Stunden später das Zimmer verließ, um in die Folterkeller hinabzusteigen. Dort testete er neue Gerätschaften, quälte ein paar Seelen, über deren Verträge er mit Genuss nochmals drüber gegangen war, und gab sich nur dem hin, was ihm Spaß machte. Der Blutkrieg spielte an diesen Tagen eine untergeordnete Rolle: Intrigen spinnen und Schlachten schmieden standen nicht auf dem Menü. Doch mit einer Sache endete ein Tag des Wahren Verbrechens stets und mit Verlass, und das war mit dem Sündenfall. 

Auch an diesem Nicht-Abend (in Avernus herrscht ewiges Dämmerlicht) betrat Raphael das Boudoir, entledigte sich seiner Kleidung und ging eine Runde Schwimmen im Pool. Er wusch sich mit Schwamm und Striegelbürste, bis keine Pore mehr verstopft und kein Krümel Fremdes mehr an ihm haftete. Dann entstieg er dem Wasser als Teufel, seine Flügel dabei eindrucksvoll aufgespannt, und trat an das große Bett. 

"Mh, so sauber," säuselte Haarlep hinter ihm und schnupperte an ihm, "ich kann es kaum erwarten, das zu ändern."

Sogleich begann der Inkubus ihn mit sanften Fingern zu streicheln und Raphael ließ es für einen Moment zu, während er auf das Bild vor sich starrte. Er machte aber zugleich keinerlei Anstalten, sich in die Liebkosungen zu lehnen oder auch nur eine Reaktion des Wohlgefallens - und sei es ein kleines Seufzen - zu zeigen.
Wenn Raphael sich distanziert verhielt, wurde Haarlep für gewöhnlich umso direkter. Nur wenige Sekunden später waren seine Klauen bereits an der Rübe seines Teufelsschwanzes und massierten sie. Er wusste, dass sein Herr es liebte. Aber auch das errang kein befriedigendes Resultat, eher so ein kurzes "Mmpf" als ein unzüchtiges "Aahh". 

"Gebieter," hauchte er dem Teufel ins Ohr, "Ihr seid heute so unnahbar. Ist das ein Rollenspiel? Muss ich Euch am Ende verführen, hmm?"

Raphael ignorierte die Frage. "Haarlep," sagte er mit einem monierenden Unterton und musterte die tote Frau vor sich, "das ist nicht, wonach ich verlangt habe."

"Niiicht?"

Seine Fingernägel streichelten sein nacktes Abdomen hinab und fuhren in das weiche, noch feuchte Schamhaar hinein.

"Nein."

"Oh, aber ist ihre Haut nicht sonnengeküsst?"

"Das ist sie."

"Und ihr Haar nicht rabenschwarz?"

"Das ist es."

"Und ihr Mund nicht rosenrot?"

"Das ist er."

Haarlep kicherte triumphal.

"Aber eines hast du vergessen, mein Lieber," korrigierte ihn sein Meister, "die Augen."

"Die Augen?"

"Sie sind blau." 

"Aha," erwiderte der Inkubus mit einem desinteressiert flüchtigen Blick auf die leblose Gestalt.

"Sie haben die falsche Farbe, Haarlep."

"Ah, mein Gebieter, Eure Untertanen bringen das, was sie auftreiben können. Gefällt sie Euch nicht? Dann holen wir eine Menschenfrau aus den Kerkern, sicherlich gibt es dort welche, die die richtigen Augen haben."

"Ich bette keinen Menschen, wie du weißt."

"Ich könnte sie für Euch präparieren, das Menschliche entfernen; Ihr wisst schon: die Atmung."

Jetzt knurrte Raphael und Haarlep zog verstummend seine Hände zurück. Mit einem Wink seiner Teufelshand war die Iris in den blinden Augen verdunkelt und er atmete durch.

"Uh, wozu überhaupt der ganze Aufwand," seufzte Haarlep.

Er scharwenzelte mit peitschendem Schwanz an ihm vorbei und zog die Tote unterm Kiefer über die Bettkante, sodass ihr Kopf leicht herabhing.

"Voilà. Das Abendmahl ist angerichtet," sprach er mit einem einladenden wenngleich scharfen Lächeln und hakte die krallenbewehrten Daumen in seinen nietenbewehrten Lederharness unter.

Noch während der Höllenprinz die eigene Halberektion in Stellung und Steifheit pumpte und sie mit einem konzentrierten Glanz in den Augen an die Nase der Frau führte, ließ sich sein Diener zu einer Randbemerkung hinreißen: "Ihr könntet natürlich auch einfach das Original hierherbringen. Ich weiß aus erster Hand, dass sie Eurer Gestalt nicht abgeneigt wäre."

"Du kennst meine Antwort: Niemals Sterbliche. Niemals Menschen. Das ist unter meiner Würde."

"Huh. Stattdessen verlustieren wir uns an den Toten," seufzte der rote Diener, aber Raphael ließ den Seitenhieb unkommentiert.

Die Augen des Leichnams blickten leblos zu ihm hinauf. In ihnen war etwas zerbrochen und daran konnte er sich nicht gewöhnen. Und natürlich war da noch die Leichenblässe und die Spuren der Gewalt, welche trotz der Verschleierungszauber wieder durchzuschimmern begannen.

Er legte eine Klaue an die fremde Wange, hielt den Mund mit seinem Daumen auf und begann sich von ihm einverleiben zu lassen. Wie immer ignorierte er den Verwesungsgeruch, der aus der Mundöffnung aufstieg.

Beim ersten Mal hatte er noch versucht sich vorzustellen, wie es mit der echten Weberin sein würde, und war durch das widerlich süßliche Odeur abgeschreckt gewesen. Nun aber brauchte er ihn, den Gestank und die Leblosigkeit und, allem voran, das gebrochene Starren in dem Leichengesicht. Es war, als erinnerte es ihn daran, dass er vor ihr sicher war. Jede Tote bestätigte ihm aufs Neue, dass er nie und nimmer Tav haben sollte. Es war eine peinliche Fantasie, für deren Abwegigkeit der Teufel dankbar war. Aber natürlich besaß er trotzdem noch körperliche Bedürfnisse und einer davon war in ihr zu kommen und ihre Innereien mit allem, was er zu geben hatte, in Weiß zu tauchen. Das allerdings ließ sich nicht allein bewältigen.

"Worauf wartest du?"

Sie markieren. Sich erlösen.

Jetzt.

"Ja, ja, du meine Güte," hörte er den Inkubus zwischen dem Geräusch von nassem, schlickartigem Reiben, "heute so ernst bei der Sache."

Raphael spürte seine heißen Hände an seiner Wirbelsäule und, wie er ihn vornüberbeugte. Dann spreizte er ihn und ein langer krallenbewerter Finger wurmte sich seinen Weg zwischen Raphaels' Pobacken. Ein willkommenes Kratzen. Raphael lockerte seinen Schließmuskel mit reiner Willenskraft.

"Fleischliche Freuden sollten eigentlich genau das sein: eine Freude," murrte der Inkubus weiter, während er seinen Meister auf seine Erektion vorbereitete, erst mit einem, dann mit zwei Fingern, dann mit drei, "stattdessen quälen wir uns immerzu mit diesen Puppen."

"Still jetzt," raunte Raphael und presste sein Glied bis zum Anschlag in den toten Rachen. Er begann tief zu pumpen, genoss das trockene Gefühl der vermodernden Kehle.

Als Haarlep die Finger mit seinem Teufelsglied ersetzte, drückte der Teufel sich mit ganzem Gewicht gegen das tote Gesicht. Bald schon war eine gute Länge in ihm und sein Diener begann ihn langsam von hinten zu nehmen. Wie immer mit den obszönsten Seufzern und kleinen Lachern, die der Inkubus so ausgesprochen gut beherrschte, dass jedes noch so feindselige Wesen in den Neun Höllen fügsam geworden wäre. Mit jedem Stoß ging er ein klein wenig tiefer und küsste er Raphael an den Schulterblättern wie ein liebevoller Partner. Raphael drückte sich am Bett ab und ließ sich in den Mund jener Frau stoßen, die seiner sterblichen Auserwählten in Wirklichkeit kein bisschen ähnlich sah.

Auch jetzt sorgten die ersten Minuten, in denen er von hinten penetriert wurde, für eine Atemlosigkeit, so als nahm der Inkubus seinen Lungen jeden Platz zum Luftpumpen. Raphael starrte auf die Kehle unter ihm und konzentrierte sich auf die verschiedenen Kräfte, die auf ihn einwirkten. Wie immer reichte es auch dieses Mal nicht, also umklammerte er die Gurgel der Toten und drückte machtvoll zu. Für gewöhnlich reichte das, um ihn zum Abschluss zu bringen. Dieses Mal dauerte es länger und brauchte es mehr Anleitung an Haarlep, um zu kommen. Heute war es eine besondere Quälerei und der Teufel meisterte sie mit cum laude

Sobald er ihr alles gegeben hatte, stieß Raphael sich ab und floh zum Wasserbecken, während sein Diener leise fluchend auf ihr Gesicht ejakulierte. Nur wenig später kamen zwei Diener herein und schafften die Leiche durch einen Geheimeingang fort und dann, durch einen anderen Eingang, kamen zwei weitere Diener und bezogen das Bett neu. Manchmal durfte sich der Inkubus in den Pool zu seinem Herrn gesellen und ihm die Prostata melken, während er ihm versaute Dinge ins Ohr flüsterte, die nichts mit dem eben Geschehenen zu tun haben durften. Haarlep hatte es einmal gewagt und war danach an den Eiern aufgehängt worden.
Meistens aber, wie auch an diesem Abend, saß Raphael allein am Beckenrand und starrte auf die Wasseroberfläche. Der Tag - ruiniert.

Da kratzte plötzlich etwas am Rande seines Bewusstseins: Ein Warlock brachte ihm Neuigkeiten.

"Herr, der handgefertigte Webstuhl wurde angeliefert," sagte die Elfe, die in seinem Boudoir erschien und eilig duckmäuserte.

"Ist er so prächtig, wie ich ihn wollte?"

"Das ist er."

"Hat er all die magischen Extras, die ich angefordert habe?"

"Die hat er."

"Wird er noch den größten Webermeister erfreuen?"

"Nur die eine, mein Herr. Wie befohlen."

Raphaels Seufzer endete in einem tiefen Lachen. Ah, nicht alles war verloren; die Hoffnung währte noch in seinem Hause. Ganz gleich wie oft er sie zu töten versuchte.

Chapter 13: 13 Sanft verblassen die Geschichten

Summary:

Ein Rückfall am Morgen bringt nichts als Sorgen, und ein freundliches Wort vertreibts sofort.
Doch zur Mittagsstund tut der Teufel kund: "Des Glückes Hort ist nur geborgt."

Notes:

Hinweise:
1) Bartholomeus/Barth: Charakter aus Das Netz Teil I. Tav und er sind langjährige Freunde und waren zusammen auf dem Nautiloiden.

2) Musik:
Bersarin Quartett - Sanft verblassen die Geschichten
Ottorino Respighi - II. La colomba (Gli uccelli, P. 154)

Chapter Text

Der Blick in den Spiegel heute Morgen verlief gemischt. Während sie sich nach Spuren der Verwüstung Leidenschaft absuchte, glitt ihr Blick prüfend über den Allgemeinzustand ihrer Statur. Warum auch immer. Die Sanduhrenfigur mit den, vermutlich passablen Brüsten (obwohl Cousine Selena die eindeutig runderen hat), den unpraktisch weiten Weibshüften (und dem wohl riesigen Arsch, wenn sie nach dem abendlichen Gepfeife auf der Straße geht) und ihre angeblich schwammigen Händleroberschenkel - Raphaels Kommentar wird für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt sein. Nix Ungwöhnliches zu sehen, alles wie immer. Bloß Hals und Skalp waren deutlich in Rot und Blau gesprenkelt. Sie sah wie nach einem Bergsturz aus, bei dem sie auf dem Hinterkopf gelandet war. Der Schluck Heiltrank hatte rein gar nichts bewirkt. Auch der dumpf brennende Schmerz zwischen ihren Beinen war noch da - es fühlte sich an als sei sie noch vor ihrem Fall zwanzig Meilen den gesamten Berg hochgaloppiert - und zwar ohne Sattel. Sie war kurz davor ein ganzes Fläschchen zu kippen, und stoppte nur im allerletzten Augenblick, das Für und Wider im Kopf überschlagend. So viele Gründe sprechen für die Heilung seiner Spuren - und so viele dagegen. Schließlich entschied sie sich dagegen, nicht zuletzt weil sie ein paar ihrer Narben mag und sie nicht versehentlich wegtrinken wollte. Sie band sich ein Tuch um den Hals und ließ die Haare offen.

Sie überkam jäh ein Gefühl, das sich zuerst nicht definieren wollte - sie wusste nur, dass etwas nicht stimmte. Ihr Magen wurde ganz leicht und zog sich zugleich zusammen und alles darin (was nicht viel war) kroch ihre Speiseröhre hinauf. Tav kippte vornüber und erbrach sich. In all ihrer schweißgetriebenen Nacktheit hing sie über dem Rand des Waschzubers und ließ die Magenflüssigkeit die Wand hinablaufen. Sie konnte nichts tun als sich an den Holzrand zu klammern und auszuharren, bis nicht jeder Atemzug die Übelkeit erneut entfachte und das ätzende Brennen im Brustkorb endlich abebbte. Sie wischte sich mit dem Handrücken den bitteren Film von den Lippen, und als der Geruch, der vom Zuber aufstieg, unerträglich wurde, ließ sie sich sacht zu Boden gleiten, die Wanne im Rücken. Die Nackenschmerzen meldeten sich wieder zu Wort und Tav dachte unweigerlich an all das, was sie letzte Nacht überrollt hatte. Die heimlich langgehegte Anziehung, von ihm misshandelt. Daraufhin ergriff sie erneut der Würgreiz und sie beschloss nicht mehr zu denken.
Es dauerte, bis sie wieder aufstand. Den Göttern sei Dank, dass der Teufel an diesem Morgen schon aus dem Haus war. 

 

Baldur's Gate hat sich verändert. Das ist nicht verwunderlich, denn nach der letzten großen Schlacht gegen die Gedankenschinder musste Vieles wiederaufgebaut werden und der Wiederaufbau hat die Straßenkarte notgedrungen neu geschrieben. Tav kommt es auch so vor, als seien mehr Ordnungswächter unterwegs - immer zu zweit - und der Schatten des Verbrechens länger geworden. Seit Enver Gortash's Tod klafft ein Machtvakuum in Baldur's Gate; trotz Großherzog Ulder Ravengards Einfluss, der für drei relativ friedliche Jahre gesorgt hat, rumort es in Baldur's Gates dunklen Ecken. Unkoschere Kräfte versuchen in diesem einzigen großen Brennpunkt von einer Stadt Fuß zu fassen, aufzusteigen. Der Ruf nach einem Nachfolger wird lauter, und es gibt nicht wenige, die gern Ulders Sohn, namentlich Wyll Ravengard, auf dem Thron sähen. Die Heldentaten der "Klinge der Schwertküste", wie Wyll sich einst nannte, sind unvergessen geblieben; hinzu kommen seine engen Beziehungen zu den Harfnern, einer der mächtigsten Interessensgruppen im Gate. In der Tat ist der Jungherzog dem Ruf Gortash auf den Thron nachzuvolgen nicht abgeneigt, aber es bleiben einige Fragezeichen. Besonders seine dunkle Vergangenheit als Mizoras Warlock wird gern von Wylls Gegnern neu aufgewärmt, wenn die politische Lage ohnehin schon köchelt.

Jetzt steht sie vor seiner "Haustür" (sofern sich die wuchtigen Tore von Wyrm's Rock als solche bezeichnen lassen) und innerhalb einer halben Stunde, in der er sich Zeit für sie nehmen kann, überschüttet ein sehr überraschter Wyll die Frau mit einem Konglomerat an Emotionen, die zwischen Freude, Aufregung, Nostalgie und politischem Kalkül wechseln. Im ersten Augenblick überkommt es ihn ganz und gar und er drückt sie an seine Brust.

"Tav!"

Er muss nur ihren Namen sagen und schon ist sie zurück am Lagerfeuer, wo sie einst gemeinsam saßen und lachten; es ist als könnte sie Jaheira leise über Scratchs Knoten im Fell fluchen hören, während Barth vom Schabau beschwipst rülpst. Über die anzüglichen Lagerfeuergeschichten des Schurken mussten sie am Ende kichern, bis auf Wyll, natürlich, weil der Monsterjäger zu sehr Edelknabe war. Es war einfach typisch Wyll - der wackere Warlock mit dem treuen Hundeblick (ein vergleichsweise milder Titel für den Ravengard - Tav war in Barths Geschichten als "Wanderndes Kompendium dummer Ideen" wesentlich schlechter weggekommen).

Sie schluckt seinen Namen und die plötzlich hervorzubrechen drohende Emotion hinunter und klopft ihrem alten Kumpanen wortlos die Schulter.

"Meine liebste, kühnste, unsäglich vermisste Freundin!" Wyll lacht so laut auf, dass sich einige Gesichter in der steinernen Eingangshalle zu ihnen umdrehen. Mit einem Kopfschütteln lässt er sie los und begutachtet sie. "Wie lang ists her? Zwei Jahre? Drei? Ach, zu lang!"

Sie strahlt ihn einfach nur glückbeseelt an; und weil sie nichts anderes tut (so sprachlos hat er sie mit seiner Freude gemacht), tätschelt er ihre Wange mit einem wissenden Augenzwinkern.  

Es ist ein wenig ironisch, dass ausgerechnet er es tut. Früher ist sie diejenige gewesen, die ihn so tröstete - mit einem geschwisterlich saftigen Patscher auf Rücken oder Nacken, um den damals noch glücklosen Warlock aus der Depression zu watschen. Wenige Minuten später und sie spazieren hoch oben auf der Befestigungsanlage von Wyrm's Rock und reden und genießen die spätmorgendliche Sonne, und um sie herum verbeugt sich die Dienerschaft. Wyll grinst sie an. So wendet sich das Blatt im Leben.  

So hoch über dem Gate weht der Wind mit knackig kalter Schärfe. Doch es ist immerhin noch ein paar Grad wärmer als in den grimmigen Hallen, wo selbst das stärkste Feuer die Knochen nicht wärmen kann. Aus irgendeinem Grund ist Wyrm's Rock bis zum heutigen Tag ein lebensfeindliches Ungetüm für Tav geblieben, so als sei die Trutzburg für die Maschinen und nicht für die Lebenden gemacht und sie, Tav, habe noch die kollektive Erinnerung alten Horrors dieses Orts im Blut. Dass Gortashs Stahlwache der Vergangenheit angehört, macht den wuchtigen Bau, der so prekär auf diesem Felsen sitzt, nicht einladender; es wirkt eher, als sei der wahre Herr vorübergehend außer Haus und die Lebenden lediglich die Mäuse, die auf zu großen Tischen tanzen.

Sie bleiben an einer Balustrade stehen und blicken auf das urbane Panorama hinab. Außerhalb liegt der Wald in allen feurigen Schattierungen, die der Herbst zu bieten hat und im Herzen dieses Gemäldes: Baldur's Gate, fast wieder zu alter Größe gediehen. Die Zerstörung der letzten großen Schlacht gleicht nur noch punktuellen Pockennarben, die vom urbanen "Krebsgeschwür" wie Raphael die Stadt einmal zu nennen pflegte, schon bald überwachsen werden würden. Ameisen ähnlich krabbelt die gesichtslose Menge durch die Straßen (ein Seelenbankett für den Teufel). Nicht weit entfernt liegt der Chionthar, eine riesige, stahlgraue Schlange vor dem Hafen der Stadt. Für den Hauch einer Sekunde gleiten ihre Augen wie magisch angezogen zu dem Pier, an dem Kar'niss gestorben ist, und suchen ihn ab. Tav schluckt und lässt die Augen dann zu ihrem alten Kumpanen wandern. 

Drei Jahre, seitdem sie sich zuletzt sahen, und er hat sich verändert - nur zum Besten, freilich. Wyll sieht gereift aus, hat die modischen Haarflechten gegen eine kurze Matte getauscht. Aber auch die nun edlere Garderobe füllt er aus, die Schultern fester, der Nacken breiter - insgesamt sieht er aus, als wäre er im Wohlstand angekommen und müsse nur noch für die eigene Fitness trainieren. Und doch, eines ist gleich geblieben, und das ist der stete Blick von Besorgnis um das höhere Wohl. Er sieht auf seine Stadt, und Tav weiß, dass er hierhergehört. Auf niemanden hat das Sprichwort "Adel verpflichtet" mehr gepasst als auf Wyll Ravengard. Er summiert ihr die wichtigsten Ereignisse der letzten paar Jahre auf und Tav saugt jedes seiner Worte auf.

Er erzählt ihr, was sie schon aus der Zeitung kennt, nur mit weniger skandalösem Schmackes, den Baldur's Mouth gern einsetzt. Er wiederholt aber auch die Geschichten, in denen sie selbst Teil des Plots gewesen ist: die mühselige Beseitigung des Nesserhirnkadavers, etwa, oder die für kurze Zeit blühende Flusspiraterie, die ihren Kreis um den Mythos der "verschollenen Krone von Karsus" zog - unabhängig davon, dass Wyll selbst verkündet hatte, dass die Krone längst aus dem Fluss gefischt und in Gewahrsam genommen worden war. Tja, Glücksritter und Opportunisten sind gern immun gegen die Wahrheit. Vor einem Jahr wären aufgrund der Piraten keine solch großen Prachtschiffe wie heute eingelaufen. Vor Baldur's Gate liegt nun eine halbe Flotte auf Reede. 

"Nun, zufällig...," hebt er an, als sie ihn auf die Masse der Schiffe anspricht, "ergibt es sich, dass dies die Schiffe von hochgeschätzten Gästen der Freistadt ist. Meine Liebe, ich möchte dich zu nichts drängen, aber ich hoffe doch, dass du noch ein Weilchen länger in Baldur's Gate bist. Mein Vater hält in genau einer Woche ein kleines Fest zu seinem achzigsten Geburtstag, zu welchem diese Gäste und viele mehr zugereist sind. Die halbe Zentral- und südliche Schwertküste wird anwesend sein, wenn die gesamte Stadt feiert. Welch Ehre es mir wäre, die Heldin von Baldur's Gate ankündigen zu dürfen... Es wäre das Spektakel des Jahres."

So so, ein kleines Fest mit halb West-Faerûn anwesend. Nur komisch, dass sie nie eine Einladung erhalten hat. "Bistn echter Politiker geworden, was? Und spinnst die nächste Masche in dein Netz," brummt sie mit einem vergebenden Augenzwinkern.

Er verneint es nicht einmal, sondern hebt zu einer weiteren Offerte, die sie offensichtlich überzeugen soll. "Jaheira wird da sein, wohl in Begleitung eines Freundes, wie sie schrieb. Stell dir nur das Wiedersehen vor: die Gefährten wiedervereint - unter Sternen und Feuerwerk." 

Die alte Harfnerin geistert heute nicht zum ersten Mal durch ihre Gedanken. Als Tav heute Morgen ihr Haus in der Unterstadt passierte, war es sofort ersichtlich, dass die Alte und ihre Kinder nicht mehr dort lebten. All die Pflanzen auf der Terrasse - verschwunden, die Fenster - verbrettert, und hinter der Tür fremde, gnomische Stimmen. Die chaotische Gastfreundlichkeit der Harfner-Familie - fort. Jaheira hatte Tav nichts von einem Umzug erzählt, aber, zugegeben, den letzten Brief schrieben sie einander vor einigen Jahreszeiten. Ihr Herz schwillt sehnsüchtig an, als sie sich vorstellt, all ihre Kampfgefährten wieder zu sehen - und sie vermutet, dass Minsc, die alte Paddelhand, Jaheiras Extrabegleitung ist. Wenn da nur nicht der kleine Stich des Vergessenwordenseins wäre ... Und plötzlich fällt es ihr unsäglich schwer, ihn weiter anzusehen.

"Ich bestehe darauf, dass du kommst, Tav. Ohne dich drängen zu wollen, versteht sich. Aber ich sage nur eins: Musik, Tanz, Wein in endlosen Strömen und skandalöser Adelstratsch." Er grinst verschwörerisch. Ehrlich gesagt, ist sie nie die große Klatschbase gewesen; dafür hatten sie ihren Kumpel Barth an Bord. Und Barth ist seiner eigenen Wege gegangen.

Sie lächelt mühsam zurück und senkt den Blick auf seine Schuhe. Teures Leder, bemerkt sie erst geistesabwesend, Schaft und Stulpen aufwendig punziert. Und dann, für einen kurzen Moment, muss sie genauer hinschauen.

Er hat sein Familienwappen einstanzen lassen. Du liebe Güte. Ihre Treter sehen im direkten Vergleich aus wie die verlotterte, hässliche Stiefschwester aus einem klassischen Märchen. 

"Ich werde es versuchen," sagt sie mit etwas Zögern, "versprechen kann ich nichts. Ich bin ... auf Geschäftsreise und der Terminkalender ist schon ziemlich voll."

Sie hat bereits zu viel verraten und ihre innere, äußerst fragile Balance von der Tatsache, dass sie nie eine formelle Invitation erhalten hat, ins Wanken geraten. Lebt sie derart abgekapselt, dass man nicht mehr an sie denkt?

Wyll gehört eigentlich nicht zu denen, die ein feines Näschen für zwischenmenschliche Signale besitzen. Aber vielleicht haben ihn drei Jahre hohe Diplomatie und Ehe etwas gelehrt, denn jetzt entgeht ihm Tavs säuerliche Miene nicht.

"Verstehe. Umso glücklicher bin ich, dass du trotzdem die Zeit gefunden hast mich zu besuchen," sagt er mit mit einer respektvollen Kopfneigung.

Doch als sie ihm wenig mehr als ein höfliches Nicken schenkt, ergreift er sie an der Schulter. Tav sieht auf und merkt, dass er den Stoff ihres alten Gehrocks betastet; er lächelt sachte und in seinem guten Auge meint sie den Glanz der Nostalgie zu sehen.

"Bei den Göttern, dein Geschäft muss dich wahnsinnig auf Trab halten," sagt er schließlich und lässt sie schließlich mit einem Seufzen los, "es muss schwer gewesen sein nach dem ... einen Jahr. Wie gern würde ich dich einmal besuchen kommen, Tav, und sehen, wie du lebst. Wie du in deiner Heimat zur emsigen Geschäftsfrau aufblühst. Auf nun, lass uns nie wieder Fremde sein! Und weil ich, Idiot der ich bin, annahm, du wärst zu beschäftigt für deine Freunde, mache ich hiermit den ersten Schritt und lade dich nicht nur direkt zum Fest ein, sondern verspreche, dich, komme nächstes Frühjahr, in Helm's Hold zu besuchen. Wenn du es denn möchtest."

Sie lächelt und nickt schließlich.

Sie setzen ihren gemächlichen Spaziergang fort und reden über Allerlei. Wyll erzählt, dass seine Tochter kürzlich ihren ersten Zahn bekommen hat, und Tav, dass sie in Mol, mittlerweile voll pubertierend, gelaufen ist, und es ist, als tauschten sie lachend Kinderportraits. Sie schmunzelt immerzu, doch innerlich ist sie hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung, dass sie wieder über Belanglosigkeiten reden, und dem tiefen Schmerz, den sie empfindet, als er das Kind erwähnt. Wyll sieht glücklich aus, aber irgendwie kann sie seine Freude nicht teilen. Was für ein schrecklicher Mensch sie ist, denkt sie.

Ist es ein Fluch oder Segen, als er sich da endlich nach ihrer "Geschäftsreise" erkundigt und durch ihr geräuspertes Ähm und Öhm so argwöhnisch wird, dass er Tav geradeheraus fragt, ob sie in der Patsche stecke? Mit einem innerlichen "Scheiß drauf" sagt sich Tav: EIN SEGEN und zieht, als sie ihm antwortet, das sprichtwörtliche Kaninchen aus dem Hut: den Kambion. Für eine Sekunde oder drei labt sie sich an Wylls schockstarrem Ausdruck. Der jähe Fokus auf ihrem Schicksalsschlag ist wie Wasser für ihr vertrocknetes Ego. Raphael - am Leben?, fragt er. Wie ist das möglich? Hat er sie in seine Machenschaften mit reingezogen?? Tav beobachtet, wie der noble Jungherzog seine Schwerthand flext, ganz offensichtlich einen alten Instinkt ankämpfend (nämlich den des in die Schlachtreitens). Es erfüllt Tav mit einer schuldigen Freude ihn so zu sehen. Barth hat sie verlassen, Jaheira sie vergessen und Kar'niss ist tot - doch auch nach diesen drei Jahren ist immer noch Verlass auf die Treue und Kameradschaft des Ex-Hexenmeisters.  

Leider hat sie wohl vergessen, was Wyll Ravengard auch für ein Moralapostel sein kann. "Tav," wispert er alarmiert, "das ist gefährlich: Du hast dich an einen Teufel gebunden. Einen Teufel. Gerade du solltest doch wissen, was das bedeutet." 

Sie hält die Luft an. Oh nein, hat sie schon wieder was übersehen? Wird Wyll gleich die sprichwörtliche Bombe hochgehen lassen?

Er hebt die Hände vor die Brust, um sie zu Fäusten zu ballen. "Er wird dich zermalmen wie ein Steinriese seine Kieselsteinchen; wird dich verschlingen mit Haut und Haar und Seele."

'Oh, ist das alles?' Sie hat beinahe ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm kaum noch zuhört. Wyll hält ihr nun einen Monolog über die Gefährlichkeit von Teufelspakten, dass er mehr von ihr erwartet hätte und dass sie doch wissen müsste, was er unter Mizora durchgemacht hat. Tav verkneift sich ein Grunzen. Sie weiß all dies sehr genau - Wyll hat nie damit hinterm Berg gehalten. Sie spürt langsam grollenden Unmut gegenüber ihrem Freund aufsteigen, der mit jeder Floskel seiner Enttäuschung vergifteter wird. Vor allem fängt sie an ihre Offenheit zu bereuen. 

Wyll schließt seine Leviten mit dem Wunsch, sie zu unterstützen, wo er nur kann, aber sie müsse sich eben auch helfen lassen (als wäre es IHRE Entscheidung!). Aber Tav weiß ganz genau, dass Wyll sie nicht aus Raphaels Fängen befreien kann. Weder wird er seine Verpflichtungen gegenüber Baldur's Gate fallen lassen, um ihr nach Baator zu folgen. Noch hat er die Kontakt, die mächtig genug wären, um ihren Vertrag zu brechen. Sie will nicht so weit gehen und seine Worte des Supports "leer" nennen, doch seine Hilflosigkeit löst genau dieses Gefühl aus: Leere. Am Ende bietet er ihr an, Raphael umbringen zu lassen. Sie verneint, natürlich. Sie wolle kein Blut vergießen, sagt sie, Raphael sei kein hoffnungsloser Fall. Sicherlich lasse er irgendwie mit sich verhandeln.

Noch im Satz fühlt sie das unangenehme Pochen zwischen ihren Schenkeln, schon verblassend, gleichwohl ihren Satz ad absurdum führend. In Wahrheit kann sie den Gedanken nicht ertragen, ihn noch einmal zu verlieren. Er ist ein Scheusal. Und trotzdem klaffte da nach seinem Tod ein Loch in ihrem Herzen - und zwar sprich- und wortwörtlich, hatte er ihr im Zweikampf doch versucht, das Herz aus der Brust zu reißen und war ziemlich weit damit gekommen.

Nein, es geht ihr nicht nur um die eigene Befreiung. Sie trachtet nach Gerechtigkeit, nach göttlicher Strafe, nach seinem Flehen um Vergebung. Ja, sie will, dass er vor ihr auf die Knie fällt, ohne, dass sie ihn zwingen muss. 

Dieser Gedanke und alles, was zwischen ihnen vorgefallen ist, behält Tav geflissentlich für sich. Das kleine Raphael-Geständnis war genug, um es fast wieder zu bereuen. Und vielleicht spürt Wyll auch ihren emotionalen Rückzug, denn er wirft auf einmal wortlos eine schwere Hand auf ihre Schulter und schneidet eine verkniffene Grimasse, die seltsam apologetisch wirkt. Vielleicht hat er auch selbst gemerkt, dass seine Moralpredigten niemandem helfen. Dann liegen sie sich wieder in den Armen, ein letztes Mal, und Wyll murmelt, dass er den Schweiß und Talg der letzten acht Jahre an ihrem Kragen riechen könne. 

Nach einem kurzen Lachen, verspricht sie ihm ihn auf dem Laufenden zu halten. Wyll wiederum sagt ihr zu sich etwas zu überlegen, um Mol und ihre Bande aus dem zunehmend kriminellen Dunstkreis zu ziehen. Offen gesagt, hat Tav ihn nur deshalb darum gebeten, um Mol aus Raphaels Fängen zu befreien. Ob das gewiefte Tieflingmädchen und ihre Kinderbande Kriminelle bleiben, ist ihr recht einerlei; zumindest möchte sie sich keine Illusionen machen. Denn es ist gut möglich, dass Mol grundsätzlich zu fixiert auf Gewinnmaximierung ist, um sich mit einer Karriere bei der Stadtwache oder in Wylls Agentennetzwerk abzufinden. Doch es ist ein Anfang ihres Unabhängigkeitskrieges mit Raphael.

 


 

Eine Stunde später ist sie zurück in der Unterstadt und lässt sich von der Menge mittreiben. Die Stimmung des Unvorhersehbaren, die dem Gate anhaftet, nimmt sie fast augenblicklich gefangen, und sie genießt es für eine Weile. Auf der Hauptstraße, die von Wyrm's Rock nach Süden führt, wimmelt es von Gestalten, wenn auch weniger reich gekleidet, als sie es in Erinnerung hatte; heiseres Gelächter hallt aus den Tavernen wider, das Klirren billiger Blechwaren, die von kindlich jungen Marktleuten an langen Seilen feilgeboten werden. Der Geruch von frisch gebackenem Brot mischt sich mit dem von Urin und vielen ungewaschenen Achselhöhlen. Tav lässt sich kurz an einem Stand, der wasserresistente Überziehstrümpfe für Halbschuhe verkauft, zerstreuen. Erinnert sich daran, dass ihre Schuhe das Helm's Holder Wetter nicht mehr lang mitmachen werden. Eigentlich braucht sie neue Schuhe. Aber solche Überziehdinger sind einfach so viel günstiger als ein Paar gut sitzender Sohlen.

Aus dem Schatten der Hauswand neben ihr löst sich da die vertraute Gestalt Raphaels. Tav, lässt die Stulpe in ihrer Hand fallen und starrt auf sein kantiges Profil, das in den Sonnenschein tritt.

"Raphael," sagt sie unnötiger Weise.

Für einen langen Moment hatte sie ihn tatsächlich vergessen. Er mustert die Ware, die vor ihr auf der Auslage liegt, und besieht sie mit einem zweifelnden Stirnrunzeln.

"Ich glaube nicht, dass das reichen wird."

Jäh stürzen Lärm, Masse und das Potpourri aus Gerüchen auf ihre Sinne ein wie ein erzürnter Schwarm Wespen, überwältigen sie. Was Tav vorhin noch in traute Sicherheit gewiegt hat, wird im Angesicht des Teufels plötzlich zum Störfaktor.

"Wie bitte?" fragt sie mehr aus Affekt durch den Teppich von Reizen.

"Die Tarnfarbe, Liebes," sagt er mit einem weichen, etwas schiefen Lächeln. Seine Hand streift ihre als er das fallengelassene Beinkleid ergreift. "Damit wirst du allerhöchstens in einem Schlammloch punkten. Nicht aber in meiner Gesellschaft."

Dann sein Finger, der über ihren Knöchel streichelt. Tav muss vor seiner Berührung unwillkürlich zurückweichen. Doch es ist nur eine winzige Bewegung, vermutlich nicht mehr als ein Nervenzucken, das ihr größer vorkommt als es in Wirklichkeit war. Er hat es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt (um das nachzuprüfen, müsste sie aufsehen). Tav glotzt auf seine Menschenhand, die sich ihr immer noch hinhält. Ihr Skalp kribbelt, dann ein ferner Phantomschmerz zwischen ihren Schenkeln. Sie muss die Augen von seiner Nicht-Klaue förmlich losreißen und dreht sich ruckartig um. Weg von hier. Sie muss weg.

'Es ist gut so,' sagt sie sich, 'es muss so sein.' Die schlechte Erinnerung. Denn würde sie anders empfinden, wäre mit ihr etwas nicht in Ordnung. Tav drängt vorwärts durch die Menge. 

'Seine Berührung tut weh. Vergiss das nicht. Er bedeutet nur Gewalt und Schmerzen, mehr nicht. Immer dran denken, Mädchen.' 

Sie schiebt durch den dichten Strom von Körpern. Es ist besser so, dass er auch auf dieser Ebene enttäuscht hat. Alles andere hätte diese Beziehung nur kompliziert gemacht. Noch komplizierter ... In gewisser Weise ist Tav erleichtert. 

Auf einmal rempelt sie jemand von hinten an. Dann spürt sie kurz ein Zerren und ihre Hand fährt an die Stelle ihres Gürtels, wo ihr Geldbeutel hängen sollte. Sollte und es nicht mehr tut. Bevor sie erbost herumwirbeln und den Dieb ausmachen kann, ist Raphael an ihrer Seite und schnippt geschwind mit dem Finger. Unter ihrer immer noch am Gürtel weilenden Hand baumelt wieder der Geldbeutel. Verwirrt schaut sie auf das Säckchen in ihren Fingern - genauso prall wie zuvor und ja, durch das Leder spürt sie die harten Münzen. Unweit von wo sie stehen, quiekt plötzlich jemand in der Masse in Panik auf und rennt "Ich brenne! Feuer! Feuer!" schreiend davon, bis die Stimme außer Hörweite ist.

Tav atmet schwer aus. Ihre Blick findet den des Teufels, und das unterdrückte Zucken in seinen Grübchen verrät sein spitzbübisches Vergehen. Raphael lebt nach Quid pro quo. Er bestraft mit Gusto diejenigen, die es verdienen.

Sein durchdringender Blick aber voller Fragezeichen. Erwartet er ihren Dank? Kurz erwägt sie, ihm eine Münze zuzuschnippen - es wäre völlig im Rahmen ihres üblichen Geplänkels. Und doch, der Humor will nicht kommen. Die letzte Nacht hängt wie ein schwerer Vorhang zwischen ihnen und das rege Treiben um sie herum macht jede Form von ernsthafter Konversation unmöglich. Also nickt sie ihm nur zu und setzt sich wieder in Bewegung. Aber natürlich lässt er sie nicht einfach davonziehen. 

"Wie war der Besuch beim Herzog, kleine Maus?" hört sie ihn ein paar Atemzüge später hinter sich und innerlich flucht sie darüber, dass er schon wieder zu viel weiß.

Tavs Blick streift die vielen Leute, die sie passiert, und sie beschließt, dass sie nicht über Wyll reden will.

"Ergiebig."

Raphael holt auf und geht neben ihr her. Augenblicklich macht die entgegenkommende Menge einen größeren Bogen um sie herum, und zwar ausnahmslos. Tav riskiert einen kurzen Blick zu ihm, um zu verstehen, was selbst die bedrohlich aussehende Gang von hochgerüsteten Orckriegern so respektvoll ausweichen lässt; doch sie sieht einfach nur Raphael, den gockelhaften Edelmann. Ist es ein Instinkt, den sie nicht hat? Ehrfurcht? Sie versteht es nicht. Für wahr, sie kennt nur zwei Personen, die ähnlich unbeeindruckt auf den Kambion reagiert haben, und dass sind Barth und Mol. Für einen Moment theoretisiert sie herum, warum das so ist. Barth und Mol haben einiges gemeinsam, ihre Tieflingherkunft, die kriminelle Energie. Nur Tav hat nichts von beidem. 

"Ich habe ihn gebeten, Mol einen ehrenhaften Job zu geben," sagt sie, als er weiter bohrt, "damit sie ein rechtschaffenderes Leben führt, als das, was ihr Arbeitgeber ihr momentan gestattet."

"Du meinst ein Leben, wie du es führst?" Er stößt ein helles, viel zu lautes Lachen aus, das so gar nicht zu ihm passt. Seine Stimmung heute ist nicht greifbar. 

Fast tut er so verklemmt, wie sie sich fühlt.

"Amüsant. Wenn du wirklich so ehrenhaft wärst, würdest du deinen Eigennutz zurückschrauben und dem Mädchen erlauben, seinen eigenen Weg zu finden. Nicht allen Seelen sagt das Schicksal des unbedeutenden Kleinhändlers zu, Tav." 

Sie spürt die Grollfalte auf ihrer Stirn wachsen. "Ach, ich vergaß, du bist ein Wohltäter und förderst lediglich Talente."

"Ich bin viele Dinge, vergessen?" erwidert er mit dieser schmierigen Freundlichkeit, die reine Karikatur wäre, meinte er es nicht vollkommen ernst. "Und, ja, warum nicht die Kohle zum Brillanten pressen, wenn ich die Mittel dazu habe? Du stützt dich schließlich auch auf die Güte deines Mäzens. Sag, wie hat deiner die Neuigkeit über unsere kleine Übereinkunft aufgenommen? Hat er dich für den Mangel an Rechtschaffenheit getadelt?"

Er macht plötzlich eine scharfe Rechtsbiegung und drängt Tav in eine Nebenstraße. Fahrig in seiner Bewegung. Sie vergaß, er ist kein Freund des Chaos.

"Wyll ist nicht mein Mäzen. Und wo zum Teufel gehen wir hin?"

"Er ist in einer wesentlich superioren Position und bot dir erneut seine Hilfe an. Leugne es nicht. Also, wie laut fiel sein Säbelrasseln aus?"

"Wir hatten wenig Zeit zum Reden," lügt sie mit aufgesetzter Ruhe. "Er hat mich auf ein ... kleines Beisammensein nächste Woche eingeladen. Ich würde diese Einladung wahrnehmen, wenn das deine Pläne nicht durchkreuzt."

Als er nicht antwortet, mustert sie ihn rasch von der Seite. Sein Blick ist so undurchdringlich wie eine Mauer, jedes Anzeichen von Heiterkeit ausradiert. Alles in ihr zieht sich bei der Vorstellung zusammen, dass sie nicht in der Lage sein wird, ihren alten Gefährten wiederzusehen. 

Sie kaut ein paar Sekunden auf dem Wort herum, bevor sie es aussprechen kann.

"Bitte." 

Er schenkt ihr nur ein Zucken seines Mundwinkels und schweigt. Er könnte es ihr verwehren, nicht wahr? Und sei es auch in letzter Minute. Nicht nur, weil er ihr letzte Nacht mit Vergeltung gedroht hat - wenngleich der Kontext erotischer Natur gewesen ist; sondern auch weil er kein Interesse daran haben sollte, dass Tav ihr Netzwerk wieder aufbaut. Es würde ihm nur schaden.
Tav ahnt plötzlich, das er sie eventuell zu isolieren versucht. Wenn Sie ihm auf die Schliche kommt, könnte sie ihm gefährlich werden. Sie braucht kein Hintergrundwissen über Teufel, um die Folgen zu verstehen.

"Ich kann deinen Angstschweiß riechen," sagt er da und sie wendet abrupt den Blick ab.

Vielleicht braucht sie langsam eine ernsthafte Strategie. Er sagt, er wird sie nicht lange in Anspruch nehmen; der Vertrag verbietet es. Aber was bedeuten schon fünf - fünfzehn - dreißig Jahre in der Hölle?

Plötzlich spürt sie Raphaels Hand an ihrem Ellbogen und zuckt zusammen. Doch er bleibt lediglich stehen und schenkt ihr ein leeres Lächeln. 

"Wir sind da," sagt er und deutet zur dem Aushängeschild eines Geschäfts, vor dem sie stehen.

Verwirrt blickt sie ihn an. Sie hatte eigentlich vor, in eine Taverne zu gehen und sich nach alten Bekannten aus dem Gate zu erkundigen. Was ist mit Yenna und Alfira passiert, was ist aus dem gutmütigen Barcus geworden ... Aber Raphael hat andere Pläne. Er hält ihr eine der dicken infernalischen Münzen hin, die sie zögerlich annimmt.

"Du wirst dir eine neue Garderobe für verschiedene Anlässe zusammenstellen lassen," sagt er und schenkt ihr kurz einen pointierten Ganzkörperblick, "geize nicht. Der Ladenbesitzer und ich haben eine besondere Vereinbarung getroffen. Gib ihm diese Münze und er wird dir auch sein hochwertigeres Repertoire anbieten. Verlange Garderobe mit der höchsten Kälte- und Hitzeresistenz. Ach, und ich erwarte ebenso salonfähige Bekleidung für diplomatische Anlässe, Tav. Diplomatisch im infernalischen Sinne. Er wird bescheid wissen. Du wirst annehmen, was er dir gibt."

"Was wird das? Eine Reisegarderobe für alle Neun Höllen?" fragt sie etwas verwirrt.

"Du bist ein gescheites Mädchen. Ich kann es kaum erwarten, dir Baators mannigfaltige Klimazonen zu zeigen."

"Weißt du was? Genieß du mal das Abenteuer – ich hab ein Date mit einer Schnapsflasche in der Bar dort drüben."

Auf seinen Lippen nur der Hauch eines Lächelns. "Oh, so gern ich dich nochmals angeheitert sähe, haben wir dafür leider keine Zeit. Wir reisen heute Abend zurück nach Avernus; sei also pünktlich zu Sonnenuntergang im Apartment. Je eher ich das Geschäftliche hinter mich bringe, desto eher bist du nächste Woche zurück."

Tav starrt ihn an. Hat er gerade gesagt, dass sie zum Fest des Großherzogs gehen könne? Na schön, sie wird ihm bis nach Nessus folgen, wenn es sein muss.

Erst da bemerkt sie seinen langen Blick auf ihr. Er ist noch nicht fertig.

"Geh danach zum Giftmischer."

"Für was?"

Oh, werden sie Zaubertränke brauchen? Gifte zum benetzen ihrer Waffen? Unsichtbarkeitselixiere? Wie aufregend, denkt sie und es ist absurd, wie sehr sie die Aussicht auf etwas Aufregung gerade reizt.

"Was soll ich besorgen?" wiederholt sie, da er nicht geantwortet hat.

"Heilung," sagt er schließlich und es klingt ein wenig, als hielte er sie für minderbemittelt.

"Ich habe Heiltränke noch und nöcher. Ist das alles?"

Raphael runzelt die Stirn. "Hm," entfährt es ihm und seine Augen werden schmal, "warum rieche ich dann immer noch ..."

Wie im Reflex wandert sein Blick zu ihrem Haar, nur für einen Moment. Doch statt den Satz zu beenden, richtet er sich räuspernd auf und sieht wohlgezielt über sie hinweg. 

"Sei pünktlich," wiederholt er nur und schnippt sich fort.

Tav blickt durch den funkelnden Dunst, in dem er sich aufgelöst hat, auf den zwielichtig dunklen Eingang des Ladens. Als sie nähertritt, um den teils abgetragenen Namen über der Tür zu entziffern, tritt ihr Fuß gegen etwas Weiches und sofort blickt Tav nach unten. Vor ihr springt etwas träge eine struppige Katze zur Seite, wohl gerade im Begriff des Erbrechens gewesen. Ungeachtet des Stiefels, der sie getroffen hat, buckelt sie mit dem knochigen Rücken und würgt etwas aufs Pflaster. Tav erkennt nicht genau, was es ist, als sie rasch zur Seite ausweicht - aber es sah sehr nach dem unverdauten Schwanz einer Maus aus.

Chapter 14: 14 Spaziergang durch die Erregungslandkarte

Summary:

Armer Raphael, so verwirrt und hormongetrieben. Wo will er nur hin?

Notes:

Hinweise:
1) Eine kleine Referenz auf den HoH-Bossfight in Kapitel "Tock", Teil I von Das Netz:
"Du hast mich bestohlen!" bellt Raphael aus dem Off, "bereite dich darauf vor zermalmt zu werden, elendes Insekt!"
"Du willst MICH zermalmen?" schnappt Tav über ihre Schulter und rollt sich erfolgreich auf die Seite, um sich aufzustemmen, "sieh dich doch mal an, du Idiot! Ich würde dir Beine machen, aber das wäre angesichts deines momentanen Zustands nur zu ironisch." Sie ist schneller auf den Füßen als er und peitscht ihn zurück aufs Glatteis, wo er erneut der Länge nach hinfällt.

2) Der Verkäufer ist 1:1 aus The Princess Bride geklaut haha. Und ein paar weitere Referenzen.

Chapter Text

Er hat mit ihr gelegen. Nach allem ... 

Ihrem Zerwürfnis.

Ihrem Kampf.

Dem Tod des Drider.

 

Als er hört, wie sie die Liege ausklappt, begreift er, dass er nicht bleiben kann. Er kann nicht erst eine Stunde lang Vorspiel mit dieser Frau treiben und dann eine Tür weiter schlafen gehen. Es juckt ihn in den Gliedern, das Karussell in seinem Kopf dreht sich, das Blut ist in Wallung, die Lust, die Wut, die Scham, der Stolz: alles auf höllisch heißer Flamme gekocht, und die Empfindung, dass es überlaufen will, ist selbst wie ein Nervenstrang, der blank liegt, schreiend. Er braucht Sex, Gewalt, einen Krieg, sofort - egal was es ist, solange es die aufgestaute Energie lindert.
'Gewiss, ich bin ein Gentleman der Ordnung', denkt er, während er sich in dieser Nacht auf die wie leer gefegte Straße schnippt und noch einmal zu ihrem Fenster hinaufstiert. Er sieht das Licht des Feuers flackern und stellt sich vor, dass sie sich vor den Kamin gebettet hat. Sorgenfrei wie ein Täubchen.
Doch genauso gewiss ist, dass wer nach einem schlafenden Hund tritt, nicht erwarten darf, dass er nach nur einem Biss genug hat. Baatezu-Biologie funktioniert so nicht. Heute Nacht hat die Frau dort oben eine Kostprobe davon erhalten, was es bedeutet, mit einem Teufel zu sein. Dieser Kerberus scharrt nun schäumend vor Tollwut, und sie hat nicht die geringste Ahnung, wie sehr er nach dem lechzt, was sie wohl zu unterdrücken versuchte. Welches Spiel treibt sie mit ihm? Oder kann es sein, dass sie es selbst nicht weiß?

Er senkt den Blick zur Straße und geht mit der Brücke hinter ihm nach Zerstreuung suchen. Die Luft riecht nach erstem Frost. Diese Welt ist wie ein Wandeln in Watte eingepackt - kein echtes Wetter, keine echten Schmerzen, keine körperlichen Grenzen, nur Müll und Tod, wohin das Auge blickt. Was Wunder, dass die Menschenhaut so zart und weich ist, nicht widerstandsfähiger als die Blüte einer Rose.

Seine Fingerspitzen auf ihrer Haut - der Glanz des Schweißes, der sie golden färbte - und bald schon das Rot, das sich in den Bahnen seiner Klauen sammelte. Raphael sieht sie noch, die Markierungen, mit denen er sie geschmückt hat. Weilt auf diesem gedanklichen Portrait, während er über den Pflasterstein stakst, darauf bedacht den Schnapsnasen aus dem Weg zu gehen, um nicht "versehentlich" jemandem den Wanst aufzuknöpfen. Er wartet allerdings nur darauf von irgendeinem Idioten überfallen zu werden - keine Seltenheit im Gate, denn es gäbe ihm einen validen Grund aus dieser Eiterbeule von einer Stadt, und sei es nur Rivington, ein Schlachthaus zu machen. Auch wenn sich ihm niemand in den Weg stellen wird, denn sein Selbstverkleidungszauber ist furchterregend. Fast ist er verführt dies zu ändern, nur damit es jemand versucht. Kommt schon, einer nur, gebt ihm nur einen Grund. 'Mephisto, wo sind deine TEUFELSVERDAMMTEN Warlocks?' 

Jetzt denkt er schon in Großbuchstaben. Der Puls hämmert so laut, er kann sich selbst kaum hören.

'Geh zurück, such dir einen Drachengeborenen und stoß dir die verfluchten Hörner ab.' Er knautscht den Stoff seines Umhangs. 'Irgendeiner wirds schon tun.' Es ist tausendmal besser als ein Leben im Affekt zu nehmen. 'Du Narr, keine Sterblichen. Niemals, schon vergessen? Nie- mit einer Ausnahme vielleicht. Aber sie will nicht.'

Unglaublich aber wahr: Sie hat ihn abgelehnt. Ihn!

Er hört etwas reißen und hebt die Hand. Ein Stück Innenfutter von seinem Umhang. 

'Aber sie ist doch gekommen, oder nicht?' 

Hinter ihm echot das hysterische Gackern einer Weingeistigen, gefolgt vom erregten Wispern ihres Begleiters. Die hohe, überschwängliche Stimme fährt in Raphaels Knochen und mischt das Mark von Neuem zu einem siedenden Cocktail auf, bis es sich anfühlt, als wolle es durch alle Poren pressen. Mühsam schluckt er die Überproduktion Speichel hinunter, zusammen mit der heißen Erinnerung an ihr heftiges Seufzen, und wirft den Stofffetzen von sich.

In einem Hinterhof findet er schließlich zu dem Ort, der ihm etwas neue Kenntnis verschaffen soll, in den dunkelsten Häuserschatten der Stadt hinter ausgeweidetem Sperrmüll. Einmal durch eine unscheinbare Holztür getreten und dann durch einen unbeleuchteten Flur, der ein paar Stadtstreichern als Rückzugsort dient, erreicht er endlich - endlich! - die Boutique, die um diese Zeit noch geöffnet ist. Präzise ausgedrückt, die NUR um diese Zeit geöffnet ist. Asmodeus oder wem auch immer sei Dank, sind nicht viele Kunden anwesend - nur ein Drow, der um die Ecke lugt, als Raphael hereinkommt, und für seienn Geschmack etwas zu neugierig in seine Richtung stieläugelt, und irgendwo weiter hinten (wenn ihn der Geruch nach billigem Rasierwasser nicht täuscht), ein Menschenmann.

'Seien wir mal ehrlich', denkt der Kambion irritiert, weil seine Säfte immer noch brodeln, und gleitet an dem minderwertigen Gerümpel vorbei, das aus den vernachlässigten Schränken quillt: Haushaltsgegenstände, taxidermische Fratzen, ausgemusterte Waffen und jede Menge belangloser Krempel in Boxen. 'Es gibt keinen andern da draußen, der sanfter gewesen wäre als ich.' Das Mäuschen hat Glück, dass es mit seiner Wenigkeit und nicht etwa mit einem Vollblutteufel gelegen hat. Dieser hätte es inzwei gerissen und anschließend noch seine Heerscharen über die Reste hinwegwalzen lassen. Sie kann froh sein, seine kleine Weberin.

Raphaels Hände zwischen ihren Beinen. Auch dort hätte das Rot fließen können. Stattdessen floss ihr Nektar ... Tav in distillierter Reinform. Und alles für ihn, jeder süße, buttrige Tropfen, eine BLUME in voller Blüte, ihr STEMPEL in zitternder Erwartung, erregter und ÄNGSTLICHER als in JEDEM Szenario, das ER SICH jE  a U s g E M a L T  h A T!!

Er gleitet an dem inquisitiven Drow vorbei und lässt höchst irritiert seinen Zeigefinger zucken. Der Schatten des Mannes verzerrt sich jäh und bläht sich zu einer eigenen Gestalt auf, bis er ihn übertrumpft, mit Krallen und Reißzähnen. Raphael sieht es nicht, aber der Drow kollidiert mit tonlosen Keuchen gegen eines der Regale und stößt dabei Kerzenständer und, dem Krach nach zu beurteilen, den Raphael Schritte später vernimmt, ein, zwei sehr schwere Objekte aus den Regalen.

Es ist nicht zu fassen, das sie ihn von sich stoßen wollte. Richtig die Dornen ausfuhr. Und dann, dann -

Ihr Schmähungen speiender Mund: "Grauenhaft." Er hätte ihn ihr mit ihren eigenen Fäkalien stopfen können, während er sie in seiner wahren Form nahm.

"Grauenhaft."

Sie die wahre Bedeutung dieses Wortes lehren.

Tavs Stiefel auf seiner Brust. Sie hingegen war alles andere als grauenhaft. Ein wenig steif zu Beginn, vielleicht.

Tav in seinem Mund. Er hat vergessen sich zu reinigen. Grundgemeiner, ist das möglich? Ist er völlig von Sinnen? Er erkennt sich kaum wieder. Seit Tagen schon. Früher hätte er nie zugelassen, dass sie ihn berührt, geschweige denn würgt. Er hätte so ein Verhalten nie geduldet!

Und doch hat sie am Ende des Tage sein Gesicht geritten.

All die gemischten Signale, die seine kleine Maus ihm an dem Abend gesendet hatte, die Avancen, die Zweifel, der Ekel, die Verspieltheit, die verpufften in dem Moment, als sie ihn angefasst hatte. Es war alles ihre Schuld.

Er hatte Sex mit Tav.

'Wir haben -' Bei den Neun, er muss etwas unternehmen. Muss schnellstens nach Avernus und sich für eine Weile ins Arbeitszimmer zurückziehen. Und vor allem braucht er einen verfluchten Stuhl.

Raphael hält an einem Bücherregal und liest in dem fahlgelb gedämpften Licht, was die Gebrauchtliteratur herzugeben hat. Er hüllt sich tiefer in seinen Umhgang und vergräbt die Nase im hohen Kragen. Es ist so schändlich dreckig in diesem Etablissment, dass er sich am liebsten mit einer Metallbürste die Luft von der Haut schrubben will. Kaum zu fassen, dass er in wenigen Stunden noch tiefer in die Eingeweide dieser Stadt hinabsteigen muss. Noch mehr moderndes Holz und feuchter Stein und, ja leider, Abwasser und Kanalratten. Baldur's Gate ist schlimmer als der Dschungel des Feywild, wo das Organische nicht lebt, sondern nur schwärt. Irgendwie ist alles ständig am Verrotten, selbst die guten Manieren.
Mit einer gliederschüttelnden Gänsehaut fasst er einen Buchrücken vor sich an und zieht das Werk heraus, die Finger gespitzt. Zu gern würde er sich auf der Stelle in sein Archiv schnippen; doch angesichts der Tatsache, dass er nicht so viele Seelenmünzen konsumieren sollte, wird die Auslese dieses reizenden Nachtkiosk reichen müssen. Der einzig andere Kunde, der einen Gang weiter lungert, hat bald gefunden, was er suchte, und es ist ihm anzusehen, dass es nichts ist, womit er öffentlich hausieren gehen möchte. Raphael erwägt einen Moment lang ihm zu folgen und sich die Krallen an ihm abzuwetzen. Auch wenn es nicht seine Art ist. Er tötet selten aus reinem Vergnügen und nie aus einem Impuls. Stattdessen wendet er den Blick ab und starrt die Bücherwand vor sich nieder. 

 

Die Ausbeute ist am Ende lachhaft, aber ein zureichender Start für das neue Forschungsprojekt, weswegen er hier ist. Er trägt seinen Fund mit der Würde eines Hohepriesters vor zu dem Verkäufer, einem aufgedunsenen Albino hinter einer kleinen Theke. Er strahlt Raphael mit einem fettigen Lächeln an – was umso erstaunlicher ist, da er einem scheinbar drei-Meter-großen Halbtroll ins Gesicht grinst. Raphael zaubert drei, vier Kupfermünzen hervor - schon dieser Preis zu hoch für das "Werk", das sogenannte, in seinen Händen.

"Na, Hallöchen, mit einem Bing und nem Bong und nem Summ-summ-summ!" Die feuchten, akne-umrankten Lippen spreizen sich und Raphael stellt sich vor, wie er sie ihm mit einem Brandeisen ausdrückt. Wie braun und flach sie danach aussähen.

"Aaah, ja, dieses formidable Werklein," lispelt der Verkäufer mit geschwollner Zunge, während er das Magazin entgegennimmt, und Raphaels Blick gleitet kalt zu den zahllosen Götterreliquien, die die Wand hinter dem Mann bestücken, nur damit er dieses Gesicht nicht ansehen muss. Er sieht die Figurine eines Teufels und besinnt sich, dass er noch viel Arbeit zu erledigen hat. Unter anderem muss er dafür sorgen, dass ihr kleiner Raub nicht auf ihn zurückfällt.

Statt einfach die Münzen aufzusammeln, findet er den Atem ihm die Ohren darüber vollzuschwafeln, dass es sich bei der Ausgabe um die originale Edition des Eigenverlags So-und-So aus 1446 handelt, schwer zu kriegen in dem guten Zustand, ja, er habe eine gute Wahl getroffen. Seine Stimme ist weich und irritierend, denn sie beruhigt nicht im Geringsten, sondern erhöht nur das unangenehme Gefühl gerade geistig angetatscht zu werden. Der Mann erinnert Raphael an Haarleps penetrantes Gesäusel, wenn dieser glaubte "Erregung" zu riechen. 

"Übrigens, heute im Sonderangebot: Kauft zusätzlich eines unserer ausgewählten Produkte hinter mir und zahlt nur den halben Preis." Seine Augenbrauen zucken anzüglich, während er dem Teufel einen großen Messinglöffel unter die Nase hält. "Oder wie wäre es mit einer etwas verfluchten Schöpfkelle? Sie rührt Suppe und Existenzangst an!"

"Nur das Heft." Raphaels Geduld ist gleich am Ende.

"Drei Kupfer, bitte – ah, perfekt! Mit dem vierten Kupfer könnte ich sogar noch ein Extralein anbieten –"

"Bloß nicht." 

Er tuts trotzdem. "Wir hätten da frische Ware, die an Euren Interessen anknüpft: 'Die Erregungslandkarte: Interaktive Zo'-"

"Schweig."

Das Licht geht aus. Die plötzliche Finsternis hüllt den Raum in Stille, unterbrochen nur von dem überraschten Japsen des Krämers. Lediglich Raphael bleibt sichtbar, umgeben von einem unheilvollen Leuchten. "Weißt du, was ich an dieser Stadt am meisten verachte?"

Der Idiot stottert: "Äh ... n-nein?"

Raphael lächelt schmerzhaft über die Antwort auf seine rhetorisch gemeinte Frage. "Den Gestank. Jede Ecke riecht nach Verzweiflung, Betrug ... und Kreaturen wie dir."

Mit einem Fingerschnippen entfacht er eine Stichflamme - und die hintere Wand des Ladens fängt Feuer. Nur für eine Sekunde oder zwei - doch sie ist so heiß, dass die gesamte Ware zu Asche zerfällt. Graue Flocken regnen auf den Mann herab.

Ein erstickter Keuchlaut bricht aus seiner Kehle. "W-wartet! Das ist -"

Bevor er weitersprechen kann, lässt Raphael die Hände auf den Tresen niederfahren. Seine Verzauberung fällt ab, und der echte Teufel steht vor ihm: gehörnt und mit scharlachroten Flügeln, die lange, alles verschlingende Schatten werfen. Der Krämer taumelt zurück, seine Unterlippe schlottert, als er unter Raphaels glühendem Blick kauert.

"Vorsicht," knurrt der Kambion, jede Silbe ein kontrollierter Schlag. "Dein nächster Atemzug könnte entscheiden, ob du diesen Laden lebend verlässt."

Der Mann stammelt sinnlos, seine Augen vor Angst weit.

'Ja, erzitter vor mir,' denkt Raphael, ein Hauch von Genugtuung in seinem Schweigen.

"I-ich wollte Euch nicht erzürnen! Es ist nur M-Marketing! Bitte, oh, großer Unhold – nehmt, was Ihr wollt!"

Raphael lässt die Stille nachklingen. Eine gut gesetzte Pause tut Wunder für einen starken Auftritt, das wussten schon die infernalischen Rhetorikmeister.

Schließlich richtet er sich auf, seine Trollverkleidung mit einem leisen Knistern zurückkehrend. "Drei Kupfer für Schund," murmelt er und reißt dem Händler das Magazin aus den zitternden Händen. "Betrachte es als Spende."

Und dreht sich zum Gehen um.

 

Ah, er fühlt sich klebrig von diesem Besuch, aber der Tritt hinaus auf die Straße befreit die Sinne und beruhigt den Höllen sei Dank sofort die Nerven. Immerhin hat er etwas Sinnvolles mit seiner Zeit angestellt. 

Raphael macht sich nicht die Mühe ins Bordell zurückzukehren, sondern ruft Mol herbei, damit sie für ein paar Tage bei der Stadtwache spioniert, ob eine Anzeige wegen Diebstahls eingegangen ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Biktul dies wagen würde geschweige denn überhaupt die Missetäter erkannt hat. Doch Zariels Agenten haben ein feines Gespür beim Freilegen selbst professionell verwischter Spuren; wenn sie jemals herausfindet, dass Raphael auf freiem Fuß ist und von Mephistopheles' Hexenmeistern gejagt wird, könnte sie eine Verbindung zu dem Raub herstellen. Zumal Mephisto schon bald wissen wird, dass sein Spross wieder munter Seelen konsumiert (eine vertragliche Brücke, die er nur zu gern endlich niederbrennen würde, wenn er denn könnte). Und dann müsste er sich vor zwei Erzteufeln in Acht nehmen. Oh nein, so angreifbar wie er gerade ist, hat Raphael kein Interesse daran, Aufmerksamkeit zu erregen. Eine gute Sache, dass er dabei ist, das Blatt radikal zu wenden. 

Mol, die Raphaels Verkleidungszauber noch nicht einmal bemerkt und in den Augen anderer Passanten wirken muss wie ein fußtappender Mosquito neben einem knurrenden Fleischberg, winkt nur gähnend ab und macht sich an die Arbeit. Er lässt sie. Der kleine Ausbruch von eben und das Intrigieren besänftigen schon Raphaels Sinne. Nur ein Gongschlag nach Mitternacht ist er wieder ganz der Alte: voll fokussiert und wieder Herr keiner Gefühle. Er gelobt alle niederen Passionen nicht nach außen zu kehren und einfach digerieren zu lassen, denn nichts anderes tut ein Meister der Pakte.

Auf dem Weg zum Friedhof, wo der ausgewählte Zugang zur Kanalisation wartet, schließt er mit seinem gemischten Erfolg für diese Nacht ab. Er hat begriffen, dass nicht alles glatt lief und dass selbst im Fehlschlag eine wichtige Lehre zu ziehen ist, und diese implementiert er nun umgehend. Er akzeptiert seine vorangegangene Tollpatschigkeit im Apartment; sie war seiner Überraschtheit geschuldet, welche die kleine Menschenfrau evoziert hat. Den Fehler wird er nicht noch einmal machen. Wie urkomisch, dass nach über tausend Jahren ihn immer noch ein sterbliches Wesen aufs Glatteis führen kann: einmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes - damals im Kampf mit ihr, als er auf einer Fläche von Glatteis ausgerutscht war (ein übler Hinterhalt). Und jetzt erneut, wenn auch lediglich emotional. Seine Ungeschicklichkeit im Augenblick fleischlicher Gier. Niemals wieder. 

Die Uhr schlägt eins und er kann an sie denken, ohne dass sein Puls einen Schluckauf macht - auch das ein Erfolg. Die Erinnerung an sie reizt ihn nicht mehr. Der Anblick ihres Körpers, der über ihm schwankte, hat seine Wirkung verloren; das Tanzmotiv ihrer Locken - um ihre verhüllte Brust ringelnd - ist entzaubert. Sie hatte sich mit einer Hast an seinem Gesicht abgearbeitet, die ihm schonungslos verriet, wie einsam sie ist. Nichts weiter als ein Trauerspiel. Er gab ihr eine Nacht, an die sie für den Rest ihres unbedeutenden Lebens denken wird. Sein Höhepunkt war nichts als ein Auftakt gewesen - wie das Entkorken eines Champagners, der nur die perlende Hülle freigibt, doch das flüssige Gold zurückhält. Doch es ist der Beginn von etwas Fruchtbarem. Wie weitsichtig, dass er in dem Moment von ihr gelassen hat, als sie aus seiner Berührung zurück in den Widerstand wich. Wie instinktiv weise er trotz seines Blutes gehandelt hat.

Manchmal erstaunt er sich selbst.

'Wie dem auch sei', schließt er, während er das Gitter in der Wand entfernt, 'am Ende ist Tav nur eine Eintagsfliege, die auf dem Rücken liegt und verzweifelt summt, während ihr Tag zur Neige geht.'
Und jetzt, da er ihre erotische Vergeltung am eigenen Leibe erfahren hat, weiß er, dass seine kleine Weberin auch infernalische Qualitäten besitzt. Sie werden ihn auf seiner Mission gut unterhalten. Das und nicht mehr. Welch kuriose Neigungen wird sie ihm noch offenbaren, wenn er sie nur lang genug reizt? Er freut sich schon darauf, diese spezielle Flasche zu entkorken. 

Er schlingt den Umhang enger um die Schultern und steigt durch das abschüssige, mannshohe Loch. Soll sie ruhig glauben, genug von seiner Dunkelheit gekostet zu haben, denkt er auf seinem Abstieg ins Abwassersystem der Stadt. Soll sie noch ein Weilchen glauben, als mache sie die Regeln in diesem Spiel. Hier, unter der Stadt, indes beginnen die wahren Spiele von Macht und Täuschung – von einer Größe, die sie nicht zu ahnen vermag. Und Raphael, er ist so geduldig wie eine Schlange im hohen Gras.

"Spiel ruhig die Königin," murmelt er und seine Stimme hallt in dem kalten, hohlen Gang wider. "Dieser König hat sein Reich anderswo."

Chapter 15: 15 Schattengeschäfte

Summary:

Businesstalk mit Raphael. Was hat er vor?

Notes:

Hinweis: "The Court of the Three" ist ein Stück DnD-Lore. Ich habe keine (gute) Übersetzung gefunden, also habe ich das berühmte Trio rund um Manalume, Levandra und Gwelt "Die Schrecklichen Drei" getauft. Ich habs hier nicht so genau genommen, weil die Gruppe eine Randerscheinung bleiben wird.
Wenn hier jemand eine bessere Übersetzung aus der DnDMythologie hat, bitte bitte schreibt mir trotzdem!

Chapter Text

Schatten huschen über die feuchten Mauern. Für Sterbliche vermutlich bekömmlich, aber für ihn absolut horrend: Die Luft ist sauer und faul von den Dämpfen, die vom Kanal in der Nähe aufsteigen. Er kämpft mit einer Herznote von schweren, vollen Rosen dagegen an, doch selbst sein stärkstes Eau de Parfum Intense kann diese Schlacht nicht gewinnen. Nicht einmal mehr Tav vermag er auf der Zunge zu schmecken - Baldur's Gates Gestank überlagert alles. Die Gradwanderung zwischen penetrant und durchdringend ist bei einem Parfum schmal - einerseits soll es die Suppe, von der er umgeben ist, ausblenden, auf der anderen Seite muss er sparsam bleiben - auf keinen Fall möchte er aufdringlich wirken.
Raphael beugt sich schwanzpeitschend vor und betrachtet die Illusion vor sich mit dem Finger unter der Nase - eine nachdenkliche Geste subtil genug, um zu kaschieren, dass er damit seine Geruchsknospen schützt. Der amorphe Kern ist nicht größer als ein Kinderschädel, aber reflektiert wie ein angeleuchteter Edelstein ein Licht, das von nirgend herzukommen scheint. 

"Reinstes nesserisches Gewebe," murmelt er nicht ohne Bewunderung für dieses Kleinod, das den ganzen finsteren Raum erhellt. "Eine dunkle Macht, die selbst das Gewebe Mystras erschüttern kann ... Ich verstehe, warum ihr dies lieber für euch behalten wollt. Wer möchte schon eine Wiederholung von Karsus' Desaster riskieren, nicht wahr?"

Mit einem Wink aus dem Handgelenk lässt der größte der drei Shadovaren die Illusion verdampfen. Seufzend richtet Raphael sich auf und schenkt seinen Geschäftspartnern ein schmales Lächeln. Shars Schattenarkanisten sind so humorlos wie die Trauerfetzen, die sie tragen. Düster und flüchtig wie der Nebel über dem Styx. Andererseits hat er ein gutes Gefühl bei der Sache. Ja, aus dem Deal wird etwas werden.   

"Ihr wählt die Prüffelder. Lieferzeiten und Bewachung liegen bei uns."

Jetzt geht es sozusagen nur noch um die Formalitäten.

"Ah, ja ... die Zeiten," erwidert er auf das heisere Flüstern, "ein gutes Stichwort - hier muss ich, sozusagen, einhaken."

Er hält inne, schenkt den drei Orgelpfeifen vor sich ein bedächtiges Nicken, als bereite ihm dieser Punkt schlaflose Nächte. In Wirklichkeit beobachtet er unter dieser Posse sein ephemeres Gegenüber, kartografiert jede Unebenheit in ihrem Verhalten - derer es nicht viele sind, denn bis auf einen, der stets unruhig hin- und herschwankt, sind die Shadovaren gesichtslose Mannequins, die im Raume schweben als seien sie selbst schiere Projektionen. Warum sie sich ausgerechnet in der Kanalisation treffen müssen, ist Raphael unbegreiflich. 

Er räuspert sich.

"Zunächst möchte ich meine größte Wertschätzung für eure Selbständigkeit zum Ausdruck bringen: Nichts ist mehr kommod als Geschäftspartner, die direkt ins Haus liefern; es vereinfacht die Logistik. Ich werde dafür sorgen, dass euch das Portal zum Lager ab morgen - Faerûner Zeit - zur Verfügung steht," sagt er und legt sehr dankbar die Hand auf die Brust. Die Shadovaren müssen ja nicht wissen, dass es nicht sein Haus ist, in das sie etwas liefern bzw. schmuggeln, "Doch was den Zeitpunkt, zu dem diese Kostbarkeiten bei mir eintreffen, betrifft, nun ..." Der Satz bleibt unvollendet, stattdessen schüttelt er geradezu bedauernd den Kopf und atmet langsam aus.  

Nach einer kurzen Pause scheint der Groschen zu fallen. "Ihr wollt das Wann bestimmen?" sagt der Kleinste der dreien, ein wenig schärfer als sein langer Genosse. "Unmöglich. Eine gründliche Extraktion  der Artefakte erfordert präzises Arbeiten. Diese Dinge lassen sich nicht drängen." 

"Bei Shar und allem, was euch heilig ist: Nichts liegt mir ferner als Genie zu drängen," Raphael macht betont elegante Schritte vor, sein Schwanz langsam hin- und herpendelnd, "wie auch immer: Zeit ist das kostbarste Gut derer, die nicht im Schatten verweilen, sondern auf der großen Bühne tanzen. Sobald die erste Lieferung eingegangen ist, darf es bei den Nachfolgenden keine Verzögerung geben."

Die drei tauschen lange Blicke untereinander aus - was trotz der Vermummung allzu offensichtlich ist, denn ihre türkisenen, pupillenlosen Augen schimmern deutlich durch die dünnen Schleier. Es ist als kommunizierten sie telepathisch miteinander und das wäre gar nicht unwahrscheinlich. Dieses geheimniskrämerische Völkchen hat sich schließlich der magischen Perfektion verschrieben. Aller Voraussicht nach ist bis auf ihr Gehirn nichts mehr natürlichen Ursprungs, alles ist magisch optimiert und verzerrt, Ergebnis endlosen Züchtens und Experimentierens. Und tatsächlich, je näher Raphael tritt, desto krummer ist das magische Gewebe, das sie umgibt. Er kann es spüren: Die Zauberer tragen verzauberte Gegenstände an sich, vermutlich Ketten - vielleicht Ringe des Gedankenlesens (netter Versuch) sowie - ah, unübersehbar - die "Monsterkäfig"-Formel, tief in den Stoff eingewoben. Ein schwacher Schutz, kaum mehr als ein Flüstern gegen seine Macht, doch nichtsdestoweniger informativ. Wie heißt es so schön? 'Ein Schwerbewaffneter hat vor vielem Angst.'

Die lange Orgelpfeife meldet sich wieder zu Wort und Raphael schärft sogleich sein aufmerksames Lächeln nach. "Ihr ... verweigert uns die Veredelung unserer Artefakte?"

"Veredelt so viel wie ihr wollt, solange ich das Ergebnis in tempo sehe." Sein Blick ist unbeirrt. "In aller Direktheit gesprochen: Ich habe eigene Interessen zu wahren und diese reagieren empfindlich auf eine Unterbrechung versprochener Güter, insbesondere wenn sie ohnehin in langen Abständen eintreffen; darauf zu warten, dass sich eure Künstlerlaune mit unserem gemeinsamen Ziel konstellieren, ist keine Option, fürchte ich."

Der Kurze schwellt die knochige Brust. "Ihr verlangt ein riskantes Zeitmaß, Teufel. Diese Magie -"

"Ist heikel, unberechenbar, weltendeformierend zerstörerisch? Ich weiß." Er winkt ab, schickt aber rasch ein ausreichend höfliches Nicken hinterher, um nicht zu offenbaren, wie ungeduldig er wirklich ist. "Aber wenn es anders wäre, wären wir schließlich nicht hier, non?" 

Seine Worte haben nicht den gewünschten Effekt, nämlich den konsternierten Shadovar zu überzeugen - er zieht jetzt sichtbar scharf die Luft ein und ballt die hölzernen Hände. Also legt Raphael flugs nach, sein Ton nun ernst.

"Nein, natürlich nicht. Was ich meine, ist, dass auch wenn ein Berg von Trümmern daran haftet, es die Einlagerung der Artefakte nicht beeinträchtigen wird. Es wird für alles gesorgt sein, das versichere ich euch. Und bezüglich der Tests dieser scheinbar unveredelten Artefakte, bitte ich euch nur zu bedenken!" sagt er und lässt einen Hauch Wunder in seine Stimme einfließen, "Welch einer seltenen Gelegenheit Zeugen ihr sein werdet, wenn die unbezähmbare Natur Nesserils durch alles hindurchbricht, egal ob durch kilometerdicken Stein oder durch die Barrikaden des stärksten Erzmagiers - und das in einer sicheren Testumgebung. Hat nicht Karsus selbst bewiesen, dass die Macht gewaltig ist, ganz gleich in welcher Form? Nun beweist, dass auch in unveredelter Form sie die Durchschlagkraft göttlichen Zorns haben. Und sollten die ersten Ergebnisse trotzdem nicht zu eurer Zufriedenheit sein, bin ich zu Nachjustierungen der Prüffelder bereit."

"BOOM, ja! Magie mag MEHR Magie! Gutes Boom!" Eine schrille, mehrlagige Stimme durchbricht Raphaels hypnotischen Singsang und etwas konsterniert blickt er in die rechte Ecke des Raums.

Der dritte Shadovar, der bislang nur schweigend hin- und hergewippt war, knetet nervös an seinem Gewand und nickt eifrig. Er keucht lachend, seine Stimme unerwartet hell und kindlich. "BOOM!"

Der sonderbare Kommentar wirft Raphael nur kurz aus der Bahn. Sogleich sieht er unverhohlen belustigt zu den anderen beiden Shadovaren, die nun etwas verdruckst die Köpfe einziehen. Derweil leuchten im Eck die fröhlichen Halbmonde des Dritten.

"Boom fürwahr," stimmt Raphael zu. "Ich hoffe bloß, dass dieses Boom nicht lange auf sich warten lässt. Denn wer zu lange hadert, den überholt bald die Konkurrenz - ein kleiner Rat von mir."

Nur an den Augen sieht er das frisch aufflammende Misstrauen des Kurzen. "Ihr begehrt Macht."

Er lächelt nachgiebig, als sei die Anschuldigung kaum mehr als das Quängeln eines Kindes. "Macht? Nein, ich verfolge nur Resultate. Aber das muss euch nicht kümmern. Euch interessiert, dass ihr, meine verehrten Partner, vor einem außergewöhnlichen Durchbruch in eurer Kunst steht. Ich habe längst verstanden, dass ich diesen erheblich beschleunigen könnte, bevor andere weit aus mächtigere euch diese Lorbeeren wegnehmen. Ihr wisst von wem ich spreche? Und glaubt mir, das werden sie: Und dann können sie sich nicht nur all die wichtigen Auszeichnungen auf die Fahne schreiben, sondern auch den potenziellen Ruhm Nesserils Vormachtstellung wiederhergestellt zu haben. Weil ihr gezögert habt." Er schnippt mit den Fingern, und in Rauch und Flammen erscheint ein vertrautes Pergament in der Luft. "Ich bitte um nichts als rasche Lieferzeiten - ohne Verzögerungen. Das ist mein letztes Wort."

Das endlich bringt die vibrierende Anspannung in dem Raum zum Stillstand. Die drei wechseln erneut Blicke aus, doch Raphael spürt, dass der Beschluss ihrer telepathischen Debatte besiegelt ist. Er kann die Risse in ihrem Widerstand förmlich wachsen hören; die Andeutung, dass jemand anderes ihnen den Ruhm streitig machen könnte - nämlich niemand Geringeres als die Schrecklichen Drei (was nur ein Bluff war - Raphael weiß nicht, was diese Sondergruppe aus der Schattenkonklave momentan so treibt), hat offensichtlich einen Nerv getroffen - und es schmeckt eindeutig nach Gier. 'Oh, Prestige, du süße Karotte, du hast schon so manchen Esel galoppieren lassen', denkt er.

"Nun gut," spricht der lange Shadovar schließlich und greift nach der Schreibfeder in der Luft, "so soll's sein. Du erhältst die erste Fuhre innerhalb von zwei Toril-Wochen. Danach liefern wir in regulären Mehrtages-Abständen ..."

Raphael möchte lächelnd dazwischengrätschen.

"In der einen oder anderen Form," ergänzt der andere unbeirrt.

Für eine Sekunde gefriert dem Kambion das Grinsen. "Eine seltsame Umschreibung, mein Verehrtester," erwidert er durch seine Zähne.

Doch der Vertrag ist unterschrieben und die Konditionen sind gesetzt, also belässt er es dabei. Er wird noch früh genug herausfinden, welche heikle Form sich hinter dem Sätzchen verbirgt - und wenn es ihm missfällt gibt es einen Haufen vertraglicher Schlupflöcher, die er immer noch nutzen kann. Zunächst muss er noch die Unschönheiten herausätzen.

"Wie dem auch sei, zwei Toril-Wochen sind viel zu spät."

Dieses Mal schütteln beide seine Gesprächspartner gleichzeitig den Kopf. "Wir können nicht eher liefern, es ist logistisch nicht möglich," sagt der Größte, "doch wenn Ihr nicht warten könnt, gibt es da angeblich ein Artefakt, das vor Hunderten von Jahren von einem Unhold gestohlen wurde und bis heute irgendwo in den Höllen versteckt liegt. Wir wissen nicht wo, doch es ist offensichtlich, dass sie nie benutzt wurde. Wir empfehlen, dass Ihr nach dem Artefakt sucht, um die Wartezeit zu überbrücken."

"Faszinierend. Und wer mag der Dieb gewesen sein?"

"Ein Teufel names Rrucht'Argazz."

Er hat noch nie von Rrucht'Argazz gehört, doch mehr über ihn herauszufinden wird ein Leichtes sein; Baatezu-Bürokratie gilt in allen Welten des Dies- und Jenseits als unübertroffen. Das heißt, es gibt keinen Teufel, der nicht erfasst ist, ganz gleich, ob lebend, tot oder verbannt. Raphael schnippt den Vertrag zurück nach Avernus und macht eine elegante Verbeugung.

Nach einem kurzen Abschiedswort lässt er die Shadovaren von dannen ziehen - etwas, das er normalerweise selten tut: den Klienten bei der Halbflucht zuzusehen. Am liebsten tritt er dramatisch ab, mit einem Ta-Ta auf den Lippen und einem Wink mit den Fingern. Aber das Showbiz muss warten. Er weiß, dass kein Erzteufel - weder Zariel noch Mephistopheles - in der Lage sein sollten, das bisschen magische Fingergeschnippe zu detektieren, insbesondere, weil die Magie aus ihm selbst herauskommt. Und doch - der Konsum der Seelenmünzen macht ihn vorsichtig.

'Eine Schande. Jetzt habe ich endlich den Braten vor der Nase,' denkt er, 'und ich kann ihn doch nicht genießen.' Zumindest nicht auf der materiellen Ebene. Sobald er in Baator zurück ist, wird er sich mit Seelen überfressen!

Er atmet langsam aus, sein Daumen mit den Eselsohren des Magazins in seiner Tasche spielend. Was für eine ergiebige Nacht heute doch gewesen ist, denkt er. Und wie viele Überraschungen! Seine Gedanken schweifen kurz zu der Frau in seinem Loft zurück.

"Rasch nach Hause," murmelt er zu sich selbst und stapft den gleichen nassen Weg zurück, den er hergekommen ist.

In Zukunft sollte er seinen Erfolg aber nicht mehr zu sehr dem Glück überlassen, sondern seine Planung deutlich steigern.

'Raphael,' sagt er sich, 'du musst schnellstens wieder zu dir finden. Den niederen Fuchs exorzieren und den denkenden Teufel kultivieren.'

Es wird Zeit zu alter Form zurückzufinden.

Chapter 16: 16 Zwischenspiel: Hoffnung ist eine flackernde Kerze

Summary:

Ein kurzer Gang zum Spiegel.

Notes:

Hinweis:
Zitate aus Baldur's Gate 3.

Chapter Text

Sie steht in der Kammer der Ausgänge und - so verrückt es auch klingt - es ist, als schreie etwas nach ihr, das nicht will, dass sie einen Fuß durch die Reisespiegel setzt. Mephistar, Waterdeep, Neverwinter und ... wohin führten die anderen doch gleich? Wo einst der Sadist Nubaldin das Blut der Eindringlinge vom Boden aufmoppte, steht nun Tav und starrt auf die übermannshohen Portale. In jedem sind schattenhafte Formen zu erkennen, hier ein Mond, dort Silhouetten von Schornsteinen, und aus einem dampft kalter, eisiger Nebel. Der ganz rechte in der Runde schimmert violett und ein Hauch von feuchtem Stein entsteigt ihm. Sie schaut auf die Plakette: Menzoberranzan - das Juwel des Unterreichs.

Kar'niss' Heimat. 

"Oh - du bist noch da? Oder träume ich?"

Hope's gespenstische Stimme flüstert durch den Raum und jagt Tav nicht nur aus ihrer Apathie, sondern auch eine eisige Gänsehaut über den Rücken. Manchmal ist es schwer, in einem Raum mit ihr zu sein, vor allem, wenn sie voller Schwermut ist. Heute ist einer dieser Tage. 

"Diese Portale führen quer durch allerlei Welten. Doch nicht für dich, nein, du musst bleiben."

Ist das der Grund, weshalb sich alles in ihr sträubt, Avernus zu verlassen und zugleich zu ertragen? Tav dreht sich zu der Zwergin um, die dasteht und aussieht, als trete sie seit Jahrzehnten ohne Schlaf und Pause auf heiße Kohlen.

"Warum?" fragt Tav, "Es ist dein Haus: Du könntest mich gehen lassen."

"Sie ist eine einzige Träne, die Miserable. Sein einstiges Schlachtross zum Ruhme - nur noch ein Klagen zum Himmel."

Immer diese geistig umnachteten Rätsel. Tav fasst sich zwischen die Augen und atmet tief durch. Sie hat sich das Dilemma selbst eingebrockt, nicht wahr? Und, warum auch immer!, wird ihr die Frau nicht helfen. Im Gegenteil - sie steht aus unerfindlichen Gründen hinter Raphael. 

"Hope, ich weiß, ich bin keine gute Freundin für andere gewesen," sagt sie leise unter ihrer Hand, "aber ich könnte wirklich einen guten Freund gebrauchen."

"Wieso? Hast du dich etwa entfremdet?" ruft die Zwergin verwundert, "Wurdest du abgelenkt? Ich auch! Von den REISSZÄHNEN IN MEINEN ADERN."

Die Hausherrin schüttelt eilig den Kopf, als müsse sie die wild tanzenden Gedanken darin in die Benommenheit rütteln. "Ich weiß ich weiß ich weiß! Du willst nach Hause - und ich bin Zuhause - wie unfair! Aber Raphael wird dich zurückholen, sobald du nur einen Fuß ungefragt durch die Spiegel setzt. Also bleiben sie zu - nichts kommt rein und nichts geht raus. Alle sind in Sicherheit!"

"Hope!" Jetzt fällt Tav vor ihr auf die Knie und faltet die bloßen Hände. Flüstert nochmals ihren Namen und sieht sie dabei flehend an. "Von Gefangener zu Gefangener: Hilf mir irgendwie! Es muss doch ein Schlupfloch in meinem Vertrag geben! Einen Weg, wie ich mich aus seiner Bindung lösen kann. Vielleicht kann ich ein eigenes Portal bauen, ohne dass er es merkt, und ..."

Sie mag es sich nur einbilden, aber die Zwergin ist für einen ungewöhnlich langen Moment schweigsam und nur ihre Augen verraten, woran sie denkt, da ihr Blick von einem Spiegel zum andern streift.

"Du bist aus Helm's Hold, nicht wahr?" fragt sie dann.

Tav nickt heftig. "Ja!" Gütige Götter aus dem Jenseits, jetzt klingt sie schon so hektisch wie Hope damals während ihrer Befreiung. Aber ist das ein Funkeln, das sie in diesen getrübten Augen sieht? Ein Funke Hoffnung?

Hope verschränkt die Hände und lässt die Finger nervös umeinanderkreisen, der Verzweiflung ihrer Freundin - und wie Tav an ihren Lippen hängt, als hinge ihr nacktes Überleben von ihr ab - wohl plötzlich gewahr. 

"Ich kann nichts versprechen," piepst sie zögerlich und atmet schließlich schwer aus, "aber, ah, lass die Hoffnung gedeihen und es kommt sicherlich Gutes dabei heraus."

Tav umklammert Hopes Beine und murmelt Danksagungen in ihr Kleid. Sie spürt ein überraschtes Zucken, doch die Zwergin stößt sie nicht weg. Im Gegenteil - Tav bemerkt das sachte Tappen einer Hand auf ihrem Scheitel. Hopes Stimme dringt nur gedämpft durch den Stoff ihres Rocks.

"Es gibt Flammen, Monster und Schmerz. Aber dies könnte ein adrettes kleines Häuschen werden. Komm, Freundin. Meine Magierhand ist müde und ich habe noch so viel aufzuräumen. Trocke deine Tränen und hilf mir ein wenig, ja?"

Sie sind alle verrückt hier, hatte die Klerikerin einst zu ihr gesagt. Sie meinte natürlich nicht nur sich selbst, sondern auch die nun abwesenden Schuldner, die Raphael mit Absicht in den Wahnsinn gestürzt hatte. Und jetzt ist nur noch eine Schuldnerin des Teufels hier, Tav - und ihre einzige Freundin eine noch verrücktere Ex-Gefangene. Tav erhebt sich schniefend und lässt sich von der Zwergin an die Hand nehmen. Mustert erst die Spiegel und dann, als sie die vermeintliche Hoffnung namens Kammer der Ausgänge verlassen und Richtung Archiv gehen, Hopes Zopf, der wie immer in Unordnung ist.

Es macht alles keinen Sinn. Warum lässt sie ihn, ihren grausamen Peiniger, gewähren? Was hat er ihr versprochen, dass sie ihn duldet? Durchlebt sie irgendeine Form von posttraumatischer Verdrängung? Könnte es sein, dass Hope ... auf Raphael steht?

Innerlich gerät Tav in Schnappatmung.

'Das ist nicht möglich.'

Tav wendet rasch den Blick ab, als habe sie gerade ein ungeheuerliches Geheimnis aufgedeckt.

'Undenkbar,' debattiert sie, denn NIEMAND würde so einen wie den JE ...

'Sofort löschen. Lösch diesen Gedanken sofort!'

Je länger sie hier ist, desto mehr Falltüren scheint das Thema Raphael zu bekommen.

"Autsch, kleine Maus," hört sie neben sich und Tav starrt hinab zu dem Rotschopf, der sie jetzt mit glasigen Augen ansieht.

'Kleine Maus - jetzt redet sie schon wie er.'

Sie blinzelt. Warum guckt sie so gequält?

Hopes kleiner Finger wackelt in ihrer Hand und Tav begreift, dass sie sie zu fest hält, diplomatisch ausgedrückt. In Wahrheit sieht Hopes Hand in Tavs Griff wie ein zerquetschter roter Oktopus aus. Mit einem derben Fluch lässt sie die malträtierte Zwergin los und versucht ein reumütiges Lächeln.

"Mach dir keinen Kopf," versucht diese sie zu beruhigen, "ich hab schon sehr viel Schlimmeres erlebt."

Eines Tages wird sie sie fragen, schwört Tav. Dann, wenn sie stark genug dafür ist.

Chapter 17: 17 Der Bürokrat

Summary:

Ist schon eine Weile her, seit sie ihn gesehen hat ... Der Teufel hat doch irgendetwas vor.
ODER: Tav kann gerade nicht allein sein.

Notes:

 

I run my home precisely on schedule

At 6:01, I march through my door

My slippers, sherry, and pipe are due

at 6:02

Consistent is the life I lead!

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

"Du bist voller Sommersprossen. Ich möchte sie alle zählen."
Und dann begann Kar'niss jede einzelne zu küssen.

Tav ist in dem Modus, in den sie nie wieder zurück wollte. Sie ist der Stein in der Schleuder, die sie niemals loslässt.

"Schreibst du mir jetzt Gedichte, Drider?"
"Ich schreibe dir Epen, wenn du mich lässt, Gebieterin. Und ich beginne mit dem süßesten aller Muttermale."
Sein Finger glitt hinter ihre Scham, dorthin, wo sie ihn bislang nicht hingelassen hatte. Sein Grinsen: verschmitzt.

Ihr Herz will sich übergeben.

Wie stolz war sie auf sich gewesen, sich endlich wieder voll auf das Geschäft fokussieren zu können, einen Teppich nach dem anderen zu skizzieren, neue Klienten zu akquirieren und ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Abends polierte sie stets die beiden Urnen und sagte Kar'niss und dem Kleinen Gute Nacht. Hatte am nächsten Morgen wieder ihre ganze Seele in den Laden gesteckt und bis in den Abend gearbeitet. Urnen poliert, Gute Nacht gewünscht und das Licht gelöscht.

Jetzt ist sie hier und hat nichts zu tun. Und das ist ... gefährlich.

Sie kann nicht sagen, wie viele Tage vergangen sind, denn im ewigen Dämmerlicht der Hölle versagt selbst die innere Uhr. Tav ging ein paar mal auf Verdacht ins Bett, obwohl sie nicht müde war, und aß von ewig gut gefüllten Tellern, trotz ihres fehlenden Appetits. Sie zeichnet neue Motive für einen Gobelin und führt, wenn es Abend sein könnte, Selbstgespräche mit Kar'niss. Die Lücken des langen Tages füllt sie mit dem Assistieren bei Hopes Aufräumarbeiten und dem Lesen von Büchern, die sie vor dem Scheiterhaufen rettet. Doch sie fühlt sich ziemlich missionslos, und bald schon sitzt sie auch beim Skizzieren nur noch vor einem leeren Blatt, der Kopf benebelt von dem ewigen Gestank nach faulen Eiern. Nach der dritten Wiederholung dieses höchst löcherigen Tagesablaufs hat sich eine neue, gefürchtete Routine eingeschlichen: das Heulen in der Badewanne. 

Sie ahnte schon, dass die Traurigkeit noch nicht völlig überwunden war. Fürchtete, dass sie jederzeit rückfällig werden konnte. Doch jetzt kann sie sich mit nichts beschäftigen, um den Schlag auf die volle Breitseite abzufedern.

Tav ist zurück im Tal der Schatten. Verflixt.

'Ich bin zu nüchtern für diesen Scheiß. Und zu allein...'

Sie braucht Gesellschaft. Am besten männliche. Starke Arme, in denen sie versinken kann. Oder eine sehr tiefe Weinflasche. Ob Hope ihr eine Weinflasche mit Armen zaubern kann?

Tav taucht unter und reibt sich die Tränen aus den Augen. Schluchzt noch einmal und schaut zu, wie der Laut in Luftblasen aufsteigt. Mühsam zieht sie sich hoch, klettert unter quietschendem Schlittern aus der Wanne und greift nach dem ersten Stück Stoff aus ihrem Rucksack. Als sie sich kurz im Spiegel sieht, stößt sie einen grummelnden Fluch aus. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet dieses Oberteil eingepackt hat: Es ist das anthrazitfarbene Herrenhemd, das sie damals von Wyll stibitzt hat, als Kar'niss plötzlich in Drowform vor ihnen gestanden war. Sie warf ihm schnell die Klamotten ihrer Kumpanen über - Hose, Gürtel, Hemd, Schuhe und exakt dieses Hemd - nicht ahnend, dass Raphael ihm nur eine Nacht in der Gestalt gewähren würde. Kar'niss und Tav hatten die Nacht zwar gut genutzt, aber die Rückverwandlung am nächsten Morgen war ein großer Schock für sie gewesen.

Eine Woche später hatte sie ihn zu Grabe getragen und das Kind sieben Monate später. 

Mit müden Händen wringt Tav ihr Haar über der Wanne aus und lässt es zu einem kohlschwarzen gedrehten Schwanz über die Schulter fallen. Es wird die Bluse durchfeuchten, doch hier in Avernus friert man nicht. Wenigstens hat die Hölle einen Vorteil. 

Nur in Kar'niss' alter Robe gekleidet, geht sie zum Bett, greift nach der zerknitterten Zeitung, die auf dem Nachttisch liegt, und legt sich hin. Nächster Tagespunkt: Schlaf. Sich müde lesen und die Zeit einfach wegdösen. Sie reibt ihr Hinterteil in die viel zu warme Decke und labt sich an der kühlen Feuchte, die in den trockenen Stoff dringt. 

Die bereits bekannten Artikel überblättert Tav. Sie hat sich mit dem Lesen der Ausgabe sehr zurückgehalten, stets in der Furcht, dass sie niemals wieder nach Faerûn zurückkehren wird. Dass sie selbst zu einer verlorenen, Schwefel ausdünstenden Seele verkümmert, die außerhalb der Hölle nicht existieren kann. Ein dummer Gedanke, sie weiß. Aber im Tal der Schatten liegt ein See, der nur aus dummen dunklen Gedanken besteht, und er reicht so tief, dass das Licht der Vernunft den Grund nicht erreicht. Dort hockt ihr Geist und angelt mit gehaltenem Atem nach den dicksten, schwermütigsten Fischen im See. 

Sie war einmal eine fröhliche Frau. Tja, die guten alten Zeiten.

Tav seufzt und blättert weiter. Sie möchte jeden einzelnen Text - und sei es nur eine Meldung über ein vom Baum gerettetes Kätzchen, mit Genuss und Aufmerksamkeit lesen. Als könnte sie zwischen die Buchstaben eintauchen und in ihre alte Welt zurückkehren. Es könnte schließlich ihre letzte Zeitung sein. Kennt die Hölle Journalismus? Gibt es infernalische Wesen, die ihre Gemeinde regelmäßig mehrspaltig über ihre elenden Untaten informieren? Oder ist diese Welt vom ersten bis zum letzten Zentimeter tot und unkultiviert?

Wie deprimierend.

Tav bleibt auf Seite 15 hängen, auf der an den Geburtstag des Großherzogs erinnert wird - den Termin des Jahres. Sie dreht sich auf den Rücken und runzelt die Stirn. Oh, hier werden Informationen aufgelistet, die ihr gänzlich neu sind: Ein ganzes Stadtfest zu Ehren Ulder Ravengards. Es werden über hundert geladene Gäste mit Hofstaat erwartet, 45 Musikantengruppen und Unterhalter aus 15 Provinzen. Essen und Trinken für drei Tage und Essensspenden für die Massen vor den Toren von Wyrm's Rock. Diverse politische Ehrungen, Turniere und Feuerwerk um Mitternacht.

So langsam wird Tav die Tragweite dieser Einladung bewusst.

"Scheiß die Wand an," murmelt sie und drückt geistesabwesend das Wasser aus ihrem Zopf. Gut, dass sie "infernalische Diplomatengarderobe" geshoppt hat, die dürfte für den Anlass vornehm genug sein. Auch wenn sie nicht vorhatte, in Raphaels Wappenfarben aufzutreten. Sie ist der Meinung, dass Rot ihr nicht steht. Aber gut, es ist nur ein Stück Stoff und das Event bloß eine Entschuldigung Wyll, Jaheira und vielleicht auch Minsc wiederzusehen. Am Ende werden sie herzlich darüber lachen.

'Wehe ich muss eine Rede halten oder die Hände von irgendwelchen Polithanseln schütteln,' denkt sie, 'sonst ruf ich Mizora persönlich herbei, Wyll.'

Und was, wenn Raphael sie gar nicht erst hingehen lässt? Dann rechnet sie endgültig mit ihm ab.

'Wo steckt er eigentlich?'

Der Teufel hat sich gefühlt seit Tagen nicht blicken lassen. Was, wenn er es vergessen hat? Geistesabwesend gleitet ihr Blick durch das Zimmer, am Rand ihrer Peripherie ihre überschlagenen Füße, einer in unruhigen Mikrozuckungen. Weiß sie denn, wie viel Zeit seit ihrer Rückkehr vergangen ist? Vielleicht ist es schon drei Wochen später. Zeit hier fühlt sich unerträglich unendlich und darum unendlich unerträglich an, insbesondere, wenn man nicht hier sein will.

'Verflucht, was zum Henker treibt er nur?'

"Raphael, komm schon," seufzt sie und lässt die aufgeschlagene Zeitung aufs Gesicht fallen.

Auf einmal spürt sie einen Zug. Ein Britzeln im Bauch und Kribbeln auf der Haut und dann hat sie nur noch Zeit für ein konsterniertes "Oh verflixt", bevor der Raum um sie herum verschwindet. 

 

 

Etwas überrascht findet sich Tav in Raphaels Arbeitszimmer wieder. Sie blinzelt gegen das einfallende Licht von der geöffneten Balkontür. Draußen zieht ein neuer Horizont vorbei, eine neue schreckliche Gebirgskette. Das Haus von Hope muss wohl seinen Standort gewechselt haben.

"Wenn man an den Teufel denkt," ruft sie aus, als sie diesen an seinem Schreibtisch sitzen sieht.
Raphael, ein Prinz in langer, blutroter Robe, steht von seinem neuartigen aber gigantischen Samtsessel auf, um der immer noch völlig überraschten Tav mit seinem typischen Halblächeln entgegenzuschreiten. Zumindest kommt ihr den ersten Meter entgegen; dann scheint er seine Meinung zu ändern, denn er postiert sich vor dem massiven Schreibtisch und gebietet ihr wie ein Priester näherzukommen. 

Was für ein Schauspieler.

Schnaubend setzt sie sich in Bewegung, barfuß über dem Boden, die Schultern hängend. Doch je näher sie tritt, desto mehr entgleitet ihm das leere Lächeln - sie kann förmlich sehen, wie erst sein Blick fällt (nämlich auf ihre Beine) und dann das Grinsen. Schon braut sich in seinem Gesicht etwas Neues zusammen, das Tav sogleich daran erinnert, das sie ihm wohl unwissentlich alle möglichen Signale sendet, nur keine keuschen. Mit einer säuerlichen Miene zieht sie das den Göttern sei Dank übergroße Hemd über die Hüfte, um ihre Diskretion zu wahren.

"Weißt du, eine Vorwarnung wäre schön gewesen. Dann hätte ich mir wenigstens noch einen Hut anziehen können," sagt sie und schaut geflissentlich an ihm vorbei, sonst müsste sie nämlich auch noch sein unverhohlenes Starren kommentieren.

"Habe ich dich bei etwas Bestimmtem gestört?" sagt er langsam und mit einer Distanziertheit, als würde ihn die Antwort nicht wirklich interessieren.

"Ich war gerade dabei schlafen zu gehen."

Und ist in Wahrheit heilfroh, dass er sie aus dieser furchtbaren Routine herausgerissen hat.

"Du schläfst in deiner Tagesgarderobe?" Als sie nur mit einem Achselzucken in seine Richtung linst, sieht sie noch, wie Raphael das Gesicht zu einer missfälligen Grimasse verzieht. "Du hast dir in Baldur's Gate kein Nachtgewand besorgt."

Doch, und zwar den hauchdünnen Fummel in Rot, den der Verkäufer ihr "zu des Roten Fürsten Ehren" aufgezwungen hat, als gehöre sie zu Raphaels Harem oder so, und den sie um keinen Preis in allen Welten anziehen würde. Sie rollt nur mit den Augen und wirft die Arme zur Seite. Sogleich fällt sein Blick auf das, was sie immer noch in der Hand hält. In zwei subtilen Schritten ist er bei ihr und hat ihr das Blatt aus den Fingern gezupft.

"Heh!"

"Was ist das?"

Er setzt sich wieder hin, während sie mit verschränkten Armen vor seinem Schreibtisch stehen bleibt. Hinter sich zieht er das vertraute Parfum von Kirschen her, die Note unverkennbar blumig und schwer. Nach Diesem Dauerbad in Avernus' Dämpfen ist es eine unerwartet willkommene Abwechslung. Raphael hat ein Fuß über dem andern geworfen und während er das Blatt in seiner Hand inspiziert, zuckt sein Fuß unaufhörlich.

"Das ist die aktuelle Ausgabe von 'Lords & Lege'," verrät sie schließlich, als er ihr einen fragenden Blick zuwirft, "eine aufstrebende Zeitung aus Baldur's Gate. Und, ehrlich gesagt, um Nummern besser und wahrheitsgetreuer als Baldur's Mouth, zumindest was die Lokalpolitik angeht." Sie beäugt ihn vorsichtig. "A propos Lokalpolitik, was hast du so getrieben?"

"Ach, du meinst also, es ist das neueste Märchen seit Sir Edomars Monogamie-Theorem aus "Sukkubi und die Liebe"." 

Ihre zweite Frage lässt er unbeantwortet, während er durchblättert. Tavs Blick driftet zur Seite durch den Raum . Er hat die Zeit offensichtlich genutzt, um für Ordnung zu sorgen. Kein Blatt Papier liegt mehr auf dem Boden. Das kann natürlich unmöglich alles gewesen sein, womit er sich beschäftigt hat. Er hat sich in der letzten Zeit so rar gemacht, dass es schien, als sei er überhaupt nicht im Haus gewesen. Jetzt hat er sie zu sich gerufen und sie kann kaum die Füße still halten. 

Er könnte ihr wenigstens den Gefallen tun und ihr sagen, was Sache ist. 

"Aber es lässt sich sicherlich nicht von der Hand weisen, dass dieses Blatt die Massen bildet," erwidert sie duldsam. 

"Natürlich nicht," erwidert er etwas gelangweilt, "ich glaube nur, dass mehr erreicht werden könnte, wenn man ihnen echtes Toilettenpapier gäbe." 

Mit einem Räusper unterdrückt sie das Grinsen, das sich auf ihre Lippen stehlen will, und wendet sich ab, um scheinbar den Zustand seiner einstigen Bibliothek zu begutachten. Er muss nicht sehen, wie sehr sie seine Bissigkeit vermisst hat. Insbesondere, wenn sie gegen andere gerichtet ist. 

"Hm, ich bin überrascht," hebt sie ohne zu zögern an und fährt mit der flachen Hand über die leere Oberfläche eines Regals, "ich dachte, du würdest die ganze Literatur zurückstellen. Stattdessen sind deine Regale leer. War es dir zu viel Arbeit? Oder hast du keine Leiter gefunden?"

Raphael hat die zusammengefaltete Zeitung mit einer markanten Bewegung in den Papierkorb geworfen (etwas, das Tav bei nächster Gelegenheit rückgängig machen wird) und lehnt sich mit einem Knarzen weit in seinem Stuhl zurück. Er beobachtet ihren langsamen Tanz durch den Raum, gibt aber nur ein Brummen von sich.

"Oder hat Hope dein Lebenswerk etwa doch geschrottet?" ruft sie über ihre Schulter, während sie die gähnendleeren Wände um sich herum bewundert. Ein wenig traurig stimmt sie der Verlust der Bücher schon. "Sie hat es sich vorgenommen, weißt du? Riesiges Feuer machen, nackt drumrumtanzen. Und anschließend draufpinkeln, um den Teufel endgültig auszutreiben."

"Das hast du dir ausgedacht," erwidert er.

Sie kichert kühl und dreht sich wieder zu ihm um, ein paar Schritte in seine Richtung machend. Observiert ihn erwartungsvoll. Alles, was er tut, ist mit verschränkten Fingern zurückzuobservieren. Ein knurriger Raphael, der nicht auf ihre Fragen antwortet, will nicht darüber reden.

"Also gut, behalte deine Geheimnisse für dich, Unhold. Was willst du von mir?"

Er macht nicht mehr als einmal zu blinzeln und da schillert ein kleiner kurioser Haufen aus winzigen Lichtern vor ihrer Nase. Bevor Tav ihn näher begutachten kann, explodiert der Haufen in ein flammendes Dokument und sie schreckt mit einem Kieks zurück, bevor die Stichflamme ihr Gesicht leckt. Ihr Blick huscht kurz zu Raphael, um zu sehen, wie er auf diesen unwillkürlichen Laut reagiert hat, aber er sieht sie nur mit seinem üblichen neutralen Halblächeln an. Räuspernd begutachtet sie aus sicherer Distanz das Dokument.

"Noch ein Vertrag?" fragt sie spitz, "Du musst mich für außerordentlich blöd halten."

"Lies, mein böse zwitschernder Spatz, dann sehen wir weiter."

Widerwillig beginnt sie zu lesen und es dauert nicht lang, da merkt sie selbst, wie ihre Augenbrauen die Stirn hinaufwandern. "Es ist eine Karte! Aber von was?"

Und während sie das verschnörkelte Schriftwerk entziffert, hört sie, wie er von seinem leise ächzenden Stuhl aufsteht und sich langsam auf sie zukommt.

"Eiserne Faust- nee, Eiserne Stadt von Dis. Also echt, deine Klaue! Was bringt dir Kalligrafie, wenn niemand deine Schnörksel lesen kann?"

Er stößt ein beherrschtes Seufzen aus. Tav legt den Kopf schief.

"Sieht wie ein Labyrinth aus," überlegt sie laut, "ich sehe einen Haufen Kreuze - sind das Fallen? In was für einem Maßstab ist das überhaupt? Und im Zentrum ist, was, ein Schatz? Ich soll also in diese Eiserne Faust, um etwas für dich zu stehlen, hm? Welch Ehre."

"Glaubst du etwa, ich behalte dich hier allein wegen deiner reizenden Gesellschaft? Nein, kleine Maus, du bist Teil meines Plans. Wie ich schon sagte: Wenn du deinen geliebten Kar'niss zurück willst, solltest du besser dafür sorgen, dass mein Vorhaben gelingt. Das heißt für dich: Finde das, was im Herzen der Karte verborgen liegt, und bring es mir."

Wie immer ist er geradeheraus mit der Sprache.

"Und bevor du noch weiterfragst," fährt er fort, bevor sie dazu kommt, "Ich bin immer noch Teil der Ordnung Baators und als solcher ist es mir, Teufel, nicht möglich einige der Barrikaden, die du auf der Karte richtig erkannt hast, zu passieren. Ich könnte die Gefahren, die dort lauern, wohl mit einem Schnipp meiner Finger auslöschen, doch das würde nur jeden Speer und Reißzahn der Stadt auf den Plan rufen. Nein, ich brauche einen Sterblichen, der Fuß in die Katakomben setzen kann, ohne dass die magischen Protokolle verletzt werden. Du wirst, natürlich, mit allem nötigen Zubehör ausgerüstet, um ungesehen zu bleiben."

"Was, ALLEIN? Warum schickst du nicht Mol!"

Götter bewahre sie, sie meint das nicht Ernst. Nie würde sie ein halbes Kind an ihrerstatt auf eine gefährliche Mission schicken - doch Tav sieht sich ebenso wenig als die ideale Besetzung für eine solche Schleichaktion.

"Oh, die kleine Wildkatze hat genug zu tun." Etwas in ihrem Magen zieht sich zusammen. Etwas an der Art des Nicknamens geht ihr gewaltig gegen den Strich. "Und ohnehin vertraue ich in dieser Mission lieber einem wehrhafteren Herumschleicher als einem Jungspurt."

Tav lässt nur ein trotziges Tss! fahren. Glaubt er etwa, sie lässt sich so leicht um den kleinen Finger wickeln?

"Sollte sie in ihrem Leichtsinn gefangen genommen werden, wäre sofort klar, wer sie geschickt hat. Nein, es braucht - erstens - eine zuverlässige Person, die - zweitens - nicht mit mir assoziiert wird."

"Ich würde dich sofort verpetzen."

Es ist noch nicht einmal ein Witz. Sie würde es tun.

Ein breites Grinsen umspielt seine Lippen - Raphael findet eindeutig zu viel Gefallen an dieser Unterhaltung. "Wie denn, wenn du mich auf keinerlei Weise verraten kannst?"

Seine Hand zeigt auf sie - und bevor sie begreift, dass es ihre Kehle ist, auf die er deutet, spürt Tav auf einmal eine Beklemmung dort. Mit offenem Mund fasst sie sich an den Hals und will ihn klären. Doch es kommt kein Laut heraus.

"Ich liebe es meinen Namen aus dem Mund meiner Verehrer zu hören," fährt er süßlich fort, "doch für diese winzige Nebenmission brauchst du deine Zunge nicht. Nur zwei Hände, dir mir etwas Kleines besorgen und an seiner Statt dieses Objekt platzieren."

Er deutet auf eine gusseiserne Kugel in einem Fischernetz, die auf seinem Schreibtisch liegt.

"Und ich empfehle dir dringend, dies nicht zu vergessen. Außer du möchtest den Alarm auslösen, der die Knochenteufel, Höllenhunde und anderen Fleischfresser, die in den Tunneln herumschleichen herbeiruft."

Tav tastet ihren Hals ab, doch sie kann nichts Ungewöhnliches feststellen - nichts, bis auf das undefinierte Gefühl, weniger Platz zum Schlucken zu haben.

"Was hast du getan?" würgt sie endlich hervor. Ah, ihre Stimme hat er also nicht gestohlen. 

Er lacht still und fährt fort, als hätte sie nichts gesagt. "Mol geleitet dich zum Eingang des Tunnelsystems. Ab da an bist du auf dich gestellt. Sei gewiss, bis auf diese Karte wirst du nichts haben, das dir zur Seite steht. Folge den Anweisungen darauf und dir kann fast nichts passieren. Wirst du dort unten gefangen genommen, so kann ich dir nicht helfen. Verhungerst du in diesem Irrgarten, ist das ein unausweichliches Ende. Mit dieser Karte und diesem Objekt hast du alles, was du brauchst. Du beginnst nach deiner Rast, wenn ich dich rufe. Ein Diener hat dir bereits die Tränke und ein paar Utensilien auf dein Zimmer gebracht. Geh jetzt und mach dich mit der Karte vertraut. Je besser vorbereitet, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass du zügig wieder herauskommst."

Er wendet sich ab und begutachtet seine Fingernägel. Tav starrt auf die schädelgroße Kugel, die auf einem Teppich aus Dokumenten und Journalen liegt, klobig und bleiern. Sie will am liebsten vor Empörung aufschnappen, wäre sie nicht so hungrig nach Arbeit, so dankbar für diese Selbstmordaktion, für Raphaels Zuversicht in ihre Fähigkeiten. Tav holt Luft - weiß selbst nicht, wie sie im nächsten Moment reagieren wird, so hin- und hergerissen ist sie. Es ist doch recht seltsam, dass sie dieses Ersatzobjekt mitschleppen muss, wenn es doch auch vermutlich jeder beliebige Gegenstand getan hätte. Zumindest vermutet sie, dass es die gleiche Gewichtsklasse haben muss. Das Papier darunter wellt sich.

"Was ist das?" Bevor Raphael sich umdrehen kann, tritt sie vor und zieht unter der Kugel ein Heft hervor. Es ist eine Illustrierte. 

Das dicke Außenblatt trägt den filigranen Pinsel eines pedantisch detailverliebten Zeichners. Doch das Motiv ist seltsam. Sie muss zweimal blinzeln, um zu erkennen, dass es zwei wolkenverhangene Figuren in einer konstruierten, H-förmigen Sexstellung sind. Als sie es ohne zu zögern aufschlägt, sieht sie mehr solcher Bilder und sehr viel unterstrichenen Text. Tavs Augen werden immer größer. Da hat Raphael es ihr auch schon aus den Händen gerissen.

"Nichts von Interesse, mein Mäuschen," sagt er nur und legt es vornüber zurück, die Finger darüber gespreizt.

Pech für ihn, dass die Rückseite ebenfalls bemalt ist. Ist das ein Bonbon zwischen zwei Kissen, dass die Figur da züngelt? Oder ... Oh. Die Details - wirklich, sehr filigran. 

"Du bist so geheimnistuerisch, R-," sie muss husten und der Teufel wendet sich augenverrollend von ihr ab.

"Du kannst gehen."

Tav reißt die Augen auf und die Angst ist zurück. Nein, Halt! Nicht schon wieder in die Einsamkeit!

"Ich benötige mehr Informationen zu dieser Karte," widerspricht sie, "was genau ist das für ein Schatz? Welche Waffen werde ich brauchen? Wie schnell, glaubst du, bin ich da durch? Weil ich doch diese Verabredung in Baldur's Gate habe ..."

"Deine Standardausrüstung wird ausreichen. Deine anderen Fragen sind irrelevant," sagt er, ohne sie dabei anzusehen.

"Ach komm, das kann doch nicht alles gewesen sein!" platzt es da aus ihr heraus.

Sie sieht kaum das Gesicht hinter seinen imposanten Bösewicht-Schulterpolstern. "Doch, das war's," sagt er nur, "wenn du mich nun entschuldigen würdest? Ich habe zu tun."

Er meint sicherlich, dass er an den nächsten Knebelverträgen herumdoktoren will. Ist Tav wirklich so uninteressant für ihn, dass er ihr den Papierkrieg vorzieht?

"Aber - Ich -"

Was soll sie ihm sagen? Dass sie nicht allein sein will? Dass sie Ablenkung braucht, und zwar intensive Ablenkung? Absurd!

"Du bist wirklich ein Miesepeter, weißt du das?"

Er schnauft nur halbherzig, schon wieder auf dem Weg zurück zu seinem Platz. Doch sie klebt ihm sofort an den Fersen.

"Du magst es jetzt vielleicht lustig finden, aber nur, weil du nicht kapierst, was ich meine," wettert sie in einem Atemzug. "Du bist dröge."

Das lässt ihn innehalten. Er dreht sich zumindest halb zu ihr um, die Brauen leicht angehoben. "Wie bitte?"

Sie tritt näher an ihn heran, ihr Blick forschend, fast provokativ.

"Jepp. Alles an dir – wie du Leute behandelst, wie du redest – kalt, stocksteif und so ... leidenschaftlos! Selbst deine Schatzkarten sind voller Fallen, die du nicht umgehen kannst, weil irgendein dämliches Protokoll dir im Weg steht. Pff! Klingt mir doch sehr nach fauler Ausrede. Weißt du was," sie macht eine Geste in die Luft, als wolle sie nach den Worten greifen, "ich glaube, dass du mich wegschickst, damit du dich wieder in deine geliebten Verträge verkriechen kannst."

"Führt diese Schimpftirade zu irgendwas, oder blockierst du mich einfach nur bei meiner Arbeit?" erwidert er tonlos.

"Der Punkt ist: Das macht dich eindimensional. Echt, du bist ..." Sie hebt ihre Stimme und nickt mit spöttischer Überlegung, "wie die fürstliche Version eines Kleinbeamten in irgendeinem Kaff, der die Tage zählt, bis er in Rente gehen darf."

"Ich werde nicht fragen, was das bedeuten soll. Aber ich versichere dir, dass ich keine Postfiliale – sondern Revolutionen leite. Und diese bedürfen immenser Organisationskompetenz."

"Ja nee, is' klar."

Sein Blick wird messerscharf. "Hat die Langeweile deine Manieren ruiniert, meine Liebe, oder ist das der Vorstadt-Standard für Vorspiel?"

Jetzt lacht er über seinen kleinen Diss. Tav runzelt unbeeindruckt die Stirn. "Du magst dir die Tatsache, dass wir gevögelt haben, in deine Ruhmeshalle hängen," sie sieht, wie er die Nase rümpft, "aber in deinem Kopf sitzt du trotzdem noch an deinem Schreibtisch und schleckst Briefmarken. Papierkram ist doch das Einzige, was dir Freude macht, oder? Mal ehrlich, wie traurig ist das denn!"

Sie weiß genau, der Teufel liebt Lob und verabscheut Kritik. Bis jetzt hat Raphael sich erstaunlich viel von ihr gefallen lassen, meist nur mit einem gelangweilten Todesdrohung-Blick pariert. Langsam fragt Tav sich, ob er absichtlich zurückhält oder ob er wirklich den Schneid verloren hat.

"Oh, Tav," er raunt ihren Namen, als koste er daran wie an einem scharfen, exotischen Gewürz, und sein Blick – wie der eines allmächtigen Gottes, der sich die perfekte Strafe für seine Untergebene ausdenkt – jagt ihr ein Kribbeln der Aufregung über die Haut.

"Du wärest weiser deinen Hochmut gegen die Macht der Amtsgewalt zu zügeln."

"Ach ja?" Sie grinst schief und wirft einen fast flirtenden Ton ein, als er sich noch näher zu ihr lehnt.

'Schick mich nicht weg. Bitte nicht.'

Sie ist so verzweifelt, dass es ihr nicht einmal mehr peinlich ist, wenn er – jetzt mit gerunzelter Stirn – es in ihren Augen erkennt.

'Zwing mich nur nicht dazu zu betteln, oder ich muss mich und meinen Stolz vom nächsten Balkon stürzen.'

Für einen langen Augenblick mustert er sie mit amüsiertem Misstrauen, aber alles, was sie tun kann, ist die Arme zu verschränken und eine kesse Schnute zu ziehen.

"Und ob," sagt er schließlich und es ist als wäge er seine nächsten Worte gründlich ab, als hätte er ihr seltsames Verhalten noch nicht ganz entschlüsselt. "Weißt du, langweilige Kleinbeamte wie ich haben Verbrechen begangen, die so unaussprechlich sind, dass weder Geschichtsbücher noch Bardenlieder sie je erfassen werden. Diese Hand hier ..." Er lässt seine langen Finger tanzen, "die so sehr an Papierkram hängt, könnte dich mit einem einzigen Federstrich in die Verdammnis schicken."

"Klingt ja fast wie ein Tag im Wellness-Tempel, R-" will sie schnarren, doch ihre Kehle schnürt sich wieder plötzlich zu, ein unsichtbares Band, das sie schweigen lässt. Sie schluckt, zwingt ein schmales Lächeln auf ihre Lippen und zischt zurück: "Deine Kräfte mögen zurück sein, aber Biss? Hast du schon lange nicht mehr."

Sie grinst etwas gequält. Was auch immer er mit ihrer Stimme gemacht hat – jedes Mal, wenn sie auch nur seinen Namen denkt, bleibt er wie ein Knochen in der Kehle stecken.

"Versuchst du mich aus der Reserve zu locken, meine vorlaute kleine Feenpest?" Sein Ton wird dunkler, tiefer, wie das Grollen eines nahenden Sturms. "Vergebens. Deine Sticheleien? Bedeutungslos. Ich weiß, wer ich bin. Und, was wichtiger ist, ich weiß genau, wer du bist."

"Ja, weiß ich auch." Sie hebt ihr Kinn herausfordernd. "Ich bin die, die dich besiegt hat."

Er beugt sich vor, so dicht, dass sie seinen Atem an ihrem Ohr spürt. "Damals, vielleicht," flüstert er, "aber bald, bald wirst du wie alle anderen sein – ein Lichtlein am Erlöschen."

Seine Arme heben sich leicht, und für einen Moment fürchtet sie, er werde sie berühren – die Hände auf ihre Schultern legen oder sie an der Kehle packen. Unwillkürlich spürt sie ihren Körper zucken, und nur mit Mühe kann Tav ihr eigenes Zurückweichen unterbinden.
Er hat es aber gesehen. Tav könnte nicht erklären, was sie erwartet hat; seine Reaktion ist jedenfalls eine Überraschung. Denn schon erhärtet sich sein ebenes Gesicht zu einer abweisenden Maske und er ballt die Hände zu Fäusten. Vor allem macht Raphael den Schritt zurück, den sie zu unterdrücken vermochte. Er mustert sie von Fuß bis Kopf, von ihren nackten Knien, bis - mit etwas Mühe - zu ihrem erhitzten Gesicht. Und was immer er in ihr zu erkennen glaubt, er scheint hin- und hergerissen.

"Du willst etwas Unterhaltung?" Seine Miene ist seltsam angespannt. "Dann hör gut zu. Ich erzähle dir von einer Seele – einem Kampfmagier, der großspurig meine Interessen verspottete, und doch zu dumm war, um meinem Vertrag zu widerstehen. Ich war nicht geneigt, ihn mit Arbeit zu unterhalten – wie ich es gnädigerweise bei dir tue –, und noch weniger war ich geneigt, seine Seele nach seinem Tod sofort zu verschlingen."

Mit einem eleganten Wink seiner Hand hebt sich die Kugel aus ihrem Netz und schwebt wie ein kleiner, verlorener Erdtrabant zu ihnen herüber.

"Oh nein," fährt er fort, nahezu wehmütig, "ich verstrickte ihn in einem Albtraum aus Bürokratie. Ein Geflecht von Verordnungen, so hoffnungslos dicht, dass jeder Atemzug in Formalitäten erstickte. Sein Leid währte Jahrhunderte – ein Fegefeuer aus Registern und Regeln, wo selbst jeder Schrei meiner Zustimmung bedurfte. Es war ... intim. Grausam. Kunstvoll."

Er hält inne, dreht die Handfläche nach oben, als präsentiere er eine unsichtbare Schöpfung. "Dieser traurige Kleinbeamte," murmelt er leise, "hat seine Seele zu Pergament gepresst. Ein Fragment, abgelegt in einem Archiv, das niemand je betreten wird. Vergessen. Allein. Das ist mein Biss."

Die Kugel fällt. Schwer und plötzlich. Tav fängt sie auf, ein erschrockenes Keuchen entweicht ihrer Kehle. Sie wiegt schwerer als erwartet und Raphael lächelt, als sie taumelt. Oh, etwas an seiner Stimme will ihr etwas versprechen, das nicht nur Todesqualen beinhaltet. Sie spürt es in jedem Härchen, das sich gerade aufstellt. 

"Du lieber Himmel," murmelt sie mit einem Räuspern, "gibt's auch irgendwo noch eine Abteilung für 'ewige Warteschleifen'?" Ihre Worte sollen sticheln, aber ihre Stimme zittert. 

Sein Lächeln verändert sich kaum, doch es wird finsterer, als ob die Schatten sich darin sammelten.

"Das nicht," erwidert er leise, und sie sieht, wie er schnell die Lippen leckt, "aber ich kann die Dinge sehr lang hinauszögern."

Er tritt näher, seine Augen wach und durchdringend, als warte er darauf, dass sie endlich ihren Einsatz beim Lanzbrettspielen macht. "Dein Hochmut ist reif für die Ernte."

Dann – ein kurzes Blinzeln, ein winziges Zucken seiner Mundwinkel – und er schnippt mit den Fingern. Mol erscheint in einem gleißenden Blitz. Raphael bricht jedoch den Blickkontakt nicht und so starrt auch Tav weiterhin stur zurück. Jetzt, da sie eine Zuschauerin haben, lehnen sich beide zurück, aber keiner von beiden ist gewillt auf Distanz zu gehen.

"Uuh, ich habe Angst," flüstert sie provokant, "und hiss gleich die weiße Fahne." 

"Oh, wir werden sehen," schnurrt er, "ob du einen fahren lässt-"

Er atmet scharf ein. Und blinzelt. Tavs Mund klappt auf. 

"Ob du die Fahne hisst."

Er senkt rasch die Lider, und sie sieht, wie sich in seine Verlegenheit nun der Funken von Rage vermischt. Was gesagt ist, kann nicht zurückgenommen werden. Raphael hat sich vor ihr - vor seinen beiden Klientinnen - zum Narren gemacht.

Als er wieder aufschaut, ist sein Blick voller Gift, und Tav entscheidet, schleunigst von hier zu verschwinden. Während Mol ihn auf ihre ungenierte Art anglotzt, als sei er ein skandalöses Aktbild, schlägt Tav auf dem Hacken eine Pirouette und flieht grußlos in Richtung Ausgang. Ein winziger Blick zwischen ihr und dem Tiefling reicht schon, um die Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln zu verlieren. Dann ist sie schon aus dem Arbeitszimmer und lässt das erste Kichern, das schmerzhaft in ihrer Kehle steckt, prustend entweichen. Das Letzte, was sie hört, ist Mols belustigtes Lachen und Raphaels verärgertes "Hör auf!"

Notes:

Zitathinweise: to
- Der Witz mit der weißen Fahne ließ sich nur schwer ins Deutsche übertragen und ist im Original (Englisch) lustiger. Gehört aber nicht mir. I nod to Matt Mercer @Critical Role.
- Klopapier-Witz aus Blackadder Goes Forth.

Chapter 18: 18 Sein edelstes Ross

Summary:

Arme Tav, ihr wird gleich zweimal in der Horizontalen eingeheizt.

Notes:

Re-edit im März 2025
Schädelsäule der Verdammnis = Pillar of Skulls (ein ganz spezieller Ort für jene, die im Leben gelogen und getäuscht haben)

Chapter Text

Tav stolpert vorwärts. Immer vorwärts. Ihren Füßen geht es per se gut, nur die linke Seite tut so verdammt weh, dass sie nicht mehr gerade gehen kann.

"Verfluchter, Sssch...Höllenhund," flucht sie mal wieder, als der Stoff ihrer Kleidung an den schweißverklebten Wunden reibt. Was für ein Glück, dass es ein noch junges Tier gewesen ist und allein herumstreunte. Doch das Tier hat sie auf dem Hinweg so überrascht, dass sie nicht prompt genug reagiert und seine Flammen zu spüren bekommt. Rot glühende Augen und flackerndes Höllenfeuer umgeben von zwei Reihen Reißzähnen - er ist der Archetyp der Angst, so ein Köter der Unterwelt.

Tav lässt sich nur kurz gegen die Wand fallen und nimmt einen rationierten Schluck Ausdauer aus der Reiseapotheke. Dis, wie sie am eigenen Leibe erfahren muss, spielt in einer ganz eigenen Liga von Hölle: Tief im Stollen hatte sich die Luft auf ein erträgliches Maß abgekühlt, doch nun befindet sie sich auf dem Rückweg und die Temperaturen steigen wieder; die giftigen Ausdünstungen von Teer und heiß laufenden Maschinen liegen wie ein bitterer Film auf der Zunge und das Atmen wird mit jedem Höhenmeter mühsamer. Doch sie rastet nicht lange - der Drang, diesem Inferno zu entkommen, wiegt tausendmal stärker als alle Schmerzen und morschen Knochen.

Weiter geht es durch die Korridore, archaische Tunnel mit hohen Decken, die tief in die Erde und steil hinauf bis in die Keller der Stadt führen. Die meiste Zeit ist es ruhig, auch auf dem Rückweg; doch manchmal vernimmt sie das schubbernde Geräusch rotierender Eisenwerke, deren Zweck sie nicht kennt, außer dass sie kreischen und pusten, als würden sie bald den Geist aufgeben. Gelegentlich wird dieser Klangteppich von schwerem Schnaufen und Krallenscharren untermalt, und es jagt ihr einen Schauer über den Rücken. Wenn Tav den Eindruck hat, die Geräusche seien direkt vor ihr, zieht sie sich leise ins nächstgelegene Versteck zurück - eine Weggabelung, einen Mauervorsprung -, löscht das Licht und gebietet ihrem Atem möglichst stille zu stehen. Dort wartet sie und lauscht nach den Geräuschen, bis sie nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes hört. Tav kann sich nicht erinnern, wann ihr Puls das letzte Mal derart im Dauertempo gerast ist.

Und trotzdem: Irgendwie bewahrt Tav die Ruhe, um Meter für Meter voranzuschreiten. Sei es aus Lebenserfahrung, sei es aus unbezwingbarem Optimismus - die Balance geht ihr nicht flöten. Und das darf sie auch nicht. Denn, so die alte Weisheit, ohne Ruhe keine Gründlichkeit, und ohne Gründlichkeit keine Ruhe vorm Feind. Die Schatzkarte warnt ausdrücklich davor auch nur die geringste Veränderung in den Tunneln vorzunehmen, denn das würde die Räuber auf ihre Fährte locken. Sorgfalt, dachte Tav einst, widerspricht ihrer Natur, doch seit dem Nautiloidenabsturz und ihrem Deepdive ins Unternehmertum leuchtet ihr die Tugend der Akribie endlich ein - und sie praktiziert sie nun mit der Achtsamkeit eines Runenschnitzers, der weiß, dass der kleinste Fehler sein Werk zerstören wird. Hätte sie den erlegten Höllenhund nicht versteckt und nicht jede entschärfte Falle wieder aktiviert, Dis' herumschleichende -und -schnüffelnde Monster hätten sie wohl längst entdeckt. Als sie den zentralen Punkt auf der Karte, die ominöse Schatzkammer, erreicht hatte, war sie freilich für einen Moment unaufmerksam geworden. Nur Sekunden, nachdem sie das Objekt der Begierde gegen die bleierne Kugel ausgetauscht hatte, merkte sie, wie das prekäre Podest aus Schädeln plötzlich knackte und mehrere Zentimeter abrutschte, dann aber - Helm oder Tymora oder wem auch immer sei Dank! - im letzten Augenblick einrastete, als hätte einer der eingeklemmten Schädelknochen mit einem Vorderzahn den Einsturz verhindert. Tunika und Brustband sind in Minutenschnelle nass geschwitzt. Tav will sich nicht ausmalen, welche Höllenerscheinungen oder blutrünstigen Fallen sie beinahe getriggert hätte.
Danach war jeder Muskel in ihrem Körper in solch einer Wallung, dass sie sich noch in der ansonsten leeren Kammer hinsetzen musste, um sie zur Ruhe kommen zu lassen.

'Heilige Götter', dachte sie, 'warum ich?'

Wenn nur einer ihrer Freunde hier gewesen wäre, hätte das die Situation so viel erträglicher gemacht. Jemand hätte ihren Arm heilen, sich ihren scheinbar in Flammen stehenden Nacken ansehen und einfach ein paar Witze reißen können, um die Anspannung zu lösen. Aber nein, Raphael hatte ihr keinen Helfer zur Seite gestellt - vielleicht hatte der Teufel ja niemanden mehr außer ihr. In ihren Händen lag nun dafür ein geheimnisvolles Holzkistchen, das sich nicht öffnen ließ, aber sich anfühlte, als wäre nichts drin. Jetzt ist sie wieder bei der Falle, in die sie auf dem Herweg fast getappt wäre und deren Auffinden allein schon immens viel Zeit gekostet hatte. Es sollte jetzt ruckzuck gehen, die Fallenrätsel zu lösen, weil sie weniger Gewicht zu tragen hat und die Tricks kennt. Tav kniet sich hin, legt die Fackel beiseite und nimmt eine Hand voll Feenasche aus ihrem Beutel. Sie streut sie dicht über den Boden, wo der orangene Schimmer so zart ist, dass man ihn für ein Spiel der Augen halten könnte. Gut, dass die Karte mit einem dicken roten Kreuz vor dieser Stelle warnt - auch wenn Tav den präzisen Standort nie ablesen kann. In einem Umkreis von mehreren Quadratmetern tappt sie umher, auf der Suche nach dem Grund für das Kreuz, bis sie ihn gefunden hat. Ächzend steht sie auf und leert ihr Fläschchen Feuerimmunität. Wartet, bis der Trunk sie durchdringt und sein Licht ihren ganzen Körper in ein weiches, schützendes Licht taucht. Dann durchschreitet sie die lange Barriere - ein fauchendes Flammenbad, das sie ohne Vorwarnung umhüllt, mit Mäulern im Gemäuer, die Feuer speien - bis sie auf der anderen Seite ist. Quetscht sich durch das verrostete Skelett eines Eisengitters in einen Seitengang, und schleicht zum nächsten roten Kreuz, zur nächsten Falle, die mindestens genauso irre ist, aber stets mit einer anderen Herangehensweise gehandhabt werden muss: mit Kieselsteinen, die die unsichtbare Schallwalze außer Kraft setzen, oder mit der Klinge ihres Dolchs, um tödliche Lichtblitze zu reflektieren, und dergleichen. Für ein Leichtgewicht wie Tav sind aber nicht die Fallen das Gefährlichste. Nein, es ist der offene Kampf.

Vorsichtig lugt sie um die Ecke des Mauervorsprungs in eine große Halle. Kreischender Lärm, ätzende Dämpfe - ihre Sinne rebellieren. So weit oben im Tunnelsystem wird der Verkehr in den Gängen dichter und sie muss auf Samtpfoten schleichen. Knochenteufel machen die Höhlen unsicher, streifen in Gruppen umher und machen ein Vorbeipirschen beinahe unmöglich. Ihr Anblick ist erschreckend - sie sind kaum mehr als humanoide Hüllen, deren verrottende Haut lose an den Knochen hängt. Grässliche Wesen. Zum Glück warnt sie der Gestank der Verwesung vor den Knochenteufeln. Mit Muskeln auf Hochspannung und Dolch in der Hand wartet sie, bis sie weiterziehen, bevor sie sich wieder vorwärts wagt. Bis jetzt ist ihr das Glück hold geblieben. Dank der Geräuschkulisse, die ihren unsteten Schritt verschluckt, schafft sie es in der gut ausgeleuchteten Maschinenhalle ungehört zu bleiben. Doch Tav wird den Eindruck nicht los, als würfele sie ständig um ihr Leben und entkomme mit einer immer kleiner werdenden Zahl. Helm persönlich muss seine schützende Hand über sie halten, denn so viel natürliches Glück kann kein Mensch haben. Die Fratzen der eisernen Teufelsstatuen, an denen sie vorbeiläuft, sehen aus als lachten sie bereits über das nahende Ende ihrer Glückssträhne.

Und so kommt es dann auch, das Ende. Einen Steinwurf weiter vor einem Durchgang, der zu einer Nebenhalle führt, verliert sie den Segen ihres Heimatgottes. Tav hat sie nicht gehört und wegen der schlechten Luft auch nicht gerochen: Wenige Meter vor ihr passiert wie aus dem Nichts ein Pack Bestien den Zugang, mit Klauen und Feuer bewaffnet und Mäulern so fürchterlich, dass Tav bei ihrem Anblick vor Schreck erstarrt. Es vergeht nur ein Atemzug, bis die schwarzen Knopfaugen des Feuermephiten sie entdecken und ein schrilles Fauchen ausstößt und mit dem brennenden Finger auf sie zeigt. Seine Kumpanen, ein Knochenteufel und zwei Höllenhunde, wenden alarmiert die Köpfe - und alle Augen sind auf ihr. Tav lässt den Dolch fallen und rennt.

Rennt um ihr Leben. Pest den Gang hinauf, kriegt schlitternd die Kurve und sprintet weiter. Über kaputte Stufen und bröckelnde Brücken. Hinter sich rumpelt der geflügelte, feuerspeihende Tod auf zwölf Beinen. Tav verliert bald den Weg aus den Augen, verliert einen Teil ihrer Apotheke. Hat sie schon erwähnt, dass sie keine Extremsportlerin ist, sondern Teppiche webt? Damit trainiert man jedenfalls keine Beinmuskeln. Alles, was sie tun kann, ist Granaten hinter sich zu werfen und zu hoffen, dass sie ihre Verfolger verlangsamen. Eine vermutlich naive Vorstellung - Tav ist in der Hölle und von Feinden und Fallen umzingelt. Es kann sich nur um Minuten handeln, bis sie ins nächste Verderben läuft, in einen Feind, eine Falle, eine Sackgasse. Sie ist sich noch nicht einmal mehr sicher, ob sie noch auf dem richtigen Pfad ist.

Der nächste Mechanismus, durch den sie prescht, setzt eine Wolke aus kotzgrüner Säure frei, für die Tav glücklicherweise zu schnell ist, die aber die rasant aufholenden Höllenhunde aus der Gruppe desorientiert. Es verschafft ihr wertvolle Sekunden Vorsprung.

Am Ende, jedoch, bleibt sie stehen und blickt schwer atmend um sich. Hat den Weg verloren. Ist in die falsche Richtung gelaufen. Definitiv. Denn erstens, kommt ihr dieser Gang nicht bekannt vor und, zweitens, es geht nicht mehr weiter. Sie steht in einem halbleeren Lagerraum.

Ende im Gelände.

'Könnte ich ...?'

Ein Blick über die Schulter. Sie könnte es versuchen, oder? Rasch zurücklaufen und den nächsten Gang nehmen.

'Nein nein nein, völliger Blödsinn! Keine Zeit, keine Kraft,' denkt sie fiebrig, und dann, mit der Hand an ihrer stechenden Seite, 'und auch keine Luft zum Atmen mehr.'

Wie weit ist es noch bis zum Ausgang? Er kann unmöglich noch weit weg sein. Doch wenn sie jetzt stehenbleibt, riskiert sie einen Kampf, den sie nicht gewinnen kann. Aber wie geht die Zivilistenweisheit doch gleich: Wer nicht kämpfen will, der versteckt sich. 

Mit klopfendem Herzen klettert Tav die gestapelten Kisten sowie an der unebenen Wandfassade hoch und dort oben, zwischen Decke und einem Zierarchitrav, krabbelt sie in eine dunkle Nische und betet, dass der Schatten nicht nur ihre Gestalt sondern auch auf magische Weise ihren Angstschweiß vor des Feindes Sinnen schützen wird.
Nur Augenblicke später pirschen die Teufel den Gang hinauf, sehen niemanden und kehren irritiert klackernd um, wohl um einem anderen Weg zu finden. Die beiden Höllenhunde - ausgewachsene Schlachtschiffe mit gigantischen Kiefern und Schnauzen so groß wie ein Büffelkopf - folgen erst Minuten später, als Tav die Teufel schon lang nicht mehr vernehmen kann. Doch selbst als sie an den Fässern und Kisten schnobern, können sie nichts wahrnehmen - wohl immer noch benebelt von der Giftwolke. Erst als sie frustriert winselnd abziehen, wagt Tav einen tiefen Atemzug. Sie presst die Stirn gegen ihren angewinkelten Arm und tastet mit der freien Hand nach ihrem Gürtel, um die Flaschen und Beutel unter ihrem Bauch hervorzuziehen. In der Dunkelheit ist nichts zu erkennen, aber mit den Fingern kann sie zumindest eine grobe Bestandsaufnahme machen. Viel hängt nicht mehr an ihrem Leder. Die Wasserblase ist weg. Der Sprengstoffgürtel ist leer. Bleiben ihr damit - ihre Hand tastet den Gürtel ab - zwei unbekannte Tränke und die abgeschlossene Kassette. 

In der Ferne heulen zwei Höllenhunde auf und antwortet ein Dritter aus größerer Distanz. Sie suchen nach ihr. Tav rutscht tiefer in den Spalt und versucht sich zu entspannen. Nur ein paar Minuten, bis sich alles beruhigt hat, und sie zieht weiter. Nur ein paar Minuten.

 

Sie verliert bald jedes Zeitgefühl. Liegt sie erst seit 30 Minuten hier oder sind es schon Stunden? Auf dem Bauch lässt es sich lang ausharren, doch sie würde sich gern zur Seite drehen, um den verkrampften Nacken zu lockern. Zum zigsten Male traben die Höllenhunde den Gang auf und ab, gierig ihre Witterung riechend, die in die Luft eingebrannt zu sein scheint. Sie sind zu dumm, um zu verstehen, dass ihre Beute sich oben in der Wand versteckt. Ihr speicheliges Geschnarre verrät ihren Hunger nach Fleisch und die instinktive Ahnung, dass die Beute in der Nähe sein muss. Schließlich ziehen sie aber erneut ab und Tav dreht müde den Kopf zur anderen Seite. Ermahnt sich zur inneren Ruhe und wiederholt Hopes Atemmediation: langsam ein- und ausatmen, immer durch ein Nasenloch, und die Lungen erweitern. Neun Mal nur jedes Loch. 

 

Vor lauter Ruhe muss sie eingenickt sein, denn ein panisches Todesquieken lässt sie aufschrecken. Tav schlägt sich den Schädel an der Decke an und kann gerade noch den lauten Fluch zurückhalten. Unter ihr hat ein Mephit eine Ratte gefangen und verschlingt das fiepende Nagetier mit einem Happs. Sie spürt die Hitze des Feuerelementars an ihrer Seite, aber auch die böse, giftige Gier, die sein Feuer wie Öl speist. Es ist seltsam, wie Verlangen eine Temperatur haben - ja, ein eigenes sensorisches Gefühl auslösen kann; doch sie spürt es genau, und es lässt sie unwillkürlich den Kopf einziehen.
Dann kriecht der langnasige Mephit davon, Klauen im Dreck, Flammenschwanz in der Luft. Satt vom Fang und hoffentlich endlich vergessen, was er ursprünglich gejagt hat. Tav atmet vorsichtig aus und leckt sich über die aufgesprungenen Lippen. Sie legt die Wange auf den staubigen Untergrund und schließt die Augen. Irgendwann muss das Rudel doch die Suche nach ihr aufgeben.
Der Stein unter ihr fühlt sich überraschend kühl an. Wohltuend. Vor allem lenkt er von dem quälenden Durst ab. Sie wartet, lauscht. Wiederholt die Atemmeditation. Und für einen Moment fragt sie sich, ob ihre Sehnsucht auch eine Temperatur besitzt. Und ob andere sie spüren können.

Irgendwann glaubt Tav Scratch heulen zu hören. Es könnte auch ein Höllenhund sein, aber was, wenn nicht? Am liebsten würde sie sich umdrehen und näher ans Lagerfeuer rutschen, denn es wird bitterkalt. Hinter ihr die murmelnden Stimmen von Jaheira und Minsc. Immer näher beugt sie sich zu den glühenden Kohlen.

Doch statt Wärme zu spüren, fängt ihr Hemd auf einmal Feuer.

Ihr Arm brennt.

Mit einem Ruck wacht Tav auf. Sie ist nicht mehr im Camp und Scratch ist nicht mehr da. Dafür reibt ihr Ärmel jetzt ganz real und äußerst schmerzhaft an der Wunde am Oberarm. Tav schießt die Selbstbeherrschung in den Wind, friemelt nach einem der Fläschchen und trinkt es nach einem kurzen Schnuppertest leer. Es sind nur drei Schluck und nach dem apfeligen Geruch zu beurteilen, handelt es sich um einen Stärketrank. Ziemlich nutzlos in dieser Situation. Sie lässt den Trunk über den Gaumen waschen und seufzt, als der letzte Tropfen hinter der Zunge verschwindet.

Sie blinzelt.

Streckt sich. Und reckt sich nochmals.

'Hm. Vielleicht ist es nicht die beste Wahl gewesen,' denkt sie.

Pein und totale Erschöpfung sind immer noch da, aber dafür erfüllt ihre Glieder jäh ein wachsender Regungsdrang. Tav fühlt sich geradezu hibbelig. Sie sucht nach einer bequemeren Position. Der Durst nach Bewegung wird so überwältigend, dass ihre Muskeln zu zittern anfangen. Sie kann unmöglich still liegen bleiben.

"Shit verflixter ..." Zähneknirschend horcht Tav nach möglichen Feinden. Als nichts Verdächtiges an ihr Ohr dringt, beginnt sie mit den Füßen voran aus dem Versteck zu kriechen, gierig nach Bewegung und den Schmerz in ihrem Arm so gut als möglich ignorierend. 

Sie landet schwerfällig auf beiden Füßen. Doch die Knie sind weich und so fällt Tav zunächst gegen die Tunnelwand, die linke Hand am Oberarm, der sich anfühlt, als wolle er in Flammen aufgehen. Tav stößt sich tapfer ab und, nach einem raschen Check, dass ihre Peitsche immer noch an ihrer Hüfte hängt, schleppt sie sich voran. 

Es mögen fünfzig oder fünfhundert Meter später sein - in ihrem Zustand der Erschöpfung ist es schwer zu sagen - jedenfalls gelangt sie zu jener Gabelung, die ihr endlich bekannt vorkommt. Ein gutes Zeichen. Die Luft ist jetzt unerträglich heiß, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass sie sich nicht mehr weit vom Ausgang befindet. Tav reibt sich die Augen. Alles um sie herum ist in dumpfe Dunkelheit getaucht, selbst die wenigen Geräusche - das Schlurfen ihrer Schritte, ihr schweres Schnaufen. Ein letztes Mal zieht sie die Karte aus der Tasche und versucht sie zu "studieren" (es ist mehr ein Blinzeln durch den Nebel als alles andere). Als sie aufsieht, läuft es ihr kurz eiskalt den Rücken hinunter und ihre Atem gefriert für einen Moment. Sie blickt unerwartet und unbeschworen in Kar'niss' totenstarre Augen. Die Grimasse ist so entsetzlich und traurig, dass Tav für eine Sekunde glaubt, sein Geist sei zurückgekehrt, um sie zu bestrafen.

Als Tav die niedergeschlagenen Augen wieder hebt, erkennt sie, dass es bloß die Fratze einer Teufelsstatue war. 

Sie atmet zitternd aus, schluckt den widerlichen Geschmack hinunter, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hat, und schleppt sich weiter.

Bald ist sie hier raus. Sie ist schon nah. Immer weiter. Sie kann die Freiheit schon spüren und das allein reicht, um neue Kraft zu mobilisieren. Schon riecht sie die widernatürlichen Gase der Höllenstadt, den Geruch nach Metall. Den Gestank von Blut. So viel Blut. So frisch wie im Tempel von Bhaal. So intensiv wie bei ihrer Totgeburt.

Seltsam, wie der Gedanke daran sie nicht mit Trübsal schlägt.

'Du bist mit deinem Überleben beschäftigt, deshalb,' sagt sie sich.

Oh, sobald sie hier raus ist, wird sie sich abfeiern. Tav schwört Wyll, dass sie es zum Stadtfest schaffen wird. Dass sie in ihrem skandalös freizügigen Kleid grandios aussehen wird. Alle werden die Hälser nach ihr verdrehen und sie als die Heldin von Baldur's Gate und vor allem, verflucht nochmal, als die beste Teppichweberin der ganzen Schwertküste feiern. Minsc, ihr alter Kumpel Barth und Jaheira und Scratch werden sie unter Brava!-Rufen begrüßen. Sie werden auf Kar'niss anstoßen. Auf die gemeinsam gewonnenen Schlachten. Sie werden tanzen, trinken. Mit den schicksten Lords und Ladies flirten und für eine Nacht das Leben vergessen.

Plötzlich erfasst sie ein heftiger Schwindel und Tav sinkt auf die Knie, bevor sie wie eine Kerze umkippen kann. 

"Gebieterin! Was fehlt dir?"

"Ah." 

"Mädchen," flüstert Barth ihr zu, "verdammt nochmal, was hast du?"

'Nichts,' denkt sie, 'muss die schlechte Luft sein. Es ist alles gut, ja? Mir gehts gut.'

Ihr Kumpel nickt nur und schnürt sich die Hose wieder zu. "Ist Raphael eigentlich, na du weißt schon, gut im Bett?"

Haarleps gackerndes Lachen, bevor es schlagartig zu einer Grimasse erstirbt. Und auch Kar'niss, zuvor besorgt, verzieht den Mund, bevor er spricht.

" Für jemanden, der sich nie mit dem Teufel einlassen wollte, bist du ziemlich eng mit ihm."

Nein, nein! Ihr Gehirn spielt ihr einen Streich - das hat Kar'niss nie gesagt. Tav schüttelt das Haupt, strähniges Haar in ihrem Gesicht.

"Oh, schau sie dir an!" äfft der Inkubus dazwischen, "klappt zusammen wie eine seiner leblosen Puppen! Du weißt, was er mit ihnen anstellt: auf den Rücken und Mund auf."

"Iblith! UNWÜRDIG!"

"Kar'niss, bitte ..."

"Jetzt lehn dich zurück, kleine Diebin, und mach den Mund weit auf."

Sie schnappt nach Luft und fasst sich an den Kragen.

"Na na, Mäuschen." 

Sein Bass schneidet durch die Kakophonie und bringt wie ein seidenes Tuch den Lärm aus Stimmen zum Schweigen. 

"Haben deine Freunde etwas an meiner Führungsart auszusetzen?"

Frustriert lässt sie den Kopf hängen. 'Raphael, jetzt nicht. Sag mir einfach, wie ich hier lebend rauskomme.'

"Ganz einfach: zu Fuß."

Er klingt, als erklärte er ihr das Offensichtlichste auf der Welt.

'Ich hasse dich wirklich.'

"Du erwartest doch nicht etwa, dass ich dich abhole, oder?" schnaubt der Kambion, während er wie eine Fey auf ihrer Schulter hockt und die Beine baumeln lässt.

Tav fällt vornüber auf ihre Fäuste. Sie ist am Ende. Sie wird hier verrecken.

"Tss. Nein, wirst du nicht." 

Doch, wird sie!

"Das ist nicht die Tav, die ich kenne," sagt er und rüttelt an ihrer Erinnerung. Mit Worten, die er an sie gerichtet hatte, als sie auf ihrem Balkon standen.

"Du hast dich auch verändert. Ich weiß nur nicht inwiefern," murmelt sie zu sich selbst.

"Beiß die Zähne zusammen," wispert er wie damals. So sarkastisch seine motivierenden Worte gewesen waren, sind sie jetzt alles, was Tav daran hindert zu verzweifeln. "Sei stark. Und du wirst lebend aus dieser Nummer herauskommen."

Tav hebt den Kopf und erkennt nur Schatten an der Wand, die sich bewegen, die seine Flügel sein könnten. Doch so sehr sie auch blinzelt, der Nebel will sich nicht lichten, ihre Sicht sich nicht schärfen. Sie sieht, hilflos wie sie am Boden kauert, nur eine wabernde Gestalt, die sich aus dem Dunkeln löst und scheinbar hin- und herpendelnd - schnüffelnd? - heranpirscht. Trotz der Erschöpfung ist die Gewissheit nun glasklar vor Augen: Wenn er es nicht ist, so ist es der Tod. Ein rothäutiger, einäugiger Tod mit aufblitzenden Dolchen in den Klauen.  

Als das Antlitz in sichtbare Nähe kommt und sich die Züge schärfen, werden Tavs Augen riesengroß. Dann bricht sie in Gelächter aus - heiser und völlig erledigt.

"Huh ... Bei dir sind wohl schon ein paar Lichter durchgebrannt, wie?" dringt es wispernd an ihre Ohren.

"Mol," krächzt sie und lacht nur lauter über den Witz, den sie reißt, "dich schickt der Himmel."

"Yepp. Mindestens zwei."

 


 

Er lässt sie los und sie fällt mit einem Uff! ins Bett - beziehungsweise auf das, was man ihm als "Bett" verkaufen will: einen in Decken und Kissen ertrinkenden Matratzenturm. Denn in Baldur's Gate weiß man nach wie vor nicht, wie ein richtiges Bett gebaut wird. Sein Bett. Er nutzt es so gut wie gar nicht, wenn er geschäftlich in Baldur's Gate ist, lediglich in der ersten Nacht musste er sich hinlegen und die eigene, seelenausgehungerte Unzulänglichkeit ausschlafen. Ein gar schlimmes Konzept, diese Bewusstlosigkeit. 

Tav ist verdreckt und abgekämpft, und er: ekstatisch von ihrem glockenhellem Lachen.

Absolut ekstatisch.

Trotz ihres lädierten Arms hält sie eine Art Schmuckkästchen umklammert und grinst siegreich. Sieht zu ihm hoch, während er neben dem polsternen Hochgebirge steht und ihren abgerissenen Zustand begutachtet. Der Siegeslaut ist kaum mehr als ein Schnaufen, ein kaum unterdrücktes Gurgeln, sowie eine Reihe von halb-artikulierten Geräuschen, in denen manchmal etwas erkennbar ist, wie "Unglaublich" oder "Bei Tymoras Titten, ich werd nicht mehr" oder "Ich habs wirklich geschafft". Viel krude Sprache dabei.

In der Tat, es ist nicht zu fassen, dass Mol sie fand, und das so nah am Feind. Raphael hatte keine mühsame Detailarbeit gescheut, um sie mit seiner Karte durch das Labyrinth zu lotsen, doch - zugegeben - den Erfolg haben sie auch ihrem Einfallsreichtum und menschlichen Wankelmut zu verdanken. Dass ihr eine infernalische Aura fehlt, ermöglichte ihr erst recht, unbemerkt durch Dispaters Verteidigungsanlagen zu schlüpfen - ganz gleich, dass sie schweres Gepäck, frisch aus Minauros' Schlick gehoben, dabei hat (mit besten Dank an Rrucht'Argazz - dass er leichter zu finden und aus dem Weg zu schaffen war, als er sich Mühe gemacht hatte).

'Und jetzt liegt sie vor dir und gackert.' Er kann es kaum fassen und wiederholt wie ein Töricht ihre eigenen Worte in seinen Gedanken. 'Es ist ihr gelungen - sie hat das Artefakt unter Dispaters Stadt platziert. Und sehr bald schon ...'

Jubelnder Applaus von der Straße reißt Raphael aus seiner Reverie. Ah ja, die Festivitäten haben begonnen. Sein Mäuschen hat nicht mehr viel Zeit, wenn sie es heute noch in die Hohe Halle schaffen will. Er geht zum Tisch um die Ecke und entledigt sich dabei seiner obersten Schicht Kleidung, die beim Tragen von einer völlig erschöpften, verdreckten Tav ruiniert worden ist. Krempelt die Ärmel hoch. Bereitet eine Mixtur an Getränken vor, die sie wieder aufpäppeln wird. Sie war drei volle Toril-Tage fort. Ein Blick aus dem Augenwinkel reicht, um zu sehen, dass sie völlig dehydriert ist und verarztet gehört. Er könnte sie wahrscheinlich mit einmal Handauflegen heilen. Er hätte nichts dagegen, aber sie würde versuchen ihm den Kopf abzubeißen.

Seine Hände zittern. Raphael setzt mit etwas Geklirr den Trunk aufs Tablett ab und mustert sie mit äußerstem Fokus, als suche er nach der Ursache für diesen Tremor auf der Oberfläche seiner Haut. 

Sein Plan wird aufgehen.

Sein Blick gleitet an seiner Hand vorbei ins Leere.

Bei den Göttern, den Neun und allem, was der Abgrund ausspuckt: Der Coup könnte tatsächlich gelingen. Wenn die Kalkulation der Shadovaren nicht völlig daneben liegt, wird in weniger als vierundzwanzig Stunden das Artefakt unter seiner eigenen Instabilität zusammenbrechen und die komplette Stadt samt Erzteufel verschlingen. Nichts kann dieser entfesselten Macht widerstehen, nicht einmal Dispaters eiserne Festung, in der er sich seit Äonen versteckt. 

Er sollte weiterplanen, alle Eventualitäten abstecken. Aber in seinen Knochen brodelt ein Mark der Nervosität, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Das Warten auf Rückmeldung von den Schattenarkanisten ist nervenaufreibend - nicht einmal die Aussicht auf Karsus' Krone hatte ihn so schwindelig vor Erwartung gemacht. Und das ist erst der Anfang.

'Nesserils Untergang wird dagegen wie ein zusammengeklapptes Kartenhaus aussehen.'

Er ballt die ungehorsamen Hände zu Fäusten und versucht die Anspannung in seine Brust einzuschließen. Wäre er noch Herr über Hopes Haus, wüsste er, wie er sich beschäftigen könnte. Schon sieht er sich am Schreibtisch sitzen, einen halben Satz schreiben und wieder aufstehen, um wieder eine Runde durch Zimmer und Korridore zu ziehen. Oder er hätte Haarlep aufgesucht oder seine Schuldner gequält. Vielleicht einen guten Tropfen in Hopes Gefängnishöhle gebracht und sich heiter unterhalten. Doch Haarlep ist fort, und der Gesang von Schmerz und Pein reizt ihn nicht mehr; nicht, wenn es eigentlich einen Anlass zu feiern gibt. 

Raphael hört ein kurzes Wimmern und dann das Gleiten von Stoff über Haut. Er riskiert einen Blick über die Schulter und sieht, wie sie in Unterhemd und Hose dasitzt und ihren Oberarm begutachtet. Verbrennung zweiten Grades. Ihre leise, konzentrierte Atmung, dann ein Seufzer der Erleichterung. Das angesenkte Haar hat sie zu einer Seite umgeschlagen. Er kann ihren langen Nacken sehen. Die furchtbaren, blasenschlagenden Klauenspuren eines Höllenhundes oder Feuermephiten. Sie hebt den Kopf und als sie seinen Blick bemerkt, lässt sie ihren Arm los und lächelt.

"Es mag komisch klingen, aber du warst da, zumindest in meinen Gedanken," sagt sie mit weicher Stimme und er schenkt ihr ein wartendes Stirnrunzeln, "du hast versucht mich mit deinem typischen Gestichel zu motivieren."

Ein Atemzug vergeht, da wendet er den Blick ab und ergreift das Tablett. 

"Wie amüsant," flötet er schließlich, "wenn du für deine Verabredung heute Abend fit sein möchtest, solltest du das hier trinken."

Er stellt es mit samt den Fläschchen auf dem Bett ab und, mit einem erneuten Schritt zurück, verschränkt er räuspernd die Hände hinterm Rücken. Er beschließt sich großzügig zu zeigen. Es spricht nichts gegen eine Belohnung jener Untergebenen, die ihm aller Voraussicht zu einem wichtigen Etappensieg verhelfen wird. Mit erhobenem Kinn wartet er, während sie einen nach dem anderen die farbigen Fläschchen begutachtet. 

"Was ist das?"

Ah, natürlich. Sie traut ihm nicht.

"Rot - starke Heilung, Grün - mentale Regeneration, Blau - verschiedene symbiotische Booster, Gelb - ein allgemeiner Entgifter, und, bevor ich es vergesse -" Er zaubert einen Krug in ihre Hand, was sie so erschrickt, dass der Inhalt überschwappt, "Wasser gegen den Durst." 

Es ist so furchtbar kompliziert, ein Mensch zu sein, nicht wahr? Immer die Medizin, die ständige Ruhe und Nahrungssuche, nur um diesen fragilen Körper aufrechtzuhalten - desöfteren fragt der Teufel sich, wie sich die Natur das vorgestellt hat. Selbst als Fuchs hatte er mehr Widerstandskraft als dieses zerbrechliche Menschlein.

Nachdem sie einen langen Zug aus dem Krug nimmt, der in ihren Händen wie ein Fass aussieht, schaut sie wimpernschlagend zu ihm auf. Mit diesen dankbaren Kindesaugen, die er an ihr so fehl am Platz findet. Und schon werden sie glasig.

"Danke, dass du mich hierher und nicht nach Avernus gebracht hast," murmelt sie mit zugeschnürter Stimme, "ich wusste nicht, ob ich den ... Termin verpasst habe."

"Ich hätte dich gern in mein Verjüngungsbecken geworfen, doch momentan wärst du nur nass und bestenfalls sauber geworden," erklärt er mit der Sachlichkeit eines Werkmeisters, "eine temporäre Einschränkung, die ich beseitigen werde, sobald wir zurück sind. Trink jetzt."

Sie trocknet den Tropfen in ihrem Auge unter einem unwillkürlichen Kichern und seufzt. Dann gleitet sie mit den Fingern über den Heilungsbalm hinweg und greift nach der grünen Flasche. Entkorkt und trinkt. Dann Blau, dann Gelb. Schließlich schiebt sie das Tablett weg und lockert langsam die Schultern.

Er setzt sich in den Sessel neben das Bett und stützt das Kinn auf einer Faust ab. Beobachtet, wie sie es sich nun auf dem textilen Thron gemütlich macht, Kissen mit einer Hand ausklopft, rearrangiert und sich dann seufzend zurücklehnt.

"Das ist dein Schlafgemach," sagt sie schließlich, ohne ihn anzusehen. Und runzelt die Stirn. "Und dein Bett."

"Nichts zu danken."

"Aber warum?" Er sieht Tav schlucken, dann den Kopf schütteln. "Danke."

Er nickt gönnerhaft. Wie gegen ihren eigenen Willen, lächelt sie, als führe sie in Gedanken eine alberne Konversation mit sich selbst. Ihre Hand gleitet zu der verstaubten Kassette, die wie ein vergessenes Spielzeug zwischen ihren Füßen - und auf seinen einst weißen Laken - liegt. Sein altes Ich hätte Tav ohne Wenn und Aber geheilt, gesäubert und anschließend in Ketten gelegt. Hätte sie mit der Hand gefüttert, während sie hungrig und wunderschön vor ihm kniet. Sie hätte die Dienerin eines grausamen, barmherzigen Fürsten sein können. 

Ist sie aber nicht und außerdem sollte er nicht wie ein Romantiker über die Knochenstruktur ihres Gesichts oder ihre geöffneten Lippen sinnieren, also wendet er sich ab. Raphaels Herz schlägt wieder schneller, als sie leise lacht. Dieser Laut schießt ungefragt ins Blut und entfacht wie ein Funke im trockenen Feld ein Feuer, das nicht zu löschen ist.

"Was ist denn nun so Wertvolles drin, dass du mich da reinschicken musstest?"

"Nichts als eine Ideologie, die die Grundfeste deiner und meiner Welt erschüttern wird, kleine Maus."

Mehr kann er ihr nicht sagen, als er ihr das Objekt abnimmt und wegstellt. Dass es völlig bedeutungslos und vermutlich längst leer geräubert ist, würde nur einen Sturm entrüsteter Fragen loslassen, also wickelt er sie in ein Konstrukt aus Phrasen und hofft, dass Schmeichelei sie friedfertig machen wird. "Doch das wertvollste Gut von allem. Das hast du gut gemacht, meine Liebe. Ich habe nicht einen Moment an deiner Zähigkeit und Kompetenz gezweifelt. Du warst die einzige, die diesen Auftrag zum Erfolg führen konnte. Niemals Mol, niemals irgendein Warlock."

"Du bistn alter Schleimer, R-," sie würgt, "aber wie du willst: Ich bohre nicht nach. Dein Arbeitszimmer sperrst du in meiner Anwesenheit aber lieber gut ab."

Ein seltsames Geschöpf ist sie, kühn bis an die Grenze zur Fahrlässigkeit. Hat sie wirklich noch immer nicht begriffen, dass es töricht ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wenn der Teufel in der Nähe ist? Dass es ein unverzeihlicher Fehler ist, vor ihm die Schilde zu senken? Stattdessen droht sie ihm, augenzwinkernd, mit ihrer Neugier. Er hat ihr diesen Freiraum gestattet, in dem sie sich jetzt schamlos breit macht.

Warum nur hat er in jener Nacht nachgegeben? Um ein Zeichen zu setzen? Um zu sehen, wie weit er es mit ihr treiben kann? Um sie zu erniedrigen, zum Schweigen zu bringen? Vielleicht war es bloße Neugier. Oder vielleicht - ja, vielleicht - hat er schlicht seinen armen Verstand verloren. In jenem intimen Moment war sie nichts anderes gewesen außer kühn, unverschämt und entwaffnend schön. Seine perfekte, kleine Anbeterin.

Und schon wieder ist er in dieser Gedankenschiene.

Er muss sich zusammenreißen.

Doch bei den Göttern, wie sehr wünscht er sich, sie zu küssen, wenn sie lacht.

 

Als Raphael wieder zu sich kommt, ist es dämmrig im Zimmer und es hat sich in diesem Augenblick etwas Ruhe über das Haus gelegt. Ganz Rivington ist vermutlich gerade in der Stadt und der Vorort wie leer gefegt. Das Bett unter dem breiten Fenster leuchtet in der Farbe von sterbender Abendglut. Tav schwimmt, ganz in zartes Pink getaucht, in einem Meer aus Samtkissen und Decken, zusammengerollt wie einst er unter Mephistopheles' Schragenkreuz. Neben ihr ein umgekipptes, leeres Fläschchen und der zerhäckselte Rest einer Wundbandage. Es ist ein seltenes friedvolles Ereignis.

Er weiß nicht, was ihn dazu verleitet hat, einzunicken - der Stress um den Erfolg ihrer Mission und freilich auch um Tavs Verbleib muss mehr an ihm gezehrt haben als ihm bewusst gewesen ist. Sein Schlaf war von wirren Bildern heimgesucht, voller Angst, dass die Schattenarkanisten ihm niemals zurückmelden werden. Doch Raphael hebt blinzelnd den Kopf von der Rücklehne und erblickt diese glühende Vision vor sich, und er fühlt, dass seine Albträume plötzlich keine Bedeutung mehr haben. Stattdessen füllt das Stillleben mit dieser Frau nun sein ganzes Sein aus, seine Augen, seinen Schädel, seinen Brustkorb. 

Er vermag nicht zu erklären, was er fühlt. Er weiß nur, was fehlt: der Wunsch nach Eroberung. Nur befremdlich wohltuender Stillstand. 

Als wäre - wenn auch nur für den Moment - alles, wie es sein soll.

"Einst in ihrem geheimen Garten,
Der Hölle Oase, schimmert
Zwischen Hügeln ein rosa Glimmer.
Süß war sein Erwarten."

'Nein, nein, nein,' und er schüttelt das unzulässige Metrum angewidert aus seinen Gedanken. Viel zu avantgardistisch.

"Warm der Nektar, kühl die Haut.
Und ehe er sich ganz verschaut
Kniet er darnieder zu der ..."

Raphael erhebt sich wie in Trance und tritt an Tavs Schlafstätte. Ihre Schultern zittern. Er hört wie sie bibbernd ausatmet. Ah, er hat nicht daran gedacht, für das Mäuschen einzuheizen. Es ist so kalt im Zimmer, dass schon die Fensterscheiben an den Rändern beschlagen. Er könnte Tav zudecken, den Kamin anmachen, einen Zauber wirken. Er könnte sich auch einfach zu ihr legen und den Triumph darüber genießen, dass sie zitternd zu ihm kriecht. Die Wartezeit für sie beide etwas aufwerten. Die verfluchte Wartezeit ... 

Mit einem Fingerschnippen lodern Flammen im Kamin auf, ihr flackerndes Leuchten wirft tanzende Schatten in glühendem Orange auf ihre Haut. Im unsteten Licht scheint es, als wäre sie zurück in der Hölle. Er lauscht dem Knistern, erwartet, dass sich die Luft augenblicklich aufheizt. Doch nichts geschieht. Natürlich, diese Flammen brennen nicht annähernd wie Höllenfeuer. Er tritt so nah ans Bett, dass seine Knie anstoßen und lässt die Hand über das seidene Spannbetttuch gleiten. Stellt sich kurz vor, wie sie sich im Moment der Leidenschaft vergeblich daran festkrallen würde, während er sie hart von hinten nimmt. Breitet unter seinen Fingerkuppen eine Hitze aus, die durch die Maschen des Stoffs sickern. Die ganze Matratze lädt sich mit einer wohligen Wärme auf, die bis zu ihm hinaufstrahlt. 

'Na, siehst du,' denkt er, 'kein Grund mehr ihr nahe zu kommen.' Er linst zu dem eingerollten Räupchen Schmetterling-in-Spe hinab. 'Überhaupt keinen Grund.'

Er hatte Abstand gehalten, sie nur dann berührt, wenn es die Umstände erforderten. Und doch war sie zurückgezuckt: zuerst in seinem Büro, dann erneut, als er sie vom Portal in sein Gemach trug. Dieses eine, unwillkürliche Zucken entging ihm nicht. Ihm entgeht schließlich nie etwas. Ein stiller Verrat, für minder geschulte Augen kaum erkennbar, doch für ihn so laut wie das Klirren von Ketten. Wie könnte er es auch übersehen? Schließlich ist er ein Experte darin, das Elend anderer zu erfassen. Er kennt diesen Impuls nur zu gut - das Zusammenzucken vor der schlagenden Hand. Sie wird niemals verstehen, wie viel sie gemeinsam haben. Und er? Er wäre der Letzte, der es ihr verriete.

"Kleine Maus," flüstert er ihr zu, "der Abend naht." 

Murrend dreht sie ihm das haarverhangene Gesicht zu. 

"Du solltest langsam aufstehen."

Sie schnurrt leise, schmiegt sich tiefer in die aufgewärmte Matratze - und schläft weiter. Gemütlichkeit ist ein mächtiger Gegner. Er sollte sie mit einem eisigen Schock aus den Federn jagen. Was für einen Anblick sie böte! Raphael brummt lachend. Oder er könnte ihr sprichwörtlich die Hölle heißmachen. Adagio pianissimo iniziale mit allmählichem stringendo
Er heizt sogleich das Bett auf und bald schon sieht er siegreich zu, wie ihre Beine die Bettdecke wegstrampeln, bis das Laken zerknautscht unter ihr liegt.

"Willst du dich nicht für das Fest herausputzen?" murmelt er und hebt schon die unzüchtige Hand, um eine Strähne aus ihrer Stirn zu picken - und gefriert. Der Moment der Schwäche drängt sie weiter zur Schlafenden, doch er widersteht. Die süßesten Siege verlangen nach Geduld.

Es muss ein bleierner Schlaf sein, denn er will nicht weichen. Raphael beugt sich zu ihr hinab, sein Blick argusäugig auf ihrem Gesicht, auf der Suche nach einer möglichen Vergiftung oder etwas anderem Alarmierenden. Ihre Wangen kussrot, die Mundwinkel entspannt. Er inhaliert das Aroma von altem Schweiß und Adrenalin. Der unverkennbar überreife Geruch eines Abenteurers. Aber nichts Ungewöhnliches.

'Unsere kleine Heldin brauchte einfach eine ordentliche Mütze Schlaf,' denkt er.

Raphael nimmt den Hauch von Ruß und verbranntem Horn wahr, vermischt mit dem stechenden Beiklang von Ethanol und Kompressen, die sie sich um Hals und Arm gewickelt hat. Weiß sie, wie ätzend die Klauen eines Feuermephiten sind? Dass selbst während der Heilung sein Gift noch Tage später tief in der Hautschicht schmerzt?
Er streift die Fingerkuppen über den wollenen Stoff und dann, sachte, lässt er die kühlende Wirkung von frisch gefallenem Schnee hinein. Dort und am verbundenen Oberarm, der nach epidermaler Verbrennung riecht. Da, er ist nicht immer ein Monster, argumentiert er mit ihr in Gedanken. Mit einem Tanz seiner Finger über ihrer Kehle, befreit er sie schließlich auch von seinem magischen Würgegriff. Vernimmt ihr erleichtertes Aufatmen und lächelt hehr. Seht, der Teufel kann ein Wohltäter sein! Welch Absichten sie ihm auch unterstellt, er weiß gute Leistung zu schätzen. 

Raphael erwärmt ihre steifen Schultern und Tav entspannt sich sichtlich, leise grummelnd.

Ja, er kennt den Ansporn der Mildtätigkeit.

Erwärmt ihre müden Hüfchen.

Es gibt grausamere Meister als ihn.

Sie stößt ein leises Stöhnen aus und mit erwachtem Interesse observiert er den Quell dieses Lauts - ihre Füße - nun genauer. Schickt den nächsten Schwall Hitze nun etwas vorsichtiger durch ihre Zehenspitzen and ihren Fußgelenken vorbei hinauf zu den Knien, bis die Wärme jenseits davon sanft verblasst.

Sie maunzt heiser. Und er ist wie verhext. Tav ist so sprunghaft, so zerbrechlich - und aus irgendeinem Grund unglücklich. Und trotzdem hat sie etwas an sich, das er kaum ignorieren kann. Alles Feuer, alles Tatendrang, und mehr noch. Nein, er ist kein hoffnungsloser Romantiker.

'Es ist nur eine nüchterne, sachdienliche Beobachtung,' sagt er sich, auch wenn diese Beobachtung ihn leise verfolgt.

Aber diese miauende Naturgewalt hat schon so viel bewegt. Den verschollenen Froschprinzen befreit, den Gott der Knochen bekämpft, und gegensätzliche Fraktionen unter einem Banner vereint, um die Schwertküste vor den Gedankenschindern zu retten ... Sie ist das edelste Ross, das man sich in seinen Stall stellen könnte - ein potenziell mächtiger Warlock. Sein unterhaltsamster Apostel. Und während er sie so inquisitorisch betrachtet, malt er sich schon aus, wieder in ihr zu sein. 

Seine perfekte kleine Sünde.

"Tav ..." Sein Blick folgt seiner Hand nach, die hinabgleitet, "steh auf. Oder willst du mein Bett gar nicht verlassen?"

Seine Hand lauert über dem bedeckten Dreieck, das ihre Schenkel bilden, und lässt im Zentrum die Wärme an- und abschwellen. Puls für Puls. Ihr Atem wird schneller, ein Hauch von Erregung in der Luft. Ihr Körper reagiert auf seine Berührungen, ob sie es will oder nicht. Er rollt die eigenen Schultern zurück, nicht völlig gleichmütig vor dieser Beichte.

"Willst du lieber mit dem Teufel liegen?" 

Wie weit kann er sie triezen, bevor sie endlich ausschlägt? Dieses Engelchen hält sich tatsächlich für so was wie tugendhaft - zumindest im Vergleich zu ihm - eine Illusion so absurd, dass ihm ein kurzes Grunzen entfährt.

'Hat sie das, was wir einmal waren, nicht verraten? Hat sie nicht über meinen Niedergang gelästert?' Oh, Tavs Weste ist schon lang nicht mehr weiß.

Er wird sie brechen.

Raphael schickt eine Welle kalter Luft ihre Seite hinauf, und ihr Körper antwortet mit einem leichten Beben. Er registriert jedes Detail. Ihre Hände beginnen zu wandern - die eine über ihre Rippen, gemächlich wie in einem Traum, und die andere unter ihren Hosenbund. Murmelnd beugt sie den schönen Nacken. Ein Seufzen, weich wie ein gehauchter Gedanke, entweicht ihren Lippen. Sie mag ihn meiden. Oh, zweifellos tut sie das. Aber ihr Körper? Ihr Körper flüstert eine andere Geschichte.

"Nur zu, süßer Seraph," murmelt er beinahe im Selbstgespräch, sein Blick auf ihren arbeitenden Fingern. "Nimm dir, was du brauchst."

"Hnnnh ..."

"Finger dich glücklich ... Ich steh dir zur Seite."

Dann rollt ihr Gesäß auf und Tavs Essenz flutet seine Sinne.

"Wenn du dich sehen könntest," sagt er rau und senkt seine Hand zur Schnürung ihrer Hose, "ein errötender Apfel, der darum bettelt, verschlungen zu werden."

Er kennt kaum noch Scham als seine Hand in einer Mimikry Tavs eigene nachahmt; die Knöchel gekrümmt, wie die ihre unter dem festen Hosenstoff. Die Vorstellung von ihren oszillierenden Fingern zieht ihn gefährlich nahe zu ihr. Raphael bemerkt, dass sein Mund offen hängt, er selbst von diesem Naturschauspiel völlig eingenommen, und räuspert.

Es zieht ihn zögerlich zur nächsten unartigen Entscheidung - stringendo sollte es schließlich lauten, oder nicht? Und stringendo schreit auch jede drängende Bewegung dieser Frauengestalt, denn immer fester drückt die volle Brust gegen den Stoff und immer feiner perlt die Anstrengung auf ihrer Haut. Er könnte mit einem singulären Gedanken ihre Bekleidung in Tausend klirrende Funken auflösen und sich einfach nur an dem Anblick ergötzen. Allein die Versuchung lässt seinen Hemdskragen sehr eng werden. Raphael spürt nun auch selbst die Hitze zwischen ihren Körpern.

Das mag der Grund für seinen kurzen Lapsus sein, dass er - wie ein jungfräulicher Sukkubus, der über(g)eilt seine Ladung verschießt - einen zu heftigen Eisesblitz durch ihre Nerven schickt; denn jäh schnappt Tav unter ihm nach Luft und schlägt die Lider auf.

Ihre schwarzen Augen sind sogleich auf ihm.

"Raphael." Der schönste Gruß von allen. Wenn auch bedauerlich früh.

"Stets zu Diensten." 

Der Schlaf hängt wohl noch in ihren Augen, denn sie blinzelt mehrere Male, als ringe sie noch mit der Sicht.

"Was ist los? Was -" Ihre Stimme hüpft prompt eine Oktave hinauf, "was zur Hölle tust du da?"

"Hmm, gar nichts."

"Und ob!" Keuchend versucht sie sich aufzurichten. Allein ihre Geilheit will es nicht. Er grinst. Und sofort verfinstert sich ihre Miene. Was umso komischer wirkt, da ihre Hand immer noch in ihrer Hose steckt.

"Lass- lass mich los."

Er schlägt verständnislos mit den Wimpern. "Loslassen? Von was? Von der Leine, meinst du?" Und grinst dann. "Sag erst 'bitte'."

Und ohne zu warten schickt Raphael ihre Sinne auf die nächste Fahrt aus frostig-glühender Stimulation. Sein Blick springt zu den beschlagenen Fensterscheiben, während sie sich unter ihm windet. "Hmm, ich würde sagen, wir haben eine Stunde. Genug Zeit für einen kleinen Ritt durch alle Klimazonen Baators und zurück."

Sie haben noch nicht einmal zehn Minuten. Tav ist bereits jetzt schon zu ihrem kleinen "Treffen" spät dran. Allerdings durchsetzt ihr erregender Duft mittlerweile das ganze Zimmer. Sie wäre bereit für ihn, sie würde ihn gut in sich aufnehmen. Doch schon beginnt sie sich von ihm abzuwenden, macht Anstalten, sich vom Bett zu rollen.

Raphael duldet es nicht und watscht die nächsten Pulse in ihre geschwollenen Lenden, und Tav fällt mit einem kapitulierendem Stöhnen auf den Rücken zurück. Wohlgemerkt, sie hat in der ganzen Zeit nicht aufgehört sich zu fingern, und mit einem Hunger, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, sieht er ihre Wangen (wahrscheinlich aus Scham) immer röter werden. Fast entgeht ihm ihr glasiger Blick auf seine Hose - beziehungsweise, auf das, was darin endlich auf Raphaels Amtshandlung wartet. She schnappt nach Luft.

Was für ein unartiges Mäuschen.

"Wirst du mich gegen meinen Willen nehmen?"

"Wenn du willst. Es würde mir etwas zu tun geben und dir endlich Futter für deinen Hass. Du willst mich hassen, nicht wahr? Du lechzt nach einem Grund."

Er lacht gefühlskalt, die Finger schon über ihrer Brust spreizt, um mehr Zauber zu weben.

Da weicht sie erneut zur Seite aus, flüstert "Den habe ich schon."

Mit einem Schnauben bohrt er eine Faust neben ihrem hochroten Kopf in die Matratze.

"Vorwand," befindet er. Was hat er ihr jemals getan, dass sie ihn so verachtet? Er hält sie beide auf Distanz. Er respektiert ihren Wunsch, sie nicht zu berühren. (Sieht sie das denn nicht?) 

"Ich brauche keinen Vorwand, um -" beginnt sie.

"Ah, dein Gejapse nach Ausreden ist so transparent wie dünnes Papier," seufzt er mit einer Abgeklärtheit, hinter der die Irritation zu brodeln beginnt, "ist dir nicht bewusst, dass jeder deiner Gründe nur vorgeschoben ist?"

"Ach ja?" haucht sie mit abgewandten Blick. Doch sie schluckt, als er nun scheinbar jede ihrer erogenen Zone seiner Magie unterwerfen will. Mit einer Hand greift sie nach seinem Handgelenk und klammert sich japsend an sie.

"Raphael!"

Oh, sie ist so kurz davor das Handtuch zu werfen. 

"Ja," wispert er mit sanftem Gift zurück und legt nun ein Bein neben ihrer Hüfte ab, "in Wirklichkeit hasst du gar nicht mich, sondern dich selbst. Jedes Mal, wenn du mich in deine Nähe lässt, bestrafst du dich lediglich für das, was du getan hast."

Tav sieht mit verkniffener Miene an ihm vorbei. "Hmpf. Was soll ich angeblich getan haben?"

"Wenn ich es dir verrate, wirst du mich von der Bettkante stoßen? Oder spreizt du dann reumütig die Beine?"

Er sieht zu, wie sie die Stirn gegen seine Faust presst, als seine Hand zwischen ihre Schenkel wandert und den rechten zur Seite schiebt. Er lässt seinen Daumen nur einen Fingerbreit von ihren Handwerk entfernt liegen. Nicht mehr als ein Fliegengewicht. Tavs Hand pumpt langsam sein Gelenk. Ein reflexhaftes Zucken ihrer Schultern, ihre kurzen Atemstöße. Gleich wird sie ihn an der Gurgel packen und ihn endlich mit dem gleichen Hunger küssen, von dem auch er besessen ist. Sie will es, ihr Körper hat es verraten. Sie will es nur nicht wahrhaben.

Stattdessen presst sie die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.

"Keine Antwort, hm?" Es kostet ihn so viel Kraft, ihre Lippen nicht mit den seinen zu erobern. So viel Selbstkontrolle, um sie nicht zu entkleiden und sie auf sich zu schieben. 

"Nen Sch-scheiß hab ich getan," schafft Tav schließlich mit einem Klären der Kehle zu sagen und er brummt im Widerspruch.

"Immer diese Selbstverleugnung." Er lächelt wissend, als ihre Hüfte unwillkürlich gegen seinen Daumen drückt, "Herzallerliebstes Mäuschen mein, wie wohl würd' ich mich laben, deinen schändlichen Mund zu strafen."

"Shit."

Sie atmet tief ein und verdreht dabei die Augen. "Ah, Raphael, alles leere Floskeln. Le-leere Versprechungen."

Etwas funkelt in ihren Augen auf - der Schein der Ernüchterung - und in ihrem Gesicht vollzieht sich ein Wandel. Es ist lediglich ein Zucken ihrer spröden Lippen, aber mit einer heißen Bestimmheit weiß er plötzlich genau, was sie gleich sagen wird, und er hält sie gerade noch -

"Grauen-"

Auf. "Still!"

Sie überbetont die erste Silbe mit einer fömlich genüsslichen Bitternis aus, und es macht ihn so wütend, dass er sie am liebsten erwügen möchte. Diese Spaßverderberin. Warum ist sie so? Der Teufel hat sie zum Höhepunkt gebracht. Er hat sie befriedigt.

Oder nicht?

Was für eine Hexe ist sie, dass sie ihn in Selbstzweifel zu stürzen vermag!

Er merkt erst, dass er seinen Daumen druckvoll gegen ihren Eingang drückt, als Tav sich versucht aus seinem Griff zu winden, ihre Augen wie vor Schmerzen fest geschlossen. Sie hat sein Handgelenk losgelassen und friemelt nun verzweifelt nach etwas weniger Teuflischem - am Kissensaum. Raphael stoppt sofort jede Bewegung. Flucht innerlich über diese Entgleisung. Nur langsam zieht er dann die Hand, die verletzte, zurück. Er legt sie vorsichtig auf ihrem Hosenbund ab und mit dem nagenden Frust im Herzen starrt er auf ihre linke Brust.

"Sag, dass du mich willst," scherzt er selbstironisch und hasst den Klang seiner eigenen Worte.

Er ist nicht der, nach dem sich ihr Herz sehnt.

"Ich will meinen Spaß," erwidert sie mit belegter Stimme.

"Du willst leiden, das ist es."

Seine Faust hat sich geöffnet und jetzt krallt er die Finger so tief in das Fleisch der Matratze, dass das Spannbetttuch reißt. Raphael kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, ringt um sein Lächeln, das sich jetzt mehr wie eine zerlaufene Grimasse anfühlt. Sie wispert irgendeinen Protest, den er kaum registriert, sondern er unterbricht sie einfach.

"Dein schlechtes Gewissen bringt dich fast um, nicht wahr?"

"Ich habe dir gegenüber kein Gewissen."

"Nicht gegenüber mir, nein, aber ihm," und er will seinen Namen nicht sagen, er verachtet ihn mit voller Inbrunst, den Drider, der tot ist, der aber die Frau, die keuchend unter ihm liegt, immer noch in seinem Bann gefangen hält. "Mach mir nichts vor. Ich kenne dich besser als du dich selbst. Deine Besessenheit hat längst nichts mehr mit Liebe zu tun, oh nein. Sondern mit Verachtung für das, was du ihm angetan hast. All die süßen Lügen über Freundschaft und Loyalität hast du ihm ums Maul geschmiert."

Sie presst die Lippen aufeinander. Ihr Blick wird sauer. Es soll ihn nicht kümmern. Er wird schon noch diese Mauer aus geistiger Umnachtung, die sie so offensichtlich um den Drider herumentwickelt hat, durchschlagen. Wird verhindern, dass ihre Selbstgeißelung sie eines Tages an die Schädelsäule der Verdammnis nagelt.

"Du hast seine maßlose Bewunderung für die 'Wahre Seele Tav' instrumentalisiert ..."

Vor allem aber hat er gerade den intensiven Wunsch ihr weh zu tun.

"Und den finalen Akt, als der Einfaltspinsel endlich die Täuschung erkannte, trotzdem noch in dein persönliches Versöhnungsdrama umgemünzt. Wie praktisch, dass deine Scharade in seinem Tod kulminierte - du warst nicht gezwungen Rede und Antwort zu stehen. Eine perfekt geschriebene Tragödie."

Und Tragödien, nun, sie sind sein täglich blut'ges Brot.

Sie zieht scharf die Luft ein reißt ihre Hände jetzt an die eigene Brust. Raphael bläht lachend die Nüstern und inhaliert den warmen Nektar an ihren Finger. Die Schlacht der Verführung hat er verloren. Also schlägt er das Buch mit einem Wumms zu und schickt den Rest der Wahrheit wie einen Todesstoß hinterher.

"Ich hielt dich bis dahin für einen Feigling, Tav. Aber nein, du warst etwas viel Besseres: opportunistisch. Brava, das Böse hat am Ende gesiegt."

Während er sich näher beugt, wird sein Lächeln finster, so finster wie der Raum im schwindenden Licht. "Nur zu, kleiner Engel. Lass dich heute Abend mit Bewunderung überschütten. Du verdienst sie mehr, als deine Freunde ahnen."

Mit einem quälenden Laut boxt Tav ihm in die Brust und stößt ihn von sich. Der Teufel tut ihr den Gefallen und rollt aufs Bett. Der Zauber, der auf ihr lag, bricht und sie setzt sich auf, wirft sich eines der vielen Kissen über den Bauch. Sie starrt ihn wütend nieder. Das Haar fällt in zerzausten, staubigen Wellen über ihre Schultern. Entwaffnend, denkt er, während er sie faunisch angrinst, und erwartet schon Worte der heißen Vergeltung.

Doch dann huscht etwas über ihr errötetes Gesicht und eine Ruhe legt sich über sie, die ihn kurz das Atmen vergessen lässt. Als sie endlich den Mund aufmacht, tut er es ihr gleich, begierig auf das, was sie ihm gleich an den Kopf werfen wird. 

Das Kissen fällt zu Boden und sie steht auf.

Mit geweiteten Augen starrt Raphael Tav hinterher, die wortlos davontrottet wie das angeschlagene Nachtlied nach bitterem Sieg. Er blinzelt - das Gefühl in seiner Brust jetzt sein einziger Bettgenosse.

Noch immer wie gebannt, noch immer brennend. Noch immer verwundet.

Chapter 19: 19 Tanz der Figuren

Summary:

Ein Burgfest zu Ehren Ulder Ravengards, ein paar neue Gesichter und mehrere ungebetene Gäste.

Notes:

Hinweise:
- Baldur's Gate 3 Zitate
- "Transparenz"-Witz von Frasier geklaut
- Mehrere Heinrich Heine-Referenzen (angefangen mit dem Lied "Der Traum" aka "Ich hatte einst ein schönes Vaterland")

Musik:
Teil 1:
Gabriel Fauré - Pavane, Op.50

Teil 2:
Dead Can Dance - The Carnival Is Over

Teil 3:
Lingua Ignota - Ein Traum (Pentiment Soundtrack)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Teil 1 — Eröffnung

 

Tav ist zu spät dran.

Sie ist viel zu spät.

Sie nutzt zwei der Portale, um von Rivington in die Oberstadt zu gelangen, und sie hat sogar ihre Wanderstiefel an, um den Rest der Strecke rennen zu können - die Poulaines mit den hohen Absätzen (mindestens fünf Zentimeter sinds!) baumeln in einem Beutel von ihrer Schulter. Doch, Helm verrecke, es reicht nicht, weiß Tav, sie wird weit nach der Zeit ankommen. Die Wachen werden sie gewiss nicht mehr in die Burg lassen und sie wird vor dem heruntergelassenem Fallgatter stehen und so arm durch die Eisenstangen glotzen wie eine Straßenwaise im Regen. Denn sie ist eine Idiotin und hat sich von Raphael aufhalten lassen. Sie ist spät dran, mit heute Abend, mit der Familiengründung, mit ihrem Selbsterhaltungstrieb. Der Teufel sei verflucht. Und sie auch.

"Verdammter Teu-, Verdammter!"

Sie schnauft tief durch das Korsett und fängt den metallbehangenen Saum ihres Kleids auf, der wieder durch ihre Arme zu rutschen droht. Unterm Rennen lässt es sich ihn schwer schimpfen, insbesondere, wenn sie diese vermaledeite Treppe rund um den Tempel von Talos hinaufsprinten muss, um die terrassenartige Erhöhung des Ducalpalasts zu erklimmen. Der Marathon ist die Strafe der Götter, vor denen sie nie gekniet hat, und, ah, sie hat sie verdient. Möge der Gott der Treppen die nächste Stufe unter ihr wegbrechen und ihr schwaches Fleisch zu Fall bringen. Wie leicht zog der gehörnte Puppenspieler an ihren Strippen und drehte sie so schnell, dass alles um sie herum verwischte, bis nur noch er und sie existierten und diese Hitze in ihren Gliedern, denen er befahl. Befahl, bis sie vor ihm lag mit ihrer Hand zwischen den Schenkeln. 

Sie hätte ihn zur Rechenschaft ziehen sollen.

'Ja ja, "kaum berührt"!', denkt sie spöttisch. Tav kann schon seine fadenscheinige Rechtfertigung hören. '"Kaum berührt" und so. Ich fress nen Besen.'

Unmöglich zu beweisen, dass er sie niedergedrückt hat. Dass sie unter irgendeinem Zauber gestanden hat.

Sie haben längst die verbotene Schwelle namens Intimität überquert, was also will er noch von ihr? 

'Verfluchte Teufel und ihre Spielchen.'

Zusammenreißen muss sie sich. Sie weiß, dass sie seine Rache und die ganze Drohgebärde, die er an den Tag legt, nicht verdient hat. Wenn überhaupt schuldet er ihr Reue für so verdammt viele Dinge, sie könnte ein Buch darüber schreiben. Aber Teufel weinen nicht. Nicht in Tavs Welt.

Ah, sie sollte sich nicht darüber aufregen, sondern lieber auf die Zeit achten. 

 

Sie erreicht das Plateau mit wehendem Haar und zwei wachsenden Schweißflecken unter den Armen. Keuchend fällt sie gegen das Fallgatter der Burg und versucht den jungen Torsoldaten zu beschwatzen, damit er sie hineinlässt. Das tut er nicht, aber zumindest holt er die Wachführerin herbei und die wiederum, gerade auf einem Stück Schwarzwurz herumkauend, den Wachhauptmann, und dieser nach eingehender Anschauung der Frau, die im aufreizenden Samtdress und durchgelatschten Tretern wartend, kommt endlich auf die geniale Idee, das Tor heben zu lassen, damit sie durchschlüpfen kann. Tav wird unter Aufsicht ins Torhaus im Zwinger gebracht, wo sie auf Wyll Ravengard wartet. Sie sitzt wie eine verurteilte Verbrecherin auf der Holzbank, weil sie es gewagt hat bewaffnet zu dem großherzöglichen Anlass zu erscheinen. Tja, da kann die schöne Schulter noch so nackt und die Lippen noch so kussrot sein, Tav muss in der Zelle ausharren. Sie nutzt die Zeit, um die Schuhe zu wechseln und ihre Haare mit einem Kamm zu bändigen.

Eine satte halbe Stunde vergeht und Wyll taucht nicht auf. Tav erfährt, dass er immer noch in der Begrüßungszeremonie steckt und deswegen nicht weg kann. Aber mit unbedingter Erlaubnis des Jungherzogs darf Gus Tava von Helm's Hold in den Innenbereich eskortiert werden, wo sie sich dann zu den anderen Gästen gesellen wird. Der Wachhauptmann, ein abgehalfterter Elf mit Triefaugen, sieht skeptisch hinterher, sein Blick auf ihrer Bekleidung, die ihn wohl zu verwirren scheint.
Ja, wo ist denn ihre ganze Gefolgschaft, wo ihre Einladung, kurz: Hat sie irgendeinen Nachweis für ihren VIP-Status? Ja, die Einladung hat sie auch vergessen. Wunderbar.

Der Abend fängt also schon mal mittelprächtig an. Die Schwarzwurz schmatzende Wachführerin stellt, weil sie zum Dienst zurückgerufen wird, Tav am Rand der überfüllten Begrüßungshalle ab, von wo aus man nicht den geringsten Überblick über die Größe der Halle hat, geschweige denn über den Standort des Büffets (Tavs Magen verdaut sich gerade lautstark selbst) oder des nächsten Fluchtwegs. Tav schiebt sich durch die Kostüme der Schönen und Reichen vorwärts (hat dabei mehr als einmal Federschmuck im Mund, Fetzen von versehentlich mitgerissenem Blumenarrangement im Ausschnitt und steigt mehreren Personen auf die Schleppe), um einen besseren Blick auf den hell erleuchteten Prunksaal zu erhaschen. Die Luft wiegt schwer vor Duftwässerchen, körperlichen Ausdünstungen und kurioserweise von Ölfarbe. Das Warum ist schnell geklärt - wie Tav mit einem Ohr mitbekommt, hat der Großherzog erst heute drei gigantische Gemälde, frisch fertig gestellt und jedes so groß wie die Torflügel von Hopes Haus, aufhängen lassen. Auf den Bildern sind Schlachten zu bestaunen, Ritter auf Streitrössern, ein aufgespießter Drache sowie das Nesserhirn hoch und düster über der von Lathanders Licht geküssten Stadt. Tav sieht weg. Sie braucht was zu Trinken, das Potpourri aus Gerüchen macht all ihre Sinne durstig. 

Es gelingt ihr einen Platz nahe einem Geländer zu besetzen, von dem aus sie eine gute Sicht auf das Zentrum des Saals hat. Dankbar lehnt sie sich an und verfolgt das Spektakel vor sich. Im gefühlten Minutentakt werden im Parterre die Ehrengäste empfangen, die mit ihrer Entourage aus Herolden, Beratern und Konkubinen, oder weiß der Geier wer, den breiten roten Treppich hinaufschreiten, um vor dem Dais von Ulder Ravengard zu knicksen und kostbare Geburtstagsgeschenke zu präsentieren. Neben seinem Vater steht Wyll, mit funkelndem Festtagsgewand, funkelndem Auge und einem polierten Zierrapier an der Hüfte. Sie lächelt voller Zuneigung und wünschte, er könnte sie in der Menge winken sehen. Die nicht minder schöne Frau rechts von ihm mit einem dunklen Bündel auf dem Arm muss seine Frau Gemahlin sein. Eine aristokratische Bilderbuchfamilie.

Bald schon verliert die Begrüßungszeremonie an Neuheitswert und Tav zieht sich auf einen der verhangenen Seitenausgänge zurück, so dass sie endlich nach etwas zu trinken suchen gehen kann. Von der Terrasse aus hat sie einen grandiosen Blick auf den Burggarten. Die Luft ist auf magische Weise so warm, dass man es für einen lauen Sommerabend halten könnte, wäre da nicht das bunte Baumlaub.
Sie streckt den Rücken und genießt den Platz zum Atmen. Solch höfische Spektakel sind ihr gewiss abgegangen. Nichtsdestotrotz erinnern Glitzer und Glanz sie daran, wie wenig Platz sie in ihrem Korsett hat - sie kann kaum atmen. Nicht nur die vielen Leute und der Platzmangel, sondern auch der Fokus auf ihre Person walzen wie eine Welle über sie hinweg; sie zieht unwillkürlich Blicke auf sich. Wenn sie nicht gerade zum skandalösen Bein ihres samtroten Kleides wandern, dann zu den Bandagen, die unter ihrer Stola hervorlugen, und unter denen der Höllengruß Dis' brennt wie die Erinnerung an ein Säurebad.

Sie wickelt den Schal fester um die Schultern und atmet den Schmerz in einem Räuspern aus. Ein wenig fehl am Platz kommt sie sich vor: das Kleid zu dekadent und die restliche Aufmachung zu schlicht im Gegensatz zu den Lebendkunstwerken, die hier herumschweben, als wären ihnen Flügeln an den Füßen gewachsen. Manche der opulenten Kostüme bieten einen solch prekären Halt rund um den Busen, dass Tav mit der Spannung eines Krimilesers darauf wartet endlich etwas herausfallen zu sehen; natürlich wird das nicht passieren - wer zu Gast bei dem Großherzog ist, der hat die Etikette verinnerlicht und weiß alle physikalischen Gefahren mit Magie zu bezwingen.
Am meisten staunt sie über den Kopfschmuck. Er ist in einigen wenigen Fällen so ausladend, dass sie meint, die Person sei kopfüber in einen Spielzeugladen gestürzt und hätte das halbe Inventar mitgerissen. Sie beobachtet während der Audienz, wie das glitzernde Modellboot samt Fischen, die sich in den Kunstwellen einer galanten Dame befinden, vom weinumrankten Hirschgeweih eines Druiden aufgespießt wird. Der Druide zaubert unter hastigen Beteuerungen das Loch im Bootsbauch wieder heile, aber was von beiden ungesehen bleibt, ist ein kleiner Miniaturdelfin, der seinen Besitzer wechselt. Tav selbst trägt die Haare lediglich offen und bis auf ein paar falsche Goldringe am Handgelenk keinerlei Schmuck.

Und dennoch wird gerade sie von einigen Leuten aufmerksam begutachtet. Nach dem sechsten Seitenblick glaubt sie ein Muster zu erkennen: Es sind fast immer Tieflinge. Die Augen bleiben an ihrem Kleid hängen und gleiten äußerst langsam über die goldenen Schuppen ihres Mieders hinauf zu ihrem Gesicht. Spätestens dann glimmt ein Funke der Verwirrung in ihnen auf. Was erwarten sie zu sehen? Tav grient zufrieden, als ein Gaffer über den eigenen Schwanz stolpert. 

Sie tritt die breiten Treppen in den Schlosspark hinab, in dem noch uniformierte Bedienstete die letzten Vorbereitungen treffen: Pavillons auf die Beine zaubern und Met- und Weinbrunnen zum Leben erwecken. Ansonsten ist der Park besucherlos. Sie greift sich sogleich einen der Messingbecher und schöpft aus dem sprudelnden Quell, und geht gierige Schlucke nehmend spazieren, über ihr ein Sternhaufen an Lampions, der die echten Sterne ersetzt. Es kann nur ein guter Plan sein, auf leeren Magen zu trinken, sagt sie sich. Alkohol dimmt die Reizflut und macht das Gemüt locker. 

Auf dem weitläufigen Gelände kann man sich wunderbar verlieren. Jede Menge Pfade und zurechtgeschnittene Sektionen erlauben ein Lustwandeln in relativer Privatsphäre. Im Heckenlabyrinth, das im Schatten der Nacht liegt und dessen Eingang nur durch zwei Fackeln erleuchtet ist, sieht sie es kurz blitzen und funken - nur Teil des Festprogramms, denkt sie, da niemand vom Burgpersonal dem auch nur einen Seitenblick schenkt. In einer anderen Ecke üben Gaukler und Akrobaten ihre Künste als Körperverdreher und Feuerspucker, und in einer anderen meint Tav kurz ein mächtiges Fauchen zu hören. Ob der Zirkus zu Gast ist?  

'Ein Jammer um Dribbles. Wyll mochte ihn so sehr.' 

 

Da schallt hinter ihr der Applaus aus den Ausgängen und eine Marschkapelle hebt zur Musik an. Wenig später hört sie das Klappern von Rüstungen - sicherlich die Ehrengarde des Großherzogs, die nun zum zeremoniellen Einzug aufmarschiert. Der Großherzog muss wohl seine Rede gehalten haben, denn sie hört die vielen Schellen der Priester, darunter auch die besonders bauchige Glocke von Helm, die sich in den musikalischen Krach einreiht. Tav stürzt ihren ersten Becher leer und lauscht aus dem Schutz eines Logenzeltes dem Knurren, das sich tief im Sumpf ihrer Magensäure rührt.

Unter dem Tamtam der Prozession spülen die Besucher auf die Schlossterrasse hinaus, anfangs nur gestoppt von dem Damm aus Einschenkern, die Tabletts mit Bechern und Perlwein bereithalten. Das Gemurmel und Lachen schwillt an, und bald schon surrt es auch um Tavs Versteck herum - Grüppchen, die sich gebildet haben und beginnen, die begehrtesten Spots des Lustgartens für sich einzunehmen. Bald schon muss auch sie weichen - mehrere Augenpaare mustern sie mit dieser unausgesprochenen Frage, warum sie eine Loge für sich allein beansprucht. Verstohlen verzieht sie sich nach draußen, Stola über Brust und Schulter geworfen, als könne sie so unsichtbar werden.

Tav treibt durch die lichte Menge, auf der Suche nach Wyll. Stakst an Gesprächen vorbei, die wenig mehr sind als oberflächlicher Plausch; ein Verbrecher namens Goldfisch, der neuerdings Waterdeeps unbescholtene Bürger ausnimmt. Eine Magierin, die sich darüber beklagt, dass das Schlosslabyrinth nicht verzaubert sei – was bringe ein Irrgarten, wenn er die Besucher nicht in existenzielle Angst versetze oder keinen Minotaurus beherberge, der hinter einem herjagt. Dann überhört sie, sehr zum eigenen Verdruss, Fetzen einer Unterhaltung zwischen zwei elfischen Paladinen, die die Nesserhirn-Schlacht ins Lächerliche ziehen.

"Die Inkompetenz!" lallt einer der beiden in seinen Metkrug. "Ein paar gekonnte Magierhände, die es unter den Lappen kitzelt, und das Nesserhirn hätte sich vor Lachen nicht mehr halten können. Die Schlacht wäre binnen Minuten zu Ende gewesen."

"Und die Zerstörung im Gate minimiert!" stimmt sein Begleiter mit ein.

Unmöglich zu erkennen, ob es Polemik oder Ernst ist, beide Optionen stoßen sie aber gleichermaßen ab. Für Außenstehende ist es eben ein leichtes, idiotische Witze zu reißen und dumme Theorien aufzustellen.

"A propos 'mini': Hast du Lord Bannisters Schamkapsel gesehen? Sie sieht aus wie eine sehr traurige Birne," fährt der Paladin plötzlich überaus heiter fort, als sprächen sie über das Dinnermenü.

"Fang mir nicht damit an," seufzt der andere, "Letzte Woche hat er behauptet, sie sei verzaubert."

Wahrlich, dieses Fest krankt an Gästen mit zu wenig Ahnung und zu viel Meinung. Angewidert marschiert Tav weiter. Sie braucht dringend was zum Essen.

 

 

Teil 2 — Schwerfiguren

 

Sie stapft gerade über das Gras, als ein schneidender Laut durch die Abendluft jagt und Tav erstarren lässt. Ein Bellen – nein, mehr ein Jauchzen. Und etwas in ihrem Bauch flattert auf. Sie wirbelt herum und lässt den Blick über den Platz irren.

Aber er hat sie zuerst gesehen, genauer gesagt: gewittert. Scratchs Nase war schon immer ein kleines Wunder der Natur. So oder so, es gibt keinen Zweifel, dass dieses Bellen ihr gilt; ein Willkommen, das sie unter Tausenden von Hunden erkennen würde. Und jetzt rast er auf sie zu, ein pelziger Komet, der zwischen den Gästen über den Rasen schießt.

"Hier her, Junge! Bei Fuß!" ruft eine tiefe, akzentschwere Frauenstimme. "SCRATCH."

Tavs Herz schlägt gefühlt eine Oktave höher, als Jaheira dem weißen Fellblitz nachgellt. Scratch hat kein Gehör dafür - er kommt in einer geraden Linie auf Tav zugaloppiert - Ball im Maul und Ohren angelegt, als nutze das seiner Beschleunigung. Hinter ihm, nachrennend, gestikuliert die wohl vertraute, leicht verwegen gekleidete Druidin hastig mit den Armen.
Schwupps! Scratch hebt ab und schwebt in der Luft, immer noch im gestreckten Lauf, aber jetzt ohne einen Meter voranzukommen. Er lässt den Ball fallen und kläfft mehrere Male protestierend. Tav reißt die Arme in die Luft und stelzt dem immer noch strampelnden Flohpelz entgegen, lachend und - es ist ihr egal! - quietschend wie ein junges Mädchen. Da endlich erkennt auch Jaheira sie.

"Tav!? Tav!"

Plötzlich liegt Tav auf dem Boden und Scratch ist auf ihr, dem Zauber seiner Besitzerin irgendwie entkommen und äußerst glücklich über Tavs Erscheinen. Seine Schnauze ist sofort in ihrem Gesicht, ihre Wange speichelnass und einmal beißt er ihr sogar ungestüm ins Kinn.

"Autsch. Ja, Scratch! Ich freu mich sehr, dich zu sehen- Au!" 

Ein Fluch von Jaheira und viele alarmierte Blicke naher Gäste. Und dann, nach scheinbar Minuten, zieht ihr jemand den Hund vom Leib und niemand Geringeres als Minsc hilft Tav auf die Füße. Es gibt großes Gelächter, zumindest in ihrer kleinen Gruppe - die besorgten Blicke anderer Gäste verwandeln sich schnell in eine pikierte Rümpfnase und dann die kalte Schulter. Der Rashemaar hebt Tavs Stola auf und klopft sie mit seinen Pranken von Gras und Dreck frei, bevor er sie ihr reicht. Tav umarmt ihn, und dann Jaheira. Die beiden sind mit dunkelbraunem Leder mehr oder minder im (wahrscheinlich ungewollten) Partnerlook; wobei die Harfnerin grüne Blätter in ihre kleinen Zöpfe eingeflochten hat, während der Muskelberg nachwievor nur seinen kleinen Riesenhamster als Hauptaccessoire trägt. Scratch wedelt immer noch furios mit dem Schwanz und trägt dieses breite Hundegrinsen, das jedes noch so kalte Menschenherz zum Schmelzen brächte. Unterdessen hat sich Boo versteckt und linst mit nervösem Näschen unter Minscs Hemdkragen hervor.

"Boo gefällt die Aufregung nicht," brummt der Ranger, "der Hund springt ihm zu viel herum."

"Pardon, Boo," sagt Tav und muss sich zurückhalten, es nicht hervorzuprusten.

"Ah, lass dich ansehen!" sagte Jaheira nach dem initialen Schulterklopfen, die dünn gezupfte Augenbraue hoch erhoben, "Wyll sagte, du würdest hier sein, doch er erwähnte nicht, dass du aussehen würdest wie eine lädierte Königin der Sukkubi."

Ironisch wie eh und je - und Tav, Gesicht glühend, hat es so sehr vermisst, dass sie weinen will. Es ist ein Gefühl, das wie ein hartes kleines Juwel in ihrer Brust zittert - ein komisches Glück, das fast schmerzt, so rein, strahlend und ungreifbar ist es.

"Erotischer Stilbruch," sagt sie lapidar die Achsel zuckend. Ihr Blick fällt auf Jaheiras Augen, die sich an den Falten des roten Stoffes verfangen, und sie erwidert es mit einem unverhohlenen Gegenglotzen auf Jaheiras rassiges Lederkostüm. "Aber danke für das Kompliment, Mummy."

"Es ist gewagt," entgegnet diese mit einem Anflug von säuerlichem Schalk. "Wer immer dieses Kleid geschneidert hat, versteht es Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - und Unruhe zu stiften, wenn ich die Blicke einiger Gäste richtig lese. Aber dafür hattest du schon immer ein Talent, nicht wahr?"

"Als Unruhestifterin?" Tav runzelt die Stirn, doch es war offensichtlich eine rhetorisch gemeinte Frage, denn Jaheira redet weiter.

"Wo wir gerade von romantischen Eskapaden sprechen: Wie geht es Bartholomeus? Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er in den Süden aufgebrochen ist."

"Barth wollte nach Elturgard," antwortet Tav, "redete von irgendeiner lukrativen Gelegenheit dort. Das war vor zwei Jahren. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört." 

"Ah, Elturel. Klingt nach jemandem, der sich auf die Überreste der heiligen Stadt stürzen wollte. Hoffen wir, dass er nicht mitabgestürzt ist."

"Er war rastlos. Ich denke, dass ihm nach der Illithidengeschichten Helm's Hold einfach zu klein geworden ist."

'Und meine Trauer um Kar'niss hat ihn zusätzlich davongejagt', ergänzt sie in Gedanken. Sie erinnert sich an Barths Distanziertheit als er ging. Er hatte sie noch nicht einmal umarmt. 

Man war sich fremd geworden. 

"Boos Magen brummt wie eine Kriegstrommel!" ruft Minsc aus und späht in seinen leeren Becher. "Gibt es hier nichts zu futtern, bei den Göttern?"

Tav stimmt ihm zu und sie begeben sich zurück zur Burg, um etwas zwischen die "Kiemen" zu bekommen, wie Minsc es ausdrückt. Auf einer der Speisesäle in der Burg biegen sich die Tafeln vor Essen. Brot und Suppe und Hauptgerichte zur einen Seite, und zur anderen Pyramiden von Pasteten und Desserts. Importierte Delikatessen aus Calimshan und Chult formen eine farbenfrohe, in Flammen stehende Faust - ein seltsam humoristischer Wink an die Gilde, der Ulder Ravengard immer noch verschworen ist. Minsc serviert sich gleich den Wildschweinbraten und die Hirschlende auf, die mit dem Duft köstlicher Marinaden die Luft schwängern. Tav isst anfangs direkt vor dem Buffet, um Zeit zu sparen. 

Am Herzogtisch einen Raum weiter sitzen Ulder Ravengard und seine engsten Berater und Ehrengäste und schmausen. Wyll ist nicht zu sehen.

Also ziehen sie mit ihren Tellern zwei Räume und einen hallenden Korridor weiter, bis sie unter sich sind. Für einen langen Moment wandeln die drei kauend an kostbaren und magischen Reliquien vorbei, die der Großherzog und Fürsten lange vor seiner Zeit gesammelt haben, und die von geisterhaften Rüstungen bewacht werden. Es scheint, als sei das Licht auf jedes Ausstellungsstück ausgerichtet, während der Rest des langen Korridors in schummriger Dunkelkeit liegt. 

Minsc und Jaheira bleiben bei einem vortrefflichen Langbogen stehen und flüster-debattieren über das Holz. Als Tav mit ihrem Teller Ragout weiterschlendert und sie Plaketten mancher Reliquie liest, vernimmt sie ein Gespräch vom anderen Ende des Korridors. Es sind nur Fetzen einer gedämpften Unterhaltung, aber je näher sie kommt, desto seltsamer werden sie.

"Die einzige Chance, den Zustand zu lindern, ist, wenn ich ein magisches Artefakt absorbiere, das mächtig genug ist."

Tav drosselt unwillkürlich ihren Gang und spitzt die Ohren. So unerwartet drastisch die Worte fallen, so abgeklärt klingt die Stimme des Mannes, der sie spricht.

"Seit dem letzten potenten Objekt sind jetzt Wochen vergangen. Meine Kräfte schwinden, Wyll. Wenn ich nicht bald kräftig Nachschub aus dem Äther erhalte ... wird es zu spät sein."

"Und jetzt willst du, dass ich dir so ein Objekt beschaffe?"

"Das Finden ist längst erledigt. Schau her, die Statue des Eichenvat – oh, wen haben wir denn hier?"

Die zwei Gestalten, die sich so geheimnisvoll unterhalten, treten einen Schritt auseinander.

"Scratch, was machst du denn hier so ganz allein?" hört sie ihren alten Gefährten überrascht ausrufen. "Wo ist-"

Die beiden drehen sich etwas zu abrupt - um nicht ertappt zu sagen - zu Tav herum. In ihrer Mitte steht Scratch und schüffelt am Rocksaum des einen. Sofort richtet Tav die Schultern gerade und marschiert zügig auf den jungen Herzog und seine unbekannte Begleitung zu. Wylls alarmierte Überraschung weicht sofort einem erleichterten Gesichtsausdruck, während die Miene des anderen - ein bärtiger Mann in wallender Magierrobe - Tavs Herannahen kühl, wenn nicht gar mit Missfallen mustert.

"Ah, der strahlende Stern des Abends: Tav!" ruft ihr alter Gefährte.

Ungeniert lächelnd bleibt sie vor ihm stehen und schluckt dabei den Fleischbrocken, an dem die immer noch kaut, unauffällig runter. 

"Wyll, da bist du ja. Wir haben überall nach dir gesucht! Aber wer findet dich am Ende: die schärfste Spürnase der Schwertküste."

"In Begleitung der kühnsten Abenteurerin der Schwertküste! Es ist dir gelungen an den Wachen vorbeizukommen," ruft er wie immer hocherfreut und sie geben einander einen Kuss auf die Wange.

"Verzeih, dass ich dich nicht selbst abholen konnte."

"Nicht doch! Es war meine Schuld - wer zu spät kommt, den bestraft das Leben," winkt sie lachend ab und will den Teller auf dem beleuchteten Glaskasten abstellen.

Ihr Blick streift erst das bewachte Objekt und dann die Plakette drunter: 'Silvanus-Idol, Ausgrabung 1492 durch Herzog Wyllem Ravengard et al.' Ah ja, wenn das Haupt des Druidenhains jemals erfährt, dass die gestohlene Statue heute im Ducalpalast zur Schau steht, werden Wyll et al. (gut, dass ihr Name nicht drauf steht) eine Menge Fragen zu beantworten haben. Mit etwas Glück wird das nicht mehr zu ihren Lebzeiten geschehen.

Als der Teller das Glas berührt, zuckt auf einmal die nahe Geisterwache auf, macht einen wehenden Schritt - und hält Tav eine Pike vor die Nase. 

"Hoh," stößt der fremde Gast aus, "da hat wohl jemand den Hausgeist geweckt."

Und schon ist der Teller wieder in ihren Händen, der Geist beschwichtigt, und Wyll kratzt sich verlegen den Nacken. 

"Ich bitte um Verzeihung. Mein Vater hat die Sicherheitsprotokolle für das Fest verschärft," sagt er entschuldigend, aber räuspert die Peinlichkeit sogleich beiseite, "aber wo sind meine Manieren: Gale, dies ist Gus Tava, von der ich dir bereits erzählte und derer abenteuerlichen Biographie ich nichts hinzuzufügen habe, außer überbordende Lobgesänge! Womit ich euch beide aber verschonen werde. Tav, dies ist Gale Dekarios, ein sehr guter Freund und erfahrener Magier aus Waterdeep, der unter dem großen Elminster studiert hat. Gale gilt als Experte in Sachen magisches Gewebe und als Nutznießer unserer Göttin Mystras Segen."

In der Tat, imposant, obgleich Tav nicht viel über Magie weiß. Der höfliche Ausdruck des Mannes hingegen verzerrt sich zu einem dünnlippigen Grienen. Sie kann nicht sagen, warum, aber dieser Gale Dekarios scheint sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen. Er verbeugt sich aber vor ihr und findet ein paar Worte der Höflichkeit.

"In der Tat habe ich viel von Euch gehört," verkündet er ohne Umschweife. "Verzeiht mir, wenn ich wortkarg erscheine - die Anreise muss anstrengender gewesen sein, als ich dachte."

Tatsächlich sieht er aus, als drücke ihm der Magen, in welche Richtung auch immer.

"Ich sehe Euch schmeckt mein Rehragout. Es ist ein altes Familienrezept."

"Oh, von Euch? Wyll, müssen jetzt selbst die Gäste kochen?" scherzt sie mehr aus dem Stegreif, während ihre Aufmerksamkeit auf seiner peinvollen Miene liegt.

Noch als ihr Gastgeber zu einem Konter anhebt, entschuldigt sich Gale Dekarios und verlässt sie. Tav entgeht nicht der kurze und geladene Blick zwischen den beiden, doch sie wartet, bis der Magier sich schleicht, um es zu kommentieren. 

"Holla, die Bergfee, da hat jemand sein eigenes Ragout nicht vertragen," sagt sie, "und, welche zwielichtigen Geschäfte habe ich gerade gestört?"

Wyll stößt einen sorgenvollen Seufzer und sie erlöst ihn von seinem Dilemma, indem sie nach Scratch pfeift. "Schon gut, ich bohr nicht nach. Komm, trink mit uns."

Sie schließen mit Jaheira und Minsc auf und suchen sich ein kleines Plätzchen abseits des Trubels, wo sie für die nächste Stunde ausgelassen Erinnerungen rezitieren und auf ihre gemeisterten Kämpfe anstoßen. Als Wylls Gemahlin dazustößt, werden die alten Zoten schnell unters Sitzpolster geschoben und stattdessen freundlich nachgehakt und gewitzelt, wer wen erobert habe. Bald kommt die Babytochter zur Sprache - die gerade am Schlafen sei, sagt die Herzogin selig lächelnd - und trotz ihrer Abwesenheit findet besonders Jaheira genügend Gesprächsstoff, um Erziehungstipps zu geben.

Es ist ein Anlass, sich auf die Suche nach mehr zu trinken zu begeben. Tav entschuldigt sich mit einem Wink ihres leeren Bechers und stöckelt davon. Zurück nach draußen an die frische Luft. Die Festgesellschaft hat sich in der Zwischenzeit auf dem gesamtem Areal zerstreut und doch finden sich besonders an den Treppenstufen Trauben an Konversationen, durch die sie sich vorbeientschuldigen muss. Dass Leute immer am liebsten an den engsten Stellen stehen müssen, scheint physikalisches Gesetz zu sein. 

Am magischen Weinbrunnen füllt sie ihren Becher nach und nimmt den ersten Schluck. Ihre Augen gleiten zum Himmel hinauf. Ein klarer, schwarzer Himmel in dem nur ein schwerer Silbermond hängt. Bald wird auch diese Nacht vorbei sein und sie muss ins rote Zwielicht zurückkehren. Könnte sie nur hier bleiben - vielleicht sich bei Wyll und seiner Frau einbunkern und Teil ihres Familienglücks sein, wenn auch nur für ein Weilchen? Oder doch mehr Abenteuerluft schnuppern? Sie könnte bestimmt Jaheira und Minsc in den Osten folgen und sich in der berauschenden Welt der Spionage und des Partisanenkampfs verlieren. 

Wäre das nicht eine willkommene Abwechslung zu ihrer "Kleinbürgerblase", wie Raphael ihr Leben nannte? 

'Werd erwachsen, Tav. Du kannst nicht ewig wie ein Streuner leben.'

Es sind die Worte ihres ehrenwerten Herrn Vaters, und es sind Sätze, die sie sich seit drei Jahren sagt. Die junge, pre-Nautiloid Tav dachte, sie würde sich ein oder zwei kleine Ausflüge ins Unbekannte gönnen, unversehrt nach Hause zurückkehren - vielleicht mit ein oder zwei Schätzen im Gepäck - und sich schließlich endgültig niederlassen. Um erwachsen zu werden. Stattdessen ist sie als anderer Mensch zurückgekehrt, und irgendwie ist dieser Mensch nur noch ein halber.

Jemand rührt die Trommel und die allgemeine Aufmerksamkeit wandert zu einem Spot unterhalb der Schlossterrasse. Eine Gruppe von zwei Trommlern und acht in Spiegelmosaiken gekleideten Schwertträgern hat sich aufgestellt. Ein Hofdiener kündigt die erste Vorstellung des Abends an - Schwerttänzer, die das Klingenlied aufführen werden. Im Takt der Trommeln erwachen ihre Klingen – ein Aufblitzen, ein Stich, künstliche Flammen für mehr Effekt - es ist eine famose Show von wirbelnden Wesen wie nicht von dieser Welt, und doch verliert Tav die Aufmerksamkeit, driftet ab, bis die feurigen Linien im Dunkel zu einem zitternden Band verschmelzen, das einer langen, höllischen Peitsche gleichkommt, ein Strick um ihre Gelenke, um ihren Hals. Sie erwacht erst wieder durch die Ahs und Ohs der anderen Zuschauer aus ihrer Reverie. Sie kann nicht sagen, wie lang das Spektakel ging, aber es endet unvermittelt mit einem flammenden Ravengard-Wappen in die Luft geritzt, das für einen langen Moment verharrt. Es gibt raunenden Applaus.

Tav klatscht etwas halbherzig mit, der Geist immer noch bei den Visionen ihres Tagtraums. Ihr träger Blick wandert zum Belvedere, wo zufällig Dekarios steht, tief im Gespräch mit einem weiblichen Gast. Ah, der hochdekorierte Magier, der sich so seltsam benommen hatte. Ihre Gedanken wollen schon weiterziehen, als das erlöschende Feuersiegel das Gesicht seiner Partnerin erleuchten.

Sie kann es sich nicht erklären, bei aller Liebe nicht ... Aber mit einer Bestimmtheit so schockkalt wie Eiswasser weiß sie - so sicher wie sie Gus Tava heißt -, dass diese Frau Raphael ist. 

Eine rote Tieflingfrau mit seinem kantig geschnittenen Gesicht - nur fraulicher. Sein hinterlistiger Charm - nur betörender. 

Eine Flut an Gefühlen überrollt Tav: Erstaunen, Verwirrung, Unmut - und Scham. Hinter der personifizierten Kulmination all dieser Gefühle verblassen und verwischen alle Gesichter und Geräusche, selbst Gerüche, sodass sie meint, selbst den Duft nach Schwefel und Kirschen und vernehmen.

Sie eilt zur Treppe, den Becher in den schwitzigen Fingern, während sie sich wieder durch das Gedränge drückt. Oben angekommen, stehen Gale und seine teuflische Gesprächspartnerin nicht mehr an der Balustrade. Irritiert stellt sie ihr Getränk ab und macht sich zur anderen Seitentreppe auf. Da dringt ein süffisantes Lachen an ihr Ohr - eine Frauenstimme - mit einer Spur Trockenheit in der Stimme.

"Wie scharfzüngig, mein werter Gale! Sehr geistreich."

Sie wirbelt herum. Und dort stehen sie, der bärtige Magier und die Tieflingfrau mit den kleinen Hörnern. Sie funkeln wie die Brillanten, die sie - nein, die er! - um den Hals trägt.

"Dekarios!" ruft Tav und der Magier dreht sich zu ihr um. 

Für einen Augenblick sieht sie die Stimmungsschwankung in seinem Gesicht, ein schmerzvolles Wanken, das sein wenigen Fältchen herausstechen lässt. Keine Frage, dass er krank ist - das wird ihr nun erst klar - und Silvanus' Idol scheint diese sonderbare Versehrtheit lindern zu können. Doch was fehlt ihm und wie soll ihm ein magisches Artefakt dabei helfen? Schon ist der Augenblick in seinem Gesicht verflogen. Stattdessen nickt er ihr mit einem höflichen Lächeln zu und deutet ihr an sich zu ihnen zu gesellen. Ihr Blick fällt auf den mutmaßlichen Teufel, der neben ihm steht - und Tav kommt der Einladung nach. Raphael begegnet ihrem langem scharfen Blick mit einem ebenbürtig scharfen Lächeln. Er ist es, Raphael, ohne Zweifel.

"Gus Tava, Ihr kommt gerade richtig," setzt der Elminster-Protegé an und sie muss sich von dem falschen Frauenabbild förmlich losreißen, um ihn anzusehen, "wir diskutieren gerade die Notwendigkeit politischer Bildung im Volke. Meine Gesprächspartnerin, die reizende Gräfin von Bitterfels, Raphaela ..."

Natürlich.

"... möchte wissen, wie Baldur's Gate dieser Aufgabe gewachsen ist. Ich wollte gerade die aktuelle Konkurrenz zu Baldur's Mouth erwähnen - ein junges, bildungspolitisches Blatt, glaube ich. Der Name entfiel mir ..." sagt er zähneblitzend. Von der anfänglichen Qual in seiner Statur ist nichts zu sehen. Er wirkt wie ausgewechselt. 

Magier und Teufel beäugen sie, der eine fragend und der andere mit dem dünnsten Lächeln möglich. Sie mustert den falschen Fuchziger mit einem nur mühsam unterdrücktem Missfallen. Sein Kleid ist auffällig unauffällig - diplomatisch hochgeschlossen gar - in des Teufels Markenfarben Blau und Rot. Doch wann immer er sich bewegt, fällt das Licht auf ihn ein wenig anders - und sie könnte schwören sein zusätzliches Paar Hörner zu sehen und den Schatten von Echsenschuppen auf der Haut. Wenn sie blinzelt, ist diese Illusion vorüber. Für den Augenblick.

Tav runzelt die Stirn, als sie das Schweigen bemerkt. Was war doch gleich die Frage?

"Ah ja?" sagt sie wimpernschlagend. "Mag sein. Ich kann leider wenig dazu sagen. Ich stamme aus Helm's Hold."

"So!" ruft Waterdeep aus und macht irgendeinen lückenfüllenden Kommentar zu ihrer Heimatstadt, den sie kaum hört, weil ihr Fokus immer noch auf Raphael liegt, der sie ähnlich intensiv aus Kambionaugen fixiert.

Er schaut sie wieder auf diese Weise – mit diesem Flüstern von Spott und einem Hauch von Feuer, das seit kurzem heißer zu lodern scheint. Sie könnte schwören, dass er sie heimlich für ihre kleine Terminlüge auslacht. Da quäkt wieder der Elminster-Protegé dazwischen: Wie Helm's Hold denn so sei, welche Form der Magie die Helmiten überwiegend praktizierten, welche akademische Richtung vorherrsche usw.. Tav spürt, dass die vielen nutzlosen Fragen von jemandem, der ohnehin nur Zeit totzuschlagen versucht (und Raphael dies offensichtlich auch bemerkt, wenn sie nach dem ebenso leicht angeödeten Ausdruck in seinem Gesicht geht), Irritation in ihr hervorruft.
Ob sie ihre Heimat vermisse, fragt Dekarios dann, und Tav sieht ihn direkt an. Sie blicke "so schrecklich melancholisch drein" ergänzt er erklärend.

Weiß er etwas? Tav merkt selbst, dass sie nicht gleich antwortet.

"Ah, ich trete Euch wohl zu nah!" winkt er plötzlich räuspernd ab, und es ist klar, dass er nur konversieren will und, weiß der Geier warum, ihren melancholischen Gesichtsaudruck zum Thema macht.

"Nein, schon gut," sagt sie mit einem Seufzer, "natürlich vermisse ich meine Heimat."

Sie versucht, ihren Worten Gewicht zu verleihen, sie mit einer Prise Sehnsuchtsschmerz zu würzen. Ganz gleich, dass sie nicht wirklich so empfindet – zumindest nicht, wenn es um Helm's Hold geht. Aber sie kann Raphaels dunklen Blick auf sich spüren, selbst als sie ihren senkt; ein bohrendes Durchforsten ihrer Person, als ob er nach der Lüge in ihrer Gestalt suche. Dreist. Und völlig daneben. Sie will, dass er ihren (falschen) Schmerz spürt. Will nicht, dass er merkt, wie sehr sie ihr altes Leben hasst. Alles, was er wissen soll, ist, dass sie ihr jetziges noch mehr verabscheut.

"Politischer Qualitätsjournalismus ist in Helm's Hold leider kein großes Ding. Wahrscheinlich könnte uns ein wenig von dem Lords & Laws-Geist wirklich guttun. Ich nehme an, das ist die Zeitung, die Ihr meintet?"

"Ja – ja, genau die!" Waterdeep klatscht erfreut in die Hände.

"Ah, Lords & Laws," wirft die glatte Frauenstimme neben ihnen ein, und er nickt ihr freudig zu. "Zweifellos meine Lieblingszeitung – weich, stark und unglaublich reißfest."

Gale Dekarios sieht überrascht aus. "Ihr kennt sie also?"

Raphael zaubert ein entzückendes Lächeln auf ihre geschminkten Lippen, wohl fest entschlossen, die Unterhaltung locker und nichtssagend zu halten. "Wer nicht? Fantastisch!"

"Nun, dann habt Ihr bestimmt gehört, dass der Senat jemanden beauftragen will, einen besonders packenden Aufmacher für die nächste Ausgabe zu schreiben – um auch die letzten zweifelnden Bürger von Baldur's Gate für Ravengard zu stimmen," redet der Magier weiter, offensichtlich überzeugt, dass seine Gesprächspartner bestens im Thema sind.

Raphael zuckt mit einer koketten Braue, und Tav merkt, wie sich ihre ohnehin schon miese Laune noch weiter verschlechtert.

"Oh!" sagt er mit gespitzten Lippen, "Mir war gar nicht bewusst, dass hier überhaupt gewählt wird! Gute alte Monarchie bzw. Diktatur, wenn Ihr versteht, was ich meine ..."

"Naja, es sind mehr Jubel- als Buh-Stimmen ..."

"Also, Gräfin," grätscht Tav dazwischen, und die finstere Neugier, was Raphael wirklich vorhat, steht ihr vermutlich unverhohlen ins Gesicht geschrieben. "Wo liegt dieses Bitterfels? Klingt ja vulkanisch."

Ein schelmiges Lachen ergreift von seinem gesamten Gesicht Besitz und sie sieht ein Flackern - seine teuflische Natur wie einen Schatten unter dem scharfen Lidstrich. Sie könnte schwören, sie bildet es sich nicht ein. 

"Der Name ist ziemlich verräterisch, nicht wahr?"

"Nicht unbedingt. Aber wenn Ihr Euch mehr ins Licht stellt ..."

Sie werden von der nächsten Programmankündigung unterbrochen und das Trio ist gezwungen wie alle anderen Leute in Richtung des verkündenden Hofdieners zu blicken. Eine Theatergruppe direkt vom Hofe werde in wenigen Minuten bedeutsame Ereignisse aus Ulder Ravengards Leben spielen und man solle sich nun in den Schlosspark rechts hinten begeben. 

"Ich vergaß," spricht Dekarios plötzlich leise und Tavs Augen, als sie sich zu ihm umdreht, finden nicht zuerst sein Antlitz sondern die Hand, mit der er seine Brust massiert, "ich hatte noch etwas mit dem jungen Herzog Ravengard zu besprechen."

Ihr fällt sofort auf, wie all die Würde und Gravitas aus seinen Schultern gewichen ist, der Rücken etwas krumm und aus dem Mund ein trockenes Husten. Wie schon im Korridor scheint auch jetzt eine unsichtbare Plage über ihn zu kommen.

"Er ist drinnen," sagt sie langsam, ihre Chance Raphael allein zu erwischen witternd.

"Perfekt, ich war gerade auf dem Weg dorthin," flötet der Teufel dazwischen und hat sofort einen Arm um Dekarios' schlackernden Ellbogen geschlungen. "Wenn Ihr uns entschuldigen würdet, wir ziehen uns nun zurück ... Genießt noch Eure Verabredung."

Tav gelingt zumindest ein Knicks mit einem mühevoll unterdrückten grimmigen Grienen und schaut zu, wie die beiden in der Tür zwischen anderen Gästen verschwinden, Waterdeep etwas verwirrt und ausgelaugt und Avernus munter wie ein Fisch. Sogar den Hüftschwung hat er drauf. 

"Teufel, was hast du vor?" murmelt sie. Sie erwägt ihnen zu folgen.

Andererseits würde er nicht vor Wyll und Jaheira treten - die beiden kennen schließlich sein Gesicht und würden ihn wahrscheinlich instantan angreifen.

Andererseits könnte er etwas von Wylls Vater wollen. Oder jemand anderen.

'Oder er ärgert dich nur.'

Aber Raphael ist eine Effizienzbestie und darüber hinaus ein Gewohnheitstier. Was bedeutet, dass er nicht prokrastiniert, sondern handelt. 

Sie schimpft leise und setzt ihnen nach.

Hätte sie gewusst, dass sie diesen Abend mehrfach auf Verfolgungsjagd gehen muss, hätte sie ihre Stiefel anbehalten.

Drinnen läuft Tav in eine Waffendemonstration der Flammenden Fäuste - und muss angesichts des regen Verkehrs entscheiden, welchen langen Außenweg sie nimmt: den zum rechten, den zum linken Torflügel oder weiter ins Innere der Burg. Kurz entschlossen streift sie ihre Schuhe ab und steigt auf eine Fensterbank, alle Seitenblicke ignorierend. Sie kann allen möglichen hässlichen Kopfschmuck sehen - von zwei glitzernden Hörnern fehlt jede Spur. So auch von Dekarios.  

"So ein M-"

---- Mäuschen. ----

Einem kalten Hauch ähnlich kriecht das Flüstern ihr über den Nacken, ein Echo nur, dass allein ihr gilt, denn niemand anderes reagiert in ihrer Art. Es hinterlässt eine Spur von Gänsehaut, die ihre Wirbelsäule hinabjagt. 

---- Kleines Mäuschen. ----

Wie an einer seidenen Augenbinde, dreht er ihren Blick unweigerlich nach rechts und löst sie dann, sodass sie liderflatternd in Richtung des Seitenkorridors schaut. Was Wunder!, da steht er, Raphaela der Teufel, und winkt nach ihr als sei er ein Weltklassedieb, der den übereifrigen Ordnungshüter in der abgeriegelten Menge ausgemacht hat und weiß, dass zwischen ihnen ein Abgrund liegt, den Tav nie und nimmer rechtzeitig überwinden kann. Selbstzufrieden wirft er ihr noch eine angedeutete Kusshand zu und verschwindet dann in den Seitengang. Die Tieflingrute neckisch hin- und herpendelnd ... Es ist mehr eine Einladung als ein Entkommen.  

Tav steigt von der Fensterbank und setzt sich zögerlich - nicht willens aufzugeben, nein, aber allzu zögerlich - in Bewegung. Zäher Syrup in ihren Gelenken. Es arbeitet in ihrem Kopf. Sie pariert die wegwerfende Hand einer weinseligen Frau und schlüpft rasch an einem innigen Drowpaar vorbei, das den Anschein des Nacktaussehens trotz Kleidung zur neuen Kunst erhebt. Kaut auf der Innenseite ihrer Lippe herum, während ihr Hirn im Dauerbeschuss Fragen ausspuckt. Will er, dass er ihr folgt? Könnte es eine Falle sein?

Bis es am Ende nur noch um eine wiederkehrende Frage flattert wie eine Motte um die unwiderstehliche Flamme: Hat sie denn eine Wahl? 

'Du könntest Wyll alarmieren.'

Und doch, es reizt sie herauszufinden, wo der Teufel sie versucht hinzuführen. Das Mäuschen, das dem verzückenden Lockruf von fettem Futter folgt. Sie weiß, dass sie nach seiner Pfeife tanzt, so wie er weiß, dass ihre Eitelkeit das Katz-und-Maus-Spiel liebt. Und wenn die allgemeine Sicherheit in Gefahr ist, hat sie doch ohnehin eine moralische Verpflichtung, oder nicht? Jemand von den Gästen könnte bedroht sein, also sollte sie ihn de facto nicht aus den Augen lassen. 

Aber Tavs aufgerührter Geist findet ihn erst viele klackernde Schritte wieder, und zwar hinter der übernächsten Tür am Ende des Korridors, der unbesucht im Dunkeln liegt, doch immer noch von den Echos der Festivitäten erfüllt ist. Es ist offensichtlich, dass Gäste hier nicht vorgesehen sind, und wahrscheinlich war die auffällig rot angestrichene Tür bis eben noch abgesperrt; jetzt allerdings ist der linke Türflügel allenfalls angelehnt - eine Einladung zu einem Geheimnis, das auf niemanden als auf sie wartet.

Tav schiebt den Spalt weiter auf und linst hinein. Nichts als blauer Mondenschein und wohltuende Stille, auf die sie ihren klingelnden Kopf ablegen könnte. Vor den Türen zur Veranda steht eine gehörnte Gestalt, halb abgewandt, eingehüllt in den silbrigen Segen Selûnes. Die Umgebung selbst scheint vor der Grandezza des Teufels zu verblassen, ihre Farben zu verlieren und in ehrfürchtigem Schweigen zu verharren, wie eine ergebene Dienerin. Etwas an Raphaels Gelassenheit lässt Tav frösteln – eine Ruhe, zu kalkuliert, um ihr zu trauen. Er hat auf sie gewartet. Doch er dreht sich nicht um. 

Sie richtet die Schultern gerade - rückt ihre Gedanken zurecht. Scannt rasch den Raum. Die Möbel sind weiß abgedeckt, die Gobelins an den Wänden liegen in tiefen Schatten. Sie sind allein. 

Vorsichtig tritt sie weiter hinein und die Tür schließt sich leise klickend hinter ihr. Observiert argusäugig den Teufel, der lässig gegen den Türrahmen lehnt und mit einem Finger an der Gardine nach draußen späht. Der Magier ist natürlich längst verschwunden – abgeschüttelt vor langer Zeit.

Raphael lehnt gegen den Rahmen der geschlossenen Terrassentür, ein Finger an der Gardine und späht in den Garten hinaus. Etwas nagt an ihr, eine seltsame Unsicherheit, als trete sie zum hundertsten Mal durch den gleichen Raum, doch wären jetzt die Wände näher gerückt. Sie weiß nicht, was sie mit diesem Gefühl anfangen oder wie sie damit fortfahren soll. Doch wie so oft führt der Teufel das Wort an.

"Da bist du ja," spricht er in die Stille, "doch, ach, zu spät."

"Für was?"

Das Parkett knarzt unter ihren Sohlen.

"Raphael, was hast du getan?" wiederholt sie auf halber Distanz und handelt sich ein Lächeln ein. 

"Ach, kleine Maus, du logst so fein," reimt er melancholisch, der Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet, "warum sollt' ich dann ehrlich sein?"

"Keine Ahnung, was du meinst."

"Und du tust es wieder."

"Na schön," gibt sie schließlich zu und es klingt absurderweise, als müsse sie Geduld mit ihm üben und nicht umgekehrt, "kann sein, dass ich vergessen habe ein paar Details meiner Verabredung zu erwähnen."

Von draußen ist das Anschwellen von Lachen und Applaus zu hören. Welche Aufführung auch gerade stattfindet, sie scheint nicht nach Raphaels Gusto zu sein. Das - oder ihre Ausrede. Seufzend stößt er sich vom Rahmen ab und lässt den Vorhang zurück über die Tür fließen.

"In der Tat," brummt er, "deine Vergesslichkeit schmerzt mich mehr als dein ungeschicktes Wanken in den Schuhen. Passt zu deinen Verbandskünsten."

Sie bleibt einen guten Meter vor ihm stehen und möchte einen Blick auf sein Schuhwerk erhaschen, aber sie sind unter seinem teuren Gewand versteckt. 

"Sofern du nicht zehn Zentimeter Todesabsätze aus der Hölle trägst, würde ich sagen, dass deine Meinung in diesem Bereich unqualifiziert ist." Sie hebt das Bein, um ihr Fußgelenk zu schütteln. "Ich kämpfe seit Stunden damit nicht dem nächsten Gast in den Schoß zu stürzen. Würde das Euch nicht munden, Gräfin von Bitterfels?"

"Du übertreibst."

Zwei Sekunden später fliegen die Poulaines davon. Tav spürt das flache Parkett unter den nackten Sohlen und seufzt in grimmigem Triumph. Hebt das linke Bein noch höher und massiert die schmerzende Wade durch den Rockschlitz.

"Von wegen. Wer auch immer Stöckelschuhe erfunden hat, muss Frauen gehasst haben. Dachte sich bestimmt: 'Was ist noch komischer als eine Stute auf allen Vieren? Ne Stute mit Beinbruch.'"

Raphael lacht nicht. Sein Blick bleibt an ihr hängen, gleitet wie flüssiges Silber über ihren Oberschenkel. Einen Herzschlag zu lange verweilt er, zu widerwillig, um Gleichgültigkeit zu heucheln, bevor er sich abwendet.

"Gleich sabbert er, meine Güte," denkt sie und lässt das Bein mit einem Grinsen zurückfallen.

Für einen Moment senkt er den Blick, wie um sich zu sammeln, und hievt ihn dann wieder auf, die schmalen Frauenschultern zurückgezogen und seine brennenden Höllenaugen nun auf etwas jenseits der Terrassentür fixiert.

"Meine Arbeit ist vollbracht," murmelt er ins Nichts. "Also, bleib ich noch bis zum End der Nacht ...?"

"Wie heißt es so schön: Schick niemals einen Dichter nach Naldur's Gate." Sie versucht neckisch zu klingen, den dräuenden Verdacht in ihrer Brust zu beherrschen.

"Ein Scherz."

"Ein wahrer Scherz." Sie stößt einen kapitulierenden Seufzer aus. "Also gut, du hast mich. Wen hast du denn diesmal ins Verderben gestürzt?"

Er antwortet mit nichts als einem raschen Zucken im Mundwinkel, gibt nicht einmal einen winzigen Hinweis, ob seine Tat ein harmloses Geschäft gewesen ist oder ein politisches Manöver, ein Blutzoll auf dem Weg zu seinem großen Plan. Jetzt schlägt ihre Neugier in Sorge um.

'Arbeit vollbracht. Sein Lächeln. Sein kleines, intrigantes Lächeln.'

Er verrät es nicht, weil es von Bedeutung war.

"Raphael! Was- ?"

Ein geheimnisvoller Augenzwinker - und dann schnippt er. Schnell, ohne jede Vorwarnung. Tav sieht noch die rauchende Stichflamme, die in dem dunklen Raum für eine Sekunde Moment einen teuflischen Schein auf die Wände wirft. Und dann ist er weg. Seine Name auf ihrer Zunge, hängt leer in der Luft.

Bevor sie sich aufregen kann, erhascht Tav einen kurzen Lichtblitz draußen im Park und reißt die Gardine zur Seite. Sieht, wie er - eine Sanduhr aus Rot und Blau, gemächlich über den Rasen schreitet, ins Dunkel hinein - geradewegs in Richtung des Labyrinths.

Hier lang, Mäuschen.

Tav sperrt die Tür zur Terrasse auf und folgt ihm. Ihre Schuhe zurück in ihrer Hand.

'Es ist deine moralische Pflicht,' flüstert eine Stimme im Kopf.

'Und deine Eitelkeit,' eine andere.

 

 

Teil 3 — Rochade

 

Wer auch immer den Irrgarten konzipiert hat, hatte nicht die Verirrung im Kopf, sondern das Verbergen. An wie vielen Liebepärchen und getuschelten Gesprächen sie nun schon vorbeigehastet ist, lässt sich gar nicht mehr an einer Hand abzählen; es genügt, dass sie das Gekicher oder schwere Atmen hört, um sofort einen anderen Pfad einzuschlagen. Die Wege sind nur spärlich beleuchtet - Fackeln aus magischem Feuer, die nur dann mit einem Fwush! angehen, wenn man sich ihnen nähert. Es ist unmöglich zu erkennen, was im Schatten jenseits der nächsten Fackel liegt. Ein Ort geschaffen für Geheimtreffen.

Sie muss blind vor Eile sein, mit jeder Abbiegung die erregte Frustration über Raphaels erneutes Entkommen in ihr weiter sprudelnd; denn nach der zigsten Abbiegung und dem xten Aufflackern der nächsten Fackel rennt sie fast in jemanden rein. Sieht fast nicht den Tisch mit dem Lanzbrett, nicht den Pfeife rauchenden Kuttenträger, nicht die weißen Rosenstauden, die diese Stelle des Weges wie einen botanischen Bilderrahmen umschnörkeln. Tav kommt taumelnd zum Stehen und starrt auf den Mann vor sich. Sie könnte schwören, dass der Gang bis eben noch in absoluter Finsternis lag.

Ein Ring aus Rauch steigt auf - ein Hauch von Patchouli liegt in der Luft. Sie hüstelt. 

"Verzeihung, ich, ähm müsste mal kurz durch."

Helle Kutte, kurzes, schlohweißes Haar - der Mann, ist so blass, er scheint auch ohne Fackel zu leuchten. Er pafft zweimal hörbar und nickt. 

Heißt das, dass er aufstehen und sie durchlassen wird? Ein neuer Ring steigt auf.

'Nope, bleibt sitzen.'

Nun gut, Tav schlingt ihren Schal um den Hals, bauscht den Rock und hebt dezidiert provokativ das Bein, um sich zwischen ihn und die hereinragenden Rosen zu schieben.

"Spielt eine Runde mit mir."

Er schaut an ihrem Schenkel vorbei zu ihr auf.

Tav erstarrt und sieht wimpernschlagend zurück.  

"Äh ... Ja? Also, wie- jetzt?"

Er pafft und nickt. Sieht sie unverhohlen offen an. Und unverhohlen unbeeindruckt von ihrem nackten Fleisch, das sich noch vor ihm streckt - Zentimeter von seiner Schulter entfernt. 

'Wenigstens einer, dem heute nicht die Augen rausfallen.'

"Ihr findet sicher einen besseren Lanzbrettpartner als mich."

"Das ist zu bezweifeln," sagt er mit einer wissenschaftlichen Neutralität, die Tav aufhorchen lässt, "höllische Gegner sind die spannendsten."

Jetzt senkt sie das Bein wieder und tritt zurück. "'Höllisch'? Höllisch was? Ihr habt da ein Adjektiv vergessen - wie höllisch gut oder höllisch ausgebufft. Mit den Höllen habe ich nichts am Hut."

"Ah," seine leicht glasigen Augen mustern kurz den Saum in ihrem Arm, "dann habt Ihr einen außergewöhnlich exotischen Kleidergeschmack, Madame ..."

"Tav. Einfach nur Tav," erwidert sie spitz.

"Sehr wohl, Tav. Verzeiht meinen Fehlschluss. Diese Materialkombination sieht man nicht häufig außerhalb gewisser Kreise."

"Was soll das heißen?"

Er hebt nur die Hand, die die lange Pfeife hält. "Setzt Euch zu mir und ich verrate es Euch."

"Verzeiht, ich suche eigentlich gerade einen Bekannten - eine Bekannte. Eventuell habt Ihr eine Tieflingdame mit funkelnden Hörnern gesehen?"

"Bedaure."

Langsam verliert sie die Hoffnung, ihn wiederzufinden. Wahrscheinlich hat sich Raphael auch längst davongemacht und lacht sich jetzt ins Fäustchen, weil seine kleine Maus wortwörtlich im Labyrinth seiner Machenschaften umherirrt.

"Bitte entschuldigt, ich halte Euch auf -"

"Nein, nein, schon gut," winkt Tav ab. Vielleicht sollte sie zu Wyll und den anderen zurückkehren und einfach berichten, was passiert ist. Was erwartete sie überhaupt davon, ihn zu "erwischen"? Es schien nicht, als könnte sie ihn noch an der Tat hindern.

"Ah, gut. Mir war so sehr nach einem freundlichen Gespräch und einem hitzigen Spiel, wisst Ihr?" fährt er mit heiterer Ruhe fort, "wie gut ist Euer Lanzbrett?"

Ist das ein Flirt? Versucht er sie kennenzulernen? Es ist schwer zu sagen. Er mustert sie aus diesen roten Kaninchenaugen und mustert sie wiederum doch nicht - als sähe er in Wirklichkeit an ihr vorbei oder in sie hinein. 

"Solide." 

"Nun, das hier ist Schach."

Sie linst auf das schwarzweiße Set. "Noch nie davon gehört."

"Es ist wie Lanzbrett, das verspreche ich."

Das würde Raphael gefallen.

Was ihm nicht gefallen würde, wäre, wenn sie die ihre Suche nach ihm für eine Runde Brettspiel unterbräche. Wie verletzt sein Ego wäre. Damit vermag sie den Teufel vielleicht sogar hervorzulocken.

Nein, nein. Deswegen ist sie nicht hier. Sie sollte herausfinden, was er vorhat.

'Raphael ist fort,' debattiert sie mit sich selbst, 'sieh dir diesen Kerl an - diese großen, glasigen Kaninchenaugen.'

Ach herrje.

Tav hadert, da macht der Mann ihr das winzigste Zugeständnis eines Lächelns. 

"Ah, erhasche ich da eine Spur Neugier?" sagt er. "Bitte, wenn es Eure Suche nicht zu lange unterbricht, bereitet mir doch das Vergnügen auf eine kurze Runde. Ich kenne niemanden hier und etwas Gesellschaft täte so gut."

Tav versteht das. Zum Teufel mit dem Teufel. "Eine kurze Runde dann."

Höflich lächelnd setzt sie sich auf den zweiten Hocker ihm gegenüber.

Er eröffnet und sie zieht nach. In den ersten Minuten wechseln sie ein paar freundliche Worte, aber bald schon liegt der Fokus auf dem Spiel, zumindest bei ihrem Gegenüber. Tav vergräbt ihren ungeduldig tappenden Fuß im Kies. Was dazu führt, dass sie stattdessen an den Lippen kaut. 

Rasch zeigt sich, dass sie es mit einem Blockierer zu tun hat: Er riegelt seinen König mit seinen Schwerfiguren ab. Während sie das Zentrum einnehmen kann, kann sie seine Linien nicht ohne große Verluste durchbrechen; sie verfeuert ein paar ihrer Schwerfiguren und Speermännern, teils in der Hoffnung hindurchzubrechen, teils dass das Spiel so schnell zu seinem Ende findet.

Raphael würde die Augen verdrehen. Es sei die langweiligste und unausgeglichenste Spielart im Lanzbrett, weil sie entweder ein zu schnelles Ende provoziert und zum ewigen Grabenkrieg führt. 

"Es ist also genauso wie Lanzbrett," schlussfolgert sie, als die Denkpausen länger werden.

"Oh, es ist fast identisch, nur heißen die Figuren anders," sagt er mit einer wohltuenden Gleichmütigkeit, "Mystra bzw. Messers Schneide ist im Schach die Königin, Elminster bzw. Cyric der König, die Speermänner heißen Bauern, die Burg Turm und so weiter. Ihr versteht. Außerdem gibt es eine Sonderregel, die einen einmaligen Figurentausch von König und Turm erlaubt. Hier und hier." 

Für einen Moment weicht das nichtsaussagende, leichenblasse Profil einer professionellen Abgeklärtheit und die rotglänzenden Augen werden klein und scharf. In seiner hochgeschlossenen Pilgerkutte fällt er in der uniformen Dekadenz der Galagesellschaft auf.  

"Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt," sagt sie langsam. "Mein voller Name ist -"

"Gus Tava von Helm's Hold, Schlächterin des Nesserhirns. Ich kenne Euch, zumindest dem Ruf nach. Nennt mich Bruder Phönix."

Er nickt lächelnd und legt die geschlossenen Lippen an die porzellane Pfeife. Vor ihr sitzt ein Mönch.

"Also, Bruder," beginnt sie nach ihrem nächsten Zug etwas mockant, "verratet Ihr mir, was es mit Eurer modischen Anmerkung von vorhin auf sich hat?"

Er zieht an der Pfeife und atmet mit einem Blick der Kontemplation nach oben aus. Tavs Nase schnuppert dem süßlichen Rauch hinterher. Es liegt etwas Verlockendes in der Nachtluft - der Duft nach verbranntem Holz in kühler Erde. Wie ein Waldfeuer vor Jahrzehnten gelöscht und nun den Boden nährend.

"Ich will Euch ebenso gewähren, wie Ihr es mir gewährt habt." Sein Blick wandert über ihr Bustier – doch es wirkt eher prüfend als bewundernd, also nimmt sie es ihm nicht übel. "Euer Dress ist, wie ich bereits sagte, exotisch. Ein strenges, gotisches Mieder mit Korsett, dazu ein fließender Rock mit einem geradezu skandalösen Schlitz – für menschliche Mode ungewöhnlich. Weit interessanter aber ist der Stoff: infernalischer Seidensamt, patiniert mit Hämatitschuppen. Seht nur, wie sie im Feuerschein blau schimmern. Der Schneider war zweifellos ein Meister seines Fachs. Ich kann keine Magie darin spüren – aber das heißt nicht, dass es frei von proprietärer Absicht ist.“

Großartig. Ist sie den ganzen Abend etwa mit einem Eigentum von Raphael–Stempel herumgelaufen?

"Wie meint Ihr das?" fragt sie.

Er bläst einen weiteren Rauchring in die Luft, beobachtet ihn einen Moment, bevor er weiterspricht. "In das Kleid ist ein feines Netzmuster aus purem Gold eingearbeitet ..." Seine Augen finden ihre, mustern sie eindringlich. "Es könnte natürlich eine Huldigung des Gottes der Fischer sein. Doch bedenkt man den seltenen Stoff, erscheint mir eine andere Fürbitte wahrscheinlicher – eine, die Richtung Höllen strebt: nach Zwang und Ordnung."

Stille. Ein fragender Ausdruck in seinen blassen Zügen.

"Aber verzeiht, es steht mir nicht zu, mich einzumischen. Ich stelle nur fest: Trotz Eurer Sterblichkeit habt Ihr offenbar einen mächtigen Gönner mit außerweltlichem Reichtum. Oder täusche ich mich?"

Ihre Sterblichkeit, sagt er. Als nehme er sich selbst aus der Gleichung.

"Ihr habt ein scharfes Auge für diese Dinge, Mönch," erwidert sie nur und ihr Blick ruht scharf auf dem unscheinbaren Antlitz.

Seine diplomatisch ausgedrückte Schlussfolgerung nur ein weiterer Hinweis, dass ihr Schachpartner kein einfacher Klosterbruder ist.

"Ich war nicht immer ein Mönch."

"Wäre es unhöflich einen Mönch zu fragen, welches Lasterleben er einst führte?"

Er lächelt und macht jetzt seinen Zug - nimmt dabei mit elegantem Finger Tavs ersten Ritter bzw. Springer. "Nicht allzu lasterhaft im Auge meines damaligen Umgangs, und doch ein horrendes in den Augen meines jetzigen. Alles eine Frage der Perspektive. Wichtig ist, dass der Sünder dem Sühnenden gewichen ist."

"Wie ein Phönix aus der Asche, nicht wahr?" säuselt sie süßlich zurück und rettet ihren zweiten Springer vor seinem. "Bei so viel Sühne könntet Ihr Euch mit dem Jungherzog zusammentun."

"Wie das?"

"Nun, seine Geschichten als Klinge der Schwertküste waren eine Zeit lang in aller Munde," beginnt sie, während er seinen nächsten Zug tut, "auch, dass der junge Herzog ein sehr emsiger Warlock eines Teufels gewesen ist. Er nahm in Zariels Namen so manchen zweifelhaften Auftrag an, bevor wir ihn mit einer gemeinsamen List aus seinem Vertrag retten konnten."

"Wie clever."

"Nur um klarzustellen: Das ist kein kopfloser Klatsch und Tratsch. Jeder weiß davon. Freund wie Feind."

"Und Ihr seid befreundet?"

"Seit über drei Jahren bald."

"Ah," erwidert er mit dem Blick aufs Brett - und pafft.

Während Tav für ihren Zug etwas länger braucht, zieht der Bruder Phönix ohne Hadern seinen Kleriker bzw. Läufer nach vorn und greift an. Sie beißt sich an diesem Punkt bereits die Zähne an seiner Barrikade aus und verliert erneut eine Figur. Vielleicht sollte sie ihn besser reden lassen - und hoffen, dass es ihn genauso ablenkt, wie sie.

"Meine Umgangsformen sind etwas rostig und meine Aufmerksamkeit auf dem Spiel - doch ich spüre, dass Ihr mich etwas fragen wollt."

"Etwas rostig aber nicht unachtsam," gibt sie zu, "korrekt. Mir scheint, Ihr seid von weit hergekommen. Es wundert nur ein wenig, dass Ihr mit den alten Geschichten des jungen Ravengard nicht vertraut seid."

"Das ist richtig. Ich lebe jenseits des Gebirges im Südosten, an einem Ort, von dem Ihr sicherlich nie etwas gehört habt. Das Klosterleben ist sehr unaufregend, das Bergwetter streng - da oben verirrt sich kaum jemand hin, mit Ausnahme des gelegentlichen halberfrorenen Wanderers. Allein das Pfeifenkraut ist ein täglicher Besucher - nichts hält einen Raum voller barfüßiger Ordensmänner besser warm als der Tabak."

Sie lacht ein wenig, ihre nackten Füße unwillkürlich aneinanderreibend.

"Was im sozialen Austausch fehlt, hole ich mir freilich geistig mit Schach zurück. Es ist meine liebste Aktivität außerhalb der Tagzeiten."

"So. Und woher kennt Ihr dann den Herzog?"

"Ich kenne ihn gar nicht."

"Verzeiht, ich meine den Großherzog."

"Den auch nicht. Ihr seid dran. Und ich würde Euch raten, vorsichtig zu sein. Noch zwei Züge und meine Königin hat Euren König - Euren Cyric."

Tav starrt auf die Figuren - ihr Cyric steht noch relativ gut flankiert zwischen Burg und Kleriker. Seine Mystra ist noch lange nicht auf dem Vormarsch. 

"Ihr sprecht in Rätseln," murmelt sie und meint damit sowohl seinen Schachkommentar als auch seine Antwort zu den Ravengards.

Tavs Blick kehrt zu seiner elfenbeinernen Mystra zurück. Seltsam, dass sie ganz anders aussieht als ihr schwarzes Pendant - gehörnt, geflügelt, vollbusig. Es muss wohl ein Talisman sein, den er immer einsetzt, wenn er spielt, denkt sie, während sie etwas gedankenverloren die Figur, die ihr angeblich gefährlich werden soll, betrachtet. Bislang hat er sie wenig bewegt.

"Ich sehe, Euch ist meine Königin aufgefallen. Wie findet Ihr sie?"

"Sie ist ein Hingucker. Ein Glücksbringer?"

"Meine Göttin." 

Tav schenkt der Königin einen schiefen Blick - dann sieht sie auf. "Ihr betet zu einem Unhold? Muss ich jetzt Angst haben, dass Ihr mir die Seele raubt, Herr Warlock?"

Er schüttelt lächelnd den Kopf, und schüttelt damit gleichzeitig einen Teil ihrer Anspannung ab. Tav bemerkt, dass er sie mit einem amüsierten Augenfunkeln mustert, als habe sie etwas höchst Erbauliches von sich gegeben. Für einen Moment bröckelt die gelassene Ruhe, und in seinen Hasenaugen blitzt etwas auf – eine stille Überlegenheit. Dann ist sie verschwunden.

Tav spürt, wie sich ihr Nacken versteift. Hat plötzlich das Gefühl ohne Zügel auf dem Pferd zu sitzen.

"Ihr tut sehr geheimnisvoll, Bruder Phönix: Kennt die Gastgeber nicht und betet zum Teufel. Ich muss wirklich langsam davon ausgehen, dass Ihr auf Seelenfang seid. Oder Novizen für Euer Kloster rekrutiert."

"Möglich. Aber keine Sorge, es ist nicht Eure, nach ders mich trachtet. Ohnehin werde ich nicht lange bleiben."

Er wendet den Blick ab und dreht den Kopf als lausche er nach etwas. "Auf diesem Fest tummelt sich bereits ein anderer Artgenosse - und zwei Teufel auf einer Party, nun, sind definitiv einer zu viel."

Tav erstarrt. "Wie? Ihr seid ein Unhold." 

"Habt keine Angst, Gus Tava, ich bin nicht Euretwegen hier."

Sie beugt sich vor, Blick ernst und Ton leise. "Wenn Ihr Wyll oder seinem Vater nur ein Haar krümmt, reiß ich Eu- ach, scheiß drauf. Ich reiß dir die Flügel höchstpersönlich aus, dann kannst du zu Fuß deinen Berg hinaufsteigen."

"Hmmm. Schach."

"Was?"

"Ich stehe davor, Euren König zu nehmen."

Tav springt auf, der Hocker hinter ihr fällt um. "Verschwinde von hier, oder ich setze Wyll darüber in Kenntnis, wer auf seiner Party herumlungert."

"Wollt Ihr Euren König denn nicht retten?"

"Das Spiel ist beendet."

Sie kann nicht umhin insgeheim über ihre fehlenden Waffen zu fluchen. So unauffällig wie möglich lässt sie den Blick über ihre unmittelbare Umgebung gleiten. Doch bis auf das Dreibein ist nichts in greifbarer Nähe, das sich nur ansatzweise als Waffe einsetzen lässt. Die Position seiner infernalischen Mystra hat sich im Übrigen dramatisch verändert und Tav, für eine Sekunde von dieser Tatsache abgelenkt, begreift nicht, wie das passieren konnte: Wie durch Zauberei befindet sich die Teufelsfigur in direkter Schusslinie zu Tavs Cyric.

Der Phönix-Teufel steht nun ebenfalls auf und drückt seine Pfeife an die Brust. 

"Ich wünschte, wir hätten das Spiel zu Ende gebracht. Bitte glaubt mir, wenn ich sage, dass es nicht mein Anliegen war, Euch zu erschrecken. Hier. Nehmt meine Königin. Als Zeichen des guten Willens." Er hält ihr die weiße Teufelsfigurine hin.

"Ich nehme ganz sicher keine Geschenke von Unholden an."

Ihr entgeht nicht sein Blick, der ganz kurz ihr Kleid hinabgleitet. Das schelmische Funkeln in seinen Augen blinzelt er schnell weg.

"Seht es nicht als Bestechung," erklärt er immer noch mit gleichmütiger Stimme, "sondern als Entschuldigung. Und mein Gelöbnis, dass Euer König noch ein Stückchen länger vor ihr sicher ist. Wenn Ihr ihm nur eine Botschaft von mir überbringen könntet."

"Hör auf deine Drohungen in Allegorien zu packen! Du wirst weder mir noch den Ravengards drohen!"

"Keine Drohung. Und die Ravengards sind nicht jene, die ich im Auge habe."

"Nun, meine Spielfigur meinst du offensichtich auch nicht. Wen dann? Wessen Seele jagst du?"

Er lächelt mit abgesenktem Blick und verneigt sich wie der Gewinner in einem komplexen Spiel der Intrigen.

"Ich sagte es doch schon: Euer König ist vorerst sicher. Nehmt sie. Bitte."

Tav greift schnell nach dem Stück, während er weiterhin den Kopf gesenkt hält.

"So sprich."

Bruder Phönix erhebt sich wieder und verschränkt die Hände in den weiten Ärmeln wie ein Kleriker. "Glückwunsch zu dem gelungenen Coup in Dis - der Eiserne Erzteufel ist gefallen. Doch solltet er beim nächsten Mal mehr Vorsicht walten lassen - wer weiß, welche mächtigen Kräfte noch zusehen. Sofern er seinen Kreuzzug fortsetzen will."

Tav spürt, wie ihr die Kälte die nackten Beine hochkriecht. Es ist kein Rätsel mehr, was er anspricht und wen er nun mit König meint. Doch "Eiserner Erzteufel"?

Der Unhold tritt zur Seite, macht nun Platz, und mustert sie schweigend. 

"Verschwinde. Sofort," knurrt Tav, "Wenn ich dich noch einmal hier sehe -"

Sie stockt in ihrer Rede, denn hinter ihm scharwenzelt gerade "Raphaela" durch den nächtlichen Irrgarten, Arm in Arm mit irgendeinem Grafen, und bevor Tav den Anblick überhaupt verarbeiten kann, sind die beiden hinter der nächsten Hecke verschwunden. Sie spürt die Empörung in sich aufsteigen. Ist alles für ihn ein bloßes Spiel? Oder ist er wie immer ein paar Schritte voraus, und sie beugt sich wie ein Fähnlein in seinem Windschatten?

Mit einer gemurmelten Drohung schiebt Tav sich an dem bleichen Teufel vorbei und stürmt dem anderen Kambion hinterher.

 

An einer Weggabelung muss sie schließlich stehen bleiben, denn sie hat ihn schon wieder verloren. Angestrengt starrt sie die finsteren Pfade hinab, horcht. Sie sieht nur noch mehr Hecken und Abzweigungen. Hört noch weniger. Es scheint als habe Raphael sie mit voller Absicht in die Irre geleitet. Weiß er, dass sie beobachtet werden?

Und plötzlich spürt sie, wie ihr Kreislauf absackt. 

Sprach der Mönch von einem sprichwörtlichen Coup? Hatte ihr Diebstahl etwas damit zu tun? Was hat sie da rausgeschmuggelt?

'Oder was habe ich reingeschmuggelt?'

Tavs Hände wandern zu ihrem Abdomen. Sie muss sich gleich übergeben. Bei allen Dämonen und Höllenbewohnern, in was ist sie da hineingeschlittert?

"RAPHAEL!"

Es antwortet nur die Stille.

 

Tav ist auf dem Rückmarsch zum Ducalpalast, und als sie Wyll, Jaheira und Minsc in einem der Pavillons sitzen sieht, steuert sich direkt auf sie zu.

"Wyll, Raphael läuft hier herum."

Das Gespräch drehte sich wohl gerade um die Leistung eines der Schausteller an diesem Abend, der Enver Gortashs Attitüde perfekt nachgeahmt hatte. Tav fällt wie ein entzündetes Pulverfass in die Konversation und kassiert ein scharfes Einatmen. 

"Und nicht nur das," redet sie weiter, bevor einer ihrer Freunde einen Kommentar machen kann, "ein Teufel verfolgt ihn. Ein Auftragsmörder, nehme ich an."

Jaheira hebt ihren goldenen Weinbecher. "Meinetwegen. Soll der sich um den Hantelkopf kümmern."

"Nein, nein, nein, nein," fällt ihr Tav ungeduldig ins Wort.

Sie merkt wie sie jetzt schon zu tigern beginnt und - als könne sie sich davon abhalten - hebt sie die verschränkten Hände zu Kinn und atmet einmal tief durch. Ruhig Blut, sagt sie sich. Ruhig Blut.
"Raphael hat einen Erzteufel umgebracht, und das Problem ist, dass er wahrscheinlich mich in die Sache mit reingezogen hat."

Wyll stellt seinen Kelch ab und kommt alarmiert auf die Füße. "Tav, bist du in Gefahr?" fragt er.

Sie verrgäbt die Nase in ihren Händen. "Ich habe keine Ahnung. Dieser Phönix-typ, wie er sich nannte, schien nicht an mir interessiert zu sein, aber er hat ein paar kryptische Warnungen abgelassen ..." Sie runzelt die Stirn. 

"Euer König ist vorerst sicher ... er sollte beim nächsten Mal mehr Vorsicht walten lassen - wer weiß, welche mächtigen Kräfte noch zusehen."

"Ich glaube, dass Raphael einen weiteren Anschlag planen könnte. Und spätestens dann weiß jeder, dass er zurück ist. Und ich bei ihm."

Sie wirft sich auf einen der Hocker und die anderen rücken näher heran. 

"Ich glaube, Raphael plant was Großes. Und wenn er das nächste mal zuschlägt, werden es alle wissen. Und dass ich was damit zu tun habe."

 Bei den letzten Worten versagt schließlich ihre Stimme, enthüllt wie sehr die Konsequenzen ihrer unfreiwilligen Komplizenschaft sie wirklich fürchtet. 

"Du musst aus diesem Vertrag mit ihm raus," ordnet Wyll überflüssigerweise an. Oh, süßer Herzogensohn.

Tavs kurzer Lacher klingt scharf und bitter im Zelt. "Ich weiß nicht wie. Selbst wenn ich mich ihm entziehe, kann er mir damit drohen, nicht Kar'niss gehen zu lassen. Ich muss bei ihm bleiben, verstehst du, ich muss Kar'niss' Seele befreien."

"Ja, aber politische Morde in der Hölle und du mittendrin? Das wird dein Tod sein."

"Nein," murmelt sie, "das wird Raphaels Tod sein."

"Geschieht ihm recht," raunt Minsc von weiter hinten. Der Ranger hat nicht viel zu sagen, sondern ist hauptsächlich damit beschäftigt Boo, der auf seiner Schulter hockt, Speckstücke zuzufüttern.

Sie kann nichts darauf erwidern, das nicht Entrüstung auslösen würde. Stattdessen starrt sie lippenkauend auf die Spitzen ihrer Schnabelschuhe.

"Tav," hört sie Wyll und mit einem Seufzen ahnt sie schon, was als Nächstes kommt, "ich glaube, du unterliegst einem ernsthaften Trugschluss: Du glaubst daran, dass er irgendwie, in irgendeiner Form bekehrbar sein könnte. Aber er ist ein Teufel - und ich kenne das Wesen der Teufel. Er wird deinen guten Glauben verraten."

"Ist das wahr?" fragt Jaheira mit verwundertem Entsetzen und sie klingt, als hätte Tav ihr gerade erzählt, sie wolle den verfluchten Kambion heiraten. "Wenn ja - lass es. Ein Teufel ist wie der Schatten - die Antithese von Licht. Das zu versuchen würde entweder seinen oder deinen Untergang bedeuten."

Minsc brummelt und nickt mit der Pläte. "Lieber den Teufel seine eigene Grube schaufeln lassen. Boo stimmt zu."

Tav ballt die Fäuste; die Worte treffen sie härter als sie sollten. "Ich versuche nicht ihn zu missionieren. Ich versuche ihn zu überleben."

Wyll verschränkt die Arme, sein Blick bleibt hart. "Wirklich? Von meiner Warte aus betrachtet, lässt du dich von ihm in den Schlamassel ziehen. Und das alles für eine Seele, die längst verloren ist."

Für einen Moment fühlt Tav sich wie ein gespanntes Seil, das gleich zu reißen droht. Die unerwartete Kritik und Warnung ihrer Freunde wie Gift im Baldriantee. Dann durchbricht Jaheiras Stimme das geladene Schweigen, ruhig aber firm.

"Egal, was du vorhast, du musst das Risiko minimieren, Kleines. Du hast erkannt, dass Raphael dich mit seinen Ränkespielen zu einer Zielscheibe macht - jetzt darfst du nicht zulassen, dass er dich auch noch glauben macht, du wärst machtlos."

Tav muss tief Luft holen, ihre Stimme bricht, als sie schließlich spricht. "Ich fühle mich nicht machtlos. Ich fühle mich gefangen."

Die Worte bleiben im Raum hängen, hart und unverfälscht, und so ungewollt verletzlich, dass sie am liebsten im Boden versinken will. "Mir bleibt nur die Gewissheit, dass er mich nicht töten wird."

'Nein, er will dich nur in die Knie zwingen und dir ganz gewaltfrei jegliche Würde nehmen.' Aber das muss niemand wissen.

Jaheira hebt eine Braue, ihr Ton wird fester. "Das heißt nicht, dass er dich beschützt, wenn es darauf ankommt. Was auch immer sein Plan ist."

"Der Plan ist glasklar: Er will die Herrschaft über Baator," kontert Tav, aber ein kleiner Zweifel nagt an dieser Theorie - und wenn es nicht Raphaels seltsame Anmerkung ist, dass er eine neue, bessere Mission verfolge, dann ist es sein unstimmiges Gebaren. "Oder zumindest ist das sein Etappenziel - Was ihm mit Karsus' Krone nicht gelungen ist, forciert er nun mit stumpfer Gewalt. Und er wird nicht lange mit dem nächsten Coup warten."

Will er in die Eiserne Stadt einmarschieren und den Thron besteigen? Oder zieht er weiter, um die nächste Hölle zu unterwerfen? Das kann er unmöglich bis nach Nessus durchhalten.

Tav spreizt die Hände überm Kopf. 

'Aber wenn er es eilig hat, warum vertrödelt er dann seine Zeit auf einem sterblichen Geburtstagsfest?'

"Es reicht. Genug ist genug. Ich kann und werde dich nicht länger dieser Ausgeburt der Hölle überlassen."

Alle Augen fliegen zu Wyll, der vor Tav tritt und sie an den Schultern auf die Füße zieht. Verwirrt und ein klein wenig verloren starrt sie ihn an. Sein Blick liegt schwer und besorgt gleich dem eines Vaters auf seinem Kind, und sie beobachtet, wie sein gesundes Auge über ihre Haare und ihr Gesicht streift, wie um sie nun vollständig in seinen Gedanken zu erfassen.

"Ich weiß, dass ich mich gern wiederhole, aber: Bitte vergib mir," sagt er, Tonfall ernst und schwer, "vergib mir, dass ich dir kein guter Freund gewesen bin. Dass ich dir aufgrund meiner Pflichten nicht nach Avernus zu folgen vermag. Aber ich kann etwas dafür tun, dass du sicherer bist." 

Er atmet langsam und kontrolliert aus, und die harte Entschlossenheit in seinem vernarbten Gesicht weicht einer vorsichtigen Milde. "Dein Vertrag mit ihm verbietet dir keine eigenen Wachen, oder? Dann teile ich dir drei meiner besten Kämpfer zu. Sie werden dich Tag und Nacht bewachen. Und wenn du nicht fortkannst, so können wenigstens sie mir in deinem Namen Kunde bringen. Du wirst nicht schutzlos sein, nicht, solange ich es verhindern kann."

Wyll möchte ihr eine Leibgarde zur Verfügung stellen.

Der Gedanke rund um die Uhr überwacht zu werden, hat zunächst wenig Verlockendes. Andererseits denkt sie an die Tunnel von Dis zurück ... "Ich schätze das Angebot, wirklich," sagt sie leise, "aber-"

"Kein Aber. Du wirst es annehmen," kommt Jaheira ihr zuvor und stellt sich jetzt neben ihn. Tav spürt ihre Blicke mit einem beinahe unerträglichen Zugzwang. "Nimmt es an, Tav. Zeig diesem drittklassigen Halbteufel, dass Gus Tava sich nicht unterbuttern lässt."

Die alte Harfnerin deutet Wyll an zur Seite zu treten und nimmt Tavs Hand in die ihren. Fester Griff, warm und voller unausgesprochener Fürsorge. Und stärker als Magie - Tav spürt, wie ihr Sturkopf mit einem Mal dahinschmilzt, ein Winzling in der Hand der schroffen Matriarchin. Vor allem schaut die alte Druidin so besorgt, dass Tav sich selbst zu hinterfragen beginnt, sich wundert, ob ihr Selbstbild eventuell massiv gestört sein könnte.

"Wir haben uns um dich gesorgt, Kind," sagt Jaheira etwas sanfter. 

Der Satz trifft sie unerwartet. "Ach ja?"

"Nicht erst seit heute Abend, sondern schon länger."

"Ich äh ..."

"Wir wissen, dass dein Leben aus den Fugen geraten war. Erst hattest du einen Freund verloren, einen Geliebten. Dann sein Kind. Auch wenn du nie ein Wort darüber verloren hast." Jaheira hebt die Schultern, als wäre es bloße Feststellung. "Ich nehms dir nicht übel - es ist etwas sehr Persönliches. Barth hat es uns irgendwann erzählt – wir hätten sonst nicht einmal von deiner Schwangerschaft erfahren. Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und für andere hört sich das nach einer langen Zeit an, aber ich weiß genau, dass ein Jahr oder zehn nichts bedeuten. Auch ich habe Kinder verloren; und selbst wenn es nicht meine eigenen waren: Solche Wunden schließen sich nie wirklich."

Tav bläst sich eine Strähne aus der Stirn. "Grundgütiger, Mummy, jetzt packst du aber die großen Kanonen aus," scherzt sie etwas schwach. Sie will ihre Hand zurückziehen, aber die Druidin lässt nicht los. "Es gibt wirklich passendere Themen für unser Wiedersehen." 

"Nun, wir sind Freunde," erwidert diese, "und Freunde warten üblicherweise nicht den passenden Zeitpunkt ab, um über die ernsten Dinge des Lebens zu reden. Aber keine Sorge, ich komme zum Punkt: Die Pflichten des Alltags haben einen wieder schnell im Griff, ja, aber wir sind für einander da, wenn es hart auf hart kommt. Und das gilt auch jetzt."

"Die Druidin weiß, wie sie selbst einen wilden Rashemi zum Weinen bringen kann." Minsc hält den Glatzkopf gesenkt und nickt schwer. "Hör ihr zu, kleine Peitscherin, denn sie ist weise."

Tav atmet jetzt durch die Tränen, die drohen zu fallen. Ein fast unwiderstehlicher Drang, die Harfnerin zu umarmen und das Gesicht in ihrem Leder zu vergraben, damit sie niemand fließen sieht, erfasst sie.

"Du nimmst Wylls Angebot an, Tav. Und außerdem will ich mit eigenen Augen sehen, was aus der Teufelsvilla geworden ist. Dort wächst nun ein Baum, sagtest du. Gut. Erwarte mich in ein paar Tagen. Außerdem stellst du mir die benötigten Portalschlüssel bereit, damit ich nicht auf meine alten Tage noch kuriose Knochen oder dergleichen ausgraben gehen muss."

Tav schluckt den Kloß im Hals runter und nickt eilig. Endlich lässt die Alte ihre Hand los und drückt sie in einer fließenden Armbewegung an sich. Eine Sekunde später und Tav spürt auch größere Männerarme auf ihrer Schulter. Wärme und Weichheit, überall, und zwischen ihren Rippen eine gefährliche Blase voller sentimentaler Gefühle, die bis zu ihrer Kehle anschwillt. Gleich heult sie wie ein Schlosshund. Drei, zwei, eins-

Plötzlich lässt Minsc ein viel zu hohes, rührseliges Wimmern los – und anstatt zu weinen, prustet Tav los vor Lachen, ein von etwas Spucke begleiteter Ton, der herausbricht, bevor all das salzige Augennass es tun kann. Oh danke, danke!, welcher Gottheit in Celestia auch immer für sein Timing.

Wyll löst die Umarmung und kneift ihr brüderlich in die Schulter.

"So, das hätten wir geklärt," seufzt er und streckt den Rücken, als hätte er eine Last von den Schultern geschüttelt. "Wie wäre es jetzt mit dem Abendprogramm? Im Park wird getanzt."

Sein Blick huscht für einen Moment zu ihren nackten Füßen, dann zwinkert er ihr grinsend zu.

Die Gruppe verlässt den Pavillon und tritt hinaus in den Park. Die Fackeln im Boden brennen niedrig, die Laternen über ihren Köpfen glimmen schwach und weich. Sie gehen zur Freilufttanzfläche, wo die letzten Klänge der Nacht auf einer warmen Brise treiben. Tav fällt einen Schritt zurück und ihre Augen driften jenseits der schunkelnden Gestalten in der Nacht. Ihre Finger umfassen die Schachfigur in ihrer Rocktasche. Die scharfen, steinernen Kanten erinnern sie an das Blut, das der Teufel wohl gewillt ist fließen zu sehen, während er sie über einen Abgrund balancieren lässt – aber es erinnert sich auch an ihre Freunde, die ihr heute einmal mehr gezeigt haben, dass man nicht nur lediglich Abenteuergenossen, sondern auch für einander da ist.

Sie könnte sich in diese Geborgenheit hinabsinken lassen. Doch der Abend wiegt schwer: erst Raphael in Verkleidung, dann ein Assassine, der nur auf seine Gelegenheit wartet – und die unausweichliche Wahrheit, dass sie längst in einem obskuren Netz aus wirrer Hoffnung und Loyalitätsgefühlen zappelt. Ihn verteidigt. Ihre Finger schließen sich schmerzhaft um die Figur.

Jaheira wartet, bis Tav mit ihr aufgeholt hat und schließt sich ihr an.

"Du bist immer noch am Grübeln," sagt sie, "was beschäftigt dich?"

Tav zuckt die Schultern und versucht sich an einem Lächeln. "Es ist schwer, sich nicht wie eine kleine Maus zu fühlen. Immer auf der Flucht, immer hinterher."

Jaheira sieht geradeaus und nickt brummelnd. "Mäuse wissen, wann sie rennen müssen - und wann zubeißen."

Es ist eine Floskel, die wie ein kleiner, ziepender Spotthaken in Tavs Brust hängenbleibt. 

Jaheira, vermutlich völlig ungewahr der Wirkung ihrer Worte, schaut zum Mond auf, ihr würdevoll gealtertes Gesicht für einen Moment geistesabwesend. Tav wendet verstohlen den Blick ab, um sie etwas sinnieren zu lassen, und schaut zu, wie Wyll zwei Wachen in Richtung des Irrgartens schickt. Er kümmert sich um Dinge. Gut, sehr gut.

"Wenn ich dich besuche, Kleines, gibt es etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte. Und etwas, das ich ausprobieren will."

Tav blinzelt, überrascht. "Was meinst du?"

Jaheira lächelt nur rätselhaft. "Du wirst sehen. Aber für heute reichts mit den schweren Themen, hm?"

Bevor Tav antworten kann, dringt Wylls Stimme durch die Nacht. "Kommt schon, ihr beiden! Keine Teufel, keine Pläne – nur Freude." Er winkt im Rückwärtsgang und rempelt dabei einen Mann an, der sich sofort mit drei Verbeugungen bei dem Herzog entschuldigt.

Die Druidin stupst sie sanft an, und beide Frauen erlauben sich ein Schmunzeln. "Geh schon," sagt sie, "du bist den ganzen Abend gerannt. Vielleicht wird's Zeit, zu tanzen.“

Tav atmet aus, lässt sich von dem Ravengard-Spross mitziehen. Die Musik schwillt an, der Rhythmus nimmt sie mit – und für einen Moment verblasst das Gewicht der Höllen. Sie ist keine Maus, keine Spielfigur. Nur sie selbst. Und für jetzt reicht das.

Notes:

Ich verspreche, die nächsten paar Kapitel werden kürzer. So viel Spice verträgt sich am besten in kleinen Dosen.

Chapter 20: 20 Karnivor

Summary:

Als sie Abriymoch den Rücken kehren, ist Raphael von Kopf bis Fuß mit Blut, Gekröse und anderen Körperflüssigkeiten hochrangiger Baatezu bedeckt.

Notes:

Hinweise
1) Wie reden höhere Unholde miteinander? E.T.A. Hoffmann lässt hier und da grüßen. Verwendete Zitate: Ein paar wenige direkt den Kreisleriana-Musiktexten, insbesondere "Beethovens Instrumentalmusik" und "Gedanken über den hohen Wert der Musik" entlehnt.
2) /bitethedevil erläutert ein paar gute Punkte über die Art wie Raphael sein Teufel-/Sterblichendasein instrumentalisieren könnte. Manches davon wird sich auch in diesem kapitel wiederfinden.
3) Trigger-Warnung für ... die Tatsache, dass wir uns in Phlegethos befinden.
4) Musik für Abriymoch:
The Caretaker - F7 Libet delay
Sea Power - Martinaise, Terminal B

Chapter Text

Sie hat versucht sich ihm zu widersetzen. Hat sich metaphorisch mit Händen und Füßen gewehrt. Und doch, alles, womit der Teufel den Fisch namens Tav am Ende fängt, ist mit einem "hochaufregenden Auftrag", der ihr "erhellende, gar einzigartige Erkenntnisse" über die Welt der Baatezu bescheren kann. Sie kann sich vormachen, dass der einzige Grund, weshalb sie am Ende zusagt, jener ist, dass sie den Teufel nur begleiten muss. Doch seien wir mal ehrlich, es sind Langeweile und ausgehungerte Sensationsgeilheit, die sie durch den Feuerreifen springen lassen. Mal wieder. 

Raphael händigt ihr die schriftlichen Details mit einem gönnerhaften Lächeln aus; wie beim letzten Mal sind sie in seinem Arbeitszimmer, das jetzt noch größer und verlassener wirkt, da die Standregale abgebaut wurden und die an der Wand immer noch gähnend leer sind. Oder fast, denn in einem der oberen Fächer liegt ein frischer Stapel Bücher und Journale, verdächtig außer Reichweite. Sie macht, wie üblich, einen Witz auf seine Kosten und er stellt sich, wie üblich, taub und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf das Hauptsujet - den ominösen nächsten Auftrag. Er steht viel zu nah, das Parfum dick aufgetragen, sodass mindestens zwei ihrer Sinnesorgane plötzlich ganz von Raphael erfüllt sind und ihr die schlauen Sprüche flöten gehen. Zumindest räuspernd die Schriftrolle entfalten, das kann sie. Viel mehr gibt es zu diesem Moment eigentlich nicht zu sagen, lässt man außer Betracht, dass die Auftragsbeschreibung das Gefühl dieses Kräftemessen verloren zu haben nur marginal besser macht:

Es erwartet sie eine "Geschäftsreise" nach Abriymoch, in die Hauptstadt von Phlegethos, einer der Höllen von Baator. Tavs Rolle: die Eskorte von Raphael zu spielen. Ihre Aufgabe: Klappe halten und (was der marginalisierende Faktor ist) ihm bedingungslos gehorchen. Zu gegebener Zeit soll sie außerdem eine Tür für ihn ausfindig machen, aber das sind alles mündliche Details. Essenziell ist zu erwähnen, dass er ihr verspricht, dass ihr nichts geschehen wird - zumindest nichts Schwerwiegendes und solange sie alle Tränke trinkt und alle Ausrüstungsgegenstände trägt, die er ihr gibt. Er garantiert, dass er sie nur für diesen einen Abend braucht.

Einen Abend im Kreise der Elite von Phlegethos, jener Hölle, die - wie Tav später nachliest - für puren Exzess steht ... Einen Abend in persönlicher Anwesenheit von Erzteufel Belial und Erzherzogin Fierna, dem infamen Regentenpaar dieser Ebene.

Schriller und ansprechender könnte das Werbebanner nicht sein.  

Ihre Rolle hört sich so wahnsinnig banal an, dass sie sofort den faulen Braten zu riechen glaubt. Welche Tür muss sie finden und zu was? Er korrigiert sich, sagt, dass sie die Tür nicht öffnen muss. Sie soll sie nur aufsperren. Eine kleine Undercover-Mission, sozusagen.

Ganz einfach.

"Dieser Phönix-Typ könnte dort sein."

"Dieser Phönix-Typ," antwortet Raphael mit hochgezogener Augenbraue, "müsste von hohem Rang sein, um eine Audienz zu erhalten. Und wenn sein Herr und Meister persönlich anwesend ist - solls mir recht sein." 

Er ist ausgesprochen gelassen.

"Nur ein Abend und unter meinem Schutz," sagt er dann, als sie nichts erwidert. "Wie gesagt, du musst nur den Hintereingang aufsperren. Niemand darf dich dabei sehen, wenn du verstehst. Die Ringe an deinen Fingern verbergen dich und weisen dir den Weg, sicher vor allen Augen, auch denen eines Phönix. Ich halte derweil die feine Gesellschaft bei Laune."

"Warum nicht Mol?" fragt sie zurück. Wenn der Job so einfach ist ...

Er lächelt nicht, sieht sie nicht an, aber lässt sich Zeit mit der Antwort. Sie riecht die Kirschen an seinem Doublet. Die wirkliche Tragweite seiner Worte wird sie erst am späten Abend begreifen.

"Ich brauche jemanden mit starken Nerven."

Raphael versteht es, schlechte Triggerwarnungen in ein Kompliment zu verpacken.

Tav weiß nichts darauf zu erwidern, außer Fragen, auf deren Antworten sie verzichten kann. Er gibt ihr einen Gürtel mit Tränken und zwei Ringe, einen der Verzauberung und einen der Verbindung und entlässt sie. 

 

Schließlich kommt besagter Abend. Sie stolpert hinterher, die Beinchen zu dürr und die Füße zu platt, und irgendwie stimmt auch die Austarierung der Wirbelsäule nicht, denn Tav droht anfangs bei jedem Schritt nach hinten zu kippen. Die Wachen, vier riesige Unholde mit Stacheln auf den Schulterpolstern und goldenen Piken, treiben Raphael und sie im Soldatenmarsch zwischen sich her, zu schnell und unnachgiebig, sodass Tav fürchtet jeden Augenblick auf dem Podex zu landen. Als sie per Zufall entdeckt, dass sie ihren Imp-Schwanz als Stütze nutzen kann, macht es den langen Gang durch die Stadt um eine Trillion Prozent einfacher.

Ach ja, hat sie schon erwähnt, dass sie ein Imp ist? Der neue Look ist ziemlich gewöhnungsbedürftig: ihre Sinne verschoben - Augen und Ohren schlechter, dafür die Nase umso schärfer. Selbst ihr Gehirn fühlt sich anders an - es ist, als wate sie durch Sirup, jeder komplexere Gedanke zu anstrengend für genauere Inspektion.

Raphael schreitet vor ihr her wie ein Prinz der Hölle, nur ohne Krönchen und die Flügel zahm eingezogen, wie selten der Fall. Sie war nah an ihn gerückt, als sie die Stadt durch das Portal betraten, auf der Suche nach olfaktorischer Erleichterung und ruhigerem Puls. Doch der Kambion trägt kein Parfum. Keine Essenz von Rosen und Kirschen. Er ist aufs Dekadenteste infernalisch: Sein langer Gehrock aus schwarz schimmerndem Samt, die Knöpfe goldene Teufelsfratzen und die glänzenden Stiefel spitz zulaufend. Die Herznote unverkennbar schwefelig, die Stimmung tyrannisch. Während ihrer Eskortierung ignoriert er überwiegend, lässt es sich aber auch nicht nehmen, sie einmal zur Eile anzubellen. Tav muss einerseits Acht geben, dass sein mächtiger Echsenschwanz sie nicht wegfegt, andererseits auch dass sie nicht vor Ärger reinbeißt.

Sie sieht auf und erfasst das schauderhafte Panorama. Imp-Augen zeigen alles in seltsam flimmernden Farben, und daran muss sie sich erst noch gewöhnen. Atmet flach, sicher ist sicher – wer weiß, ob diese Luft ihr nicht die Lungen wegätzt.

'Abriymoch, Hauptstadt von Phlegethos ... Als wäre die Hölle noch nicht höllisch genug.'

Sie weiß jetzt, warum Raphael darauf bestand, dass sie die Feuerresistenz trinkt und den Bear's Endurance-Zauber wirken sollte. Hier würde sie ohne all diese Dinge keine Minute überleben: Die Hitze ist keine bloße Temperatur mehr, sondern ein Gewicht, das auf Tav lastet, in ihre Haut dringt, sich ins Gewebe frisst. Jeder Atemzug kostet Überwindung, als müsse sie gegen die flammende Stadt selbst ankämpfen, die sich in ihren Körper schiebt gleich einem ungewollten Liebhaber. Orangene Feuerzungen überall, als gehörten sie zum Landschaftsdesign, während die Architektur, unwillig und fliehend, sich gen Himmel streckt. Die gläsernen Zwillingstürme, die über allem schwarz und nadelig aufragen, werfen verzerrte Spiegelungen, flüchtige Bilder, die sich in ihrem Augenwinkel bewegen und das Flammenmeer verfielfachen. Sie wagt keinen zweiten Blick, nicht vor Angst, sondern vor einer seltsamen Mischung aus Beklemmung und Verlockung. Die Stadt will, dass sie bleibt, dass sie sich verliert in den flackernden Reflexionen. 

Tav zwingt sich, nicht zu stolpern, während Raphael neben ihr murmelt, als spräche er mit der Stadt selbst. "Ein Krater," sagt er leise, fast andächtig. "Was du siehst, ist der Wille von jenen, die glaubten, einen Vulkan zähmen zu können. Sie haben ihn geschunden, geformt – und so ist Abriymoch geboren."

Sie hustet nur. 

Sie durchlaufen eine Halle der Eintausend Seufzer und Schreie, deren Decken so hoch sind, dass sich Stock um Stock um den Weg herum auftut. Eine Stadt in der Stadt.

Zuerst fällt ihr der neuartige Gestank auf. Keine Asche mehr, nur noch dieser süßliche, belastende Dunst, der sich im Rachen sammelt, zuckrig zäh wie Honig, der zu lange in der Sonne stand. Er kriecht in ihre Lungen, reizt wie Rauch, immer kurz vorm Husten, kurz vorm Würgen. Avernus stank – aber das hier fühlt sich an, als würde es sie vergiften.

Dann: Schreie. Schrill, geschichtet über leichter Musik, die durch die endlose Halle tüdelt. Am Rande öffnen sich Galerien wie Wunden, und aus jeder plärrt eine andere Melodie, Stockwerk um Stockwerk, die Balkone bevölkert mit Teufeln, deren Blicke hungrig umherrirren. Sie trinken, gackern, tratschen – und werfen dabei Menschen und Tieflinge oder nur noch Körperteile in den Abgrund.

Verbranntes Fleisch, aufgebrochenes Mark, Tränen der Todesqualen, die in den Flammen einfach nur zischen. Der Geruch erklärt sich von selbst. Er schlägt ihr ins Gesicht, setzt sich fest in ihrer Haut, in ihrer Seele. Die Toten brennen. Die Sterbenden werden bald folgen. Aber der Gestank bleibt. Für immer.

Tavs empfindliche Augen schmerzen von den flackernden Feuern, doch sie hat genug gesehen. Teufel, die sie anstarren. Hochgezogene Lefzen, durch die der Champagner fließt. Andere, die die Luft schnuppern, ihre Flügel alarmiert angelegt. Glühende Augen, schmal und scharf.

Sie können sie sehen.

Tav spürt, wie sich ihre Rippen zusammenziehen, als wollten sie ihr Herz verstecken.

Sie werden es wissen.

"Sie werden sehen, dass ich menschlich bin." Kaum hörbar, ein Hauch von Worten, der an ihren wulstigen Lippen zerschellt.

Sprechen fällt schwer in diesem Körper. Alles fühlt sich falsch an. Fremd.

Raphael fängt ihren Blick, nur einen Wimpernschlag lang, bevor er den Rücken geraderichtet und wieder nach vorn schaut.

"Still," murmelt er durch halbgeschlossene Lippen, kaum lauter als ein Gedanke.

Ob ihn das, was um sie herum passiert, berührt? Oder ist er wirklich einer von ihnen? Ein Monster mit einem Herz aus Asche. Tav schluckt, spürt den Rauch wie Schmirgelpapier in ihrer Kehle.

"Bleib gefälligst hinter deinem Dominus."

'Arschloch,' denkt sie, ballt die Hände mit den viel zu langen Krallen. Aber muss gehorchen. Sie atmet flach. Sie fällt dicht hinter ihn.

 

Der Wandel kommt schleichend.

Zuerst sind es die hohen, steinernen Bögen – sie recken sich, wölben ihre Linien in den Raum hinein, als würde etwas im Stein drängen, pressen, kämpfen, um ans Licht zu kommen. Die gigantischen Vorhänge die teilweise die Sicht auf weitere Seitenkorridore versperren, bewegen sich rhythmisch, reibend gegen die schwarzen Basaltsäulen, weiß-glibberiger Geifer tropft dabei auf den Boden und zischend steigt ein fauligsüßer Gestank von den Lachen auf. Es braucht nicht viel und sie würde in die nächste Ecke reiern. 

Die Wände zucken. Und dann – atmen sie. Wie kann das sein?

Ein Stöhnen vibriert in der Luft, so tief, dass es ihr fast den Magen umkrempelt. Oder kitzelt. Schwer zu sagen. Je länger Tav zwischen den architektonischen Absonderlichkeiten entlangwatschelt, desto mehr kriecht ein verräterisches Kribbeln in ihren Körper, genau da, wo es wirklich nichts zu suchen hat.

Doch es ist als hätten sie den karnivoren Rausch hinterm nächsten Vorhang zurückgelassen - plötzlich sind sie in einer völlig neuen Umgebung. Die Wachen eskotieren sie und Raphael in eine Art Lounge und ziehen dann kommentarlos ab. Tav blickt schiefend um sich. Kein Lärm, kein ausgelassenes Feiern. In dem Salon herrschen ein gedämpfter Gesprächston und eingebildete Entspannung. Aber vor allem: kein Sterben. Kein Blutvergießen. Tav sieht noch nicht einmal Wachen, nur hin und wieder Imps, die mit einem Tablett oder einer Karaffe Wein herumeilen und ihre logierenden Herren und Herrinnen am Platz bedienen, wo das Blubbern der Wasserpfeife sich mit lockeren Konversationen vermischt.

Und für einen Moment traut sie sich durchzuatmen.

Drei, dann vier mit Juwelen und Abzeichen behangene Unholde sammeln sich um Raphael, Flügel and Flügel stehend, jeder mit einem Drink in der Hand und ihn kommentarreich begutachtend. Raphaels Anwesenheit scheint kurz alle Aufmerksamkeit an sich zu reißen, und obwohl sie nicht sieht, wie viele Baatezu sich in diesem verwinkelten Salon aufhalten, nimmt das ruhige Konversieren schlagartig ab und schwillt das Getuschel an. Tav versucht sich durch schiere Willenskraft unsichtbar zu machen. Unsichtbar wird sie so natürlich nicht. Aber die Teufel scheinen kein Interesse an ihr zu haben – nicht feindselig, nicht einmal neugierig. Raphael zieht alle Blicke auf sich wie ein schwarzes Loch im Maßanzug. Ihr einziger Schutz. Ihr wandelndes Warnschild. Trotzdem schiebt sie sich langsam aus seinem Schatten, ein paar Meter weit, weiter wagt sie es nicht. Aber hier, abseits seines Glanzes, holt sie leise Luft. Für den Augenblick fühlt sie sich wieder etwas sicherer.

"So ist es also wahr: Mephistopheles' Laune der Natur lebt."

Die glockenhelle Stimme einer Teufelin lässt Tav auffahren, der Ton all ihre Nerven kitzelnd. Sie schüttelt sich unwillkürlich. Vor ihr teilt sich auf einmal die Menge und sie reckt den Hals, um einen Blick auf die Person, die spricht, zu erhalten.  

"Kommt näher, Freund, lasst Euch begutachten von den Herren Abriymochs, unserer erhabenen Stadt der Feuerzinnen."

Raphael tut unter wohlwollendem Kopfnicken von links und rechts wie befohlen und tritt vor ein riesiges, gehörntes Baatezu-Paar. Tav hat keine Portraits gesehen, aber sie weiß instantan, wer die beiden sind: Belial und Fierna. Herr und Herrin nicht nur über Abriymoch, sondern über diese gesamte Krematorium namens Phlegethos - zwei Drei-Meter-Gestalten von der Farbe sonnengereifter Oliven und mit einem Temperament, das die Luft zum Wabern bringt. Ihre mächtigen Schwingen sind gefaltet, und doch scheint der Raum sich in ihrer Präsenz zu verfinstern - alles hinter dem unheilvollen Vater-Tochter-Gespann wirkt in den Schatten der Verdammnis getaucht. Unwillkürlich lehnt sich Tav vor, bis sie auf ihren Impfäusten lehnt, und starrt. Vor allem Fiernas gerade Hörner schießen aus ihrer hohen, noblen Stirn wie geschmolzene Nacht, glatt und dunkel, durchzogen von feinen, funkelnden Sternenstaub. Unter den lang geschwungenen Augenbrauen lugen leuchtende Pupillen, denen sich Tav kaum entziehen kann.  

Etwas an den beiden ruft nach ihren niedersten Instinkten. Ein schmutziger Durst vibriert in ihrer Seele und dort, wo der volle Kelch steht, warten auch diese zwei Nordsterne der Hölle. 

Das Gefühl von Nässe auf ihrer Hand lässt Tav kurz hinabschauen. Sie speichelt.

Verstohlen kneift sie die aufgebissenen Lippen zusammen und versucht sich zusammenzureißen. Die Kraft ihrer Verführung ist ... mächtig.

Raphael verbeugt sich tief und Tav ist mit einem Mal froh, dass die Aufmerksamkeit des Herrscherpaars gerade auf ihm liegt. Unter ihre Augen zu treten muss sich wie ein Lavabad anfühlen. 

"Fierna, holde Gebieterin, Eure Macht vermag selbst die feurigsten Zinnen zu löschen," sagt Raphael aufs Sanfteste, während er in seiner Verbeugung erstarrt. "Doch wie gütig seid Ihr, uns nicht vor Ehrfurcht gefrieren zu lassen."

Er hebt den Blick, seine Lippen zu einem feinen Lächeln geschwungen.

"Belial, gestrenger Herr, Euer Wort ist Gesetz - schärfer als der Basalt Abriymoch. Und ich - ich stehe Euch, wie allzeit, zu jedwedem Vergnügen bereit."

Der geschmalzene Tonfall lässt Tav beinahe die Augen verrollen. Stattdessen wischt sie sich dezent über die schweißnasse Stirn und wirft einen Blick in die Umgebung. Während ihr "Dominus" vor Milord und -lady katzbuckelt, bis seine Nase die Schuhspitze berührt, observiert sie die illustre Runde aus Teufeln und Servierern. Niemand scheint eine Waffe zu tragen, was unter solch mächtigen Geschöpfen der Magie keinerlei Bedeutung hat, wohlgemerkt. 

"Sagt, Raphael - verhält es sich wahrlich so, dass der Herr von Cania Euren Kopf begehrt?" fragt Herrin Fierna mit verführerischer Süße fort, während Belials Klauen träge über ihr makelloses Fleisch streichen.

Die Art, wie Vater und Tochter so karg bekleidet und schmusig aneinanderstehen – es ist nichts, was Tav in Gedanken logisch weiterspinnen möchte, und trotzdem kann sie kaum wegsehen.

"Welch köstliche Vorstellung!" ruft die Herrin aus und wechselt einen kurzen Blick mit ihrem Vater, "gewiss ruhet Ihr seither nur noch mit einem Auge. Ich könnte mindestens vier erzhöllische Getreue Canias zu nennen, die sich die Finger nach Eurer elenden Seele lecken würden. Ah, ich korrigiere mich - drei. Der arme Dispater!"

Ein raunendes Kichern geht durch die Runde.

Tav hört das seidene Lächeln in Raphaels Stimme, bevor er mit seiner üblichen Geschmeidigkeit entgegnet: "Und ich vermag mir ebenso gut auszumalen, weshalb sich mindestens zwei weitere nicht minder eifrig bemühten, genau dies zu verhindern."

Und dann nach einer gut platzierten Pause, fügt er hinzu: "Aber zu dieser Anekdote nachher mehr."

Die schöne Fierna setzt ein Lächeln auf, Reißzahn prominent aufblitzend, dass Tav dahinschmelzen könnte, und gibt einen Wink. Die Audienz ist beendet und das Raunen und Geklirre von Plausch und Essen schwillt wieder an und Rauchsäulen von Tabak steigen hier und da auf. Von irgendwo dringt gedämpftes Trommeln heran, und es gleicht mehr einem rhythmischen, alles andere als beruhigenden Herzschlag als dass es Musik wäre. Tav sieht Raphael mit dem Finger schnippen. Dann noch einmal, und als nichts passiert, dreht er sich herum und findet ihren Blick. Missfällig.

Oh.

Sie soll sich bewegen.

Tav watschelt herbei und er befiehlt ihr ein Glas Wein zu bringen, seine Augen konzentriert über sie hinweglinsend, als wäre die Wand hinter ihr seiner Aufmerksamkeit mehr wert. Als sie nicht reagiert, dreht er sich auf der Hacke um und folgt dem hinreißenden Teufelspaar. Sie sieht noch, wie er sich mit ihnen in eine dunkle Ecke sinken lässt, wo die Schatten wachsen und die Unterhaltung privater Natur ist. Grummelnd geht Tav auf die Suche nach dem Ausschank. 

 

Ihre Hauptaufgabe des Abends hat hiermit begonnen: die Räumlichkeiten auszukundschaften, den Gesindegang des Hauspersonals zu finden und durch diesen zu der besagten Tür zu gelangen. Raphael die Architektur gut genug kennen, um sich ihrer Existenz sicher zu sein, doch nicht gut genug, um ihr zu verraten, wo sich der Zugang befindet. Der Gedanke lässt Tav innerlich den Kopf schütteln.
Hinter den schweren Vorhängen und Säulen verbergen sich wabengleich weitere abgeschottete, mit Kerzen beleuchtete Sitzecken, und dahinter, wie das Ende eines pulsierenden Blinddarms, das Buffet. Kein Zugang, keine Treppe. Nur eine Sackgasse. Dafür tummeln sich hier die meisten Diener, um auf Anweisungen ihrer Herren Teller und Gläser zu füllen. Die stille Hast dominiert über den Imps - niemand von ihnen darf lange außer Sichtweite des eigenen Dominus sein. Tav kreucht Blicke nach links und rechts werfend auf und ab, im Versuch, ihre kurzen Botengänge so sinnvoll wie möglich zu nutzen. 

Aber so oft sie auch Raphaels Anweisungen befolgt - bring Wein, bring Häppchen, bring Serviette - sie hat kaum Zeit, die Räumlichkeiten zu erforschen.

Zu allem Übel muss sie die servierten Konsumgüter selbst vorkosten, bevor sie es Raphael reicht. So will es der Brauch. Ihre Lippen tasten die üblicherweise erträglichen Speisen ab, prüfen sie nicht auf Genuss, sondern auf Tod. "Vergiften", hat er vor Abreise gesagt, sei "aus der Mode gekommen", denn jeder bringe mittlerweile seinen eigenen Vorkoster mit. Eine höfische Geste, eine leere Drohung. Wie auch immer, ihr Magen ist anderer Meinung. Er windet sich, gefüllt mit Bitterkeit, nicht von der Traube, nicht vom marinierten Fleisch, sondern vom unauslöschlichen Bild der Verbrennenden draußen, deren Geruch sich in ihre Erinnerung geätzt hat. Ihr Blick wandert immer wieder zu Raphael, der nun gemeinsam mit Fierna und einer Gruppe von Unholden zusammensitzt und über irgendwelche Oberflächlichkeiten sinniert. Wüsste Tav es nicht besser, wäre es kaum zu glauben, dass diese Gesellschaft draußen vor dem Salon bestialische Vergnügungsexzesse feiert und niederträchtige Gestalten wie Mizora und Raphael hervorgebracht hat. Selbst ihr Kambion passt so perfekt in diese Kultur wie der Hintern auf die Klobrille. Es muss alles Scharade sein, diese Kultiviertheit.

Andererseits lieben Teufel die Ordnung - gibt es also immer eine Zeit fürs Abschlachten und eine Zeit für geistreichen Plausch?

"Heh, dein Dominus ruft dich," fiept ein Imp neben ihr, ein gräuliches zerknautschtes Gesicht mit einzelnen, abstehenden Oberlippensträhnen, die man großzügig Schnurrbarthaare nennen könnte.

Ein ungeduldiges Fingerschnippen sagt ihr, dass sie sich gefälligst in Gang setzen soll. Sie springt herbei.

Raphael sitzt in einem viel zu überdimensionierten Sessel aus dunklem Samt und schwarzem Metall, und lacht mit den anderen Gästen. Sie räuspert sich und er blickt nach unten; hebt lediglich eine Augenbraue und schwenkt den leeren Kelch.

Sie hebt das Händchen, um das Glas zu nehmen. Doch er zieht es im letzten Augenblick zurück. 

"Den Roten," befiehlt er mit einer herablassenden Ungeduld, dass ihr fast der Kragen platzen will, würde sie einen tragen, "bring mir den trockenen."

Ein Schuh tritt nach ihr oder das blonde Teufelsweib im Sessel rechts von ihr hat sie schlicht übersehen und steigt versehentlich auf ihren großen Zeh; jedenfalls ist Tav für einen Augenblick mehr mit dem Reiben ihres schmerzenden Schienbeins beschäftigt, um dienernd Folge zu leisten.

"Was ist's mit dem Geschöpf? Hat's Schwefel in den Ohren?" zischt eine andere, weibliche Stimme, die sie nicht zuordnen kann, weil die riesigen Möbel ihren gesamten Blickwinkel einnehmen, "Wirklich, Raphael, dein Knecht scheint von trägem Geiste zu sein!"

"Belial ließ jüngst eine Gruppe Tieflinge aus der Grube holen, um sie im Tymphalos zu verheizen," erwidert die Blonde, "vielleicht wäre das eine angemessenere Bestimmung für diese schlaffe Seele."

"Ein gar kurzer Aufenthalt!" lacht ein Teufel - ein ausgemergelter Ziegenbart in langer Robe.

"Herr Exekutor, ich verwette drei meiner besten Sukkubi darauf, dass ihn binnen drei Tage die Überhitzung trifft," brummt ein anderer lachend, der mit einem Jetton spielt. Er sitzt breitbeinig da, sein samtenes Kostüm gockelhaft bis zur Lende aufgeknöpft, lederne Brust und reihenweise Goldketten zur Schau und eine unverkennbare Wölbung im Schritt. 

"Und ich verwette mein richterliches Urteil in Eurem nächsten Fall und sage zwei, bis ihn jemand verputzt," erwidert der erste.

"Die Wette gilt."

Tav sieht Raphaels funkelnden Blick und es ist das eindeutige Zeichen, dass sie sich schleunigst dünnemachen soll.

Mit glühendem Kopf und protestierendem Schienbein humpelt sie zurück zum Buffet. Wie es scheint, bleibt es selbst unter höheren Unholden nicht lange beim intellektuellen Gespräch - Gewalt und und Bereicherung sind auch hier die Würze jeder Unterhaltung. Und sie steckt mittendrin.

Tav klingeln die Ohren.

Das hätte ins Auge gehen können, denkt sie, während sie gedankenverloren nach einem frischen Kelch greift, um ihn unter den Hahn des Weinfasses zu halten. 

Da sieht sie aus dem Augenwinkel, wie ein Hausimp hinter einem Vorhang in der Wand verschwindet. Kurz ist ein kühler Luftzug zu spüren. Tav starrt den wieder reglosen Vorhang an. Volltreffer.

Und schon rempelt sie der nächste Diener an, weil sie zu lang vor dem Weinfass braucht. Lippenkauend tritt Tav zur Seite und beäugt sorgenvoll den unvermindert regen Verkehr vor dem Buffet. Keine Chance, dass sie unbemerkt durchschlüpfen kann. Geschweige denn, dass ihre Abwesenheit unbemerkt bliebe. 

Sie krabbelt zu Raphaels Sesselbein zurück, Weinglas in der Hand. Und wartet darauf, dass der werte Herr sie bemerkt. 

Das Gespräch hat mittlerweile die Kunst zu Thema.

"So stark ist der Zauber der Musik, und, immer mächtiger werdend, da er doch jede Fessel einer andern Geisteswissenschaft zerreißen kann," sagt er noch, und schaut dann über seine stolze Nase zu ihr hinab.

"Du wertschätzt das Sinnieren über die Kunst zu hoch, lieber Raphael," hebt der Richter-Teufel hochnäsig an, "der Zweck der Musik ist doch kein anderer, als, dem Kultivierten eine angenehme Unterhaltung zu verschaffen, etwas Ruhe, so dass er nachher mit doppelter Aufmerksamkeit und Anstrengung zu dem eigentlich Zweck in der Walkmühle des Staats sein, haspeln und sich trillen lassen kann."

Raphaels und Tavs Blicke verhaken sich ineinander, während sie den Trunk ausgiebig und langsam für ihn vorkostet. Versteht er die Botschaft in ihren Augen? Sieht er, dass sie etwas entdeckt hat?

Als der Teufel mit Chip bejaht, wendet er rasch den Blick ab und lächelt in die Runde.

"Ganz recht." Er ignoriert das Glas. "Das Hören von insbesondere jener Musik, die dieses Abgeschmackte der allerneuesten Mode des Atonalen beinhaltet, also die Unordnung, die eigentlich der schlimmste und mit aller Macht zu ertötende Teil unserer Erbsünde ist, - also dieses Hören, meine ich, hat doch das Unangenehme, dass man genötigt wird, an das zu denken, was man hört. Das man eben nicht zerstreut wird und nachher genügend ausgeruht dem Meister dienen kann. Jedoch!" sagt er und hebt neu an. "Es erscheint gerade die gewöhnlichste, häufigste Modulation, nämlich aus der Tonika in die Dominante, zuweilen fremdartig, oft widrig und unausstehlich zu sein. Sie ist das, was es auszumerzen gilt, und anderen Tonarten den Weg freizuräumen."

"Mir scheint, Ihr seid Euch selbst nicht sicher, Kambion," säuselt eine Frauenstimme, "merzen wir nun die Atonalität oder die Gewohnheit aus?"

Raphael verschränkt bedächtig die Finger ineinander, Ellbogen auf der Armlehne, und erst dann antwortet er. "Ich meine die Gewohnheit, die noch nie in unserem Sinne erklang. Das, was nicht unserem Charakter entspricht, aber seit jeher den ... eisernen Takt der Zerstreuung vorgibt."

Ein Chaos aus Einwürfen entbrennt, doch Tav - immer noch mit dem Getränk in der Hand und dem Abgang von Pflaumen und Vanille auf der Zunge - starrt nur auf Raphaels Profil. Er schweigt und lässt die Gruppe heiß diskutieren. Dispaters Name fällt, verhuscht und auch nur einmal, aber es genügt, um Tav einen Hinweis darüber zu geben, worüber die Runde sich in Wirklichkeit unterhält: hohe Politik und Intrigen. Was tut er da? Warum enttarnt er sich? 

Hat er überhaupt verstanden, dass sie den Zugang gefunden hat?

Verflucht, wie soll sie es ihm noch klarer machen? 

"Wo wir bei Zerstreuung sind," wirft schließlich die unverkennbare, verführerische Stimme von Herrin Fierna ein, und das Gespräch erstirbt augenblicklich, "ich glaube, Mephistopheles' Spross ist längst nicht mehr bei der Sache. Vielleicht sollten wir zum nächsten Punkt des Abends schreiten?"

Gebannt wartet sie auf seine Reaktion. Hat er Verdacht erregt? Was meint sie mit dem nächsten Punkt des Abends? Warum stehen alle auf und verlassen das Zimmer? Nein, er kann sie nicht allein lassen! Tav stellt sich auf Trottelmodus und dackelt der Runde hinterher, die nun geschlossen den Salon durch einen weiteren Vorhang verlässt, hinter dem, wie Tav schon festgestellt hat, sich nichts Spannendes befindet. Mit einem Wink lässt Fierna eine Bedienung kommen, den Rest - inklusive aller weiteren Gäste - schickt sie fort. Der Salon leert sich.
Könnte es sein, dass der Kambion den Programmwechsel antizipiert hat?

Gut, sehr gut.

Als die sechs den verhängten, komplett in Schwarz gepolsterten Raum betreten, in dem sie, Tav, zuvor nichts gefunden hat, beginnen sich alle auszuziehen. Sie starrt alarmiert auf die plötzlich nackten Brüste und Hintern und andere, wundersamerweies bereits steil stehende Genitalien, bei denen es ihr die Schamesröte ins Gesicht treibt. Dem Licht sei Dank ist alles in rotes Kerzenlicht getaucht, das die venenreichen Details verschluckt. Sie merkt einfach nur, wie sie unter der Verkleidung wieder unsäglich zu dampfen beginnt. 

Lady Fierna, völlig entblößt, wartet mit gespreizten Beinen auf dem Boden und signalisiert, und schon kommen die ersten auf sie zugekrochen. Damit bricht sich die Bumserei Bahn. 

 

Tav hat schon einiges in ihrem Leben gesehen, vor allem auf ihren wenigen Reisen nach Baldur's Gate - aber baatorianischen Gruppensex würde sie sofort in die "Einmal und Nie Wieder"-Schublade stecken (und außerdem die Schublade mit zehn Schlössern verriegeln, einen Amboss dranhängen und sie an der tiefsten Stelle des Chionthars versenken). Gewiss, einiges gleicht dem typischen Bordellangebot: jeder mit jedem, manche gleichzeitig, andere nur zusehend, ein wenig Sado, ein wenig Maso - das alles gibt es auf einem ungezügelteren Level auch hier. Doch in dieser lieblosen Umarmung einer Ekstase, der eine zärtliche Stimulation nicht reicht, sondern die Wunden schlagen muss, um zu kommen, verwandeln sich Seufzer in Schmerzensschreie und sich Flecken im Polster in Pfützen, bis das rhythmische Klopfen und Klatschen in ein nasses Reißen und Schmatzen übergeht. Und all das ohne Vorspiel.

Tav verschließt die Augen und hofft, dass ihr Dominus sie bald wegschickt.

Denn bei Loviatars neunschwänzigen Katze, sie merkt, wie es sie nicht ... unberührt lässt. Vielleicht ist sie ja wirklich tot. Ihre Seele längst in jener Hölle angekommen, die er ihr angedroht hat. Tavs Blick bleibt an Fiernas sichelförmigen Krallen hängen, wie sie sich in das Gesicht eines Teufels bohren, dessen dunkles, zuckendes Glied in ihrem andern, eisernen Griff pocht. Vielleicht taucht Raphael gleich aus diesem wogenden Meer aus Leibern auf und erwählt sie zu seinem Spielzeug. Genau wie in seiner Vision.

Mit einem schnellen, beiläufigen Ruck reißt Fierna dem Teufel das Auge heraus und wirft es durch den Raum. Es prallt an der Wand ab, kullert quer durch die Szenerie und bleibt genau dort liegen, wo es am wenigsten hingehört – zwischen zwei Schenkel. Der Teufel schreit, spritzt einen endlosen Strom aus Blut und Sperma, als hätte jemand die Schleusen geöffnet. Großartig. Jetzt auch noch Augäpfel im Sperrfeuer.

Wenn das kein Tod ist, dann ein Fieberwahn. Ein miserabler. Nichts davon kann real sein.

Der metallische Geruch von Blut liegt schwer in der Luft. Teufelsschwänze, die nun immer aufgeregter hin und her peitschen.

Ihr wird in Bezug auf Raphael nun so Einiges klar: Baatezu-Sex ist wahrhaftig Krieg. Der Kambion ist keine Ausnahmeerscheinung. Fast könnte sie ihn dafür bemitleiden, würde sie der Anblick von all der lüsternen ... Gewalt nicht so erregen. Aber, ach, sie darf nur Voyeur spielen.

'Was zum Henker ist los mit mir?' 

Es sollte sie abstoßen - das tut es auch. Dennoch ... Tav steckt die Fäuste zwischen die Oberschenkel und drückt diese fest zusammen, um still zu halten. Blickt sehnsüchtig zum Ausgang. Es nutzt nichts, sie hört und vor allem riecht, was vor sich geht. Spürt das Kitzeln tief in ihrem Unterleib. Ihr ganzer Körper sehnt sich nach Kontrollverlust. Hat Angst vor dem, was die Teufel einander antun. Verzweifelt reckt sie den Hals und hält nach Raphael Ausschau. Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass sie am Rand des Zimmers hockt und wartet und ihn, wenngleich schemenhaft, beobachten kann. Die Dinge, die er tut. Die Dinge, die er nicht tut, weil auch hier ein gnadenloses Gehacke und Gepicke existiert. Sie hört die gehässigen Kommentare der weiblichen Teufel, die nicht von Raphael genommen werden wollen. Er sei "es nur rückseitig gewöhnt" und kein Kenner der "gemischten Liebeskunst". Sein "Werkzeug nutzlos" fürs Weib.

"Wir kennen die Geschichten!" stöhnt die eine in Doggy-Position vor dem nun einäugigen Ziegenbart, der zugleich auch Fierna mündlich beglücken muss.

"Genau, wir kennen die Geschichten!" kräht eine andere, die Casino-Teufel so wild reitet, dass ihr langer, geflochtener Pferdeschwanz um ihren blonden Kopf rotiert. 

Raphael, der zunächst in dem Blut und Schweiß getränkten Treiben untergegangen war, taucht wie ein wortloser Dämon aus dem Meer von Flügeln und Leibern hervor, ganz wie in ihrer Vision - und Tav hält die Luft an. Er hebt den Arm und schwingt ihn dann. Schlägt der Reitenden irgendetwas in den Rücken, denn diese stürzt plötzlich von Casino und windet sich mit dem Gesicht in den Kissen vor Schmerz. Die andere, die immer noch auf allen Vieren ist, packt er am Widderhorn und verprügelt sie mit einer Art Schürhaken. Auf und nieder saust die Stange auf die schreiende Teufelin , nur um schließlich in einem wuchtigen Stoß durch ihren Bauch und hinten aus ihrem Rücken wieder hinaus zu fahren. Tav muss den Blick abwenden, die Knöchel zwischen den Lippen, um nicht vor Schock zu wimmern. Die anderen Männer kümmerts nicht. Sie kriechen schon winselnd und knurrend auf die grinsende Erzherzogin und begatten diese nach aller Kunst.

Vorsichtig schaut Tav wieder auf. Der Kambion kniet über der reglosen Teufelin, Hände auf der Mordwaffe gestützt, und japst, da sieht Tav die erste Teufelin sich aufrappeln und ihm schreiend in den Rücken fallen, Krallen und Fänge voran. Er hievt sich auf und schleudert sie von sich wie eine nasse Katze. Und auch ihr will er ein ähnliches Ende verpassen, schwingt bereits das Eisen, da kann Tav nicht mehr an sich halten und springt schreiend auf. Es ist mehr Reflex als gewollt - und sofort hat sie die Hände vor den Mund geworfen und linst panisch zu den übrigen Teufeln hinüber. 

Es scheint niemandem aufgefallen zu sein, dass der Imp gerade nach Raphael geschrien hat. Niemandem bis auf Raphael selbst - er starrt sie an, Eisen erhoben, Gesicht im Schatten, aber seine bernsteinfarbenen Pupillen fest auf ihr. Wild schüttelt sie den Kopf.

Stopp.

Bitte.

Und er gibt nach. Langsam. Die Teufelin unter ihm stöhnt vor Schmerzen. Verbittert ist seine Siegespose und die Erektion so gut wie nicht existent, als er Tav das verbogene Eisen samt Darmkette vor die Füße wirft. Seine Stimme, rau und leise, schneidet durch den Lärm wie eine Klinge, die langsam aus ihrer Scheide gleitet.

"Einen größeren Haken," sagt er, "und mehr Wein."

Harter Gesichtsausdruck. Entwürdigung, die eine unsichtbare Mauer um ihn herum aufbaut. Und Rachlust, die immer noch dahinter brodelt. 

Tav vergeudet keine weitere Sekunde, nicht einmal einen Blick in Richtung der beiden Teufelinnen, sondern verlässt den Raum so schnell sie kann. 

 

Und für eine Weile funktioniert sie einfach nur. Eilt ungehindert zum Gesindegang und beginnt - mal wieder - ihren Abstieg tiefer in die Hölle. Kann kaum ihr Glück fassen, wie reibungslos es abläuft. Zum Einen haben die Herren des Hauses jeden weggeschickt, der nichts auf der Orgie verloren hat. Mittlerweile ist auch das abgefressene Buffet entfernt worden und der Salon piccobello sauber gemacht und keine Spur von irgendwelchem Personal zu sehen. Nur der Wein, nach dem es Raphael mehr verlangte, steht noch, aber darum kümmert sie sich bei ihrer Rückkehr. 

Zum Anderen muss Tav einfach nur dem Ruf ihres Ringes folgen, einem Klingeln im Ohr, um die Tür zu finden. Was sie anfangs für einen Tinnitus gehalten hat, ist nun unverkennbar ein magischer Signalton, der lauter wird, je näher sie rückt. Längst vermutet sie, dass es sich bei ihrem "Verbindungsring" um einen der Partnerschaft handelt; bedeutet, dass es einen zweiten Ring gibt, der in der Nähe der Tür wartet. Diese verzauberten Schmuckstücke kosten aufgrund ihrer Magie gutes Geld. Sind aber ziemlich wertlos im Gebrauch, denn meistens wird nur ein Ring verkauft oder der zweite geht auf Nimmerwiedersehen verloren.

Ein Partnerschaftsring hieße aber, dass Raphael eine weitere helfende Hand im Spiel hat. Und das wiederum bedeutet, dass sie genau dieser beringten Hand Zugang zum Turm verschaffen soll.

Eine Schmuggel-Action in der Hölle, also.

'Warum nur kommt mir das so bekannt vor?' Tav lacht finster.

Sie schleicht auf den Krallenspitzen an diversen Kellern und Küchen vorbei, so leise und ungesehen wie eine Maus, während diabolische Köche die nächsten quiekenden, kreischenden Menüs hackebeilen und träge Arbeiter grunzend Karten spielen. Viel weiter unten dann - denn es geht stetig bergab - hört sie keine Schreie mehr. Weder der Erbauung noch des Dahinsterbens. Die Luft wird klarer und kühlt sogar ab, sodass Tav sich endlich tief durchzuatmen traut. Fast ist sie versucht, diesen Teil der Mission hinauszuzögern, wenn es bedeutet, dass sie der Gewalt da oben im Turm etwas länger fernbleiben kann. Nur damit sie etwas Luft schnappen kann. Und am liebsten nie wieder zurückzukehren muss. Pfeif auf Raphael und so. 

Sie merkt plötzlich mit der Faust des Horrors in der Magengrube, welchem Schauspiel sie eben beigewohnt hat. Zu dem sie zurückkehren muss. Wie viel Blut wird noch vergossen werden? 

'Wie hoch ist das Risiko, dass Raphael draufgeht!?'

Daran hat sie gar nicht gedacht: an die Eventualität, dass sie hier nicht lebend rauskommen. Vielleicht sollte sie sich doch besser beeilen.

'Es ist die Luft ... Irgendetwas macht uns alle rasend.'

Sie hat es auch gespürt. Abriymoch ist ein Irrenhaus, in dem jeder Gesunde verrückt wird.

Am Ende des Gangs steht sie vor ihrem vermaledeiten Ziel und es ist tatsächlich einfach nur eine blöde Holztür, wie man sie in Verliesen vermuten würde: massives, klammes Holz und ein gusseiserner Verschluss, den sie umlegt. Es macht Klack. Dann nochmal Klack und schließclih RATATATT, als setzte sich ein ganzes Uhrwerk in Bewegung. Ab jetzt ist sie also unverschlossen. Ihr Ring surrt wie verrückt. Wer oder was auch immer es ist, wartet DIREKT HINTER der verfluchten Tür.

Natürlich klopft Tav. Fürs Öffnen hat sie gerade zu viel Muffensausen. Ein verzagtes "Hallo?" durchs Holz muss reichen.

Nur ehernes Schweigen - und der falsche Tinnitus, der ihr, jede Wette, noch einen echten bescheren wird. Und sie beschließt, dass sie es nicht wissen will. Dass sie darauf verzichten kann, dem Monstrum auf der anderen Seite zu begegnen. Eine Ein-Mann-Armee, einen Assassinen, das Gift, das Phlegethos' Plage namens Belial und Fierna zur Strecke bringen wird.

Mit klopfendem Herzen eilt sie zurück, hat den Schürhaken vergessen, aber findet eine Karaffe, pladdert in aller Eile den Wein rein und trappelt hastig in Richtung Höhle des Unheils, da taumeln eine blutverschmierte Fierna und ihr Vater KNUTSCHEND aus dem Boudoir und verlassen kichernd den Salon. Tav verkneift sich in letzter Sekunde ein Naserümpfen. Wenn man bedenkt, dass selbst so eine Knallbirne wie Orin angesichts des Inzests in ihrer Familie durchgedreht ist ... Mit einer tiefen Verbeugung lässt Tav sie vorüberziehen und dankt ihrem aufgeweckten Geist, dass sie an ihr flüssiges Alibi gedacht hat. Aber die beiden schenken ihr ohnehin keine Aufmerksamkeit.

 

Drinnen ist die Situation mittlerweile eine andere. Ziegenbart und die Erstochene liegen blutverschmiert in der Mitte und rühren sich nicht, sein Gesicht in ihrer Wunde und ihre Krallen auf seinem Gehörn. Auch die zweite Teufelin scheint ausgeknockt zu sein, wenn auch weniger lädiert. Als Tav hereingeschlichen kommt, packt Raphael gerade Casino, den letzten, zumindest oral aktiven Teufel, an der Gurgel und stößt ihn weg. Röchelnd und auf allen Vieren kriecht zweiterer zum Eingang, vor dem Tav noch steht, und reißt ihr mit einem tiefen, raubtierhaften Knurren die Karaffe aus den Händen, dass der Inhalt überschwappt. Prompt überschwemmt sie eine Welle an Gerüchen, von Eisen, Urin und Körperausdünstungen, und fast genügt es, um rückwärts die Kammer zu verlassen. Doch Tav kneift die Lippen zusammen und lässt ausnahmsweise den Stumpfsinn ihres Imphirns übernehmen. Mit einem vorsichtigen Bogen, den sie um den gierig schluckenden Baatezu macht, tritt sie tiefer in diese blutige Kunstinstallation.

Vom Rand aus sucht sie Raphaels Blick und als sie ihn findet, nickt sie ihm bedeutungsvoll zu. Blinzelt über seinen eindeutig vertikalen Erregungszustand hinweg, in der nur mühsam unterdrückten Erwartung, dass sie jetzt endlich gehen können - oder genauer gesagt, sobald der Kambion sich gesäubert und wieder angezogen hat. In seiner Nacktheit glänzt er über und über mit verschiedenen Flüssigkeiten, die dank der verruchten Beleuchtung auf seiner infernalischen Haut nur durch ihre Konsistenz zu unterscheiden sind. Mit seinen Klauen wischt er sich durch das feuchte Haar und richtet sich in der Menge aus Gliedern auf.

Es ist unheimlich, wie sehr er dem Teufel aus ihrer Höllenvision gleicht. Auch jetzt fixiert er sie mit dieser unheilvollen, unpersönlichen Gewalt, doch nun ist da diese sichtbare Anspannung in seinen Zügen. Zügellosigkeit. Der Kampf um Kontrolle. Und er beginnt erst jetzt ihre Signale zu deuten. Er hadert.

'Komm schon, alter Mann.' Tav tritt ungeduldig auf der Stelle, ihr rattendünner Schwanz rhythmisch dagegen tappend. 'Zeit Leine zuziehen. Abmarsch. Galoppi galoppi.'

Raphael schnaubt. Er weiß ganz genau, was sie will. Muss es nur noch realisieren. Blinzelt durch seinen Lustrausch und dann - endlich! - durchläuft sein Antlitz eine Wandlung der Emotionen, als blättere man ein Buch im Schnellverfahren um. Es ist wundersam zu beobachten, wie in einem Wimpernschlag sein Gesichtsausdruck dreimal wechselt: von der rachedurstigen Bitterkeit zum widerwilligen Unglauben - zu einem jähen Hoffnungslaut in seiner Kehle. Plötzlich, mit weiten Augen und schlaffer Kinnlade, erblüht die Euphorie in seinem Gesicht (und wieder kommt ihr dieser unwillkürliche Gedanke, dass nichts so hübsch ist wie die Miene eines kindlich erstaunten Raphaels).

Tav will aufatmen.

Doch Raphael schreitet nicht wie der Sieger vom Platz und gibt ihr die Order zu Abmarsch aus dieser verdammten Hölle - der sie eine letzte Kusshand mit Mittelfinger zuwerfen wird, das schwört Tav. Nein, er stürzt vor auf die Knie, greift sich die blonde Teufelin, die sich ihm verwehrt hatte und jetzt bäuchlings im postkoitalen Koma liegt, und positioniert sich zwischen ihre Beine. 

Er keucht. Warum keucht er?

Seine Hand im Schritt, hebt die Hüfte etwas an. Was tut er da? 

Raphael beschmiert seine Erektion mit dem Blut aus einer klaffenden Oberschenkelwunde und mit einem kurzen, funkelnden Blick in Tavs Richtung dringt er in die Komatöse ein. Schnell und widerstandslos. Es ist wie ein dreistes Abschiedsgeschenk des Diebes an den Hausbesitzer, denkt sie, und wären die RepräsentantInnen dieser Welt nicht ebenso pervertiert, würde sie sich über den fehlenden Konsensus der Teufelin empören. So aber wirft Tav ihm nur einen halb fassungslosen, halb angewiderten Blick zu. Der Gewinner, der seine dumme, wertlose Trophäe einsackt - egal, wofür er seine Leute einschleust, es muss ein signifikanter Vorstoß sein, dass er nun so großkotzig auftritt.

Tav hat jedenfalls nicht erwartet, dass sie ihn heute - jemals wieder - mit einer anderen Frau sehen würde.

Noch dazu mit einer, die wieder bewusstlos ist. Anders kriegt Raphael sie wohl nicht.

Er stößt zu und es macht sie fast lachen.

'Solange er hier niemanden mehr abschlachtet', denkt sie. 'Solange nicht noch mehr Leute sterben-' 

Tav kann sie hören. Die Teufelin unter ihm. Vernimmt ein tiefes, blubberndes Brummen. Und darüber ein Echo, fast als rufe sie ihren Namen. Nein.

Nicht sie.

Tav schaut zu Raphael auf.

Es ist er, der ihr zuflüstert. "Wie willst du es?", haucht er, sein Blick eine klare Herausforderung, angespitzt von der Ekstase, die immer noch nachklingt und nun neu entfacht wird.

Geschmeidige Bewegungen - anders, als damals bei ihrem Schäferstündchen, das an nichts als adoleszentes Gerammel erinnerte. Macht es sich sichtlich bequem in dem wahrscheinlich noch sehr warmen und aufgeheizten Körper, kostet es aus, lässt sich Zeit. Seine Finsternis ganz auf Tav konzentriert.

"Gefällt dir das?", fragt er, und sie reißt ihren Blick von seinem arbeitenden Körper los, nicht länger bereit, seine Komplizin in diesem schmutzigen Spiel zu sein.

Er stöhnt durch die geschlossenen Lippen und senkt für einen langen Moment den Kopf.

"Irgendwann wird es wieder passieren. Das weißt du. Also," Seine Stimme ist gedämpft, "bringen wir dieses nutzlose Werkzeug besser auf Fordermann, hm?"

Ihr Gesicht glüht – diese krude Mischung aus Selbstüberschätzung und nackter Selbstverachtung. Immer, wenn Raphael seine Risse zeigt, passiert es im gleichen Atemzug mit seiner Angeberei. Und trotzdem ... wie ein Magnet zieht er ihren Blick an sich. 

In diesem Moment neigt er den Kopf – und ihre Augen finden einander. Ein fragender Glanz in seinen. Erwartungsvoll, offen, geradezu bedürftig. Die Intimität trifft sie wie eine warme, mächtige Welle.

Er wartet. Auf ihr Wort. Als hätte sie jemals das letzte Wort in seinen Spielen gehabt.

Aber wenns der Herr wünscht ... steigt Tav in diese Untiefen hinab. Alles, nur damit sie endlich Erlösung von dieser Hölle findet.

Er will sie ruinieren.

Und vielleicht lässt sie es langsam zu.

Tav sinkt auf die Hacken, hebt die Hand, ein knappes Zeichen: "Streichle sie." Nicht, dass sie ernsthaft damit rechnet, dass er ihr Folge leisten würde. Zärtlichkeit gehört nicht ins Repertoire eines Teufels.

'Bitte, ignorier es. Mach dich lustig.' So wie immer. 'Erfüll mir keine Wünsche, während du ...'

Doch nach drei schnellen Herzschlägen tut er es und all ihre Erlösung fährt zur Hölle. Seine Stöße werden langsamer. Seine Krallen lässt er die geschundene Haut hinaufgleiten, der gehörnten Wirbelsäule folgen, bis sie in den dicken, gelben Zopf greifen. Mühelos zieht er daran, hebt den Kopf der Teufelin, bis ihr Körper sich rückwärts biegt, die schlaffen Flügel zur Seite gefallen wie die einer toten Fledermaus. Seine Klauen schließen sich um ihren Hals, stützen das tote Gewicht - ein Griff gleich einem Urteil.

Raphael schaut über die frauliche Schulter hinweg. Beobachtet Tav, wie ihr Blick an den rollenden Hüften haftet, an der obszönen Form unter der Bauchdecke, als wolle etwas durch das Fleisch brechen.

"So etwa?"

Ein Schauer fährt ihr über die Haut. Keine Ihre Lider flattern, ein kurzer Augenaufschlag, und rau und heiser kommt die Antwort. "Finger."

Die Teufelin sackt achtlos zu Boden, Gesicht voran. Raphael senkt die Hand – Klauen bereit zum Schlachten.

Sofort entfährt Tav ein kleiner, unwillkürlicher Laut. "Nein, nein, nicht auf diese Weise."

Er hält inne. Späht zu ihr, Augen schmal. Sein Mund verzieht sich zu diesem breiten, intriganten Grinsen, für das sie wider besseren Urteils eine Schwäche hat. Seine Klauen klacken scharf wie kleine Stahlnägel in der Luft. Ein kehliges Lachen, die Selbstbeherrschung dahinter kaum wahrnehmbar, wenn man ihn nicht kennt. Dann: Ein Knacken, ein Ziehen. Die Krallen schrumpfen, weichen weicherem Fleisch. Die Fingerspitzen, menschlich.

Tavs atmet fast unbewusst erleichtert aus und Raphael schnauft spöttisch, zieht das Teufelsweib erneut an sich – und beginnt, es nun auf diese Weise zu stimulieren. Doch selbst dabei analysiert er sie. Ihre Mimik, ihre Atmung – und es belustigt ihn. Trübt sein Lächeln nur für eine Sekunde, bevor er den Kopf schief liegt wie ein neugieriger Wolf. Seine unausgesprochene Frage glasklar: "Besser?"

Sieht er, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballt, bis die impischen, zersplissten Fingernägel sich schmerzhaft in ihre Handflächen bohren, damit sie bei Verstand bleibt? Und tief, ganz tief in ihr: ein Kribbeln – winzige Mäuse, die unter der Haut tanzen.

Wie er sich bewegt. Er könnte sich so in ihr bewegen.

Sie nickt hastig.

Seine andere Hand gleitet tiefer, sucht sich Platz zwischen dem voluminösen Gluteus Maximus, ölt sich in den Flüssigkeiten, die auch die Ritze dazwischen bedecken muss, und versinkt. Komplett.

Es ist unsauber. Barbarisch. Es sollte sie abstoßen. Doch natürlich folgt dem Ekel unwillkürlicherweise ein weiteres Gefühl. So wie immer mit Raphael. Natürlich steht er auf Analspiel. Sie beißt sich auf die Zunge. Fragt sich, wie es sich anfühlt. Wie er es tut, wenn er den Daumen versenkt, was er anstellt, damit das Teufelsweib anzüglich antwortet – ein dumpfes, gedehntes Stöhnen, das sich erst langsam entfaltet. So schlimm kann es nicht sein, oder? Wenn es diese Reaktion hervorruft. 

Seine Handgriffe werden härter, rauer.

Doch plötzlich bemerkt sie den Schatten in ihrer Peripherie. Seine Augen verlassen die ihre. Springen zur Seite. Weiten sich.

Tav spürt es im selben Moment: die scharfen Klauen, die sie am Hals packen. Und plötzlich - der Boden, fort. Ihr Körper, baumelnd. Ein Ruck, ein Reißen - und sie hängt in der Luft, ihre Spindelfbeinchen hilflos am Strampeln. Vor ihr erscheint eine Fratze, verschwitzt. Gespitzte Zähne gefletscht.

Ah, Casino. Den hatte sie völlig vergessen.

Er atmet ihr ins Gesicht und der Gestank von fauligem Fleisch schlägt ihr entgegen.

"Darf ich, Kambion?" raunt er. "Der Appetit ruft."

Sein Maul klafft auf wie eine gigantische Klappe. Ein schwarzer Schlot, in dem Tav versinken soll. Die Reißzähne auf Höhe ihres Bauches. Casino wartet Raphaels Antwort gar nicht erst ab, sondern will Tav an Ort und Stelle verputzen.

Aber er hat ihr versprochen, dass ihr nicht geschehen wird. Und der Kambion hält sein Versprechen.

Sie hört mehr als dass sie sieht, was um sie herum geschieht.

"Narr," seine Stimme - ein Zauber, die Hitze einer flammenden Magierhand, die den Feind erst in die Seite boxt und dann, als Tav endlich frei zu Boden fällt, ihn am Teufelsschwanze packt. Raphael bugsiert ihn zu sich rüber und, schnell wie eine Schlange, reißt er ihm die Kehle auf. Blut spritzt. Raphael lässt ihn los und mit rotem Maul vögelt er weiter.

Vielleicht liegt es an den Temperaturen, aber alles flimmert. Casino röchelt am Boden, zu Füßen der ohnmächtigen Teufelin. Das Blut sprudelt nur noch spärlich aus seiner zerfetzten Halsschlagader, bis auch das versiegt und er endlich still liegt.

"Imp," stößt Raphael hervor, heiser und mit blutverschmiertem Kinn. "Augen auf mich."

Ihr Blick, geweitet und ziellos, findet seinen. Ihren Herrn und Meister, der immer noch tief in diesen bewusstlosen Körper hineinrammt, hart und langsam, nur noch wenige Momente vom Ziel entfernt. Doch seine Augen sind auf ihr. Nur auf ihr.

Die Teufelin unter ihm beginnt sich zu winden. Egal wie abfällig sie über seine Leistung gelästert hatte – ihr hörbares Keuchen straft sie Lügen. Nasse Haarsträhnen kleben an Raphaels Stirn, triefen dunkel, als er sich weiter vorbeugt und zwischen ihre Schenkel greift. Sein brennender Blick auf Tav, die Rute steif in der Luft.

Er ist kurz davor – sie kennt diesen Ausdruck. Der Feuerring in seinen Augen, dieses "Sieh mich an! Sieh, wie ich gewinne!", ein siegestrunkener Sprinter kurz vor der Zielgeraden.

Tav hebt eine Braue, linst demonstrativ zur Teufelin und schüttelt langsam den Kopf. "Nicht gut genug."

Raphael erschaudert vor Frust. Die Stirn sinkt auf das Schulterblatt der Teufelin und er reibt das Gesicht gegen ihre Haut, als müsse er gerade Höllenqualen aushalten. Doch seine Finger? Die machen unbarmherzig weiter. Immer wieder hält er inne, stößt ein tiefes Knurren aus, das in Tavs tiefsten Schichten vibriert, aber seine Hand bleibt unnachgiebig. Die Teufelin beginnt sich unter ihm zu winden. Sie beide tun es.

"Komm schon," presst er hervor, fast flehend. "Komm schon. Gib's mir."

Er verbeißt sich jetzt in ihre Haut – kein Genuss, nur roher Frust. Das Stöhnen unter ihm wächst, wird heller, schriller, bis der Körper wild zu zucken beginnt, krampft, als erleide er einen Anfall. Sieht ganz so aus, als erlebe die Teufelin, komatösen Zustand hin oder her, gerade ihren letzten Höhepunkt für heute Abend. Raphael stemmt sich hoch, die Brust hebt und senkt sich in schnellen Stößen, seine Flügel schlagen träge. Tav stellt sich vor, wie fest die Teufelin ihn in diesem Moment umklammern muss.

Sein Blick hart und fiebrig. Blut und Schweiß glänzen auf seiner Haut, tropfen von seinem Kinn.

Er will es. Von ihr. Bettelt.

Erst jetzt merkt Tav, dass sie ihn seit geraumer Zeit mit offener Kinnlade anstiert. Räuspernd strafft sie den Rücken, hebt das Kinn – ein kurzes, knappes Nicken. Es scheint alles zu sein, was er braucht. 

Raphael zuckt, packt die Hüften unter sich, drückt sie brutal nach unten, stößt jetzt rasch und hart zu. Sein Atem geht keuchend, abgehackt, ein tiefes, heiseres Stöhnen, das schneller wird, bricht – bis er kommt. Heftig, zuckend, laut.

Ein paar letzte Stöße, ein kehliges Ausatmen – dann zieht er raus.

Im Raum ist nichts zu hören als sein Japsen - und, ach ja, ihr Winseln. Tav blinzelt völlig belämmert. Und schluckt mit einem Hüsteln das Wimmern runter. 

"Imp."

Er schnippt sie aus ihrer Stasis. Wischt sich den Schwanz ab und ordnet mit einem Wink den Abzug an.

 

Als sie Abriymoch den Rücken kehren, ist Raphael von Kopf bis Fuß mit Blut, Gekröse und anderen Körperflüssigkeiten hochrangiger Baatezu bedeckt. Selbst die Kleidung, die er wieder angezogen hat, kann die Gerüche nicht verbergen. Er schweigt. Sieht Tav kein einziges Mal an.

Sie durchschreiten das Portal und, sobald sie Hopes Domizil erreichen, wirft sie den Ring der Verkleidung von sich und - noch immer - würdigt er sie, nun wieder in Menschform, keines Blickes. Geht einfach schnurstracks den langen, hallenden Korridor in Richtung Boudoir hinab, Tav neben ihm. Folgt ihm wie ein Hund. Nein, wie ein Schatten. Wie etwas, das ihn nicht loslassen wird, weil es in diesem Augenblick nicht ohne ihn existieren kann. Nicht jetzt, nicht nachdem, was sie in Phlegethos sehen musste. Zu ihrer Linken und Rechten die neueste Verlängerung ihres Schattens: die drei nutzlosen Wachen, die Wyll ihr zur Seite gestellt hat.

Und während die drei sie vor jedem physischen Angriff zu decken wüssten, können sie sie nicht vor dem moralischen Unrat ihrer eigenen Gedanken schützen. Den überwältigenden Beweis, dass sie ihn wollte, während er für sie eine bewusstlose Frau vergewaltigt-

"Warum nicht Mol?" 

"Ich brauche jemanden mit starken Nerven."

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wirft Raphael ihr einen Blick von der Seite zu. Er ist kein turmhoher Riese mehr in ihren Augen, nicht wie in Phlegethos, aber immer noch gut zwei Köpfe größer als sie. Sie blinzelt zurück. Und erkennt in seinem Antlitz etwas Vertrautes wieder. Eine Mauer höher als alles in der Welt - es ist ihre eigene.

Er wirft ihr den Schatten eines arroganten Grienens zu, sie ihm eine verächtliche Grimasse. Es währt nur einen Augenblick.

Chapter 21: 21 Karnivor II

Summary:

Vom Schlachthof ins Boudoir.

Notes:

Die flüchtigen Töne des Boudoirs:
Javid Afsari Rad - Soz o godaz Flames

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Raphael lässt kurz den Blick über den Boden gleiten. Hemd und Höschen liegen verstreut wie gestrandetes Treibgut – jene elenden Abenteurerlumpen, die er längst verbrannt hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre. Dass sie sich ihm noch immer in ihren flöheverseuchten Gewändern zeigt, ist ihm ein Rätsel. Ein Frevel an der eigenen Gestalt, ein Verbrechen wider die Schönheit eines sterblichen Körpers.
Jetzt zumindest, jetzt endlich, sieht sie aus, wie sie soll. Zwischen seinen Schenkeln hingegossen, den Leib lang ausgestreckt, die Haut warm und feucht vom Dunst der Luft, und die Lippen um ihn geschlossen.

Sie kehrten nach Avernus in einem Zustand der Erregung zurück. Er nahm es zuerst wegen der ganzen Gerüche am eigenen Körper nicht wahr. Doch sobald Tav in ihre eigene Gestalt zurückkehrte, drang ihre Note an seine Nüstern wie das Parfüm einer Dame der oberen Klasse, schwer und überpronunziert, als hatte sie sich damit überschüttet. Sie ist feucht, der Puls flatterig. Er bemerkte die Handabdrücke an ihrem Hals - ein Erinnerungsstück an den Baatezu, der Tav fast verschlungen hätte - und wie sie ständig danach griff, als schmerzten sie. Er konnte nicht umhin als sie innerlich für ihre Widerstandskraft zu loben. Sein Mäuschen. Sie erwiderte seinen Blick wortlos und die großen dunklen Kulleraugen machten ihn auf unbeschreibliche Weise besitzergreifend.

Sie war sein zweiter Schatten. Sie wartete, bis er Hope abgefertigt hatte und der Zwergin mit wenig mehr als einem Kopfnicken auftrug alles für Mols Rückkehr vorzubereiten. Dann setzte er sich in Bewegung in Richtung Boudoir und selbst dahin folgte Tav ihm wie eine Seele, die an ihn gebunden war. Sie sprach kein Wort, doch das musste sie gar nicht, denn er hörte trotzdem ihr Flehen. Diesen tonlosen Schrei, der von einer rastlosen Beklemmung jenseits des rein Physischen sprach. Der Albtraum Abriymochs hatte sie immer noch fest im Griff.

Sie redeten nicht miteinander - er hatte nichts zu sagen, was die drei Büttel, die ihr neuerdings auf Schritt und Tritt folgen, hören sollten. Ein Paladin, eine Rangerin und ein magieloser Schwertkämpfer. Er kann über Wyll Ravengards Versuch ihn zu erbosen nur mit der Nase rümpfen. Sie sind Kinder in (quasi) seinem Haus. Als diese nicht über die Schwelle des Boudoirs treten konnten und dies für Quengeln unter der Ravengarde sorgte, öffnete Tav endlich den Mund. "Keine Sorge," sagte sie, sie sei bald zurück. Als wäre sie ihre Mutter und ließ die Fratzen allein vor dem Laden auf sie warten. Er konnte sie von drinnen hören, während er sich seiner Kleidung entledigte und in den Pool stieg.
Als das Wasser ihn kurz voll umschloss, wurde die Welt für eine Sekunde still. Wohltuende Tonlosigkeit, durch die selbst das Boudoir mit seinem ewig klimpernden Hackbrett oder der quasselnde Inkubus nicht dringend würden. Wie früher. Dann kehrten die Todesschreie zurück. Die männlichen, die weiblichen, die nicht zu definierenden, wohldurchmischt mit dem ausgelaugten Kulturgeschwätz der phlegethischen Elite. Rasch stieg Raphael von dieser Echokammer auf und bließ sich laut das Wasser aus den Nüstern. Eine rosarote Wolke um ihn herum. Im beseelten Becken der Verjüngung bleibt das Wasser glücklicherweise nicht lange trüb, selbst mit der unreinsten Haut nicht. Nicht mehr lang und auch Abriymochs Wehklagen würden für immer verblassen. Sofern Mol das Artefakt korrekt platzierte.

Ein Geräusch hinter ihm riss ihn aus dem Grübeln. Tavs tiefe Atmung. Ein Rascheln. Seine immer noch menschlichen Finger, die durchs warme Nass glitten - ein kleines Detail, das er vergessen hatte. Kleine rostrote Bögen Blut, die unter seinen Nägeln verkrustet waren. 

'Du fandest früher nie Anstoß daran.' 

Ja, früher. An seinen Händen klebt so viel Blut, dass er damit einen Ozean füllen könnte. Ganz gleich, dass es auch Kreaturen gehörte, die viel schändlicher gewesen waren als er.

Er hörte die Schnalle ihres Gürtels zu Boden gleiten - dann ihre Kleidung. Etwas durchfuhr ihn, eine Silbernadel, und zupfte seine Nerven wie eine Lautensaite. Verwob sich mit jedem seiner Energiepunkte. Ein seltsames Gefühl, das er nicht besser zu beschreiben vermochte. Er war silbern, er war Silbersaite und Körper. Die Art, wie Tav selbst das Innerste seiner Knochen zum Schwingen bringen konnte, war ein Wunder. 

Plötzlich fiel sie auf die Knie und würgte, aber (Geruch und Geräusch nach zu beurteilen) kam nichts als bittere Luft heraus.

"Götter, vergebt mir."

Ihr Flüstern klang so elend, dass es ihn seufzen machte. Warum betete die Gottlose? Als wäre das, was sie beide gleich tun würden, eine schreckliche Todsünde in ihrer Welt, die selbst den Heiden in die Arme eines Tempels treiben müsse. Nein, keine Sünde. Sondern Stab und Stütze. Prädestination. Gnade. Sie hatten beide gewusst, dass es so kommen würde.

Er drehte sich um und sah, wie sie nur mit offenem Hemd am Rand des Beckens saß, lediglich die Beine im Wasser, als stand sie mit einem Fuß im Grab und haderte noch mit dem Rest. Hinter ihren halbgeschlossenen Schenkeln der Schatten ihrer Unterwäsche. Die letzte Barrikade. 

Doch Raphael wird auch später nicht vergessen, welches Gesicht sie zog: Ihr Antlitz sprach von einer Schlacht. Die Schultern waren zusammengesackt und er merkte, dass sie in irgendeiner Form etwas glaubte verloren zu haben. Und trotzdem, jeder Seufzer, jede Träne blieb aus. Tav begann wortlos ihre Wunden zu waschen. Langsam wie in Trance und mit den glasigen Augen auf dem Wasser, als sah sie im Ersaufen einen Ausweg. Immer so melodramatisch.

Raphael hielt inne, nur einen Schritt entfernt, hoch aufragend über Tav, während sie erstarrte, ihr rigides Anspannen an eine Füchsin in der Falle erinnernd. Er ließ sich auf die Knie sinken, eine fließende Bewegung, die sowohl Berechnung als auch Instinkt verriet, und irgendwo in diesem Fallen stolperte auch sein Verstand. Glitten ihre Knie auseinander.

"Nicht aufhören", murmelte er in den Stoff zwischen ihren Beinen, während ihre Hände Halt am Beckenrand suchten. "Wasch dich ruhig weiter."

Seine Klauen fanden ihre Taille und er zog sie and sich, atmete sie ein. Sein Daumen strich einen Wassertropfen von der Unterseite ihrer Brust. Sie atmete zitternd aus und er fasste den Beschluss, dass er sie nicht gehen lassen konnte, ehe er ihr alle Tonleitern des Cembalos entlockt hatte. Selbst wenn sie dabei weinte. Solange sie bei ihm war. Solange sie mit offenen Augen mitmusizierte und nicht wegrannte.

 



Eine halbe Tonleiter und einen gezüngelten Orgasmus später, liegen sie neben dem Pool. Raphael, nun nackt und ganz menschlicher Gestalt auf dem Rücken, Tav über ihm, und ein Teil von ihm verschwindet der Länge nach zwischen ihren Lippen. Er hat einen Arm unter den Kopf geschoben, die andere Hand liegt auf ihrem Schopf auf. Erspürt ihr Haar. Es ist drahtiger als gedacht. Strapazierfähiger.

Zu Beginn war es nur ein komemntarloser Diensterweis, der beiden Erleichterung verschaffen soll: Er leckte sie, also bläst sie ihm einen. Doch je länger sie weitermacht, desto tiefer versinken seine geordneten Gedanken in der Täuschung, dass dies hier mehr sei als bloße Befriedigung. Ein Akt des Anbetens, ein heiliges Ritual, das auf dem Altar seines Körpers vollzogen wird. Es fühlt sich so an, und, verflucht, sie sollten in einem Tempel sein für das, was hier gerade stattfindet.

Natürlich ist das Unsinn.

Sie verehrt ihn nicht. Hasst sich wahrscheinlich dafür, dass sie ihn immer noch mag. Aber dann segnet sie ihn mit diesem lüstern schwelenden, lidschweren Blick aus Onyxschwarz, als wolle sie ihn verschlingen, bis nichts mehr übrig als ein zitternder, verschwitzter Rest seiner Selbst ist, und Raphael schlägt die Grübelei in den Wind. Ihre Gier ist göttlich. Egal, warum Tav tut, was sie tut, bei den Neun, er wirds nicht hinterfragen. Nicht heute. 

Der Kambion legt den Kopf ab und ... gibt sich einfach hin. Diesem warmen Gefühl. Dem Zungenschlag hier, der tüchtigen Saugkraft da, und der firmen Faust, die ihn immer wieder aufbäumen lässt. Die Empfindungen kriechen von der Spitze bis zur Basis, sickern tief in seine Mitte, bis hinab zu jener dunklen Stelle, die bislang einzig der Inkubus stimuliert hat. Bei allen Höllen, er bebt wie ein Jüngling beim ersten Liebesakt. All die wunderbaren Sinneseindrücke verschmelzen zu einem einzigen, warmen Gefühl: der heiße Wasserdampf und Tavs Atem. Das Rinnen von Wasser und das Schmatzen. Seine eigene unregelmäßige Atmung ein Raubtier, das im Dickicht dieses Feuchtbiotops zu Hause ist.

Sie nimmt ihn tief, zumindest so tief wie es ihre menschliche Physis erlaubt. Doch es ist nur der halbe Weg und Raphael wird ungeduldig, also korrigiert er. Faust in ihrem Haar, eine gemeinsame Wendung zur Seite, ein geschmeidiger Vorstoß ...

"Hhmmh."

Da, genau da.

Wo sie sein soll.

Wo er sie haben will.

Tav würgt, richtet halb auf die Seite gedreht ihr hübsches Gesäß auf, und – bei den Höllen, wenn das nicht die süßeste Melodie ist! – er spürt es überall. Ihr Hals zuckt, zieht sich immer enger zusammen, zittert um ihn, ein rhythmisches Krampfen. Das ist es. Ja! Es hievt Raphael über diesen Gipfel, lässt ihn lautlos fliegen, ein tonloser Luftstoß ohne Echo. Gefolgt von einem großzügigen Spritzer.

"Schön schlucken", will er sagen, will die Worte an ihren heißen, feuchten Mund legen, in ihren Rachen flüstern, will es befehlen oder flehentlich murmeln, aber sein Geist ist längst entrückt, treibt im Grenzland zwischen Trägheit und Wiederverlangen. Also nimmt er sich noch einmal alles. Ganz. Wild zuckende Tav, die dicken, schwarzen Strähnen zwischen seinen Fingern, ihr krebsrotes Gesicht. Seine Augen schweifen durch den grauen Nebel nach oben und erhaschen einen Blick auf die bemalte Decke: den dunkelblauen Firmament einer anderen Welt, an dem ein großer goldener Stern zwischen vielen kleineren funkelt. Es scheint, als leuchte er nur für ihn, als wolle auch ihr kleines Universum diesen unerwarteten Moment der Wahrheit segnen.

Dann spürt Raphael den Schlag. Genauer: Schläge.

Eine kleine Menschenhand, die eilig gegen seinen Oberschenkel klatscht. Fingernägel, kaum Drohung, eher ein letzter, hilfloser Versuch wohl, um irgendetwas in diesem Ungleichgewicht zu kontrollieren. Und doch regt sich wieder das Infernalische in seinem Blut, reckt und streckt die Klauen nach diesem neuen Spiel des Scheinrebellierens, das in Wahrheit doch nur ein anderes Wort für Leidenschaft ist. Raphael knurrt durch gebleckte Zähne, weil Tavs Buckeln ihn nur noch mehr triezt. Oh? Sie will mehr? Das trifft sich gut – sein Körper ist gemacht für einen Marathon, nicht für einen Sprint.

Sein Mund verzieht sich zu einem schmalen Grinsen. Er wird dafür sorgen, dass sie seinen Abdruck noch in ihren Träumen fühlen wird, im Mark ihrer Knochen, im Nachbeben jeder Berührung. Nur ein wenig mehr. Nur ein wenig–

Dann krallen sich Finger um seine Hoden. Und reißen an.

Nicht sanft. Ganz und gar nicht.

SCHMERZ. Raphael fährt zusammen, stößt sie mit einem Fauchen weg, und im Moment der Wut will sein Körper reagieren, losschlagen, den kleinen Dämon zu Boden werfen - doch stattdessen ... atmet er aus. Lacht leise, das Grinsen voller Schmerz. Tav kriecht weg, hustend, die Hand an der Kehle, auf Abzug und bereit für eine Vergeltung, doch sie kommt nicht.

'Noch nicht.' In sein Lachen mischt sich ein Knurren.

Er blinzelt durch die Agonie, wieder Herr über sich selbst. Er rollt auf den Rücken, eine Hand an den Hodensack gepresst, um die nachhallende Pein herauszumassieren. Fast bemerkt er nicht, wie Tav kurz aus seinem Fokus verschwindet.

Bis der Kambion sie würgen hört.

Er hebt den Blick in dem Moment, als sie ihn ausspuckt. Und es stellt die Folter an seinen Weichteilen tausendfach in den Schatten. Kaum kann er es wahrhaben, diese perverse Umkehrung  von dem, was er zuvor scherzhaft Anbetung nannte. Milchiger Speichel klatscht auf Marmor - schon der Klang reicht, damit er in seinem Kopf nachhallt wie eine Ohrfeige des Spottes. Noch bevor die Schmach sich legen kann, greift das Weib nach der erstbesten Weinflasche, entkorkt und setzt an. Bereit, ihn von ihrer Zunge zu spülen wie einen üblen Nachgeschmack.

Diese Anmaßung.

Die Hitze schießt durch ihn, brennend und schwarz, eine Flut der Wut und etwas anderem, das noch keinen Namen hat. Noch vor jeder bewussten Entscheidung hat sich Raphael bereits in Bewegung gesetzt. Schnarrend greift er nach ihrem Knöchel und zieht sie mit einem Ruck zu sich. Wein, der über den Boden schüttet, und Tavs Protestquieken - da wird ein schwacher Wille sofort weich. Er aber ist aus Stahl. Mit einem Griff unter ihren Hintern hat er sie sogleich in seinen Schoß geparkt, zurück in den Fokus, sein Blick hart und pfeilscharf auf ihrem Mund. Bevor Tav Luft holen und ihn angiften kann, legt er einen Finger an ihre Unterlippe, diesen Ort so vieler  Verbrechen, und rettet den Film darauf vor ihrer Rache. Es lässt Tav erstarren. Transparente Milch auf Malve. Ein verirrter Tropfen auf ihrem Amorbogen, diesem herzförmigen Wunder. Auch er hält inne.

Seltsam, wie sich diese Momente immer dann intim anfühlen, wenn sie vergessen zu atmen. 

Ihr Puls, der sich verhaspelt.

'Sie weiß nicht, was sie will.'

Gut, dass er's tut.

Wie in Hypnose neigt Raphael sich zu ihr hinab, auf diese beiden rosigen Hügel, aus deren Schlucht die stacheligsten aller Worte zu kommen pflegen, zielend. Eine Traumhandlung - Tat eines Träumers. Auf die letzten Zentimeter weicht sie ihm aus. Als er es wieder versucht, die Finger nun fest um ihre Taille gestreckt, dreht sie den Kopf zur Seite. Raphael sieht runter. Ihre Hände liegen flach an seiner Brust.

Sie spielt also immer noch die Unnahbare, wie süß. Doch es kommt zu spät, denn des Teufels Würfel rollt nur der Teufel selbst. Er zieht sie fester an sich. Sie hält mit den Handflächen dagegen.

"Nein?" wispert er in der Stille. "Dann gibs zurück."

Seine Stimme klingt fremd in dieser biotopischen Nichtstille. Nur Minuten früher hat er das Zeugnis ihrer Lust mit Enthusiasmus geschluckt. Doch sie ist nicht willens das Gleiche zu tun. Raphael ergreift mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn und dreht ihren Kopf zurück zu ihm, sodass sie keine andere Wahl hat als ihn anzusehen. Könnte allenfalls noch die Augen vor den Tatsachen verschließen.

"Wenn du mein Geschenk nicht wertschätzen kannst, will ichs zurück."

Tav entfährt ein humorloses Schnaufen und er beobachtet den Wandel in ihrem Antlitz - ein zahmer Stubentiger, der in Angriffsstellung geht, um sein Herrchen eine Lektion in Katzenhaltung zu erteilen. Für einen Moment scheint es, als sammle sie hinter gespitzten Lippen den Speichel, um ihm den Disrespekt ins Gesicht zu rotzen. Die Vorstellung erscheint Raphael durchaus möglich, sodass er sich unwillkürlich weglehnt. Es verrät ihn, er sieht es in dem Lächeln, das langsam in ihre Züge kriecht wie ein höhnischer Witz. Doch sein Blick bleibt resolut. Er meint es ernst und in der maskenhaften Starre, die er gekonnt aufsetzt, weiß er: Sie sieht es. Ihre Augen gleiten zu seinem Mund und wieder hinauf als überlege sie, und dabei verblassen die kleinen Lachfalten um ihren Mund mit der erwachenden Erkenntnis. Dann lässt Tav den angehaltenen Atem lang und konzentriert raus - und öffnet ihren Mund, um ihm zurückzugeben, was er verlangt. Miene ernst, doch die Zunge weit ausgestreckt wie ein kleines Mädchen. Wartet. Auf der Fläche ihrer Zunge die Schliere seiner Lust, die sie noch nicht losgeworden ist, ein kaum erkennbares Weiß in dem gedämpften Licht des Boudoirs.

Raphael soll sich holen, was ihm gehört.

Oh, sündige Gnade.

Und so gibt er nach, willig, fast heiter, dem unausgesprochenen Hunger in ihrer Haltung. Das alte Uhrwerk der Libido dreht sich ein weiteres Mal, ein Zahnrad gleitet ins nächste, wie es oft so vielen Baatezu passiert, obwohl es gegen alles geht, was sie für "Gesetz und Ordnung" halten, weil es Weidegrund für Chaos ist. Seine Hand fährt zu ihrem unteren Rücken, drückt sie an seine Front, Haut an Haut, damit sie ihn spürt, unverkennbar, unentrinnbar; das, was längst in ihm sprießt. Kein Widerstand diesmal, nur das feine Nachgeben ihrer Muskeln, der rasende Herzschlag unter dem Polster ihrer Brust. Er lässt sie in ihrem eigenen Takt seinen Oberschenkel reiten, gibt ihr ein-zwei Atemzüge, damit ihre Glut ebenso erneut entfacht. Kein Grund langweilig zu sein – sie war es schließlich, die seine Eingleisigkeit belächelt hatte. Bitte schön, weniger Bürokratie. Mehr Vergnügen für alle Involvierten.

Ihre Zunge für ihn.

Seine Finger gleiten in ihr halb gelöstes Haar, halten sie dort, wo er sie braucht, nicht grob, aber fest genug, um ihr zu zeigen, dass er jetzt die Führung hat. Zögert. Nur für einen Herzschlag, gerade lange genug, um ihren verlorenen Gesichtsausdruck zu studieren, das Wimpernflattern, diesen Moment, in dem sie bereitwillig die Zügel loslässt. Er könnte es auskosten, könnte sie zappeln lassen, sie siegreich anzwinkern. Doch nein. Seine Geduld ist gerade ein dünner, nutzloser Faden und sie ist in seinen Armen, und das allein reicht ihm als Bestätigung. Er beugt sich vor, doch nicht für einen Kuss.

Seine Zunge sucht ihre, vorsichtig, nimmt zurück, was sie verschmähte. Bitterer Beigeschmack, aber das kümmert ihn nicht. Was zählt, ist, dass sie es zulässt. Dass sie ihn - Götter, was für eine Sirene - an ihrer Zunge lutschen lässt.

Ihr Atem stockt. Nein, seiner. Ach.

Ob sie merkt, dass er ihre Lippen meidet? Dass er das Spiel brav nach ihren Regeln spielt?

Er wird sie daran erinnern, später, wenn er sich nimmt, was ihm gebührt.

Bald schon ist der letzte Tropfen fortgewischt und Raphael lehnt sich zurück, um das Ergebnis zu beobachten. Das glühende Rot in Tavs Wangen und Dekolleté, unverhohlen dunkler als in dem Moment, als sie mit seiner Zunge zwischen ihren Beinen kam. Kurios. Zufrieden brummelnd kostet er den letzten Rückstand seines Orgasmus und schluckt dann sichtbar. Genießt ihre atemlose Reaktion. Fasst sie dann enger und findet mit den Fingern seiner rechten Hand den feuchten Punkt ihres Körpers, den er noch nicht fertig erkundet hat. Wortlos. Wieder am Arbeiten, am Austüfteln eines ungeschriebenen Vertrags, seine Handschrift nur ein Fingerflackern. Oh, es ist die längste Verhandlung seines Lebens. Ihre emsige Faust umschließt jetzt Raphaels wieder aufmerksam stehendes Glied, während seine Fingerkuppen - gemäß Kapitel "Stimulationsvektoren", Seite 92f. aus "Dialektik der Dominanz" - an ihrer Perle liegen und in gleicher Weise antworten. Alles nur Tease, nicht Tat. Auch ihre Lippen finden sich nicht, sind immer um haaresbreit von einander entfernt, als wolle sie ihn reizen.

Als der Teufel beginnt ihren Hals und Kiefer mit kleinen Küssen und Bissen zu bedecken, ist es zunächst bloß ein Angebot. Ein Test auf mehr Nähe. Er kann nicht genau sagen, warum er das potenzielle Terrain ihrer Lippen unbedingt erobern will. Vielleicht, weil es ihn amüsiert wie sie sich so grundlos dagegen sperrt. Kuss für Kuss wandert er ihren Kiefer hinauf, bis er das feuchte Salz an ihrer Wange schmeckt. Schlussfolgernd, dass es von Tavs erstem intensiven Höhepunkt herrühren muss.

Und, oh, wie er den Geschmack von Tränen liebt.

Also fingert er sie - so wie von Ratgebern empfohlen - härter bis sie schluchzend aufschreit. Ihr rechter Arm gleitet um seinen Nacken und mit der andren Hand antwortet sie ihm festen Griffs, windet das Handgelenk, jagt seinen Schaft auf und ab. Ein Sturm der neuen Stimulation erfasst ihn - rumort in seinem Unterbauch bis zu den Narben an seinem Unterbauch. Sie pochen, als wären sie frisch aufgerissen. Raphael schließt kurz die Augen, ein Moment des Einknickens vor dem Sturm in ihrer Hand. Sie treiben gemeinsam auf dieser fiebrigen Frequenzwelle, Stirn an Stirn, Atem an Atem.

Und dann - Mund an Mund.

Fast.

Im letzten Augenblick bewegt sie sich und seine Lippen landen auf ihrem Kinn. Er delegiert ihre Hüfte zu seiner Lende, lenkt sie mit klarer Präzision und unverhohlener Absicht, bis sein Verlangen und die allgemeine Schwerkraft entschieden haben, wo ihr Körper hin soll. Er ist bereit, in sie einzutauchen. Bereit, sich in ihr zu versenken, sich in ihr auszubreiten.

Doch Tav scheint andere Pläne zu haben. Sie widersteht den Kräften der Physik und beginnt auf sein linkes Bein zurückzurutschen. Also blockiert Raphael sie mit seinem Oberarm und steuert sie so wieder in die Mitte zurück. Er spürt den Einspruch ihrer Muskeln und stumpfe Fingernägel in seinem Nacken, die absolut nichts anrichten - und eine Rangelei bricht vom Zaun. Wortlos drücken und zerren sie einander, hin und her, mit dem letzten bisschen Diskretion noch intakt.

"Lass mich hinein," sagt er endlich, "komm schon."

Er flüstert so leise, dass seine Worte gegen ihre schweren Atemstöße verlieren. Ihr starrer Blick auf seinem Mund. Nur noch die harten Silben sind zu hören.

"Komm schon."

Sie drückt nochmals gegen seine Blockade, will sich herauswinden, und Raphaels Geduldsfaden reißt. Er kontert - forsch. Packt sie an den Schultern, platziert sie, wie ein trotziges Kind, direkt unter seinen stehenden Schaft. Gibt ihr noch einen siedenden Blick, eine Hand, die rasch an ihren Hinterkopf gleitet - und küsst sie.

Doch noch in der Bewegung spürt er ihre Hand in seinem Schopf, und plötzlich wird er nach hintengerissen, sein Hals jetzt bar. Schon schnappt Tav zu.

Vergräbt die Zähne in seinen Adamsapfel.

Kräftig. 

Raphael zuckt unter ihr zusammen, fährt zurück (ihre Zähne dabei immer noch in seinem Fleisch) mit einem Knurren, das von einem "Au!" nicht weit entfernt ist. Endlich lässt sie von ihm ab, fährt ihre Fänge ein, doch nicht ohne ihn jetzt dort zu lecken, wo ihre Markierung merklich brennt.

Und das muss er erst einmal verdauen: Tav leckt seinen wunden Hals. Warnbiss einer Omlarkatze ...

Ein Laut, einem fassungslosen Lachen nicht fern und doch zu atemlos, entweicht ihm. 

In der Tat, die Maus hat die Reißzähne einer Raubkatze. Und es scheint, als habe sie ihn ein letztes Mal davonkommen lassen. 

Es macht Raphael nur noch härter, als er bereits war.

Seine rechte Hand umschließt fest die kleine Faust, die ihn immer noch befriedigt, und beginnt sie auf- und abzudirigieren, während sein linker Daumen zu ihrer Klitoris zurückgleitet. Presst dort erbarmungslos ins Fleisch. Keine Buchseite, an die er sich gerade konkret erinnern könnte, er ist jetzt nur noch ein blinder, hungriger Wolf, der seiner Schnauze folgt, ihrem Lied, ihren Aroma. Diese Töne, die sie produziert ... Dieser Gesichtsausdruck. 

Er hätte sie heute Nacht gern genommen. Doch er wird sich beugen; er will das Wunder in ihren Augen sehen. So verrückt sie ihn macht - Tav ist nicht weit entfernt von eben jenem Ruin. Er kann es riechen. Mit hastigen, leichten Fingerbewegungen zieht er nun alle Register, entschlossen sie mit ihm in diesen dunklen Abgrund zu reißen. Sie erstarrt wie zu einem Brett - und endlich entweichen ihr die Töne ihres Höhepunkts. Hoch, heiser und abgehackt.

Und er drängt weiter, fordert mehr, schöpft mehr aus ihrem zuckenden Körper, treibt sie weiter, reibt, raunt dreckige Lobpreisungen in ihr Ohr. Schließlich greift sie nach Raphaels Schultern, ihre Stirn an seinem Schlüsselbein und wimmert ihre Kapitulation, während er sich jetzt selbst zum dritten Höhepunkt des Abends masturbiert. Sein Blick und Fokus auf seinem Glied, auf ihren vereinten Fäusten. Dahinter ihr immer noch zuckender Bauchnabel, dem er fürs nächste Mal mehr Aufmerksamkeit schwört. Darunter eine Narbe. Schillernd und weiß im Schweiße der Anstrengung. Hastig vernäht, ein hässlicher Riss quer über ihren Bauch, als hätte jemand sie aufgeschlitzt und liegengelassen. Sein Verstand stockt. Nur für einen Wimpernschlag. Gerade lange genug, um zu begreifen, zu speichern, um den Gedanken für später zu vergraben.

Er zielt und spritzt darauf ab. Ein letzter, gequälter Laut.

Sie fallen zu Boden wie die letzten zwei Blüten einer verwelkten Rose. Er erinnert sich nicht einmal daran.

 

Später, als er wieder allein ist, gestattet der Teufel sich eine kurze Rast im Bett. Er streckt die Glieder und weit aus und blickt zur Zimmerdecke hinauf. Genießt die ungewöhnliche Schwere in den Gliedern. Die Gedanken kommen und gehen, so abstrakt und konturlos wie er sich fühlt: das Geschäftliche und die Logistik. Die Shadovaren, die ihm die nächste Lieferung schulden. Mol, die noch nicht aus Abriymoch zurück ist. Aber er hat Zeit. Er hat noch Zeit.

Der Abend ist so überaus glorreich zu Ende gegangen. Raphael begutachtet seine sauberen Fingernägel. Überraschend erfüllend zu Ende gegangen.

Was auch immer mit dem Artefakt in Abriymoch passieren wird - ein Teilsieg bleibt ihm für immer, und dieser Trostpreis schmeckt süßer, als er je geglaubt hätte.

Er glaubt zu sehen, dass sie es so dringend gebraucht hat wie er. Seit Wochen stieren sie sich gegenseitig hungrig an und werfen sich kindische Sprüche an den Kopf. Er ist ihr fern geblieben, nur um ständig daran erinnert zu werden, dass sie seine Nähe suchte. Gus Tava, die ihn mehrfach fast einknicken ließ.

Raphael sehnt sich in diesen Momenten in die Zeiten zurück, die einfacher gewesen sind. Die Zeiten, die voller heiterer, alles erfüllender Lasternächte in Phlegethos waren. Absoluter Exzess, ungöttlicher Genuss in Rot und Weiß, ein Bauch geöffnet und gefüllt mit neuen Flüssigkeiten. So heiß, dass man seine Hände darin wärmen kann. Die Eingeweide an den Fingern zucken spürt. Am Ende überlebten selten alle diese fiebrigen Orgien oder kamen unversehrt davon zurück - ein Vertrag, den man unterschreibt, wenn man Abriymoch betritt. Aber er hatte sich stets vollkommen gefühlt ... Alles war selbstverständlich gewesen und alles im Lot. Jetzt liegt die Welt im Nebel, nicht einmal seine Begierden sind klar für ihn erkennbar und er verwechselt sie bereits mit Rachegelüsten. Früher wollte er Sex, also hatte er ihn. Früher wollte er töten, also tat er es. Jetzt ist alles kompliziert geworden. Die ganze Welt hat sich verändert. Auch Raphael ist nicht mehr derselbe. Der Blutrausch verblasst. Das Verlangen danach fade.
Er versteht, woher der Gedanke rührt, als sie ihn zum Abschied fragt: "Gibt es einen Weg, die Tieflinge zu retten?" Sie meint die importierten Arbeitskräfte, die im Tymphalos sterben werden. Oder vielleicht auch die, die sie hat brennen sehen. Der gleiche verzweifelte Blick wie zuvor.

"Nein." Es ist die Wahrheit. Er würde ihr gern sagen, dass die meisten von ihnen sehr bald Erlösung finden werden - keine Schmerzen, keine Folter, keine Erniedrigung mehr. Doch es würde nur die Rage der kleinen Heldin wecken.

'Du könntest vermutlich in paar von ihnen retten,' denkt er. Aber was soll er mit neuen Schuldnern? Sie haben nichts zu geben. Ausgemergelte Seelen sind sie, nichts anderes. Besser, wenn sein Mäuschen noch ein Weilchen länger im Dunkeln bleibt. Bis er sie emotional für sich eingenommen hat. So lässt sich die bittere Pille leichter schlucken.

Plötzlich juckt es in des Unholds Nase und etwas ziept an seiner Aufmerksamkeit und er schnippt mit dem Finger. Aus einem goldenen Strahl aus Licht tritt Mol hervor. Sie sieht alles andere als glücklich aus. Aschgrau und staubbedeckt - instantan legt sich über das freundliche Glühen in Raphaels Brust eine dünne Frostschicht.

"Himmelarschunddonnerwetter," atmet sie aus und stützt sich auf den Knien ab. Sie atmet, als wäre sie eine Meile gesprintet. "Du hättest mich vorwarnen können, dass das Scheißding einen verdammt kurzen Zünder hat."

Mol weiß, wie sie die Vorfreude eines Wartenden auf den Heimkehrer und dessen Erleichterung dämpfen kann. Dazu reicht es aus, dass sie den Mund öffnet  und ihre widrige Stimme ertönt.

Doch er ist ein barmherziger Herr und guter Schauspieler. "Ist etwas passiert, Mol?" fragt er mit einer Mildtätigkeit, die er nicht spürt.

"Das Ding hätte mir fast den Arsch weggesprengt."

"Das Artefakt ist ...?"

"Explodiert, ja," wiederholt sie höchst verschnupft und putzt sich den Staub von der Schulter, "und zwar noch als ich durchs Portal gehechtet bin. Ich habe es in den Küchen abgelegt, so wie dus wolltest, und dann fings zu leuchten und wie blöd zu vibrieren an, und ich dachte schon: "Jetzt ist es aus! Mol ist Geschichte." Hätte ich nicht zufällig gewusst, dass das keine magische Märchenkugel ist, wär ich gar nicht auf die Idee gekommen abzuhauen! Ich steh hier nur, weil ich immer ein Ohr an der Tür hab, sonst wär ich jetzt Tieflinghack, Sternenstaub, beseeltes Gas ..."

Raphael hört den Rest ihres psychischen Rapports nicht mehr. 

Sein Lächeln wächst. Und dann lacht er lauthals. 

Notes:

Bin etwas übermüdet und habe bestimmt viel zu früh auf den Post-Button geklickt. Spätere Korrekturen nicht ausgeschlossen.

Chapter 22: 22 Zwischenspiel: Warum zwei Urnen?

Summary:

Am nächsten Tag fragt er sie nach den Urnen. Wessen Asche sie beinhalten. Die ihrer Eltern? Die des Driders?

Chapter Text

 

Am nächsten Tag fragt er sie nach den Urnen. Wessen Asche sie beinhalten. Die ihrer Eltern? Die des Driders? Sie weiß nicht, warum er ausgerechnet jetzt darauf kommt.
Auf ihrem Irrweg zu Hopes Alchemielabor - unten, unweit der höhlenartigen Kerker, wo selten jemand und die Zwergin so gut wie nie zu finden ist, soweit Tav weiß, aber wo dafür eine schaurige Energie in der Luft liegt - flieht sie vor ihren drei Beschützern. Vergeblich, denn da erscheint der einstige Herr der Hauses wie aus dem Nichts vor ihr, Hände hinterm Rücken und schon, Sekunden später nur, holt sie das metallisch klappernde Tönen des Trios ein. Keine Chance auf Ruhe.

Raphael wirkt, als habe ihn ihr Kommen überrascht, ja gar gestört, und mit seinem süßlichsten Ton erkundigt er sich nach ihrem Ziel, woraufhin sie sich murmelnd nach dem richtigen Weg erkundigt. Mit einem sehr plötzlichen wölfischen Grinsen beschließt der Unhold sie zu begleiten. 

Sie passieren wenige Türen - eine davon, die mit ziemlicher Sicherheit zu jener Höhle führt, in der sie und die Gang einst gegen zwei einäugige Bewahrer gekämpft hatte. Ein Vibrieren und Brummen liegt in der Luft, als befände sie sich nicht in einer fliegenden Festung, sondern zurück in Flymms Unterwasserboot. Wahrscheinlich hat Raphael den Hausantrieb mit Seelenmünzen gefüttert. Fast schon hätte sie Lust, eine kleine Tour durch ihre glücklicheren Tage zu machen. Ach ja, die "guten alten Zeiten". Doch das Schweigen zwischen Raphael und Tav ist so erdrückend, dass es sie ablenkt. Mit einem Seitenblick erhascht sie seinen arbeitenden Kiefer, eine unbewusste Stresshandlung. Was doch etwas merkwürdig ist, nicht wahr? Schließlich gehen sie nur den Gang hinab. Warum ist er überhaupt hier? Doch nicht etwa, um Hausmechaniker zu spielen. 

Das ist der Zeitpunkt, als er plötzlich anfängt, Schwätzchen mit ihr zu halten. Unpassendes, völlig aus der Art fallendes Geschwätz, auf das Tav gut verzichten könnte, denn er wählt ausgerechnet ein Thema, über das sie nicht gern redet. Schon gar nicht vor Publikum. Entweder kümmerts ihn nicht oder ist Provokation. 

"Warum die andere Urne?" wiederholt er also. 

Schon beim ersten Mal hat sie nicht reagiert. Sie kann so tun, als sei sie damit beschäftigt einen Fuß vor den anderen zu setzen oder tief in Gedanken versunken. Sie kann auch vorgeben, als sei letzte Nacht nie passiert - aber Raphael wird nicht loslassen. 

"Ich kann mir den Ursprung der einen Urne ausdenken," rätselt Raphael dann einfach weiter, während er ihr nun durchs menschenleere Verließ folgt, eine fensterlose Halle, die unterm grünlichen Licht des magischem Feuers, das in stacheligen Eisenkronleuchtern brennt, eher wie das düstere Versuchslabor einer Araj Oblodra wirkt.

"Die erste wird für den Drider sein, so neu und unverstaubt. Du hast sie jeden Tag poliert, nicht wahr? Die treue Witwe so versunken in deiner Erinnerung ..." errät er, "Ja, das wird es sein. Ich komme aber nicht umhin über die zweite nachzudenken. Also?"

"Sie ist für all die armen Tieflinge, die vor unserer Nase verbrennen mussten."

Für das letzte Quäntchen Würde, das in jener Nacht gestorben ist: indem sie nicht nur niemanden rettete, sondern auch noch an einer perfiden Sexorgie teilgenommen hat. Oh, diese Schmach.

Diese EHRLOSIGKEIT.

Er seufzt nur.

Sie macht einen scharfen Bogen, als sie endlich den kleinen Beiraum entdeckt, wo die Naturmaterialien gelagert sind. Dort stapeln sich Schichten von Lederhäuten verschiedenster Art und Verarbeitung, und es passen, den Göttern sei Dank, nicht mehr als zwei Leute rein. Raphael ist ihr dicht auf den Fersen. Wenigstens die Ravengarde bleibt draußen vorm Eingang. Während Tav höchstgeschäftig das Gut inspiziert, lehnt er an dem ehernen Arbeitstisch und mustert ihr Treiben mit verschränkten Armen.

"Fangen wir ein neues Hobby an?"

"Wir nehmen ein altes wieder auf."

"Mhmh," sagt er halbherzig, und dann: "Mir ist nicht entgangen, dass du beide Urnen vor mir verstecken wolltest, es war also jemand von Wert. Ein anderes Haustier etwa?"

Ihr entweicht ein irritierter Seufzer. 

"Ah, warum so ungehalten, meine Liebe? Bin nicht der, welcher durch deine Geheimniskrämerei Verletzung findet - mich, deinen alten Freund und Helfer," holt er theatralisch aus, doch sie hört den Unernst in seiner Stimme und verabreicht ihm eine Runde Augenverrollen.

Raphael fährt die Bühnenperformance gütigerweise zurück. "ich meinte es vorhin nicht im Scherz, ganz im Gegenteil. Ich kenne deine Liebe zu Tieren. Deswegen brachtest du auch den Fuchs in dein Haus." 

"Ich brachte?!"

"Du hast mich hineingelassen, oder nicht?"

Sie schnaubt verächtlich, während sie die Häute befühlt. Die Narbenseite, die Dicke, die Biegsamkeit. Doch ihre Finger gleiten nur geistesabwesend über die langen Lappen, während Raphaels Stimme ungehindert nach ihrem Geist tastet.

"Wie dem auch sei. Ich wundere mich, ob du seit deinem verblassten Spiderling einen weiteren Kriecher in dieser charmant sentimentalen Sterblichentradition bestattet hast. Oder die Frau Mamà vielleicht?"

Er findet es nicht charmant sondern irgendetwas zwischen armselig und rükständig, so viel ist sicher. Sein Tonfall triggert sie.

"Ich liebe meine Eltern," sagt sie nun und dann etwas leiser, "ein Konzept, das dir gänzlich fremd zu sein scheint."

Tav hebt eine vielversprechende Matte auf den Labortisch, um sie zu begutachten. Rinderhaut, dünn und biegsam - perfekt. Doch ihre Sicht verdunkelt sich, als Raphaels Schatten sich über sie legt. Sie muss ihn nicht ansehen, um zu merken dass er sie observiert, während sie das Leder studiert. Was auch immer er in ihr sieht, es hält ihn nicht vom Reden ab.

"Liebe," iteriert er mit gesenkter Stimme, "sag, wann hast du zuletzt deinen Vater besucht? Bevor du nach Avernus kamst, meine ich. Weißt du überhaupt, ob er wohlauf ist?"

Und dann, noch während sie mit einer gewissen Rage erkennt, dass er sie wahrscheinlich schon sehr viel länger beobachtet hatte, als ihr bewusst gewesen war, folgen seine nächsten Worte.

"Mäuschen, wenn ich dich etwas frage, erwarte ich eine Antwort."

Tavs Blick sticht ins Leere, muss den neuen Klang in seinen Worten verstehen. Es ist fast eine Drohung. Nur einen Tag - einen Schlafzyklus, nachdem er sie Abriymoch hat vergessen machen. Stirn an Stirn. 

"Ich weiß es nicht," gibt sie schließlich zu, in der Hoffnung, dass er von ihr lässt. "Ich habe ihn über einen Monat nicht gesehen."

Da. Er kennt die Antwort wahrscheinlich schon längst, aber freut sich gleich einem Inquisitor höllisch über die unfreiwillige Beichte seines Opfers.  

Sie kann ihn förmlich schmunzeln hören.

"Und du, Raphael? Wie geht es deinem Vater?"

"Hah, ein schmählicher Versuch!" erwidert er abfällig. "Ich bin nicht derjenige, der vorgibt, seine Eltern zu lieben."

Tav hebt den Kopf, um ihn nun anzusehen, und natürlich weicht er nicht zurück. Natürlich muss sie sich seitlich in die Tischkante zurücklehnen, um ihm mit gebotenen Abstand ins glattrasierte Gesicht zu schauen.

Immer noch hohle Wangen und Schatten unter den Augen. 

"Das ist offensichtlich," erwidert sie schließlich und lässt den Gedanken noch etwas verweilen, bevor sie nachlegt, "vor einem Papi wie deinem hätte ich auch Schiss. Kein Wunder, dass du dich vor ihm versteckst."

Sein Lächeln fällt einem neuen Ausdruck zum Opfer: dem Zorn. Sie ist plötzlich froh, die Wachen bei sich zu wissen.

 

Am Nicht-Abend, nachdem Tav das gefundene Leder aufrollt und verstaut, die dicken Brokatvorhänge herabgelassen und das Zimmer in den Dämmerzustand versetzt hat, liegt sie in ihrem Prunkbett und starrt zur Decke hinauf. Sie hat einen Arm unter den Kopf geschlagen und der andere rastet unter der Decke auf ihrem Bauch. Ihre Finger gleiten zwischen ihren Hemdsaum und streicheln über die Haut dort. Sie ist trotz ihres Bades etwas klebrig und sie spürt den Dreck, der sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Es muss der Sand von Avernus sein. Die Hölle klebt an ihr wie ein ungewollter Verwandter, so oft und ausgiebig sie sich auch schrubbt.

Tav betastet sich dort, was sie manchmal so tut, und denkt über die jüngsten Geschehnisse nach. Über Abriymoch und die Brennenden. Über den Moment des Loslassens, als sie in seinen Armen war. Das berauschende Gefühl, als ihre Verweigerung ihn offensichtlich verzweifelt. Und ebenso kursiert das heute Gesagte hinter ihrer Stirn wie eine aufgescheuchte Fliege unterm Wasserglas. Sie begreift, dass des Teufels Verachtung für die Riten der Sterblichen nichts anderes ist als Befremden. Er mag der Spross einer Menschenfrau sein, doch er weiß nicht, was Vergänglichkeit ist. Vielleicht musste Raphael sich noch nie in seinem Leben von etwas verabschieden. Musste nie ein Vögelchen zu Grabe tragen. Er ist ein Unsterblicher in einer Welt von Unsterblichen, und selbst wenn eine Bekanntschaft seiner Person als Lemur endet, so ist sie immer noch da, in irgendeiner Form. Für ihn gibt es fast immer die Chance auf ein Wiedersehen. Das Wort Verlust bedeutet für einen Teufel ein Ärgernis, nicht mehr: Verlust von Amtstiteln, von Reichtümern oder Territorium. Vielleicht gibt es deshalb keine Liebe unter den Baatezu (sie weiß nichts über die Baatezu, aber es erscheint ihr sehr lieblos): weil sie nichts zu verlieren haben. Sie sind einander überdrüssig. Immer der derselbe alte Schimmel.

Ihre Fingerkuppen spielen und betasten die lange Narbe unterm Nabel. Sechzehn Zentimeter, von links nach rechts, sie fährt die komplette Strecke ab, langsam und behutsam, in seinem typischen Sprachtempo, das sich sedimentartig in ihren Gehirnwindungen absetzt. Und warum sollte Raphael sich auch jemals beeilen müssen? Er lebt ewig. Und seine höllische Welt und sein Groll, die ebenfalls.  

Chapter 23: 23 Ein Raum am Ende der Welt

Notes:

Musik:
The Caretaker - F3 - Internal bewildered World

Chapter Text

Es fehlt nicht viel und das Mauerwerk wird nachgeben, aufgeben. Die Wände umfallen, das Dach über ihm zusammenklappen. Der ganze Putz und Staub aufwirbeln und ihm in die Lunge kriechen. Unfassbar, wie sein Dominus ihn zwingt sich zu diesen Treffen zu prostituieren. Die Luft riecht nach Schimmel, Tierpisse und diesem metallisch-sauren Unterton von Hunger, wie bei Lazaretten vor der Sepsis. 

Vor allem ist es verflucht kalt. In der Wand gähnt ein Loch, über der nur ein zerrissener Vorhang im Wind flappt wie ein Nachtgespenst, das in der Tür hängengeblieben ist.

Haarlep wickelt den Mantel fester um den Bauch und friemelt in der Tasche nach einem Tabakstängel. Der Dreibein, auf dem er kauert, ist so unbequem, dass ihm von der Warterei schon der Hintern wehtut. Alles in diesem Einzimmerhaus schreit Elend. Selbst Sitzen ist eine Qual.

"Nicht einmal eine Tür wollte sich hier jemand leisten. Was für ein Jammerspiel," murrt er und, als nach etwas Paffen endlich der Zigarillo aufglüht, bläst er den Rauch in Richtung des Leichnams, der auf der Strohmatte liegt.

Keinen Meter neben ihm. Wie es aussieht, liegt er da schon eine ganze Weilche, denn viel ist nicht mehr an ihm dran außer der ledrigen Haut. 

Brummelnd wendet er sich von der Mumie ab und begutachtet den Topf, der vor ihm dampfend auf dem Tisch steht. Hm, der war eben noch nicht da gewesen.

"Ich sah, wie der Himmel seine Kinder ausspieh. Keiner weinte." Haarleps Augen springen zu dem grauen Geschöpf, das plötzlich in der Ecke hockt und ihn unter weißen Locken anstiert. Rote Augen, rot wie frisches Blut. Ist es der Schreck oder der windige Zug - denn auf einmal fröstelts ihn wieder. "Als die Engel fielen, sangen die Fliegen zuerst."

Mit einem Räuspern richtet er sich gerade und wirft Mumie einen lakonischen Seitenblick zu.

"Und eine Türklingel war dir auch zu teuer, was?" murrt er, während sich sein Puls wieder beruhigt. Er führt den Tabakstängel zurück zu seinen Lippen.

Die Gestalt erhebt sich langsam ihr Kopf bis an die Decke des Raumes ragend - aber das ist in diesem Hühnersarg, ehrlich gesagt, keine besondere Leistung - und streckt ihre Schwingen. Soweit es überhaupt möglich ist. Die scharlachfarbenen Federn verdecken Eingang und Fenster, sodass sich ein feuriger Schatten über das Zimmer legt.
Und dann ist da der Schwefelgeruch - Haarleps linker Tränensack beginnt unkontrolliert zuzucken. Eine Daune findet ihren Weg auf seine Nase. Sie brennt.

Verfluchtes Avernus.

"Ich grüße dich, Tanari'i," sagt der Fremde und hält dabei Finger an Finger die Hände zu einem umgekehrten Dreieck vor der Front, "Meine Herrin sendet Dank an deinen wunderbaren Dominus."

Haarlep zuckt mit den Schultern. 

"Der Lord von Cania hat sein Unschuldsschreiben bezüglich der ermordeten Erzteufel bereits geschickt. Was wollt ihr denn noch?"

"Vergebung für den Verdacht, der auf ihn fiel. Zariel versteht - sie hat wieder geträumt." Bestimmt hat sie das. Der Herold verbeugt sich und die gesamte gefiederte Wand hinter ihm gerät raschelnd in Bewegung. Noch während er sich langsam erhebt, holt er erneut Atem. "Von einem Garten voller nagender Untaten."

Immer diese Erinyes mit ihren Rätseln. Haarlep friert innerlich. Versucht, es wegzulächeln. "Ah ja?"

Die Gestalt hebt ihre langen, grauen Krallen und mit einem Flittern der Finger, beginnt der Topfinhalt vor Haarlep zu brodeln. Neugierig reckt der Inkubus den Hals, dass sein Dreibein knarzt. Im Sud sieht er unzählige Menschenzähne, die meisten davon am Grund hüpfend. Nur drei schwimmen an der Oberfläche. Drei Goldzähne, aber ziemlich durchlöchert. Er runzelt die Stirn.

"Sie will die Quelle finden. Das da glänzt, das gab's nur auf den Thronen. Wer weiß, wem der nächste Zahn gezogen wird."

"Plombenalarm also, ja?"

Der Zigarillo ist aus, aber er tut so, als rauche er noch. Der Gesandte senkt wieder die Hand und geht wieder in die Ausgangsstellung seiner Finger zurück.

"Zariel wird forschen. Mephistopheles ist geladen, sich anzuschließen. Mit seinem Wissen über Dunkles Gewebe."

"Ich werds ihm ausrichten," er schnaubt er kichernd. Erzteufel Mephistopheles hat natürlich Besseres zu tun als Spürnase für Zariel zu spielen.

Es folgt ein kurzes, angespanntes Schweigen, in dem der Herold ihn von oben herab anfunkelt, während Haarlep ihm nur eine Schürzlippe schenkt. Letztenendes gibt die Rotfeder nach und tritt zurück, Schritt für Schritt, bis sie wieder mit angezogenen Flügeln in der Ecke hockt und sich ein unerklärlicher Schatten über sie, und nur sie allein, legt. Das Tageslicht fällt zurück in den Raum; Der Blick zum Fenster hinaus und zum schwarzen Loch im Himmel ist wieder frei. 

"Falls du einen würdigen Herrn suchst, Lustdämon ..." sagt die nun gesichtslose Stimme leise, "Zariel vergibt Loyalität, wenn sie danach ihr gehört."

"Ich bin nicht zu haben, Darling," knurrt Haarlep zwischen den zerkauten Zigarillo. Alles an ihm juckt danach aus diesem Loch zu verschwinden. 

"Aber dein Kopf. Der könnte bald jemandem gehören."

Sein scharfer Blick erkennt nur noch einen Schatten in der Ecke - es könnte ein Brandfleck sein, wäre er nicht so fürchterlich dreidimensional. "Warte, bin ich auf der Abschussliste?" 

Er schaut kein einziges Mal weg, blinzelt nicht einmal. Aber der Gesandte ist plötzlich fort, unbemerkt entschwunden, nur noch der Ruß an der Wand übrig. Über dem Zimmer legt sich wieder die Stille. Nur das tiefe, abgrundtiefe Fauchen des Abgrunds ist zu hören.

Chapter 24: 24 Exorzismus

Summary:

Druidische Therapie. ODER: Er schuldet ihr was.

Notes:

Musik (für "Teil 2 - Dazwischen"):
Jessica Curry - The Mourning Tree
bel canto - Die Geschichte einer Mutter

Zitat des Tages:
"Du hast alles in mir geschaffen und hast mich im Leib meiner Mutter geformt.
[...] Nicht verborgen war mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewoben in den Tiefen der Erde." - Psalm 193, 13-15

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

0. Schlaf

 

Sonderbar, dass sie immer noch mit einer gewissen Regelmäßigkeit schlafen gehen kann, selbst wenn sie sich nicht erschöpft fühlt. Und noch seltsamer, dass ihr Biorhythmus sich Hopes Bewässerungsroutine angeglichen zu haben scheint. Wenn der Schauer magischer Energie sich über das Grün des Hauses - Bäume, Efeu und Topfpflanzen - ergießt, geht auch sie bald zu Bett. Quasi automatisch. Die Pflanzen und Tav sind zu Freundinnen geworden, die ihre Periode zur gleichen Zeit kriegen, mit dem klitzekleinen Unterschied, dass Tav schon seit Wochen auf ihre eigentliche Monatsblutung wartet (aber nur keine Sorge, denn, mal ehrlich, da ist der Stress und die Zeitumstellung und so, und vielleicht hat sie sich auch einfach um einige Tage verrechnet - es gibt viele Gründe, ja, aber keinen zur Sorge). Gemessen an ihren ersten Tagen, die sie in der avernischen Tiefebene verbracht hat, schätzt sie, dass sie nur einmal in einer Toril-Woche rasten muss, und dann auch nur halb so lang.
Freilich sind das lediglich über den Daumen gepeilte Berechnungen. Vor allem als Jaheiras Anmeldung zum Besuch nur zwei Schlafzyklen später hereinflattert, muss sie sich wundern, ob die Uhren seit der Ravengard-Gala nicht doch schneller gelaufen sind, als gedacht. Zeit in Avernus scheint fast still zu stehen. Was sie zum nächsten Punkt bringt: Vermutlich hätte sie die ausgesuchte Rinderhaut nicht einem von Hopes infernalischen Sattlerkontakten geben sollen, sondern jemandem aus Faerûn - die Lederriemen für ihre neue Peitsche wären nämlich längst fertig gewesen. Nun ja. 

'Verflucht, mein Teppichladen ist seit Monaten zu.'

"Taa-haaav."

Sie stöhnt auf. Was für eine Stimme, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. Wenn Raphael sie mit dieser Spur von sexy Drohgebärde in der Stimme ruft, braucht es nicht viel und sie bückt sich freudig für einen Bestrafungsklaps. Zumindest im Traum. Doch bevor es dazu kommt, verwandelt sich das Traum-Boudoir in ein feuriges Inferno und sie befinden sich wieder in der Ankunftshalle. In der Mitte steht er, der Unhold, und vor ihm kniet sie, mit der Peitsche um den Hals. Es ist wie damals, als sie ihn besiegte; nur jetzt sind ihre Rollen, ihre Positionen vertauscht. Dieses Mal hat Tav den Kampf verloren, all ihre Gefährten sind tot und Kar'niss' Vertrag landet mit einem Fingerschnippen zurück in Raphaels Aktenordner. Der Teufel mit rotglühenden Augen und schreckensgroßen Hörnern grinst und hält die Peitsche straff.

"Hab dich," triumphiert er, während er mit der rechten Hand ein Netz spinnt.

'Ja ja, lass mich nur hängen! Na los, zeigs mir, zeig dein wahres Gesicht,' schnappt sie mit dem letzten bisschen Atem, um den sie jede Sekunde fürchtet.

In sein Gesicht mischt sich daraufhin etwas Menschliches, Züge von Ernsthaftigkeit, Züge von Wyll, Jaheira, Minsc und Hope, und plötzlich sieht sich Tav in der Tat hängend, nur schlingt sich die Peitsche um ihre Gelenke und ihren halben Torso und sie hat das Gefühl zu schweben, und es wäre gar kein so schlechtes Gefühl, wenn dieses Mischwesen aus Unhold und Freunden nicht unter ihr stünde und wissend lächelnd zu ihrer enthüllten Figur hinauflinste. Sie ist splitterfasernackt.

Oh nein.

'Sie werden es sehen.' Sie kann nicht sagen, was "es" ist, aber 'verflucht, sie werden es definitiv sehen, wenn ich die Hosen nicht mehr anhabe!' 

"Halt still," befiehlt er leise, seine Stimme tief und heiß in ihrem Nacken. Lange Krallen, die sich um ihre Taille schließen und sie jeden Augenblick verletzen könnten.

Und unter Tav spielt sich jenes Szenario ab, das sie über all die Jahre zu vergessen versuchte, nur jetzt aus der Vogelperspektive, anstatt wie einst vom Türrahmen des Boudoirs aus, in dem sie unbemerkt gestanden hatte, die ganze Schrecklichkeit unverhohlen zur Schau gestellt. Selbst die Töne von Fleisch auf Fleisch, über denen das brünftige Gejohle von Haarlep schwebt, ungleich lauter als Tavs gepeinigtes Stöhnen: 'Nein, lass mich los!' Dieses Mal kann sie den Blick nicht abwenden. Sie muss zuschauen, als der Teufel erneut die tote Frau schändet, sein furchtbares Glied in ihrem Rachen verschwindet, in diesen Leichenkörper, der bis auf die kleinen Erschütterungen der Gewalt reglos bleibt. Dahinter in Schwarz und Nieten beugt sich der Inkubus und zieht sich an Raphaels Peitschenschwanz vor und zurück. 

'Nein nein nein nein! NEIN!!!' Sie schüttelt den Kopf, doch irgendwie bleiben ihre Augen weiterhin auf dieses Schaubild gerichtet. Die Tote, die sich in einen gesichtslosen Tiefling verwandelt. Brennt.

An ihrem Ohr nur sein enttäuschtes Seufzen. "Du kannst einfach nicht stillhalten."

Dann wacht Tav auf.

 


 

1. Wachsein

 

Jaheiras erste Reaktion als sie den Teufel sich mit der Klerikerin unterhalten sieht, ist wie ein spannungsgeladenes Stillleben, vor dem man selbst erstarrt. Ihre Elfenaugen stieren mit einer Frostigkeit auf das Paar, das gerade aus einem anderen Zimmer herausspaziert kommt und diesen Anblick liefert. Die Druidin musste wissen, was sie in Hopes Haus erwarten würde, doch dsa perfekte Bild von partnerschaftlicher Koexistenz lässt sie sichtlich vor Ungläubigkeit erstarren, beide Hände sofort an ihrem Zauberstab.

Jaheira sieht aus, als wäre sie kurz davor Raphael zu verhexen.

Tav geht rasch dazwischen.

"Hier lang," sagt sie leise und legt eine Hand an die Schulter der alten Weggefährtin, um sie aus Raphaels visueller Schusslinie zu navigieren. Er hat ihren Gast nun auch entdeckt und stockt in seiner Rede. Dann nickt er förmlich. Hope winkt. Jaheira starrt reglos zurück. Tav deligiert sie in einen der Salons, die für jeden Besuch ausgestattet sind, aber nicht ohne ein Kräftemessen der Blicke zwischen den beiden. Zugleich kann sich Tav nicht davon abhalten, die dem Teufel zugewandte Körperhaltung von Hope zu registrieren.

Bevor der Habicht dem Fuchs die Augen auspicken kann, hat sie die Tür zur Teestube geschlossen und damit seine Präsenz ausgesperrt, zumindest physisch. Und realisiert erst jetzt, dass sie außer Atem ist. Sie reißt den Blick los von der schweren Holztür und wendet sich dem Raum zu. Für einen Moment steht die alte Druidin wie eine Salzsäule da und starrt in die barocke Leere der Inneneinrichtung, einzig der Kiefer arbeitet und die behandschuhten Hände würgen den Griff ihres Zauberstabs. Für einen Moment herrscht absolute Stille.

Jaheira ist bei ihrem Endkampf vor drei Jahren dabeigewesen. Hat Hope aus Raphaels Klauen befreit, gegen ihn und seine kleine Armee aus Baatezu gekämpft und - nach seinen kruden Folterandrohungen und dem horrenden Geständnis vor Tav - ihn gemeinschaftlich besiegt. Getötet. Zu einem Haufen Knochen verbrannt. Ihn nun wohlauf und ohne sichtbare Einschränkungen - Narben, Fesseln, Maulkorb - zu sehen, muss bestimmt ein Schock für sie sein.

Das, und die Tatsache, dass zwei seiner prominentesten Zielscheiben, Tav und Hope, um ihn kreisen wie die Motten ums Licht.

Sie würde es ihr nicht übelnehmen, wenn sie Avernus auf der Stelle verließe. Kurz sieht es auch so aus. Während Tav zu der kleinen Hausbar eilt und ihr Tee und einen Teller mit Keksen aufbereitet, hört sie es scheppern. Als sie sich mit der verzauberten Teekanne umdreht, das Wasser darin bereits kochend, sieht sie, wie die Harfnerin ihren Zauberstab geräuschvoll auf den Teetisch geworfen hat und unter finsterer Miene ihre lederne Armbekleidung auftrennt.

"So. Es ist also wahr," sagt sie jovial und klatscht die langen Handschuhe auf den Stab.

"Dass er lebt?"

"Dass ihr ihn leben lasst."

"Hopes Deal mit ihm ist ihre Sache. Aber meine Geschichte kennst du," erwidert Tav, während sie das Tablett mit dem Teeservice abstellt und Jaheira eine Tasse einschenken will. Diese winkt ab und sinkt auf den nächsten Stuhl. Der Ärger spricht aus jeder ihrer Bewegungen. 

"Ich brauch was Stärkeres. Bring mir Schnaps."

Tav sieht zurück zum Spirituosenschrank. "Wir haben Wein."

Ein Seitenblick in die gleiche Richtung. Und dann düsteres Lachen. "Natürlich habt ihr das." 

So viel ist sicher: Jaheira wird es ihr nicht leicht machen. Tav setzt sich zu ihr an den Tisch, Augen auf dem metallenen Stab, und versucht den Gesprächsfaden bei einem anderen Thema aufzunehmen. Mit einem Räuspern fragt sie, was Minsc so treibt. Ob dies ein Kurzbesuch sei oder sie gedenke länger zu bleiben. Die Harfnerin muss sich erkennbar zusammenreißen, um diesem Friedensangebot zu folgen; sie wird fachlich und erklärt, dass sie für ein paar Tage die Flora der Tiefebene studieren möchte, bevor sie wieder aufbricht. Eine Basis in Hopes Villa wäre genehm, sofern es noch Platz für sie gibt. Ihr Tonfall ist säuerlich, die Schultern steif. Sie wiederum erkundigt sich nach Tavs persönlichen Bodyguards und Tav gibt zu verstehen, dass sie für den heutigen Tag entlassen wurden, damit sie sich in Ruhe mit Jaheira befassen könne.

"Klingt ganz so, als erfüllten sie ihre Aufgabe nicht."

"Ganz im Gegenteil, sie haben die überflüssigen Flurgespräche mit Raphael auf ein erträgliches Maß reduziert," erwidert Tav. "Ansonsten ist Personenschutz im Haus eher unnötig. Nur wenn ich allein auf Mission gehe, brauche ich ein, zwei Extraschwerter."

"Und wann schickt er dich wieder auf Mission?"

"Heute, morgen, übermorgen." Sie zuckt mit den Schultern, lässt den Finger über Jaheiras Armleder gleiten. Altes, aber das Leder immer noch eichenhart. "Das weiß niemand, vermutlich nicht einmal Raphael." 

"Das klingt äußerst willkürlich. Er bestraft dich nach Lust und Laune."

"Ja und nein. Ich glaube nicht, dass die Missionen als Strafe gedacht sind. Aber ich glaube, ja, dass er tatsächlich keinen Masterplan hat, was mich betrifft."

Und doch, der Gedanke ängstigt sie: Was, wenn sie doch das Lamm ist, das er Schlachtbank führt? Was, wenn er sie die ganze Zeit testet? 

"Es gibt einen Plan, er hat es selbst zugegeben," fügt sie langsam hinzu, "aber die Aufgaben, die er mir aufträgt, sind zu banal genug. Raphael schleift mich einfach auf seinem Weg zum Sieg mit, weil ihm alle Lakaien davongelaufen sind, ist mein Verdacht, nicht weil er Großes mit mir vorhat."

"Wenn er wirklich so planlos wäre, hättest du das nicht längst enttarnt? Denn ich höre da immer noch den Zweifel aus deinen Worten, Tav. Du klingst genauso hilflos wie ein Student, der das Prüfungsblatt mit Floskeln füllt." 

"Vielleicht bin ich das."

Ihr Blick fällt auf den abgegriffenen, zerkratzten Stab auf dem Tisch. Die Dienstjahre, die er für seine wackere Eigentümerin abgeleistet haben muss. Zahllose Kämpfe, ob heimlich oder im Offenen.

"Ich versichere dir, dass ich keine Postfiliale leite, sondern Revolutionen."

Es war das zweite Mal gewesen, dass der Kambion dieses Wort in den Mund genommen hatte: Revolutionen. 

Welcher Art? Offen? Geheim? Welche, bei denen Erzteufel explodierten?

Jaheira schüttelt zungenschnalzend den Kopf, der Blick kurz gesenkt, ganz klar um Luft zu holen.

Mit einem scharfen Atemzug reißt sie Tav aus der Grübelei. "Weißt du, worin die wahre Macht des Teufels liegt? Nicht in seinen Pakten ..." Ihr schlauen Elfenaugen finden Tavs, die wiederum über alten Weidspruch gen Decke blickt. "Siehe, alles, was er hat, ist in deiner Hand – nur an ihn selbst mag sich deine Hand nicht legen."

"Der Sachverhalt ist etwas komplexer, als du denkst."

"Erklärs mir."

"Ich muss erst wissen, was mit ihm los ist."

"Was mit ihm los ist?" murrt die Druidin, "Bist du seine Mutter, oder was? Find lieber raus, was er vorhat!"

"Er hat sich verändert."

Jaheira muss scharf auflachen. "Auf mich wirkt er nachwievor wie der intrigante Snob von damals."

"Nach außen hin, ja. Aber ..." Tav lehnt sich vor und etwas leiser zu reden, "Jaheira, wenn du mehr mit ihm zu tun hättest, würdest dus auch merken. Es ist wie ..."

Ihre Augen streifen durch den Raum und dann, in ihrer Verlorenheit, bleiben sie an dem orangenen Filter hängen, der über allem liegt. Alles in dem Licht wird zu einem schmutzigen Farbton: das Blau der Sitzpolster, das Grün des pastoralen Gemäldes über dem Kamin.

"Es ist wie das Tageslicht, das hinter deinem Rücken zur Neige geht, während du ein Buch liest: Du merkst es zuerst nicht. Aber irgendwann fällt dir diese ... Abwesenheit auf, und je mehr du dich anstrengst die Zeilen zu entziffern, desto mehr verschwimmen sie. Plötzlich ist alles dunkel. Es sind lauter Kleinigkeiten, verstehst du, doch je genauer ich hinsehe, desto unschärfer wird er."

"Und was sollte uns das kümmern?" raunzt die Alte, deutlich unbeeindruckt von der Analogie.

"Wenn es nicht sein Abbild so tief im Wesen beträfe, wäre es mir egal," hob Tav an. "Würde ich ihn nicht kennen, wäre es mir noch nicht einmal aufgefallen. Aber Raphael und ich sind nun mal alte Weggefährten. Und obwohl er alles mit seiner üblichen Attitüde zu kaschieren versucht, sehe ich diese Unschärfen immer häufiger: Er hat sein Bravado verloren, ist zynisch geworden. Gleichzeitig erscheint das, was ich als "Plan" erkenne, allenfalls unausgegoren. Nicht clever genug, nicht ... elegant genug. Er walzt durch die Welt, als lachte er den Konsequenzen ins Gesicht. Es ist Chaos. Fahrlässigkeit."

"Ein fahrlässiger Teufel wäre ein toter Teufel, Tav. Jemand wie Raphael hat sich seinen Weg zur Macht nicht durch Willkür und törichte Spielchen gebahnt.“

"Er hat keine Macht mehr. Ich weiß sogar aus erster Hand, dass die meisten Erzteufel ihn bis jetzt für tot gehalten haben. Mephistopheles hat anscheinend unter Verschluss gehalten, dass Raphael Cania lebend verlassen hat."

Ein Vorteil, den er in Phlegethos mit einem Schlag verspielt hat. Tav muss den Kopf schütteln. 'Wie viele Unholde haben sein Gesicht gesehen - wie viele sein unterschwelliges Geständnis, dass er Dispater ermordet hat, gehört?', denkt sie finster.

'Fehlt nur noch, dass er meinen Namen herumposaunt.'

"Sieh doch uns an," fügt sie schnell hinzu, "es juckt ihn nicht einmal, dass ich mit dir über ihn rede. Stattdessen pariert er auf einer Audienz vor dutzenden Baatezu herum - kein einziger davon vertrauenswürdig! Wenn Raphael so weiter macht, wird derjenige, der ihm ans Leder will, ihn bald finden." Einen Moment lang füllt sie die Sprechpause mit einem Kopfschütteln. "Es ist, als wolle er, dass man ihn aufhält."

"Was du nicht sagst."

"Das und - dann sind da noch andere Abweichungen: Früher hatte er nur einen Sinn fürs Geschäftliche. Jetzt allerdings wirkt er schwelgerisch, launenhaft in seinem Tempo. Erst heiß, dann kalt. Mir ist klar, dass er diese krankhafte Obsession mit mir hat, aber-"

"Heiß?"

"Was? Heiß, ja. Ich meine wohlgesinnt. Du weißt schon. Als würde er mich nicht als seinen Todfeind betrachten."

"Sondern als was? Als Hofnarr?"

Tav muss bei dem Wort die Augen verdrehen, doch rasch geht ihr die eigentliche Erklärung aus. Hat Raphael nicht etwas ganz Ähnliches gesagt? Langsam fühlt sie sich wie der dümmste Mensch im Raum. Wie vor Wochen (oder Monaten?), als sie Zehenspitze an Zehenspitze standen und ihren Knebelvertrag ausdiskutieren.

"Wenn es nur darum geht, mich zu bestrafen, kann ich dich wohl kaum davon abhalten."
"Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wie kreativ meine Bestrafungen sein können." 

Ah, sein Blick damals - als brannte er sich in ihr Innerstes. Der gleiche Blick, während ihre Hand um seine Gurgel lag. Der gleiche Blick, als er wortlos zwischen ihren Schenkeln verschwand. Sie kann ihn so oft als schmierigen Hausierer und Kleinbürokraten verlachen, aber seiner Strahlkraft vermag sie sich nicht zu entziehen. Er hat sie verführt, vergiftet. 

'Raphael würde behaupten, es sei anders herum gewesen.' Natürlich würde er das. Tav kaut auf der Innenseite ihrer Wangen herum. 

Plötzlich ergreift Jaheira ihre Hand und beugt sich vor. Starrt sie mit einer zerstörenden Eindringlichkeit nieder, die jeden Verhörmeister einschüchtern würde.

"Als was betrachtet er dich, Tav?"

"Ich hielt dich für einen Feigling, Tav. Aber nein, du warst etwas viel Besseres: opportunistisch."  

Kopfschüttelnd reißt sie ihre Hand aus dem Griff und lehnt sich zurück. Studiert lieber die Armlehne ihres Stuhls, als die Druidin anzusehen.

"Hat er versucht dich zu verführen?"

Sie kennt seine gespaltene Zunge viel zu gut, um auf ihn hereinzufallen. Und seine Zunge. Ihre Ohren werden warm.

"Er- er hat- wir haben ..."

Was soll sie sagen?

"Ihr habt was?" Ihre Augen weiten sich und Tav findet auf einmal den Dreck unter ihren Fingernägeln interessanter als den schockierten Ausdruck in Jaheiras Gesicht. "Tav! Ihr habt was - Doch nicht etwa ...?"

"Bei Tymoras Titten, Jaheira, du weißt ganz genau, was. Zwing mich nicht es auszusprechen."

"Nein, nein, du dummes Ding, ich muss es aus deinem Mund hören, sonst werde ich es nie glauben. Also?"

"Puh! Er und ich ..."

Ein schwerer Seufzer, der Blick zur Harfnerin aufschlagend und die Fingernägel zwischen den Zähnen.

"Wir haben miteinander ..." murmelt sie, aber lässt die Pause ausklingen.

Sieht die finstere Wolke der Erkenntnis in dem Elfengesicht aufziehen.

"Es war ein Abend im Gate, ok. Wir kamen gerade von einem erfolgreichen Kampf zurück, waren beide noch aufgekratzt von der Mission, ja, die Stimmung war ausgelassen und wir hatten beide ein bisschen was intus. OK?"

Für diese Lüge kann sie unmöglich in die Hölle kommen. Sie ist ja schon dort.

"Du hast das Bett mit ihm geteilt."

Tav wiegt den Kopf hin und her und schürzt die Lippen. "Weniger das Bett als den Esstisch. Und den Boden."

"Silvanus steh mir bei."

"Ich weiß. Ich weiß. Dies ist ein sehr verletzlicher Augenblick für mich und ich bin froh, dass ich es vorurteilsfrei mit meiner Freundin teilen kann."

"Vorurteilsfrei? Du hast dich mit einem Teufel vereinigt! Kind - die vertraglichen Implikationen!"

Jaheira schnappt nach Luft und Tav wundert sich, ob Raphaels traurig gespuckter Klimax auf seine Brust überhaupt als "Vereinigung" gilt. 

"Vertraglich gesehen gibt es keine."

"Er hat dich um den kleinen Finger gewickelt!"

'Oder ich ihn,' flüstert eine Stimme.

'Hinterfrags nicht,' eine andere.

"Deswegen nimmst du ihn in Schutz, deshalb diese Besessenheit mit ihm!" ruft Jaheira jetzt mit einer Grimasse des Ekels, "er hat dich gefügig gemacht - eine Kette an deine Vulva gelegt."

Ah, auf dieses allzu plastische Bild hätte sie verzichten können.

"Ich bin enttäuscht, Tav. Sehr enttäuscht."

"Hast du nicht zugehört? Raphael verändert sich. Etwas passiert mit ihm!"

"Was! Willst du mir etwa weismachen, dass du an die Güte seines Herzens glaubst? Hast du den Verstand verloren? Er ist ein Emissär des Bösen, Tav: das Diabolische fließt durch seine Adern so heiß wie Lindwurmblut. Du KANNST. DAS. NICHT. ÄNDERN."

"Ich will ihn nicht verändern. Ich mag ihn noch nicht einmal. Und ich bin ganz bestimmt nicht besessen!"

"Aber warum schläfst du dann mit ihm?"

"Weil Gründe! Der Wein, der Siegestaumel, Raphaels Friese - was auch immer, ich bin auch nur ein Mensch! Können wir bitte nicht streiten? Ich wollte diese blöde Sache eigentlich auch gar nicht zum Thema machen, also tu mir den Gefallen und mach keinen Aufriss drum. Es ist geschehen und damit basta."

'Außer dass dieses Kapitel eine Fortsetzung hat.' Argh, sie ist so verwirrt.

Tav glättet das offene Haar über ihre glühenden Ohren und stößt einen langen, irritierten Räusper aus, der mehr ihrer eigenen Schwäche als Jaheiras bohrenden Fragen gilt. "Was auch immer mit ihm los ist - es beeinflusst seine Pläne. Ich werde ich beobachten."

"Also wirst du noch länger ... mit ihm verkehren?"

"Ich muss."

"Aber warum, Tav? Warum musst du? Ich verstehe, dass du dich immer noch Kar'niss verpflichtet fühlst. Auch wenn das schon exzessive Ausmaße erreicht hat, wenn du mich fragst. Aber Raphael? Warum willst du unbedingt dieses Rätsel lösen?" Die Harfnerin stützt ihre Stirn an den Händen ab, als wöge diese unglaubliche Denkaufgabe zu schwer. "Wen kümmerts, was er in dieser Welt treibt - es betrifft uns nicht. Warum?"

"Weil ..."

Tav sieht sich selbst in der goldenen Iris ihres Gegenübers, sie sieht ihre eigenen großen Augen und ihren Mund, der versucht Worte zu formen. Und sie kommt sich so jung und dumm vor, weil sie sich selbst nicht versteht.

"Weil er mir was schuldig ist. Er ist mir etwas schuldig."

Heiß, dann kalt. Abweisend, dann aufdringlich. Und während dieses Hü und Hotts speit er süße Beleidigungen wie eine Schlange Gift. Und all das, weil er glaubt, ein Recht drauf zu haben, sie bestrafen zu dürfen. Nicht dafür, dass sie ihn getötet hat, wohlgemerkt, sondern für ihre angebliche Herumprahlerei. 

"Oh, Tav," Sie hört die erschöpfte Anteilnahme in der Stimme ihrer Freundin kaum noch, "ich weiß, dass der Verlust deines Kindes schmerzt, Liebes. Aber so wenig es mir naheliegt diese Kakerlake in Schutz zu nehmen, lag die Schuld für die Totgeburt vielleicht nicht bei ihm - hast du schon darüber nachgedacht? Solche furchtbaren Dinge geschehen auch ohne den Einfluss des Bösen -"  

"Behauptet, dass ich ihn vorgeführt habe," presst sie zwischen den Zähnen hervor, und es ist, als kämpfe sie gegen eine unsichtbare Mauer der Verwirrung, "Ich weiß, dass ich unschuldig bin. Hab damals nichts anderes getan hat als mich zu verteidigen. Hab sogar eine verdammte Träne für ihn vergossen."

"Wie bitte?"

"Ach nichts. Er will mich nur für sein verletztes Ego bestrafen, der kleine Pascha."

So Vieles blieb bis heute ungesagt. Keine Chance auf Selbstverteidigung, keine Möglichkeit ihr Recht einzufordern. 

Tav spürt wie sie gemustert wird, und verschränkt mit verkniffenen Lippen die Arme, als könne sie so ihren gesamten Ärger unter Verschluss halten. Dreht schnaubend den Kopf zur Seite.

"Mir wird jetzt erst bewusst, dass ihr euch vermutlich besser kennt als wir uns beide," stellt die Druidin langsam fest. "Wie hat es überhaupt angefangen?"

Sie zuckt nur mit den Schultern. "Lang lang ists her. Alte Stories aufwärmen macht die Bude auch nicht kuscheliger."

"Dieser vertraute Ton zwischen euch -"

"Ich habe überhaupt nicht rumgeprotzt! Ich weiß gar nicht, wo er diese Idee her hat!" Tav dreht sich wieder zu ihrer alten Weggefährtin und starrt sie böse an. Die Spitze ihres Zeigefingers tappt ungehalten in die Tischplatte. "Raphael war verflucht nochmal derjenige, der damals überreagiert hat. Er hat mir fast das Herz herausgerissen, nicht andersrum! Du warst dabei! Sein Finger in MEINER Brust, ok, es gibt Zeugen! Und wir wollen nicht vergessen: Er hat Kar'niss in sein Verderben gestürzt, wohl wissend, dass wir ein Paar sind. Das war nicht Teil seines Weges zur Weltherrschaft. Es war Missgunst."

Die Wörter taumeln nun über ihre Lippen, als könne sie die Flut nicht stoppen.

"Aber das ist ja nur die Spitze des Eisbergs! Denn er hatte nicht mal den Arsch in der Hose, mich richtig zu begrüßen. Taucht nach Jahren der Stille wie aus dem Nichts auf und hält mir wie eine blöde Karotte den Hammer vor die Nase. Kein persönlicher Gruß, kein "Wie gehts dir, Maus? Was hast du die letzten sechs Jahre getrieben?" Nur Business as usual. Kalt und gelackt, als wären wir nie etwas anderes gewesen als flüchtige Bekannte. Das und der ganze Bockmist mit der Leiche - hah, also ... - wenn überhaupt, schuldet der gute Herr MIR eine Entschuldigung!" 

Sie bricht ab. Luftmangel. Die Kehle zu trocken. Die Schultern hochgezogen, die Muskeln hart wie Stein und Tav schon halb vom Stuhl. Alles, was sie seit Jahren nicht gesagt hat, klebt ihr jetzt auf der Zunge, brennend, schwer.

Jaheira hingegen hat sich nicht gerührt. Sitzt einfach nur da und starrt. Aber ihr Gesicht ist nicht leer. Darin tobt ein Sturm, ein schwerer, dunkler Seegang. Als wäre hätte sich die Welt verschoben und wäre die halbe Erde verschluckt worden. Als würde sie schon eine neue Wirklichkeit erkennen, die Tav auf ihrem Rettungsboot noch nicht bemerkt hat.

"Was ist?"

'Was hat sie?' Verflucht, weiß sie etwas über den Teufel, das Tav nicht weiß?

Kein Ton. Kein Wort. Nur dieses seltsame Funkeln. Tav schluckt ihr wütendes Keuchen hinunter und rollt die Schultern zurück. Und dann atmet Jaheira lang und ruhig aus. 

"Komm."

Sie sagt es mit einer Ruhe, die Tav allen Wind aus den Segeln nimmt. 

Jaheira schiebt den Stuhl zurück. "Komm, Kind, mir ist nach etwas Bewegung."

Tav starrt sie konsterniert an. Ihre Unterarme landen scheppernd auf dem Tisch. "Was? Warum jetzt?"

"Weil ichs sage, Vögelchen," erwidert Jaheira wieder eine Spur unwirsch. Stelle die Forderungen einer über 150 Jahre alten Halbelfe nicht infrage.

"Zeig mir etwas, das du an Avernus magst."

Tav atmet tief aus und plötzlich ist der Sturm, der durch ihre innere Welt fegte, wie erstorben. Die Ebene darin absolut windstill. Mit dem Groll zwischen den Zähnen erhebt sie sich und führt die Druidin aus dem Zimmer.

 


 

Nur einen überraschend besänftigenden Spaziergang später sitzen sie im Archiv, an dem Baum, der seit Tavs letzten Besuch vor Wochen (wer weiß...) nur noch mehr in die Breite gewachsen zu sein scheint. Tav hockt rittlings auf einer der Wurzeln, die gigantischen Haaren gleich über den Boden gewachsen sind, - ihre Nährstoffe nicht Wasser und Mineralstoffe, sondern die positive Magie des Ortes - und lauscht Jaheiras Erzählung, wie Adoptivsohn Jord die Pflanzen in ihrem Arbeitszimmer unkontrolliert gedeihen ließ, bis die grüne Pest zur Tür hinauswuchs. 

"Als er zu mir kam, war er ein ganz schönes Nervenbündel - ein verwildertes, zorniges Kind, das niemanden an sich ranließ," sagt die Alte, während sie dort mit verschränkten Händen gegen eine Wurzel lehnt, "Er schlug mit seinen acht Jahren bereits alles kurz und klein, was nicht genauso hart wie sein Dickschädel war. Wär hätte gedacht, dass diese Pilze mampfende Maulklaue die sanfteste Seele sein könnte? Heute ist er ein Druide mit einem Daumen so grün wie sein fauler Hintern."

Tav muss über Jaheiras Kommentar lächeln. Auch ihre Kinder haben bestimmt kein leichtes Leben mit einer ständig abwesenden Adoptivmutter. Sie verkneift sich einen Kommentar dazu. Wie lang wäre sie wohl ihrem eigenen Kind zuliebe häuslich geblieben?

Während sie zu den verzauberten Helferhänden, die Bücher entlang der Wände sortieren und einordnen, hinaufstarrt, kommt ihr ein neuer Gedanke.

"Ich dachte, es war besser geworden," sagt sie, doch schnappt sofort nach Luft, bremst sich selbst - und senkt rasch den Blick, als sie Jaheiras fragenden Gesichtsausdruck sieht.

Die Rinde unter ihren Fingerkuppen so hart und unverletzlich. Unberührt. Als ginge den Baum die Welt nichts an.

"Es gab Tage, da hab ich erst abends an sie gedacht. Es war ... Fortschritt. Aber seit ich wieder hier bin, bröckelt er. Alles, was ich mühsam wiederaufgebaut hab, zerkrümelt, Tag für Tag ein bisschen mehr. Jeden Tag frag ich mich, wie ich den nächsten überstehen soll. Und währenddessen schlag ich mich mit Raphael und seinem ganzen Mist herum."

Mit einem bitteren Lachen schüttelt sie das Teufelsgrienen aus den Gedanken.
"Schon seltsam, oder? Die Welt dreht sich weiter, und ich – ich lieg immer noch im Krankenbett. Betäubt. Klammer mich an die Hand der Krankenschwester. Höre mich wieder und wieder die gleichen Worte sagen: "Sie ist stark. Sie ist sicher. Sie ist stark. Sie ist sicher." Wie eine Verrückte. Und dann wache ich auf – und mein Bauch ist leer."

Schweigen.

"Ich bete, dass die Zeit vergeht. Weil – das soll ja helfen, nicht wahr? Das sagen sie doch: Zeit heilt alle Wunden. Aber alles, was sie tut, ist mir meine Tochter zu nehmen. Wie wenn du jemanden versuchst ins Boot zurückzuziehen, noch während die Strömung ihn wegreißt. Ich kann nicht mehr. Ich bin so müde, so furchtbar kaputt vom Trauern."

Sie hält kurz inne, japst nach Luft. Etwas Zerbrechliches blockiert ihren Hals und der einzige Weg ist, es endlich loszuwerden. "Ich - ich will sie ehren, Jaheira! Bei den Göttern, ja! Ich will ihr einen Schrein bauen, ein Gedicht widmen, einen Gobelin, irgendwas. Hauptsache, die Welt weiß, dass es sie gab, für einen Augenblick zumindest. Dieses kleine Wesen, das fast in mein Leben kam. Kurz nachdem Kar'niss ... nachdem Kar'niss es verlassen –"
Ihre Stimme bricht kurz.
"Aber dann erinner ich mich. Warum sie beide nicht mehr da sind. Und ich erstarre. Denn sie zu verlieren, das war wie ihn noch mal sterben zu sehen. Und ich kann mich nicht dem Gedanken erwehren, dass es erneut meine Schuld gewesen ist. Er ging, weil ich zu feige war. Und sie ging, weil ich zu schwach war."

Sie hebt die Hand. Sie zittert.

"Ich hab verstanden, was du gesagt hast, und ja, vielleicht stimmt's – vielleicht passieren diese Dinge manchmal und es ist es niemandes Schuld, sondern einfach nur eine Verkettung aus tausend winzigen Faktoren, die zufällig zu diesem Ausgang geführt haben. Aber ich kann mich von meiner Schuld nicht befreien. Mir ... mir gehts nicht gut. Ich bin so verdammt unsicher geworden. Mit allem. Mit jedem. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich in den Tag starten soll. Keine Ahnung – welche Socke kommt zuerst? Nehme ich den großen Löffel oder den kleinen für den Haferbrei? Worüber soll ich lachen, worüber mich aufregen? Ich meine, verdammt, ich brauch jemanden, der mir sagt, wie ich einschlafen soll, denn selbst das krieg ich nicht mehr hin. Ich lieg einfach da, wie eine Puppe im Regal. Und ja – es fühlt sich buchstäblich wie Hölle an."

Und dann trifft es sie. Diese seltsame Traurigkeit, die sich nicht ankündigt, sondern einfach da ist. Kein Klopfen. Kein Laut. Nur der Hammer, der sie niederschlägt.

Jaheira ist da. Wann hat sie sich bewegt? Eben noch war sie woanders. Aber jetzt sitzt sie neben ihr. Warm. Echt. Da. Und Tav öffnet die Schleusen und flennt. Ihr Kopf sinkt auf Jaheiras Schulter und beginnt rasch alles einzunässen, womit er in Kontakt kommt. Und so sitzen sie gemeinsam, allein mit den Gedanken und den Magierhänden in den Bücherregalen.

Sie spürt Jaheiras Atem gegen ihr Haar, "Ssht. Ich weiß, ich weiß" und andere mütterliche Nichtigkeiten, während die Tränen ihre Nase kitzeln. Sie sind an Trost das, was Tav am Ende aus dem Loch hebt.

Als das Schluchzen abgeklungen und das Gesicht wieder trocken ist, gibt die Alte ihr mit einem Tappen am Rücken ein Zeichen sich aufzurichten. Streicht ihr mit einem langen Elfenfinger eine Strähne aus dem Gesicht und tappt ihr an die Wange. 

"Das ist gut. Hast dich ausgeweint," sagt sie, "Vielleicht kann ich nicht immer für dich da sein, Liebes. Aber ich hab dir was mitgebracht, das dir helfen wird." 

Tav richtet sich wieder auf und sieht sie durch den Nebel der Tränen an. 

"Der Schleier der Trauer verdeckt dir die Sinne. Wir wollen ihn auftrennen und etwas Neues daraus machen. Etwas Besseres." 

Tav spürt das getrocknete Salz unter den Augen, als sie blinzelt. "Du sprichst in Rätseln."

"Gewiss," spricht sie mit einem schweren Nicken, "aber jedes Rätsel ist eine Tür. Und ich denke, du bist bereit, hindurchzugehen."

 


 

2. Dazwischen

 

Jaheira erzählt, dass manche Uthgardt-Schamanen, wie die des Greifstammes aus dem Nordwesten, sich in einem Schwitzzelt ausziehen und großer Hitze aussetzen, um die Bindung zu alten Seelen aufzunehmen. Sie ist froh, dass Jaheira kein Zelt hat und sie auch nicht zwingt, sich auszuziehen. Aber der kleine, kapellenartige Raum, den die ältere Frau für das Ritual präpariert hat, ist trotzdem binnen weniger Minuten so heiß, dass Tav ihren Kragen lockern muss. Sie kann sich gar nicht an diesen Gebetsraum erinnern, doch vielleicht hat sie sich bislang einfach zu sehr von Raphaels bzw. Haarleps räkelnden Körper ablenken lassen, um den Zugang vom Boudoir zu bemerken. Mit ihren Kerzen und Schälchen Wasser und einer Prise Hokuspokus steigen die Dämpfe von Salbei und Honig auf, die bald einen solch dichten Nebel bilden, dass dahinter die Außenwelt verschwindet, nicht jedoch der Raum mit den Sitzbänken. Mit einer breiter werdenden Straße aus Schweiß zwischen den Brüsten hockt sie vor der Druidin und lauscht dem tiefen Murmeln des Beschwörungszaubers.

Eine "sanfte Weise der Heilung" hat die Alte es genannt. Ein Sanctum des Reflektierens. Der Zauber - ein Beschwören von Strängen der Erinnerung.

Die kleine Kapelle wiegt in sanftem Licht, Funken, die – wie Bläschen im Schaumwein – gen Decke steigen und Schatten über die Wände tanzen lassen. Die Wasserschale ist zum Teil mit Wollfäden in Silber, Grün und Purpur gewickelt, als hätten sich ihre Farben zufällig gefunden und doch ist es gewiss kein Zufall. Unter dem feinen Kreuzmuster treibt eine kleine, geschnitzte Holzfigur auf dem Wasser, eine Kindergestalt.

Jaheira ist auf den Knien, die Hände erhoben, und brummt ein altes Gebet in einer Sprache, die genauso gut erfunden sein könnte. Vielleicht ruft sie ihren Gott an, vielleicht die Geister der Natur, vielleicht auch ihre Ahnen – Tav hat nicht den blassesten Schimmer. Sie schaut nur auf das Figürchen, um das sich das Wasser langsam in ein perlmuttfarbenes Weiß erhellt, als sei es selbst das Licht, und ein gewebtes Muster auf Jaheiras Gestalt wirft. Die Elfe strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Nicht meditativ, nicht allumfassend, aber echt.

Sie besprenkelt Tav und die Figurine mit Wassertropfen und erklärt, dass auf die Reinigung von der Trauer vorbereiten soll. Anschließend fährt sie mit dem Finger über die vielen Schnüre und erklärt ihre Bedeutung:

"Silbern ist die Brücke zur Geisterwelt. Grün ist das Leben. Purpur sind Leid und Liebe für das verlorene Kind. Jeder Faden ist eine Erinnerung, ein Gemüt. Na los," ermuntert sie Tav mit leiser, tiefer Stimme, die wie aus dem Nebel zu kommen scheint, "entspinne sie und flechte sie zu etwas Neuem, etwas, das allein du kreiert hast." 

Obgleich zunächst zaghaft, tut Tav wie geheißen, und löst Garn um Garn von der Schale. 

"Flechte dahin," summt die Frauenstimme in eigentümlichem Singsang, "denn der Kindesleib ist das Gewand der Seele, von der Mutter gewebt im Innersten der Welt."

Die Silberstränge fühlen sich seltsam kühl und beruhigend in ihren Fingern an, die smaragdfarbenen pulsieren wie ein schlagendes Herz, und die purpurnen Stränge, dunkel gegen ihre Haut, brennen wie ein leichtes Gift. Während Tav sie gelösten Schnüre zu einem dicken Zopf flechtet, singt die Druidin ein Wiegenlied, das Tav aus ihrer eigenen Kindheit kennt. Wie eine Blume blüht es in ihr auf: die wohlige Gewissheit, sicher und geliebt zu sein.

Als die letzte Schnur verflochten ist, legt Jaheira die Handflächen über die losen Enden, und mit geschlossenen Augen spricht sie die Zauberformel, lässt den Garn mit ihrer Magie erglühen, und nicht nur die drei Farben leuchten jetzt brillanter, auch die Spitzen schimmern jetzt wie Sterne am Nachthimmel und kräuseln sich in der Luft, als wären sie lebendig. Während Jaheira ihre Kraft in den Zopf überträgt, fühlt Tav, wie er sich in ihrer Hand erwärmt, und diese Wärme bis in ihre Brust reicht. 

Sie will weinen. Will weinen - aber nicht aus bloßem Kummer, nicht ausschließlich, nein. Sondern auch aus bittersüßer Sehnsucht, die sie ganz gefühlig macht, ein Weh nach einer vertrauten Seele, die ganz nah ist, so unsichtbar aber eindeutig wie ein Tritt in ihrem schwangeren Bauch. Tav sitzt so still wie möglich da und versucht diesen Geist zu hören, seine schwache Atmung, sein junges Erwachen. Bald schon bewegt er sich um sie herum in unruhigen Wellen. Wellen, die nur aus dieser sonderbaren Energie bestehen.

Doch, bei den Wundern Celestias und allem, was nicht erklärbar ist, sie sind da. Sie bildet es sich nicht ein. Etwas bewegt sich um sie, in ihr. 

Silber, Smaragd und Purpur pulsieren in ihrer Hand, kitzeln ihre Knöcheln, die Enden so weich wie Kinderwimpern.

"Wunderschön. Nicht wahr, Tav? Mit der Zeit findet jeder Faden seinen eigenen Platz," wispert die akzentreiche Stimme vor ihr, "lass sie dich führen, während du sie zu etwas Neuem webst."

Voller Wunder blickt Tav auf das bunte Wimmeln in ihrem Schoß.

"Ist das mein Kind?"

"Es ist deine Liebe, deine Hoffnung, deine Trauer." 

Die Luft um sie herum wird schwer, dicht - eine Spannung legt sich über sie. Der Garn, der in ihrem Schoß liegt, erzittert, reckt seine Füßchen. 

Jaheiras Miene verrät nichts, doch Tav entgeht nicht der suchende Blick in den Raum.  

"Spürst du das auch?"

Tav will schon zur Erklärung anheben, als der ganze Zopf zu vibrieren und flackern beginnt. Das Silber erlöscht neben dem flimmernden Grün fast vollständig, während das Rot immer dunkler wird, bis es beinahe in einem unmöglichen Schwarz leuchtet. Ein tiefes Summen erfasst den Raum, zu tief fürs Ohr, doch Tav fühlt es im Brustkorb. 

"Sie haben etwas aufgeschnappt ...," zischt Jaheira, und ihre gelben Augen blicken an ihr vorbei Richtung Kapelleneingang.

Das Knarzen einer Tür am Ende des Gangs durchschneidet die atemlose Stille und Tav wirbelt auf den Knien herum, Geflecht immer noch in den Händen. Die leuchtenden Schaumweinbläschen, die um sie herum tanzten, zittern und zerplatzen da allesamt. Plötzlich ist da nur noch das Licht der wenigen Kerzen. Am Ende der Kapelle, das nun so unnatürlich dunkel und fern zu liegen scheint, drängen die Schatten, verdrängen den Balm des Rituals.   

Durch den Honigschleier schwappt etwas Altbekanntes - das rottsüße Parfüm von Rosen und Kirschen. Tav riecht es, noch bevor sich die Finsternis vor ihr wie ein Vorhang teilt und Raphael durchlässt. Als er in den beleuchteten Zirkel der Frauen tritt, scheint es, als strecke sich sein Schatten übernatürlich über die Mauern und Decke. Teufelsschwingen, wo der Schatten eigentlich nur spitze Schulterpolstern imitieren sollte. Doch in seinen Augen brennen Flammen.

Prompt und ohne jede Warnung zuckt der Zopf, und der purpurne Garn windet sich, sodass das Flechtwerk wie eine schmerzverkrümmte Missgestalt aussieht. Seine losen Enden anklagend auf den Eindringling deutend. Tav japst überrascht auf und packt es, damit es ihr nicht aus dem Schoß springt. Das tiefe Summen wird plötzlich lauter, brummt unangenehm heftig in ihrer Magengrube. 

Raphael bleibt über ihr stehen und das überraschte Halblächeln, das er eben noch trug, verblasst. Das Purpur windet sich unter seinem Blick, pulsiert heftig, mal rot mal schwarz. Seine Hand zuckt, als wolle er danach greifen. Doch er zögert.

"Was ist das?" raunt er, und etwas in seiner Stimme gibt nach. Seine knisternde Verachtung ist es nicht.

Die Stränge erzittern wie zur Antwort, hüpfen zwischen Tavs Fingern und dem Teufel entgegen wie ein Gewimmel von Mäuseschwänzen, sodass er unwillkürlich einen Schritt zurückweicht. Das Unbehagen in ihrer Körpermitte schwillt schmerzhaft an - Wehklage. Ihr Herz pocht im Takt zum flimmernden Rot, und es scheint, als hallte ein Flüstern durch das Dunkel, undefiniert doch voller Kummer. Tav starrt zu ihm hinauf.

"Was hast du angerichtet?" würgt sie hervor. Kaum will ihr die Stimme gehorchen. 

Jaheira tritt zwischen Tav und Raphael, glühenden Zauberstab zur Hand. Er mustert diesen mit einem Stirnrunzeln.

"Sieh an, die eiserne Marschallin. Ich hoffe, du weißt dich besser zu benehmen als beim letzten Besuch," sagt er, ihren Kampf vor drei Jahren wohl erinnernd.

Sie hebt den Arm. Wie Scherben fliegen die zerplatzten Bläschen nun auf und wirbeln so geschwind um die beiden Frauen, dass sie wie eine Barriere aus Licht wirken, die kein böser Geist durchbrechen kann. Tav muss sich auf die Silhouette Raphaels konzentrieren, um von dem gleißenden Tornado nicht einen Schwindelanfall zu bekommen. Für einen Augenblick scheint auch den Kambion das Spektakel zu bannen.

"Hinfort, Teufel," befiehlt Jaheira, "du hast in diesem Raum der Heilung nichts verloren."

Er hat sich von dem sonderbaren Schauspiel los geschüttelt und lächelt wieder schlau. Doch nun fehlt ihm jedes galante Ennui, das sonst seine Miene bekleidet.

"Heilung?" fragt er, und Tav könnte schwören, dass seine Stimme zittert. "Was auch immer sie an dieses Geflecht bindet, bindet offensichtlich auch mich. Vielleicht wollen nicht alle Wunden geheilt werden."

Seine Augen weilen noch zwei Wimpernschläge länger auf ihr, doch dann zieht sich Raphael so wortlos in die Schatten zurück wie ein Gespenst.

Eine Tür fällt ins Schloss und echot durch den düsteren Raum.

Tav entweicht der Atem, den sie, weiß die Götter wie lang, angehalten hat. Die beklemmende Schwere weicht, die Stränge in ihrem Schoß verstummen. Ihr Leuchten, freilich, ist gedämpft, aber nicht erloschen.

"Jaheira, was war das?"

Die Halbelfe kniet sich zu ihr herab, ihr Tonfall tief, als versuche sie ein verletztes Tier zu beruhigen. Klänge sie nur nicht so zögerlich.

"Tav, was auch immer das Band zwischen euch ist - es ist mächtig," sagt sie und sie beide starren auf den schwach glimmenden Zopf. "Ich vermag es nicht zu erklären - kann es kaum selbst begreifen. Doch du bist stärker als er, stärker als das hier. Vergiss das nicht."

Tav nickt langsam, ihr Blick immer noch auf den roten Bändern, die nun etwas langsamer aber konstant pulsieren, als seien sie mit Tavs eigenem Herzschlag verbunden.

"Und was jetzt?" fragt sie rau.

Sie hört Jaheiras mit einem tiefen Atemzug etwas loslassen - oder zurückgewinnen? Sieht so aus, als sei sie nicht die Einzige, die überwältigt wurde.

"Jetzt? Jetzt fängt die eigentliche Arbeit an, denn dabei kann ich dir nicht helfen; Jetzt nämlich knüpfst du die Bande neu."

"Wie? Jetzt sofort?"

Ein kleines zuversichtliches Lächeln, das in Jaheiras Mundwinkel zuckt. "Sobald du bereit bist, in was auch immer du als passend befindest."

"Was, wenn ich es nicht fertig bekomme?"

"Dann bist du fertig."

Tavs Blick irrt über die Schüssel und die Kerzen und findet schließlich das ernste Gesicht ihrer alten Weggefährtin.

"Danke."

Es kommt nicht mehr als ein Flüstern, doch es stell ein sichtbares Grundvertrauen in ihrem weisen Antlitz wieder her. Sie nickt zufrieden und auch Tav atmet tief durch.

"Darf ich dich noch um eins bitten?"

"Alles, was du willst, meine Liebe," sagt Jaheira zuversichtlich und Tavs bleierner Blick sinkt ganz von selbst zu Boden, dort, wo ihre Ehre und Intelligenz irgendwo zertreten liegen. 

Besser das Schandgeständnis schnell hinter sich bringen, jetzt. Eins, zwo, drei.

"Ich bräuchte nen Schwangerschaftstest." 

Tav wird sich später vor allem an Eines erinnern: den sehr scharfen Luftzug, und den gemurmelten Fluch, der über Jaheiras Lippen kam.

Notes:

Update: Ich musste ein paar Kapitel inhaltlich nachschärfen. Es handelt sich um nichts Großes, doch Kapitel 18 etwa beinhaltet jetzt konkretere Hinweise zu Raphaels persönlicher Verwundung.

Chapter 25: 25 Furchen

Notes:

Notiz:
- Indirektes Zitat aus Saul Bellows "Henderson the Rain King"

Chapter Text

Sie stehen vor den beiden Spiegeln und Hope fühlt so etwas wie Stolz. Das Gefühl ist zu einem häufigen Besucher geworden. In kleinen, gesunden Dosen ... Sie hat Vieles richtig gemacht, möchte sie behaupten. Kleine Schritte vielleicht, doch niemals leichte. Das hier aber ist ein ganz herausragender Moment für sie, denn erstens steht sie vor zwei Prachtexemplaren von Reisespiegeln, alles aus eigener Hand. Wahrlich perfekt. Perfektissimo, oder so! Und zweitens erlebt sie ihn mit Raphael. Ausgerechnet mit ihm. Das ist so verrückt, sie könnte darüber hysterisch kichern.

"Ja," sagt er nur, und das soll sowohl Zustimmung als auch höchstes Lob sein. Ah.

Hope schluckt das Kichern, das sich fast wie ein Juckreiz in der Kehle anbahnt, mühsam hinunter. Seit einiger Zeit ist der Teufel geizig mit Gold und gefälligen Worten. Vielleicht hat er sie unterwegs verloren. Oder gegessen. Oder beides. Nicht, dass sie das Lob ihres alten Gefängniswärters und Folterers bräuchte - aber das Portal ist einfach verdammt hübsch geworden, das sieht sogar ein Blinder. Der Rahmen aus einem Guss, das Glas reinstes Magiegewebe. Sie hat verdammt lange daran gearbeitet. Hat alle Register gezogen, damit das Portal stabil und in beide Richtungen funktioniert. Ohne, dass man einen weiteren Portschlüssel für Avernus bräuchte.

"Und wie," haucht sie ergriffen.

Verflucht, da wird jemand sehr glücklich sein. Ausflippen wie Pixies auf Feenstaub. Jetzt müssen sie nur noch einen der Spiegel nach Helm's Hold kriegen, ohne, dass er kaputt geht. Das ist die Aufgabe des Kambions, nicht ihre.

"Der Rahmen," sagt er da.

"Der Rahmen?" wiederholt sie, als er nicht weiterredet.

"Er ist recht absonderlich, nicht wahr?"

Er fragt nicht wirklich, sondern er merkt an. Hope starrt auf das Gerüst. Die Werkmeister der Frostkuppenzwerge nennen das Material Titanerz - ein leichtes, elfenbeinweißes Metall. Es sieht mit seinem hochpolierten Glanz nicht nur zeitlos wie ein geschliffenes Marmorei aus, sondern hält zugleich das darin gespannte Gewebe auf einer stabilen Temperatur. Das Ziselieren der extrem harten Oberfläche hat Tage gekostet, selbst mit Magie.

Es ist nicht absonderlich, sondern etwas Besonderes.

"Er sollte aus Gold sein, nicht?" findet er.

Natürlich will er Gold. Er ist ein baatorianischer Unhold - kein Sinn für Innovation, dafür kitschversessen wie eine Elster. Hope schnappt nach Luft, allein die Vorstellung eines altbackenen Goldrahmens ist eine Beleidigung des guten Geschmacks.

"Wir könnten es vergolden," presst sie durch die Zähne, aber sie möchte sich bei dem Gedanken am liebsten schütteln.

"Lediglich vergolden? Reicht das -?"

"JA. JA!"

Sein Blick springt zu ihr und nach einem scheinbar langen Moment, in dem er stirnrunzelnd ihre Reaktion evaluiert, nickt er beruhigt. Grummelnd zieht Hope ihre Weste gerade und plustert die Backen auf; Sie wird die beiden Spiegel in die Werkshalle zurückschaffen müssen. Zumindest bis zum Aufzug am Ende der Treppe. 

"Also gut, zurück zur Werkstatt," stöhnt sie und wirft mit einem dramatischen Wink das Tuch über den enthüllten Spiegel. "Das ganze werde ich händisch machen müssen, händisch!, damit das Gewebe im Spiegel nicht gestört wird. Puh ..." Sie seufzt schwer. Das Blattgold muss sie auch noch besorgen. "Keine Sorge - das ist ein Kinderspiel für Hope. Und zwar eins, das sie die nächsten Wochen spielen darf." 

"Versuchst du mir gerade in der dritten Person zu sagen, dass dir die Zeit fehlt? Ich habe vollstes Vertrauen in deine Fähigkeiten dies zu delegieren. Alles was ich verlange, ist Top-Qualität."

"Ich habe also dein Vertrauen, ja? WELCH EHRE, oh GROSSER Raphael!" schnaubt sie, "Aber ich brauche keinen teuren Restaurator, keine Goldnase, der mich ersetzt, sondern fleißige Hände. Arbeiter! Hope hat Besseres zu tun, als ihre gesamte Zeit mit "kleinen" Gefallen für den Teufel zu füllen. Vergiss nicht, in wessen Haus du bist. Also Vorsicht mit dem naserümpfigen Ton, ja?"

Er hebt die Arme, und die beschwichtigende Geste gibt ihr Gelegenheit, ihre innere Balance wieder zu finden. "Du sollst deine Arbeiter bekommen."

Findet er das etwa lustig? Oh ja, das tut er - sie hat das Zucken des Mundwinkels gesehen.

"Ich will deine Schuldner nicht." 

Damit das klar ist.

"Sie sind nicht meine Schuldner."

"Gut. Denn danach werde ich sie nämlich entlassen. Fliegt, kleine Helferchen - fliegt! Niemand - absolut NIEMAND," sie atmet tief durch, "soll irgendjemanden an mein Haus oder an jemanden in meinem Haus binden. Spucke drauf und eingeschlagen!"

Er seufzt, aber nickt dann. Wunderbarst, damit wäre alles gesagt. Armefuchtelnd beschwört Hope ein schillerndblaue Paar Magierhände - zwei, die ihr jetzt an anderer Stelle fehlen, und positioniert sie unter den Spiegeln. Holt tief Luft. Zu ihrer Überraschung steht Raphael immer noch da, Hände verschränkt, und beobachtet das Schauspiel. Eigentlich hätte er dieses Gespräch für beendet erklärt, indem er sich mit einem Puff! in Rauch aufgelöst.

Stattdessen macht er einen geistesabwesenden Eindruck, der Kopf überall, nur nicht im Hier und Jetzt.

"Was weißt du über magische Heilrituale?"

Die Frage kommt unerwartet. Hope muss ihren noch grollenden Sturm in der Brust in den Hintergrund zurückdrängen, um den plötzlichen Themenwechsel zu verarbeiten. 

"Du meinst das Ritual, das die elfische Druidin durchgeführt hat?"

Seine Antwort kommt einen Hauch verzögert. "Ja. Was war der Anlass? Zweifellos ging es um etwas Wichtiges. So hell und schrill, wie sich dein Haus auf einmal anfühlt ..." 

"Sicherlich ein Wink mit dem Zaunpfahl, mir endlich selbst einen Druiden zu suchen," sagt sie mehr zu sich selbst, den milden Schmerz in seinen Worten ignorierend.

"Dann ging es nicht um das Heilen von Fleisch und Knochen," hakt er nach, "um was dann?"

"Das ist privat," erwidert sie, "und ich glaube nicht, dass dich das was angeht, Raphael."

"Aber du weißt davon?"

"Mhnö ..."

"Lügst du mich gerade an?"

Seufzend sie sich ihm zu. "Ich muss nichts wissen. Es hat den Schmerz gelindert. Das ist das Wichtigste." Für einen klitzekleinen Moment muss sie die Augen schließen, und als sie weiterredet, spürt sie selbst, wie klein und zerbrechlich die jetzige Tav aus ihr heraus spricht, "Und es hat funktioniert. Ich kanns fühlen - warm und gülden und zwitschernd wie ein Kinderlachen. Sie ist jetzt auf dem Weg. Kein Verstecken, kein Zurückweichen mehr, sondern ... Auge in Auge mit dem Terror, unerschrocken. Stell dir das mal vor! So mutig. Sie tut, was die wenigsten von uns wagen würden."

Sein Schweigen ist furchtbar laut.

"Lass ihren Schmerz in Frieden, Raphael. Er gehört ihr."

Sie sieht es in seinem defensiven Gesichtsausdruck: seinen Widerspruch.

"Versuch nicht immer alles und jeden in- und auswendig zu kennen. Du verursachst nur noch mehr Schmerz," legt sie nach, "mehr ... Leid."

Das lässt ihn wieder zu ihr aufblicken, aber Hope hat fürs Psychoanalysieren keine Ausdauer mehr.

Sie setzt an die Spiegel zu verschieben, die müssen schließlich heute noch wo hin - und, arch, sie sind schwerer als vermutet. Und das liegt nicht nur am Stahl, sondern auch am Gewebe. Die Magie, prall mit Macht und Potenzial. Mit den Lippen zwischen den Zähnen kanalisiert Hope ihre Klerikerkräfte in zwei Stränge und drückt gemachvoll zu. Zwei Magierhände gleichzeitig zu kontrollieren - das ist wie Geige spielen mit zwei linken Armen: machbar, aber es könnte was dabei zu Bruch gehen.

Sie erwartet keine Hilfe von ihm. Klar auch, er ist ein Unhold ergo verdorben bis aufs Blut, so heißt es zumindest. Als daher plötzlich eine große, rote Magierhand neben ihr aufflammt, weicht sie mit einem Eek! zurück. In einem Regen aus Feuerfunken watscht die puterrote Pranke ihre eigene ins Nirvana und übernimmt den unbemannten Spiegel. Wortlos, mühelos. Und, den Göttern sei Dank, ohne jede Beschädigung.

Hope kanns sich nicht verkneifen, Raphael etwas dumm anzublinzeln. "Danke."

Sein Gesichtsausdruck ist völlig unverändert - als hätte er mit dem Zauber nichts zu tun. Oder, besser: verschlossen, möchte sie eher sagen. Aber irgendwo zwischen Kragen und Ärmel fällt eine Spannung von ihm ab. Er lässt etwas los, sein Gesicht wirkt weicher, das ewige Halblächeln nicht mehr ganz so falsch.
Hope putzt sich mit einem lauten Räuspern die Hände ab und weist ihm den Weg. Gemeinsam bewegen sie sich den Korridor hinab, während die Portale vor ihnen in der Luft schweben.

"Ein ordentlich Stück Arbeit, Hope," sagt Raphael schließlich. Er folgt ihr ein wenig versetzt, die Hände weiterhin verschränkt und die Brust wie immer prinzlich geschwellt.

"Jupp," erwidert sie. 

Sie hört ihn einatmen und wappnet sich schon für die unvermeidbare Spitze. Eine Gewohnheit von ihm, mit der er ihren Stolz zu treten pflegte. 

Und doch vergehen noch drei weitere gemächliche Herzschläge, bevor er wieder spricht.

"Ist es genug für dich? Ist es hinreichend?"

Sie bleibt stehen und wartet darauf, dass er aufholt. Sein Blick weilt nicht länger in der Ferne, sondern auf ihr. Unbewegt. Ohne Anspruch, aber auch ohne Gnade. Er will ihre ehrliche Antwort.

Die Magierhände stoppen und für einen Atemzug ist alles still, bis auf das Summen des Gewebes unter dem Tuch. Nicht laut, doch es ist da wie ein leiser Gedanke, der von selbst spricht.

Sie könnte mit allerlei Gegenfragen antworten, nicht wahr? Kryptisch kontern. Oder so tun, als verstünde sie nicht. Stattdessen streicht sie mit der Hand über das Tuch von einem der Spiegel. Sie vermag den zerknitterten Stoff nicht glatt zu ziehen. Die Falten sind zu scharf und alt, um durch sachte Finger geebnet zu werden. Also lässt sie die Hand sinken.

 

Der Flur, den sie hinabgehen, ist leer, aber makellos. Oder besser gesagt: Er ist blitzeblank, klinisch und wie frisch beschworen – aber menschenleer. Seit Raphaels Rückkehr hat Staub keine Chance, und es ist schon fast unerträglich, den gebohnerten Marmorboden auch nur anzusehen. Umso seltsamer, dass die Statue, an der sie vorbeiziehen - dieses in eine flache Nische gegossenes Ego eines alten Teufels - grau mit Staub und Fingerabdrücken dasteht. Die Gestalt ist komplett aus Gold, Arme verschränkt, der Mund zu einem geradezu nachdenklichen Ausdruck verzogen. Beinahe kontemplativ. Hope hätte den alten Baatezu eigentlich längst abbauen sollen, aber irgendwie zögert sie immer im letzten Augenblick. Schwer zu sagen, warum. Vielleicht, weil er aussieht, als gäbe er sich verzweifelte Mühe, menschlich zu wirken. 

Als sie die Tür zum Lift erreichen, kommen sie zum Stehen. Sie mustert ihn von oben bis unten. Wägt neu ab.

"Du weißt schon, dass sie dich nie akzeptieren wird, solange du nicht ehrlich zu ihr bist."

Natürlich sagt er nichts darauf. Als erwarte er von ihr eine Erklärung.

"Nicht, solange du lügst."

"Ich lüge nicht."

"Na gut. Dann gehst du eben sparsam mit der Wahrheit um."

Er quittiert das mit dem dünnsten Lächeln, das physisch möglich ist. Doch sie hat nicht vor, locker zu lassen.

Nicht dieses Mal. 

"Sie weiß nicht, dass die Spiegel in Wirklichkeit von dir kommen, oder?"

"Sie hat dich um Hilfe gebeten. Nicht mich. Es ist besser, wenn wir die Sache nicht unnötig verkomplizieren."

"Und das ist OK für dich? Du gibst den heimlichen Bewunderer aus der letzten Reihe."

Raphael schnaubt. Aber der amüsierte Unterton kratzt schon leise an der Tür zur Gereiztheit. "Sei nicht albern. Ich mime weder Bewunderer noch Heiligen. Sie will ihre Freiheit. Das, was sie von mir erhält, ist nicht mehr als ein Fenster."

Er klingt wie ihre Schwester im Augenblick ihrer Niederlage: reumütig, ja, doch stolz und ohne Schuldbekenntnis. Nur einmal wünscht sie sich, die Welt wäre so einfach wie in den schmuddeligen Krimigeschichten, die sie eine Zeit lang verschlungen hatte - 'Fall gelöst, Gerechtigkeit siegt, alle gehen was trinken'. Kurz nachdem sie wieder nach Avernus zurückgekehrt war; nach Korrillas fluchtartigem Untertauchen.

Als die Einsamkeit sie mit einer völlig neuen Härte getroffen hatte.

Eine, die ihr so im Verließ nie widerfahren war. 

"Weißt du ..." sagt sie langsam, "als es schlimm wurde – also nicht so Zehenspitzen-am-Abgrund-schlimm wie mit deinen Gästen damals haha ..." Sie knautscht den Rocksaum, "da hab ich alles gelesen, was mir zwischen die Finger geriet. Zauberbücher. Billigromane. Nebenwirkungslisten von Hexentränken. Ich glaub, ich war auf der Suche nach Trost. Und einmal, da stieß ich auf diesen Satz - ja, irgendwo stand da: "Gnade steht jedem zu. Und Rechtschaffenheit muss nicht der Schlüssel sein." Ich denke, es ging nicht darum, absolut gut sein zu müssen. Sondern darum, eine Entscheidung zu treffen, die humaner ist als all die Entscheidungen zuvor. Bis heute schwirrt mir der Satz durchs Gehirnchen. Hab ihn wochenlang geflüstert. Monate. Dann hab ich vergessen, wo ich ihn her hatte, pffh. Als hätte es das Buch nie gegeben. Oder ich hab's mir eingebildet."

Eine kurze Denkpause.

"Haha, nee, glaub ich nicht."

Mit einem kleinen Räuspern lässt Raphael sie innehalten. "Hope, du weißt schon, wo wir uns gerade befinden? Sehr gut. Denn, meine Liebe, dies ist nicht ein Billigroman. Dies ist das Leben. Keine zweite Chance. Das Recht des Stärkeren. Und so weiter."

Sie verdreht die Augen. "Sicher, sicher! Aber du hast auch Großherzigkeit bewiesen, und zwar ohne zu müssen," ruft sie und sie spürt, wie ihre innere Überzeugung anschwillt wie ein wunderschöner, roter Stern, "das Leben kann so wunderbar wie ein Happy End sein, Raphael - wenn wir es nur zulassen! VOR ALLEM, wenn wir diejenigen beschenken, die im Dunkeln festkleben."

Ihr entfährt ein Gluckser. Tavs eigenes Strahlen wird das Haus mit Sonne füllen. Wie sehr könnte die Sonne sie alle wärmen, wenn jedermann glücklich wäre?

"Du irrst, mal wieder," kommt des Teufels Gemurre von der Seite, "ich schenke nicht aus Großherzigkeit. Nur weiß ich, wann die gute Moral im Haus so tief sinkt, dass sie - um es mit deiner illustren Sprache auszudrücken - mit den Haaren im Gulli hängt. Es ist unschicklich."

Er linst zu den Spiegeln hinüber. Zu Tavs Geschenk. "Und Asmodeus bewahre uns davor," fügt er leise hinzu, "dass sie am Ende noch in ein moralisches Dilemma stürzt, bloß weil ihr neuer Heimweg ein wenig nach Schwefel riecht."

"Nun, wenn du selbst unter ihrem Leid so leidest, denk doch mal ernsthaft darüber nach, ob ein klärendes Gespräch zwischen euch nicht der beste Deal für beide wäre."

Aber er hat offensichtlich genug gehört. Raphael macht eine wegwerfende Geste des intellektuell Ermüdeten und dreht sich zum Gehen um. Hope bleibt bei den Magierhänden, die geduldig darauf warten, dass die Aufzugtür (dieses Wunder zwergischen Handwerks! Ah, auch darauf ist sie stolz, ganz gleich, dass sie das Ding nicht selbst gebaut hat.) endlich aufgeht. Doch sie beobachtet den Teufel, und als er nach zwei drei Schritten die Hand zu einem Fingerschnippen hebt - nur eine Sekunde bevor er in einem Lichtstrahl verschwindet - bemerkt sie mit einem Hauch von Verwunderung und Genugtuung, wie seine Schultern einfallen. 

Chapter 26: 26 Notwendige Übel

Summary:

Das eine Mal, als Tav ein notwendiges Übel wählt und ein anderes ablehnt.

Notes:

Anmerkungen:
1) DnD-Referenzen
2) Corpse flower = Leichenblütler
3) Die Klassen der drei Leibwachen wurden geändert.

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Heißer Wüstenwind fegt über die Ebene und, ja, es ist vermutlich die ungünstigste Witterung für einen botanischen Trip ins avernische Umland, die man sich vorstellen kann. Das Wetter in dieser vermaledeiten Hölle bäumt sich heute gegen jedwede lebende Kreatur auf - ob Mensch, ob Vogel, ob Drache - es ist eine tosende Mauer aus Staub, die auf jeden niederkracht. Kein Hauch sauberer Luft, den man atmen könnte, kein Flecken festen Bodens, der noch Sicherheit böte; als hätte die Erde selbst Schwingen entfaltet und ihr brüllendes Löwenmaul in den Himmel geworfen, wild und zornig. Und doch ist es so kraftvoll in seiner Wahrheit, dass Tav jeden hautschürfenden Sandkorn mit der Seligkeit einer aufbrechenden Abenteurerin hinnimmt.

Das Echo alter Tage - der Mut, der Leichtsinn - sie kann es in den Knochen hören und in ihren Muskeln spüren. 

Als Jaheira, Tav und ihre Bodyguards von ihrem Tagesausflug zurückkehren, gleichen sie fünf Sandsteinfiguren, die zum Leben erweckt unter Keuchen und Husten in Hopes Haus treten. Einer nach dem andern kommt durch das Portal gesprungen und mit jedem weiteren Paar Stiefel wird die ockerfarbene Staubwolke im Raum trüber. 
Tav reißt sich den Mundschutz von der Nase und saugt gierig die Luft ein. Es ist erstaunlich, wie einfach es sich hier im Verhältnis zu draußen atmen lässt. Sogar die Temperatur ist nicht ganz so höllisch. Sie lacht - die Peitsche an ihrer Seite ist nicht mehr - der Riesensandkäfer hat sie gefressen. Nur noch der Knauf ist übrig. Die elfische Wache (Gunja, wie Tav mittlerweile weiß) grollt hingegen über den eigenen zerstörten Säbel - eben jene infernalische Bestie bekam nach der Ledervorspeise seinen Doppelsäbel zwischen die Kneifer und brach ihn mit einem Knapps entzwei. Golon - der zweite aus Wylls Trio und ein orangebärtiger Bär von einem Mann, der mit seinem Zweihänder dem Höllenkäfer den Garaus gemacht hat (Tav kann das Ding kaum heben - sie hats probiert) - klopft Gunja aufmunternd auf die sandige Schulter und gibt ihm die Adresse eines guten Schmieds in Baldur's Gate, was den feingliedrigen Elf zu beschwichtigen scheint. Zress, die vermummte Bogenschützin mit einem Drow-Blick scharf wie die eines Adlers, macht nur eine maulfaule Bemerkung, dass auch sie mal wieder frische "Harnischbrecher" (was wohl Pfeile sind) nötig hätte, und bald schon konversieren sie über die lapidare Notwendigkeit des Einkaufens diverser Dinge. Tav hört einen Moment dem spontan aufgewallten Gespräch zu und schickt die drei dann fort, damit sie sich waschen mögen. Der Widerhall ihres munteren Gesprächs durchbricht noch die drückende Stille des Hauses, als sie schon um die Ecke verschwunden sind. 

"Hast du gehört, wie Golon mich gelobt hat?" sagt Tav und wirft Jaheira einen stolzen Seitenblick zu, aber die ist zu sehr mit dem Check ihrer Phiolen beschäftigt. 

"Er hat dich einen Skorpion genannt," erwidert die Alte rau, während sie die befüllten Behälterchen an ihrem Alchemistengürtel zählt, "nachdem du ihn mit deiner Peitsche im Gesicht erwischt hast."

'Jawoll', denkt sich Tav mit einem kleinen Achselzucken. 

"Kurz bevor der Käfer deine Peitsche gefressen hat," ergänzt die Druidin. 

"Nur zu, spotte dem Skorpion," entgegnet Tav, "du hast Glück, dass er immer noch in Siegeslaune ist."

Die Mission des Samensammelns für Jaheiras mobiles Chemielabor verlief in der Tat überaus erfolgreich - Ausbeute, Kampf und Entdeckungstour zu Fuß - was will man mehr. Tav hat nun einen Grund mehr, sich baldigst eine neue Peitsche zu flechten. Der Kern des alten Knaufs - glücklicherweise wiederverwendbar. Wer weiß, wann sie wieder ausziehen, um noch mehr Käfer, Mephiten und andere Höllenbewohner abzuwehren. Ah, die befriedigenden Kämpfe des Kleinhelden!
Jaheira, nun fertig mit dem Prüfen ihrer Ausbeute, bedenkt Tav mit einem neugierigen Stirnrunzeln - was komisch aussieht, denn auf ihrer staubbedeckten Stirn wirken die Falten wie auf rotem Fels gemalte Linien.

"Wohl wahr," erwidert sie, "so aufgekratzt warst du zuletzt in unserem Scharmützel mit Enver Gortash. Nun, eigentlich in jedem Scharmützel, um ehrlich zu sein."

Das waren noch Zeiten ... Der Adrenalinpegel in einer anderen Liga, aber dafür auch mehr auf dem Spiel. Der heutige Auszug reichte, damit die Erregung immer noch durch ihre Adern pumpt. 

"Du bist wie Scratch auf seinem Morgenspaziergang."

Tav prustet eine Wolke Schwefel. "Du gehst mit Scratch Gassi?"

Jetzt ist es an Jaheira mit den Schultern zu zucken. Die Gläserchen an ihrer Hüfte klackern leise. "Nur, wenn wir in Baldur's Gate sind. Ich kann ihn nicht frei herumlaufen lassen - du weißt, wie die Großstädter sind," merkt sie an. "Leider hat dieses Tier den Atem eines Otyugh und die Flatulenzen eines Leichenblütlers. Drei Tage in einem geschlossenen Raum mit ihm und er rafft uns mit Toxikose dahin.

"Vielleicht solltest du das Futter wechseln. Weniger rohe Eier, mehr Gemüse." 

"Hm. A propos Eier," erwidert Jaheira mit einem missfälligen Blick auf ihre Klamotten, "ich rieche nach Sieg. Und nach fermentierten Eiern. Eins davon sollte ich schleunigst ändern." 

Tav stimmt zu. Beide husten ein letztes Mal kräftig die Lungen frei und, nachdem sie sich zum Abendessen verabreden, sublimieren Jaheira und Tav sich Richtung Schlafgemach. Heute war ein guter Tag.

 

Als Tav pfeifend ihr Zimmer betritt und die Tür hinter sich zufallen lässt, fallen ihr mehrere Dinge auf: Das Bett ist gemacht. Das ist neu. Außerdem hat jemand ihre herumliegende Kleidung gewaschen und sorgsam auf dem Schminktisch gefaltet. Selbst die Unterwäsche sieht gebügelt aus.

Und dann ist da die Lieferung auf dem Rundtisch in der Ecke am Fenster.

Sie kommt langsam näher, um den Dreck an ihrer Kleidung nicht zu sehr zu streuen. Neben dem glimmenden Wollzopf, der immer noch darauf wartet verarbeitet zu werden (ah ja, das wird mit Sicherheit ihr neuester Grund für schlaflose Nächte), liegen jetzt Wachsmalstifte und ein großer Malblock. Und ein Notizzettel, der in wild geschwungener Schrift sagt:

"Für deine Skizzen. Auf dass es dich beim Knüpfen unterstützen möge. - Hopeydope"

Tav spürt das raue Papier unter den Fingern. Als sie das Geschenk zusammen mit der Wolle betrachtet, muss sie lächeln. Hope. Sie weiß bescheid. Sie war nicht involviert, aber irgendwie hat die Zwergin von Tavs kleiner Heilmission Wind bekommen. Zaubert ihr Zimmer zurück in Ordnung und schenkt ihr ein Zeichenset. Sie ist wahrlich der gute Geist des Hauses, stets emsig und klaglos. 

"Fehlen nur Nadeln und Stramin," stellt sie fest und ihr Blick gleitet wie magisch angezogen zu dem pulsierenden Licht. "Vielleicht kennt sie jemanden." Oder, überlegt sie halb hypnotisiert von dem Flackern, vielleicht lässt Raphael Tav für einen kurzen Besuch nach Helm's Hold. Sie könnte ihr Knüpfwerkzeug holen und dabei nach dem Rechten sehen -

Wie ein Zug an ihren Gedärmen ist das Gefühl wieder da - eine flaue Welle, die die Speiseröhre hinauf und gegen ihre Kehle brandet. Tav fängt sich mit der flachen Hand auf dem Tisch und würgt. Bei den Göttern, es ist ein Glück, dass nichts herauskommt - sie hätte damit den Zeichenblock ruiniert. Schnaufend schluckt sie das plötzliche Übermaß an Speichel hinunter und zwingt sich, den Zettel noch einmal zu lesen, die Buchstaben zu erkennen, als gäbe es ihr Halt. Doch immerzu flittert es am Rande ihres Sichtfelds, das Licht, und es reizt die Übelkeit wie eine Feder am Gaumen. Schnaufend stößt sie sich vom Tisch ab und ballt im Umdrehen die Faust, unfähig, sich dem Tisch nur eine Sekunde länger zuzuwenden. Ihr Blick irrt durchs Zimmer, nach einem Anker, nach Erleichterung, verfängt sich im Angesicht des gefalteten Kleiderstapels und - sie will sich wieder übergeben. 

"Was stimmt nicht mit dir?"

Der Schock in ihrer Stimme lässt sie aufhorchen. 

Es ist alles verkehrt. Alles falsch: sie. Hopes Geschenk. Dieses Gefängnis.

'Jaheira hatte recht; ich werde schneller Teil dieser total verqueren Gemeinschaft als ich dachte.' Der Gedanke lässt sie unwillkürlich den Kopf schütteln. 'Alle suchen hier nach einem einfachen Ausweg. Raphael mit seiner Kontrollsucht, Hope mit ihrem Masochismus, und ich -' mit ihrem vertrackten Opportunismus. Jemand, der die willige Geisel spielt. Oder spielt, dass er sie spielt.

Plötzlich schreckt sie auf. Jemand klopft an die Zimmertür, und der wachsenden Lautstärke nach zu beurteilen, hat dieser Jemand es höchst dringend. In fünf großen Schritten ist Tav an der Tür und reißt sie auf. Es ist Gunja und er sieht nicht nur immer noch verdreckt, sondern auch alarmierter als sonst aus.

"Tav," sagt er grußlos unter Keuchen, "du solltest mitkommen. Es gibt Ärger."

"Was ist passiert?" fragt sie noch, aber zieht die Tür schon hinter sich zu.

"Es gab einen Vorfall," sagt er, "schnell. Die Situation könnte jeden Moment eskalieren."

Mit ihrem Dolch an der Seite sprintet sie dem Elfen hinterher. Ihr Kampfesgeist wach genug. Bereit für die nächste Bataille. 

 

Tav betritt zum zweiten Mal an diesem Tag unbekanntes Terrain, doch jetzt ist es nicht die Wildnis von Avernus, sondern das Quartier des Trios, ein Apartment mit mehreren Fluren und Türen, geräumig und erfrischend einfach eingerichtet. Keine filigranen Teezimmermöbel, keine gobelinbehangenen Wände, sondern schmucklose Räume mit einfachem Mobiliar und ein Gewirr aus dunklen Teppichen, die sichtlich das Parkett darunter schützen soll. Noch ehe Tav das Drei-Bett-Zimmer betritt, hört sie die aufgebrachten Stimmen. Drinnen stehen Golon und Zress mit gezückten Waffen - und unmittelbar vor Zress' Pfeilspitze liegt ein blauer einhörniger Mann in den Armen einer Frau, die seine Mutter sein könnte, und versteckt sein Gesicht in den Händen. Beide linsen furchtsam zu den auf sie gezückten Waffen auf.

"Zress!" ruft Gunja und wirft sogleich die Arme hoch, als hielte er sich im letzten Augenblick davon ab, seine Kampfgefährtin versehentlich zu reizen. Doch die zuckt nicht einmal mit dem Mundwinkel und ignoriert, dass sie in das Zimmer reingerannt kommen. Das glühende Augenpaar der Drow nimmt den vor ihr kauernden Mann ins Visier. Fest und - gemessen an der tiefen Falte zwischen den geschwungenen Brauen - erzürnt.

"Was ist los?" ruft Tav schon mit einer Hand an ihrem Messer, ob in Verteidigung von Zress oder den beiden unbekannten Gesichtern - die Entscheidung muss sie noch fällen. "Wer sind diese Leute?"

"Tiefling-Langfinger," brummt Golon hinter einer Kampfgefährtin, und es ist beunruhigend, dass gerade diese nicht mehr auf Abstand zu ihren Zielen steht, sondern ihnen den Pfeil quasi direkt an die Nase hält. "Auf frischer Tat ertappt."

Die beiden "Langfinger" protestieren auf, doch das warnende Nicken des Pfeils reduziert das Geheul schnell auf ein leises Wimmern. Bis auf alte Lumpen tragen sie nichts am Leib. Der Mann blutet aus der Nase. Golon beäugt ihn mit einem kurzen Blick des Missfallens.

"Wir bemerkten bereits draußen auf dem Gang, dass Möbel und Gegenstände verrückt worden waren, und schlichen deshalb den Rest der Strecke zum Quartier. Haben den Geck dabei erwischt, wie er Zress' Schutzhandschuh einstecken wollte - und die Vettel stand Schmiere wie ein blindes Huhn."

Das metallene Objekt der Begierde liegt etwas weiter entfernt auf dem Boden, zwei rote Tropfen daneben. So viel zum Mysterium der versehrten Nase. Was nicht erklärt, wie die Tieflinge hier überhaupt reingekommen sind.

"Wir sind keine Diebe!" ruft die Tiefling-Frau nun dazwischen und für einen Moment bringt sie wohl den Mut auf, die frisch erzitternde Waffe vor sich zu ignorieren. Es braucht nur ein Loslassen der gespannten Sehne - und einer von den beiden ist azurblaues Spahnferkel nach Zress-Art. "W-wir putzen hier nur. Mein Neffe bewunderte den Handschuh lediglich. A-aber er wollte ihn niemals stehlen. Wirklich nicht!"

"Lügenmaul," zischt die Drow. 

Wenn nicht das, so zumindest doch höchst verdächtig.

"In der Tat, seltsam," merkt Tav an, "Hope unterhält keine sterblichen Diener. Schon gar keine armen Putzkolonnen."

"I-ich - Wir ..." Die hellen, eisgrauen Augen der Frau irren kurz zum Eingang, neben dem ein bislang von allen ignoriertes Wägelchen mit Eimer und Wischmop steht. "Der Herr des Hauses hat uns - er hat uns -"

Doch die Tieflingfrau gerät nur ins Stottern.

Sie sind also Raphaels Spitzel. Na großartig.  

"Nein, nein, nein, nicht der Herr," sagt Tav nun deutlicher, "die Herrin. Sie hat keine Bediensteten. Und sie würde die Schuldner des Teufels niemals in ihrem Haus dulden. Was auch euer Auftrag gewesen ist - ihr rückt besser schnell mit der Sprache heraus -" Tav sieht geflissentlich zu der Bogenschützin, "sonst wird hier jemand gleich ungemütlich." 

Verflixt, die beiden müssen auch in Tavs Zimmer gewesen sein - das gemachte Bett, das saubere Zimmer ein Alibi. Hope wird den Teufel hochkant rauswerfen, wenn sie davon erfährt.

'Und was passiert dann mit mir?'

Immerhin, die beiden Ertappten scheinen sich gefangen zu haben und es scheint, als wolle die Alte etwas sagen.

"Wir kommen -" 

"Diebisches Lumpenpack, diese Flüchtlinge," zischt Zress auf einmal nicht mehr so maulfaul wie sonst. Jetzt spannt sie die Schultern sogar vollends auf - und da kriegt Tav ein mulmiges Gefühl im Bauch. Sie wird doch nicht etwa schießen? "Ich habe genug gehört. Beenden wir die Scharade."

"Hui! Ruhig, mein Brauner."

Tav macht einen raschen Schritt auf sie zu, ihre Stimme über das panische Aufjapsen der Tieflinge tönend.

"Was heißt hier Flüchtlinge? Wer sind sie? Wie sind sie - Zress, tu das Ding doch mal weg, die zwei sind offensichtlich unbewaffnet und umzingelt. Ihre Nerven brauchen nicht noch eine potenzielle Mordwaffe im Gesicht."

Die Rangerin hört nicht.

"Von wegen 'unbewaffnet'," knurrt Golon und umfasst den Knauf seines Großschwertes fester mit seinen Fleischerhänden, "das Einhorn hat versucht uns zu verhexen. Hat mir fast einen Blitzschlag verpasst!" 

"Er hat sich doch nur erschreckt!" ruft die ältere Frau und Tav wird bei dem Anblick ihres schrecklich vernarbten Gesichts ganz mulmig.

Der Tiefling schüttelt ihre Arme von sich und richtet sich auf. "Tante, ich nehm alles zurück," sagt er wütend und durch eine hörbar geschwollene Nase, "der Handschuh wäre noch nicht einmal einen Diebstahl wert, wenn er von einem Prinzen stammte anstatt von einer Drecksdrow."

Oh je.

"Das Lustige an einer dicken Lippe ist -" Bogenhand sinkt, Rückzugsarm steigt - Pfeilspitze auf dem jungen Mann, "dass sie weiter anschwillt, wenn ein Pfeil drin steckt."

Für einen Moment steht die Zeit still und Tavs Blick gleitet zu dem sinistren Lächeln, das sich jetzt in Zress' Mundwinkeln breitmacht. Jemand hat eine Entscheidung getroffen. "Ich demonstriere."

Tav springt, wirft sich gegen Zress, und der Pfeil flitzt zur Decke hoch. Nur einen Augenblick später hat Golon - Götter, segnet seine Besonnenheit! - die aufgebrachte Dunkelelfe am Kragen zurückgerissen und Gunja den aufspringenden Tiefling an der Flucht gehindert. Der Bogen fällt klackernd zu Boden - ähnlich wie Tav, die jetzt den Nachhall von Zress' zielgerichtetem Kick spürt.

"Argh, vertrr- Schei...! Haltet eure schießwütige Kollegin unter Kontrolle, Jungs," stöhnt sie und kommt langsam wieder auf die Beine, "sonst reist sie ohne Rückfahrtticket zurück nach Faerûn."

Sie reibt sich hörbar fluchend das schmerzende Schienbein.

"Vor allem hätte ich gern ne verdammte ANTWORT auf meine Frage - und zwar heute noch, wenns recht ist."

"Das sind geflohene Arbeiter," sagt nach kurzem Schweigen nun Gunja, da Golon mit der zappelnden und knurrenden Zress beschäftigt ist. "Sind vor ein paar Tagen aufgetaucht, eine Hand voll von ihnen, angeblich aus der vierten Höllenebene."

Phlegethos. Tav blinzelt durch die Schmerzen, das überwältigte Räderwerk in ihrem Kopf sich endlich in Bewegung setzend.  

"Schleichen hier seitdem auf den Zehen herum wie der Mord in der Nacht."

"Nicht leise genug," murrt die Bogenschützin immer noch in Golons Klammer.

Tav kann die weißen, rasenden Funken in des Tieflings Augen sprühen sehen - definitiv kein gutes Omen.

"Die Zwergin duldet sie, aber sie sind nicht auf ihr Geheiß hier," fügt der Elf hinzu und wagt es nun einen Schritt von dem bebenden Mann wegzutreten, "wir kennen nicht ihre Mission, aber wir vermuten den Kambion dahinter."

"Wir putzen nur!"

"Wir handwerken nur!" rufen die Tieflinge nun unisono.

"Dreckige Höllenbrut, ihr stehlt - das ist euer Werk," knurrt Zress. Doch sie hat immer noch dieses Grinsen auf den Lippen. Sie weiß genau, dass ihre Worte verletzen. "Warum sich das Geschwätz noch länger anhören?"

Sie zielt mit dem Finger auf die alte Tieflingfrau und kneift ein Auge zu.

"Wenn ich mir doch eine Trophäe schießen und die Sache sofort erledigen könnte."

Eine Sekunde später springt der junge Mann zum Putzwägelchen und greift mit weiß knisternden Fingern nach dem Eimer. Eine weitere Sekunde oder zwei darauf hat er ausgeholt, die Tieflingfrau brüllt, Gunja zieht seinen Säbel, und Tav sieht, wie in Zeitlupe, dieses schwere, hölzerne Objekt mit einem zu starken Linksdrall auf sie zufliegen.

Was sich daraufhin entspinnt, lässt sich schwer erzählen, ohne mit folgender Anmerkung zu schlussfolgern: Dies war kein guter Tag. Kein guter Tag, aber mit wenigstens einer guten Nachricht, denn es wird niemand ernsthaft verletzt. Was ein Wunder ist, bedenkt man die Blitzladung, die plötzlich durch den Raum springt wie ein hakenschlagender Hase, und der allen Nicht-Tieflingen einen gehörigen Schock versetzt. Ein Haupt steht in Flammen. Auch eine Erkenntnis: Zress brennt der Schleier weg und Tav sieht zum ersten Mal die Haare der (wütenden) Drow, eine silberne Mähne im Dutt, oh welch Überraschung, nur jetzt ist nicht mehr viel übrig davon. Ein Glück, dass die magischen Wachen Alarm schlagen und Hope binnen kürzester Minuten herbeigeflitzt kommt. Erst mit ihrem Heilzauber vermögen sich die Gemüter zu beruhigen.

Die Tieflinge haben anscheinend die Wahrheit gesprochen. Und lernen mit Erstaunen, dass nicht Fürst Raphael der Herr des Hauses ist, sondern die aufgebracht brabbelnde Zwergin. Dieser kleinen Frau gehört dieser riesige Palast? Und der Teufel ist ihr Gast? Der Respekt in ihren Augen wächst überproportional zu den geweiteten Augen selbst.

Dann lotst Hope die beiden erregten Arbeiter mit hinfort (für was auch immer - Tav ist zu aufgewühlt, um weitere Fragen zu stellen), und Zress verzieht sich mit ihrem Groll auf Flüchtlinge, Tieflinge, oder weiß der Henker auf wen, in ihre Zimmerecke, um die angesenkte Frisur zu befühlen. Was bleibt, ist ein schlechter Beigeschmack.

 

Tav lässt die Tür zu ihrem Zimmer zufallen. Auf dem Boden sieht sie noch die staubigen Fußspuren von vor nicht einmal einer Stunde. Wie schön, dass sie so bald etwas Neues hinzuzufügen hat, ein wenig Schlamm und - wer auch immer Lust hätte, sie zu berühren - einen Hauch elektrischer Ladung. Stöhnend schält sie sich aus ihrem feuchten Mantel und wirft ihren Dolch auf den Kosmetiktisch, den frisch gewischten. Geputzt von den Tiefling-Flüchtlingen. 

"Diebisches Lumpenpack?" grummelt sie der Worte der Rangerin gedenkend. Die Arroganz der Drow ist nichts Außergewöhnliches. An der Schwertküste gibt es viele - diplomatisch ausgedrückt - Vorbehalte gegenüber Tieflingen und denen, die auf der Flucht sind, nicht nur von Seiten der Dunkelelfen. Ein Lebenspech für jene, die beides sind.

Sie ist bereit, um zuerst in ein Bad und dann tot ins Bett zu fallen. Klappe zu, Goblin tot.

Im Vorbeischlottern erhascht Tav einen Blick auf ihr Spiegelbild. Zu dem giftigen Staub im Gesicht hat sich nun auch Putzwasser dazugesellt, all die dreckigen Schlieren umrahmt von einem abstehenden, angekokelt riechenden Haaransatz. Sie sieht aus wie eine Verrückte.

Eine Bewegung am Rande ihres Sichtfeldes - der Knoten sitzt auf dem Tisch und pulsiert. Singt. 

Wiederholt fragt sie sich, wieso Raphael Geflüchtete aus Phlegethos aufgenommen hat. Hatte er ihr nicht selbst gesagt, dass es keine Rettung für sie gab? Es könnten andere Tieflinge sein, als die, von denen die Abriymoch-Gesellschaft so hochnäsig gesprochen hatte, denn es ergibt keinen Sinn.

Sie braucht endlich ein Bad. Ein schönes, kühlendes Entspannungsbad.

Tav will einen Stuhl heranziehen, um ihren Stiefel aufzuschnüren, da durchfährt sie der mittlerweile zehnte elektrische Schock. Er kommt wie ein Schluckauf, der ihren ganzen Körper erfasst, als sie die Lehne berührt. Mit einem deprimierten Knurren reißt sie sich den Schuh vom Fuß und schleudert ihn fort. Dendar verdamm den Tiefling, wenn sie die nächste Stunde immer noch mit diesem Zustand herumläuft. Es ist, als kursiere ein endloser Strom aus Blitz in ihrer Haut, und je nachdem, was sie anfasst - ihr Haar, einen sakrischen Stuhl - ist es entweder ein komisches Britzeln im Gebein oder eine beißende Peitsche, die ihre Muskeln schmerzhaft kontraktieren lässt. 

Die Aussicht auf Selbstelektrifizierung beim Baden wirkt wie ein mächtiger Zauber der Fatigue - alle Kraft und Lust sickern aus ihren Gliedern und eine schrankenlose Müdigkeit umklammert sie. Kaputt entledigt sie sich ihren Kleiderschichten, bis nur noch Hemd und Weste bleiben, und fällt mit Hintern voran aufs Bett.

Sie stößt einen erschrockenen Kiekser aus - einen komischen Laut zwischen Schrei und Schluckauf, den sie vergeblich mit der Hand am Po und einem reflexiven Lippenkauen wiedereinzufangen versucht. Der direkte Hautkontakt mit der Überdecke sendet lauter stumpfe Nadelstiche von Po und Schenkel bis in ihre Gedärme. Doch das sonderbare Gefühl ist, dass der Weg dorthin geradewegs durch ihren Unterleib führt; Ein Stimulus, den sie nicht erwartet hat. Sie lehnt sich langsam weiter in die Matratze hinein. Ein nachhallender Reiz, der ihr Nervenbündel da unten - oh lala - kitzelt wie eine flitternde Zunge.

Äußerst interessant. Und fürchterlich kurzlebig.

Unwillkürlich greift Tav an ihren müden Nacken - und da ist es wieder. Selbst unter ihren eigenen Fingern kribbelt die Haut. Es ist nicht unbedingt das Nonplusultra der Sinnlichkeit, zugegeben, aber wenn das bedeutet, was sie vermutet, das es bedeutet ... Wimpernflatternd blickt Tav an sich hinab.

'Du bist ein versautes Mädchen,' denkt sie und seufzt frustriert.

Sie fühlt sich eklig, zerschlagen. Und gleichzeitig – als hätte da jemand eine magische Laterne angeschaltet – ist sie erregt bis zur Halskrause. Es ist die schlimmste Kombination überhapt, denn sie macht rastlos bis in die Haarspitzen. Und der verfluchte Blitzzauber bringt sie auf dumme Ideen. 

Sie kann sich doch in diesem Zustand unmöglich hinlegen und ihre sauberen Laken besudeln, nur ums hinter sich zu bringen. Nicht wahr?

Unruhig starrt Tav zurück auf die zugezogenen Vorhänge. Der rot-grüne Glimmer des Zauberknotens wirft verzerrte Lichtwürmchen an das schwere Brokat, anfangs kaum wahrnehmbar; doch je länger sie dasitzt, desto greller schlängeln sie, desto mehr fingern sie am ausgefransten Rand ihrer Peripherie. Der Zopf ist ein quängelndes Kleinkind, das sie nicht zu beruhigen vermag. Es ist unerträglich, aber sie kann nichts tun.

Zwei Atemzüge später landet ihre Weste auf dem Geflecht.

Sie holt tief Luft. Drückt die nackten Schenkel zusammen und genießt das Prickeln, das so unartig nah an ihren Weichteilen tanzt.

Nur ein wenig. Ein kleines "Necken", flüstert sie sich selbst zu und beißt sich auf die Lippe. Nur so lange die Wirkung anhält. Bestimmt ists gleich wieder vorbei. In die Badewanne kann sie in diesem Zustand jedenfalls nicht. Nee, das wär nicht klug.

Sie reibt sich an der rauen Tagesdecke. Ihr Körper – oder genauer: das, was zwischen ihren Beinen liegt – hat in den letzten Tagen eine gute Portion Aufmerksamkeit bekommen; trotzdem fühlt es sich an, als habe sie sich seit Jahren nicht mehr selbst berührt. Muss wohl an Raphaels süchtigmachenden magischen Fingern liegen. Oder an seiner Silberzunge. Tav spürt die Hitze in ihrem Gesicht aufwallen. Ist es nicht irgendwie ... pervers, dass sie die magische Waffe eines armen Flüchtlings derartig missbraucht?

Andererseits: Das bisschen Gekitzel da unten reicht nie und nimmer für echte Befriedigung. Dafür müsste sie schon richtig hinlangen -

'Raphael hätte es auch beinahe geschafft.' Mit nicht mehr als etwas Temperaturkontrolle und einem Daumen am Innenschenkel. 

Ihre Augen flattern zu. 

Ginge eine Westsonne rotglühend an ihrer Zimmerwand unter, könnte sie fast so tun, als wäre sie zurück in Sharess' Caress. Kaum berührt. Und dieses Mal ohne jede Furcht.

Hmja. 

Die Erinnerung gleitet zwischen ihre Gehirnwindungen und schwillt unverhohlen an, zu mächtig, um ignoriert zu werden. Schon fährt eine ungehorsame Hand über ihr Brustbein, langsam nur, und streichelt dort, wo die Haut dünn wie ein Seidentuch ist, das Ende jeden Nervs, der so nah an der Oberfläche pocht. Winzige Schocks, die sie überall spürt.

"Ah."

Kehle trocken, Hals schweißnass. Sie schluckt schwer.

'Ich kann noch fühlen. Ich kann noch brennen – ohne jede Schuld.' Ja, trotz allem: Sie ist noch eine Frau und Herrin über ihren eigenen Körper. Ihre Lust ist kein Selbstbetrug, wie der Kambion selbst so erregt geflüstert hat. Keinesfalls, sie schabt nur die alte Kruste ab. Neue Haut. Auslöschung.

Und ein paar Stromstöße, die das Ganze anheizen, natürlich.

Tav atmet zitternd aus. Der Gedanke an seine Stimme sickert in ihre Haut, tastet sich an jedem Nerv entlang, den sie so verzweifelt befriedigen will. Grummelnd schiebt sie mit ihren Schenkel das Hemd zur Seite und zielt nach der Libido zwischen ihren Schenkeln.

Schnell jetzt. Nur ein Finger. Genau dort. Drücken, reiben. Dann Rast.

'Du bist ein böses Mädchen. Ein ganz böses Mädchen -"

Sie stöhnt.

'Halt die Klappe.'

Schon verfliegt der Ärger, ersetzt durch dieses köstliche Aufwallen unter den Fingerspitzen. Sie macht ihre eigene Magie mit kreisenden Fingern, trifft den geschwollenen Punkt, der auf Berührung gewartet hat wie ein standhafter Soldat auf den einzig gültigen Befehl.

Tav ist keine Anhängerin der lustvollen Selbstkasteiung - in solchen Momenten zählt Effizienz vor Edging. Sie ruft ihre zuverlässig funktionierende Galerie erotischer Szenarien auf, um dieses spontane Zwischenspiel zügig und glorreich zum Abschluss zu bringen. Rasch springt sie von Szene zu Szene. Von vielen Händen zu vielen Mündern. Von atemloser Leidenschaft zu zweifelhaftem Konsens. Zu gefletschten Fängen. Sachten Küssen. Von Herren und Herrinnen obskurer Physik, und von Dienern von noch weit mehr obskurer Intention.

Am Ende bleibt sie an dem hängen, was das Feuer am stärksten schürt, weil so wahr, so nah und keine Fantasie mehr ist: Augen, umbra-tief, wie staubbedeckter Bernstein. Ein Blick, der sie entkleidet. Eine Zunge, die hungrig über Lippen leckt. Krallenbewehrte Hände, die zucken, aber ihres Befehls harren. Noch.

Ein unbeholfener Liebhaber. Ungeschliffen, gierig. Aber immer bereit für sie. Immer. Allein aus Gründen des Stolzes.

"Sag, dass du mich willst."

Wuff.

Jedes Menschenkind kennt die oberste Lehre des berühmtesten Märchens: Lass nicht den großen bösen Wolf ins Haus (was deckungsgleich ist mit "den fiesen kleinen Goblin", "die heimtückische Hexe" und, wie kann es anders sein, "den Teufel" - ganz recht, der Teufel braucht keine Adjektive, er ist schon ein Warnschild für sich). Doch bei den sieben Nornen und Zwanzig Theoretikern, Raphaels heftiges Begehren ist wie Feuerholz fürs Ego; Allein die Tatsache, dass er sie jedes Mal gewähren und gehen ließ, während ein Mann mit weniger Ehre ihre physische Unterlegenheit ausgenutzt hätte, macht nachdenklich.

Sie könnte ihn zähmen. Sie könnte ihn brechen. Bei den Göttern, sie würde ihn lehren ein gebender Bettgespiele zu werden.

Allein die Vorstellung ... Ein perfekter Test, um zu ergründen, wie erdbebenfest seine Obsession ihr gegenüber wirklich ist; Raphael - Tavs persönlicher Liebesknecht, stets bereit für endlose, gliederschmelzende Orgasmen.

Klingt nach ner Menge Arbeit.

Tav kichert.

"Was ist so lustig?"

Sie hat das Hemd in Weltrekordgeschwindigkeit über ihre Schenkel gezogen.

"Oh, lass dich von mir nicht stören." Raphael steht am Tisch und studiert den Zeichenblock. 

'Dann komm doch rüber, Mann, und setz dich zu mir hin -' Sie verzieht das Gesicht. 'Moment. Warum -?'

"Wie bist du hier rein gekommen?" ruft sie vom Bett aus. Und beißt sich ob der einfältigen Frage auf die Zunge. In Wirklichkeit will sie doch etwas anderes wissen. Und er weiß das, ohne sie ansehen zu müssen. Raphael bläht sichtlich die Nüstern - und seine folgenden Worte sind genauso überflüssig.

"Ich kann dich riechen."

Echt jetzt? Er weiß immer, wann sie -? Ist das ... normal? Tav lässt die nassen Finger in einer (hoffentlich) unauffälligen Bewegung durch die Tagesdecke gleiten. Ein kurzes geschlossenes Grinsen von ihm, und sie steht auf den Füßen. Barfüßig, hosenlos und mit glühenden Wangen, stapft sie auf ihn zu. Herz und Scham - beide galoppieren in der Kehle. 

"Und? Ist das ein Freibrief für dich jederzeit in meine Privatgemächer einzudringen?"

Sie kommt auf guter Distanz zum Stehen. Es reicht, dass er ihre Erregung erschnüffelt hat - er muss nicht auch noch ihre weniger attraktiven Aromen inhalieren.

"Willst du etwa, dass ich anklopfe?"

Ihr entfährt ein ungläubiges Schnaufen. Seine Frage klingt derart rhetorisch, dass sie ihm am liebsten ins Gesicht springen will. Wirklich, sie ist kurz davor.

"Raus."

Sein Blick schweift durch den Raum, als wäre sie überhaupt nicht da.

"Dein Sinn für Reinlichkeit hat sich verbessert, wie ich sehe," merkt er an. Und bleibt dann an ihr hängen, besser gesagt, an Tavs Frisur. Begleitet von vergnügten Krähenfüßen. "Dein Modesinn ... weniger."

Kurz leuchtet etwas ehrlich Amüsiertes in seinem Lächeln auf. 

"Lenk nicht ab. Verschwinde lieber aus meinem Zimmer."

"Theoretisch gesehen ist es irgendein Zimmer in einem angemieteten Flügel einer fremden Festung, die von drei Chaoten bewacht wird - welche abwesend sind," stellt er richtig, "Es also 'dein Zimmer' zu nennen, ist eine sehr subjektive Darstellung der Realität."

"Und deshalb darfst du einfach jederzeit einbrechen, oder wie?"

"Ich verschaffe mir Zutritt. Ach, ihr Sterblichen," Raphael verdreht die Augen, und es ist alles in guter Laune getan, die Tav offensichtlich triezen soll, "immer darauf erpicht allerlei Grenzen zu ziehen, selbst dort, wo sie nichts verloren haben."

"Grund gütige Götter," blafft sie ihn an, "hat Privatsphäre denn überhaupt keine Bedeutung dort, wo du herkommst?"

"Sicherlich hat sie das. Man könnte sagen, dass ihre Bedeutung in mir einfach ein Gefühl von übermäßigem Desinteresse auslöst. Apropos übermäßig."

Er lässt den Malblock wie einen nassen Lappen auf den Tisch zurückfallen und dreht sich mit nun verschränkten Fingern zu ihr um. Sein Blick liegt schwer auf ihr. "Ich werde ignorieren, was du gerade so genüsslich im Bett getrieben hast," für einen kurzen Moment wandern seine Augen liderflatternd zur Zimmerdecke, "und dass du gerade ... keine Unterwäsche trägst, denn deswegen bin ich nicht hier."

In Tavs Limbus buht das Publikum. Auch etwas wesentlich Spürbareres meldet sich nun Einspruch erhebend zu Wort, und das lässt sich kaum ignorieren; Erregung und Müdigkeit kursieren immer noch in ihren Gliedern, und die Lösung für diese beiden unerwünschten Zustände steht unerwartet in ihrem Schlafzimmer, gepudert und gebürstet als wäre er auf dem Weg zu einer Audienz beim Großfürsten der Hölle. Auch sie kann ihn riechen, sein süßes Eau de Parfum. So frisch aufgetragen, dass es noch in der Nase sticht.

"Ich höre."

"Wie war euer Ausflug?" fragt er stattdessen mit der einstudierten Höflichkeit eines Staatsmannes, "Irgendwelche magischen Schätze ausgebuddelt? Hast du einen Drachen erschlagen?"

Achselzuckend verschränkt Tav die Arme und mustert ihn. Skeptisch.

Wehe, er überbringt ihr schlechte Neuigkeiten. Wehe, es ist etwas wegen Jaheira - dass er sie wegschickt. Sie ist zu erregt und unbefriedigt, um solch eine Schreckensmeldung zu verdauen.

"Einen Käfer. Was willst du?"

"Sapperlot! Nun, ich bin hier, um mit dir etwas von Wichtigkeit zu besprechen," beginnt er und es wirkt, als hätte ihre Antwort gar nicht gehört, denn er wechselt sofort das Thema - Netiquette abgehakt. "So trivial das auch erscheinen mag: Du hast etwas beschworen, das die Mauern unseres Heims erschüttert und die natürliche Ordnung durcheinandergebracht hat."

Sein düsterer Blick streift kurz die Weste. "Ich kann die Alarmsignale nicht ignorieren, selbst jenseits des Hauses nicht. Es drängt nach Erlösung."

"Da habe ich aber jetzt feuchte Augen, dass deine Ordnung durcheinandergewirbelt wurde," erwidert sie süßlich. "Was scherts mich?"

Sie sieht, wie er unwillkürlich den Kopf neigt und blinzelt, als zöge wirklich etwas Unangenehmes an seinen Gehirnwindungen. Mit einem Räuspern richtet er sich wieder gerade, nicht ohne jedoch wieder in Richtung Tisch zu linsen.

"Das ist kein Grund zur Schadenfreude. Du magst vielleicht nicht die Schreie in der gleichen Lautstärke vernehmen. Aber auch du wirst eine Form der Unruhe spüren. Etwas liegt im Argen. Leugne es nicht; die Druidin hat selbst gesagt, dass etwas an dich gebunden wurde."

Mit einem Augenrollen zieht Tav die Weste von dem Zopf runter. Ein ungeübtes Auge würde keine Veränderung an seiner Pose bemerken - Raphael hat seine Atmung und Mimik mühelos unter Kontrolle. Doch das gilt nicht für alle seine Körperteile (wie Tav mit einiger Häme weiß), und so tritt, als er das erratisch pulsierende Knäuel mustert, ein prominenter und äußerst gestresst aussehender Muskelstrang an seinem Hals hervor.

"Es bindet uns beide," erklärt sie, während sie sein starres, angeleuchtetes Antlitz genau observiert. "Und ich werde die Hölle tun, bis du mir verraten hast, warum du mit drin steckst."

Er schnauft. "Wenn ich das wüsste. Ich vermag - skandalöserweise! - nicht einmal zu sagen, ob es eine Gefahr darstellt." Raphael blinzelt unwillkürlich. "Es fühlt sich durchaus an wie eine Seele. Es scheint aber nicht der Drider zu sein."

"Glückwunsch, Rätsel geknackt," sagt sie langsam, sich darüber wundernd, wie der Teufel das erspüren kann. "Es ist ..."

Als sie nicht weiterspricht, dreht er den Kopf und ihre Blicke treffen sich. Stirnrunzelnd.

Weiß er es immer noch nicht?

'Hat er diese Information überhaupt verdient?' 

"Ja?" Raphael macht zwei eindringliche Schritte auf Tav zu. Und samt wehenden Gehrocks schwappt eine neue Duftnote zu ihr herüber, die unverkennbar die Seine ist, - kein Schwefel, keine Kirschen. Nein. Sie lässt sich nicht in Aromen beschreiben, sondern nur in Erinnerungen: an seine warme Haut, die ihre umfasst. Fleisch, unter dem Herz und Lungen arbeiten. Ein Körpergeruch, der keiner ist, zumindest nicht für die Menschennase, aber den sie auf einer primitiveren Ebene wahrnimmt. Willkommen heißt.

Tav schwankt unfreiwillig vor, einen Fuß nur, seine schlauen Augen auf ihr. Und sie weiß mit aller Bestimmtheit, dass er sie nicht nur riechen, sondern auch das Tosen ihrer Blutlaufbahn hören kann. Sie holt tief Luft und tritt wieder zurück, den Zopf wie einen Anker suchend.

"Was ist es?" fragt er wieder.

"Ah. Nichts, für das du deine Prinzentolle raufen musst."

"Mäuschen. Dein schnodderiges Benehmen erscheint mir unverdient, und, gelinde gesagt, unverständig."

"Es heißt, dass es dich nichts angeht."

"Haben wir nicht eben das Gegenteil festgestellt?"

Sie kann sich vermutlich glücklich schätzen, dass er sie nicht frei heraus rügt. In ihrem notgeilen Zustand wäre Raphaels sexy Tadelstimme nur schwer zu ertragen.

"Ich korrigiere mich," erwidert sie mit einem Tonfall, der über jeden Zweifel erhaben ist, "es ist nichts, was du lösen könntest." 

'Und ich finde schon auf andere Weise heraus, warum du die Finger mit im Spiel hast, Freundchen,' ergänzt sie. 'Wenn es überhaupt eine Rolle spielt. Vielleicht wars auch einfach nur eine Abwehrreaktion auf deinen Teufelscharakter.' Nun, das ist leider unwahrscheinlich.

"Diese haltlose Theorie lasse ich erst einmal unkommentiert und komme zur Sache."

Wird auch Zeit.

"Du wurdest mit einer Opfergabe betraut, wie ich verstehe. Und wenn ich mir die Tatwaffe so ansehe und bedenke, wer sie dir gab ..." Raphael macht eine Kinnbewegung in Richtung des Knotens, "ist es evident, nach welcher Art Blut es sie dürstet. Du sollst dieses verzauberte Objekt verarbeiten, sozusagen als Wiedergutmachung. Möglicherweise eine alte Wunde heilen. Richtig soweit?"

Sie presst die Lippen aufeinander, doch es scheint Antwort genug zu sein.

Er verschränkt die Hände vor sich. Dann der Hauch einer Verneigung. "Ich biete dir hiermit meine Unterstützung an, um dein Opfer durchzuführen. Unentgeltlich."

Sachen gibts.

"Angenommen, du brauchst dafür deine Ausrüstung - einen Webstuhl, Stoff, Stricknadeln. Was auch immer es ist: Du sollst es haben." 

Tavs Augen werden groß vor Hohn. "Wie großzügig."

"Großzügigkeit sagt man mir nach, in der Tat." Er nickt.

"Danke, aber kein Bedarf."

Glaubt er wirklich, sie wäre so naiv noch einmal irgendetwas von ihm anzunehmen? Nein, sie wird Hope fragen. Lieber geht sie in Abriymoch einkaufen. Nackig, wenns sein muss.

"Ich wiederhole," wiederholt der Großzügige, "du hast nichts zu verlieren, Tav. Du könntest dich sofort an die Arbeit machen und deinen Auftrag schneller erledigen."

"Und je mehr du drängst, desto fauler klingt der Deal."

"Es ist kein Deal, sondern eine freundliche Geste." 

Aber sie grient nur. Raphael atmet tief und hörbar ein und beäugt sie für einen langen Moment mit einem abwägenden Ausdruck. Welchen Zug wird er gleich machen? Hoffentlich etwas ähnlich Absurdes. Ihr ist nach etwas Lachen.

"Ich tue dir einen Gefallen," sagt er nur.

Da ist es. Tav gackert laut und schallend.

"Einen Gefallen!" echot sie. Unbelievable, die Cojones. So viele hehre Begriffe mit G - und keiner davon wahr - sie muss sich vor Lachen den Bauch halten.

Der Unhold, indes, wirkt weniger erfreut. Er hört ihrem Anfall der Lustigkeit einen Moment lang reglos zu, bevor er wesentlich kühler über ihr Gelächter hinwegspricht.

"Es ist faszinierend, dass du der einfachen Lösung, die ich dir anbiete, die Spöttelei vorziehst. Wäre es nicht besser, sie einfach anzunehmen?"

"Hah. Nähme ich es ernst, würde ich mich bloß über mich selbst ärgern," gluckst sie und reibt sich die schmerzenden Bauchmuskeln, "also lache ich lieber. Außerdem mache ich dir gern das Leben schwer. Du bist mir wieder viel zu selbstgefällig."

"Tav." Ihr Name aus seinem Mund - mehr eine gebrummte Warnung als ein Tadeln. 

Raphaels Laune sinkt. Sie sieht eine kleine Ader an seiner Schläfe hervortreten, und in gewisser Weise holt es sie auf den avernischen Boden schwefeliger Tatsachen zurück.

"Unentgeltliche Hilfe, ja?" lacht sie noch, doch schon wieder bitter im Herzen, "Komm schon, Raphael. Wenn du jemandem hilfst, dann höchstens aus Versehen – wahrscheinlich aber, weil du irgendeine eine Gelegenheit witterst."

"In diesem Moment ist mir überhaupt nicht geholfen," erwidert er spitz, und es überrascht sie, wie gepresst seine Stimme klingt – als sei er der Leidtragende. Vielleicht ist der Fluch des Zauberknotens ja doch zu mehr gut als nur der Heilung. "Im Gegenteil - ich zerbreche mir den Kopf über dein seltsam irrationales Verhalten."

"Du meinst mit meiner wohlverdienten Vorsicht! Was habe ich davon, dass du mir Hilfe anbietest? Außer der Tatsache, dass ich sie ausschlage und dir beim Grimassenschneiden zusehen darf?" Was durchaus putzig ist - Raphaels Schmolllippe hat wunderbaren Unterhaltungswert. 

Sie hebt kess den Zeigefinger an die Nase, als er schon zur Antwort ihrer rhetorisch gemeinten Frage ansetzt. Wäre sie nur nicht innerlich am Brodeln vor Ärger. "Aha! Ich habs. Wie wäre es mit einem Deal? Du nimmst mein Nein als Anlass, um deinen Teil unseres Vertrags zu erfüllen. Und im Gegenzug denke ich über deinen Gefallen nach."

Es ist, als schnappe seine alte, schlaue Selbstgefälligkeit wieder ein wie ein Fallriegel und für einen Augenblick kann sie nicht sagen, wie er reagieren wird: Hohn, Schmeichelei,  "Mein fehlgeleiteter und stets aufgeregt zwitschernder Spatz," sagt er mit der ruhigen Überlegenheit eines Schuldirektors – und allein der neue Kosename bringt sie innerlich zum Kochen, "du solltest dieses Schachern mit dem Teufel sein lassen, solange dir eine echte Verhandlungsbasis abhanden ist. Und sie ist es - falls du sie vorhin in deiner Hose gesucht hast," Ein kaltes, dünnes Lächeln - und der Blick so scharf, er könnte die Luft durchstechen und dahinter das schwarze Universum zum Vorschein kommen lassen. "Also wirklich. Dieser kindische Wunsch ständig mit mir feilschen zu wollen – das wird selbst für eine Teppichhändlerin deiner Preisklasse langsam peinlich."

Tav presst unwillkürlich die Lippen zusammen. Das ist selbst für den Teufel ... ein Schlag unter die Gürtellinie.

"Ich weiß ganz genau, dass du mit diesem Artefakt etwas erschaffen sollst," fährt er fort, Tavs tödlicher werdenden Blick demonstrativ ignorierend. "Was du nicht tun solltest, ist auf Zeit zu spielen. Je länger du harrst, desto härter wird dich seine Magie bestrafen; Vertraue dahingehend dem Rat eines magieerfahrenen Baatezu, meine Liebe."

"Erstens: Leck mich," das ordinäre "du Kretin" denkt sie sich nur, "und zweitens: Mir gehts blendend. Keine Ahnung, was du da zusammenfantasierst."

"Lügnerin."

Er rümpft die Nase, zweifellos über ihr derbes Mundwerk.

"Aber von mir aus, fall diesem offensichtlichen Lehrstreich vor die Füße - sekkiere mich mit deinem Zögern. Doch merk dir eins: Früher oder später wirst du mein großzügiges Angebot zu schätzen wissen, und dann, liebe Tav, wird deine neue Demut wir teures Ambrosia sein."

"Red dir das ruhig weiter ein, vielleicht glaubst du's ja irgendwann," sagt sie mit einem Wink in Richtung Tür und einer hochgezogenen "Jetzt verpiss dich gnädigst"-Augenbraue.

Und damit wendet sie ihm den Rücken zu, Arme verschränkt.

Plötzlich ist seine heiße Kralle an ihrer Taille, sein Atem an ihrem Skalp und Tav weiß mit hunderprozentiger Sicherheit, dass Raphael sich verwandelt hat. Kurz zuckt er auf - wohl unter einem kleinen Blitzschlag frei Haus, der sie kurz grinsen macht. Was ihn aber nicht daran hindert, mit dem Daumen über ihre Flanke zu streichen.

Gänsehaut. Schaudern. Ihre Augen flattern unweigerlich zu. Seine Stimme - samten.

"Tav, ich könnte -"

Plötzlich quietscht etwas am andern Ende des Zimmers und die Tür geht auf.

"Tagchen, Boss," ruft Mol, "Hab bei dir angeklopft, hat aber keiner aufgemacht. Stör ich?"

Tav bemerkt, dass Raphael und sie - schon wieder - ein viel zu intimes Bild abgeben und wendet sich rasch ab. Also wirklich, wenn Mol nicht längst den Braten gerochen hat, so spätestens jetzt. Vielleicht macht sie das aber auch mit voller Absicht - immer zur schlechtesten Zeit hereinplatzen.

Tav hört, wie der Teufel sich umdreht und verdrossen grummelnd von ihr wegmarschiert.

"Zweifellos."

"Jedenfalls, ist ziemlich dringend, Boss," ergänzt der Tiefling-Teenager.

Unter glühenden Ohren vernimmt sie noch, dass eine "Botschaft aus Mephistar reingeflattert" sei. Aber bevor das Mädchen noch mehr Geheimnisse preisgeben kann, schnippt Raphael unversehens mit dem Finger, und Mol ist weg. Mitten im Satz und einfach so. 

"Geschäfte, die nicht warten können," hebt er an. Und doch, er wartet auf ihre Antwort. Dass sie sich umdreht. Ihn ansieht.

"Denk über mein Angebot -"

"Nicht nötig," fällt sie ihm ins Wort. Nach einer langen Sekunde hört sie, wie die Hacke seines Schuhs ins Parkett knirscht.

"Dann verabschiede dich von Faerûn," hört sie ihn sagen, und in ihrem erwachenden Schrecken scheint es, als verstärke die Luft seine Stimme auf unnatürliche Weise, "Für eine lange, sehr lange Zeit."

"Interessiert mich nicht, Arschloch."

Ein Bluff, der sie schließlich doch in Bewegung setzt. Tav wirbelt herum, um ihn wütend aus dem Zimmer zu stieren, und sieht: Seine Hand ist bereits erhoben. In Raphaels Gesicht ein sturmverhangener Blick.

"Das kommt davon, wenn man auf den Rat anderer hört," sagt er so flach und kalt wie seine einstige Kampfansage im Haus von Hope.

Und dann, mit einer beißenden Stichflamme, ist er weg.

Notes:

Mols Timing, Leute ...

Chapter 27: 27 Damnatio memoriae

Summary:

"Ich bin der erste Engel, eine Liebe, die einst über allen anderen stand, eine vollkommene Liebe. Doch wie alle wahre Liebe verdorrte sie eines Tages am Weinstock." - Luzifer (God's Army, 1995)

Chapter Text

Es ist lang her seit seinem letzten Besuch in Malbolge - Hunderte von Jahren - und länger noch seit er über die sturmzerpflügten Plateaus von flog. Durch die Fetzen von Rauchschwaden brennender Überreste Malagards dringt das Panorama gigantischer Steinblöcke, schwarz und durcheinandergewürfelt, jeder Block größer als eine Stadt; flach, unbewohnt und desolat wie kaum ein anderer Ort in dieser Welt. Aber nein, wirklich unbewohnt - Malbolge möge ruiniert und einsam wirken, doch es ist voller Gekreuche und Gefleuche. Mann muss nur genau hinschauen; versehentlich in ein Loch fallen, in eine Schlammpfütze treten oder in die Schwärze der vielen Schluchten starren - es starrt immer etwas zurück. Dahingegen der Himmel - bevölkert von Schredderschwingen. Gelegentlich fliegt ein Erinyes über sie hinweg, erkennbar in Eile und im Namen seiner Majestät Glasya unterwegs, der Erzfürstin von Malbolge.

So achtet niemand auf die beiden Gestalten auf dem Plateau.

Raphael senkt wieder den Blick zu der felsigen Ebene vor sich. An einem verbrannten Dornenbaum, der wie eine Tentakel in die Luft ragt aber den Kopf traurig hängen lässt, hockt sein Bildnis. Es ist ein finsteres Simulacrum: das lange Haar schwarz und sein Leder schwarz, schwarze Stiefel und Armschienen und jeder Zentimeter des Leders bestückt mit kleinen Edelsteinen - auch diese in dieser Landschaft seltsam farbentsättigt. Der Rauch lichtet sich kurz und Raphel erkennt jetzt edelsteinbesetzte Piercings in seinen Brustwarzen. Von allen Gliedern und selbst den Schwingen hängen Eisenketten - eingestochen in seine Haut. Eigentum vom Herrn von Cania. Der Anblick so abstoßend, dass Raphael sich nur noch fester in seinen dunklen Umhang wickeln will; doch er unterdrückt dieses Zeugnis der Schwäche und schürzt stattdessen die Lippen. Nicht nur jeder kettenbehangene Zentimeter ist eine Botschaft an ihn, auch das Wesen des Boten; Ausgerechnet den Lustdämon hat der Erzteufel entsandt - eine Kreatur, der stets disziplinlose Unzucht innewohnt, selbst wenn sie, jetzt etwa, sklavisch kauert. Mephistopheles mag wenig subtil sein, doch er kennt die Reizpunkte seines Sprosses.

Leise klirren die Ketten, die Schwanzspitze zuckt. 

"Dieser Ort scheint mir etwas launisch für ein Treffen," ruft Raphael gegen den Wind, nicht gewillt, näher als auf zwei Schwanzlängen zu treten. Inkubi mögen Teufeln körperlich und magisch unterlegen sein, doch ihre Reflexe sind unberechenbar, insbesondere gegenüber persönlichen Hassfiguren.

Und Haarlep hasst ihn. Oh ja, er trägt das Ressentiment wie ein Ausrufezeichen auf der Stirn.

"Wir hätten all das auch bei angenehmeren Temperaturen in Avernus abhalten können," stachelt er seinen ehemaligen Sklaven an, "dort, wo ich wieder residiere. Aber mein alter Herr weiß das längst, nicht wahr?"

Was ihn hingegen überrascht, ist, gerade jetzt von Mephistopheles zu hören. In den letzten Wochen hatte der alte Narr ihn in Ruhe gelassen oder sich zumindest nicht umgehend um sein Auffinden bemüht. Raphael liebäugelte sogar mit der Theorie, dass er längst weiß, wo sein Spross sich versteckt, und ihn bereits beobachten lässt. 

"Du bist ein schlaues Füchschen, Kronloser," erwidert der Inkubus süßlich. "Doch dass es mich nicht zurück in die Jauchegrube von Avernus zieht, kannst du dir sicherlich vorstellen. Ich bat meinen Dominus um eine Alternative. Seine Hoheit Vollendeter Flamme sagte höchstgroßzügigster Weise zu. Willkommen in Malbolge."

Er trägt das zufriedene Grinsen eines dressierten Dieners. Wie ein Hund sieht er aus. Der Anblick ist kaum zu ertragen.

"Großzügig - Mephistopheles? Ich sehe nur Haut um Haut - und alles, was der Sklave hat, gibt er für sein nacktes Leben."

Haarlep lacht wie der garstige Feind, der er ist, und lässt die Ketten klirren. "A propos nackt, wie gefällt dir mein Outfit? Er meinte, es würde dich glücklich machen."

"Nun, es macht etwas mit mir."

"Ich habe eine Botschaft für dich, Halbbrut, und würde sie gerne endlich loswerden," sagt der Inkubus plötzlich abrupt.

"Dann spucks aus, Unseliger."

Beide mustern sich mit ebenbürtiger Feindseligkeit.

"Das werde ich schon," säuselt der Dämon mit einem Anflug von Gift in der Stimme, "aber, oh, willst du mich nicht bei meinem Namen nennen? Ach bitte, Raphael, der alten Zeiten wegen."

Der Schwanz peitscht hin und her, die Klauen schaben den Fels. Er sieht aus wie eine Raubkatze bereit zum Absprung. 

"Komm lieber zur Sache," flötet der Kambion zurück, aber selbst nun bereit zum Kampfe. 

"Och, nur einmal," maunzt der Lustgeist und schmiegt die Wange an seiner Schulter, als sei er eine Katze. "Sprich meinen Namen. Ich will sogar deine liebsten Sprüche mimen: "Für immer die Krone.""

Raphael grummelt. Er hatte schon vergessen, was für ein Stichler der Inkubus sein kann. "Ich rate zur Eile an, Wicht."

Doch der hört nicht.

"Oder diesen: Ich bin der Architekt des Geschicks und Bote der Hoffnung. Doch weh und ach! Wer stellt sich da zwischen mich und die ultimative Macht? WER? Ist es wieder dieses Weib? "

"Haarlep!" knurrt sein Ex-Meister.

Der Dämon wirft den Kopf zurück und lacht schallend.

"Du lässt dich immer noch so herrlich reizen. Ich gebe zu, ich habe unsere Gespräche ein wenig vermisst," ruft er, "Und schön, dass du ihn noch weißt - 'Haarlep'! Selbst der Tonfall ist authentisch, heh. Aber mein Name ists nicht mehr länger. Bald schon bin ich deine Figur los - sobald mein Dominus mich von diesem Zauber befreit hat."

Er kichert aufgeregt. Raphael hat seinen alten Diener selten so aufgekratzt erlebt. "Wenn ich Malbolge verlasse, dann in meiner eigenen Gestalt und unter meinem eigenen Namen. Das hat er mir versprochen."

Der Teufel runzelt nur die Stirn.

"Ja, echt, hat er! Danach ist mein Dienst an dir getan, Halbbrut." Haarlep erhebt sich langsam und beginnt um sich selbst zu tanzen, sodass alles Eiserne an ihn klimpert und klingelt.
"Höre meine Worte, Schandkind, ich träller dir nämlich ein Liedchen von deinem ehrenwerten Vormund, und danach dürfen wir beide glücklich - beziehungsweise unglücklich - die Flatter machen." Seine schwarz bemalten Klauen greifen in den Himmel, während er die Hüfte kreisen lässt.

"Mephistopheles, mein wahrer Meister von Beginn an - Durchlauchtester, wird dich nicht mehr jagen. Du darfst dich von nun an sicher fühlen."

Raphael muss mehrfach blinzeln, ehe die Worte in seinem Gehirn ankommen.

"Warum?" rutscht es ihm heraus, die Überraschung unverhohlen.

"Er ist beschäftigt."

"Du beleidigst meine Intelligenz, Komiker," sagt er tonlos aber bereits mit einem Hauch von Irritation.

Ein verächtlicher Schlenker mit der Hüfte. Die Ketten rasseln wie Gelächter. Und nur noch mehr Lügen. "Ganz und gar nicht. Ich habe ihn auf Knien angefleht. Gebettelt hab ich, dass er dich endlich -"

Haarlep macht eine Geste mit einem Finger quer am Hals vorbei. Und doch wird seine Stimme honigsüß.

"Ich sagte: 'Herr - köpf die kleine Pissnelke, die mich Jahrhunderte lang ans Bett gefesselt hat und sich beim Vögeln anhört wie eine sterbende Möwe.' Stattdessen hat er mich weggeschickt, damit ich dich von dieser eurer Ranküne erlöse. Hah! Ein Glück hast du - der Fürst von Cania, Oberster und Mächtigster aller Erzteufel nach Asmodeus, lässt dich am Leben, hörst du? Solange du die Regeln der Neun Höllen achtest, soll dich sein Zorn nicht treffen."

Ein kurzer Blick über die Schulter, als er sich gerade wieder dreht wie eine Spielfigur, die geschwungenen Augenbrauen warnend aufflammend: "Cania aber ist für dich fortan verschlossen. Betrittst du es je wieder, wirst du nicht einmal die Chance haben, um Gnade zu winseln."

Raphael spürt den prüfenden Blick seines alten Dieners und verschränkt mit einem Räuspern die Hände hinterm Rücken. Aber in seinem Kopf überschlagen sich die Stimmen. Vom cleveren Schachzug bis hin zur passiven Geste der Beschwichtigung durchsiebt er in Windeseile Theorie für Theorie, um das Rückzugsmanöver zu erklären. Möglich sogar, dass Mephistopheles begriffen hat, wer hinter den Anschlägen steckt und sie gar gut heißt.
Alles so weit möglich, doch solange das Geschöpf so ennervierend vor ihm herumtänzelt, vermag er sich auf keine seiner Hypothesen zu fokussieren. Er schenkt dem Inkubus ein Stirnrunzeln, das wohl genervt wirkt, denn er kassiert daraufhin ein gackerndes Lachen, das in alle Richtungen schallt, während Haarlep mit seinen Pirouetten endlich zum Ende kommt und stehen bleibt.

"Da steht er und brütet Fragezeichen für Fragezeichen aus," tönt er schadenfroh. 

"Aus Vorsicht, mehr nicht," widerspricht Raphael abwinkend, "dein Herr ist leicht zu erzürnen. Was gibt mir die Sicherheit, dass er sein Wort hält?"

Haarlep zuckt nur mit den Schultern: "Gar keine. Aber vertrau mir wenigstens in dieser Hinsicht, Bastardling – es ist nicht seine Vergebung, die dich schützt. Sondern seine Gleichgültigkeit. Und die währt in diesem Fall ewig."

Er steigt von seinem Felsen und macht zwei flügelschlagende Schritte auf den Teufel zu. "Und willst du wissen, woher ich diese Gewissheit nehme?" singt er weiter, "Weil er, als er mich entsandte, sein Neugeborenes im Arm hielt. Und in seinen Augen nicht einen Funken Jähzorn. Keinen einzigen. Nur Freude."

Er stämmt die Fäuste in die Seite und betrachtet seinen alten Folterknecht mitleidig. "Du warst eine Etappe, Raphael. Jetzt kommt das, was bleibt: Blut, das nicht lügt. Ah, trautes Familienglück."

"Das kann nicht -"

Raphael ballt die Hände. Und für einen Moment muss er unwillkürlich die Augen schließen. Muss sich widersetzen. Stärke beweisen. Geschick. Disziplin.

"Zähne hat die Nacht, und so auch ich," predigt er leise, "aus der Kälte lös ich mich. Gen dem Licht - gen dem Licht." 

"Urgh, verschone mich mit deinem lyrischen Kunstfurz. Sein Urteil ist getroffen," mahnt der Inkubus, und Raphael öffnet die Augen, um den Grund anzustarren.

So kalt, so schroff das schwarze Gestein. 

"Es gibt keinen Platz mehr für dich; weder auf dem Blatt noch im Blute. Schnallst dus nicht? Dein alter Herr hat dich aus dem Stammbaum radiert, Raphielein."

Er blickt in ein humorloses Grinsen. Der Herr des Höllenfeuers meint es wohl ernst. Der Alte kennt seinen Bastardsohn viel zu gut, um nicht zu ahnen, wie er reagieren wird.

"Du warst nie besonders schlau," würgt er hervor, was Haarleps Flügelschlags kurz unsicher innehalten lässt, "sonst hättest du begriffen, warum er ausgerechnet dich geschickt hat, Haarlep."

Der Dämon reißt erbost das Maul auf, wohl um ihn für den alten Namen zu tadeln, aber Raphael holt schon zum Wurf aus. Das Objekt, das er im Flug beschwört, verwandelt sich in einen Speer und trifft das Simulacrum mitten ins Herz. Ein fernes Stechen durchzuckt den Kambion; doch er tritt auf den Gefallenen zu und hat die Klinge unter seinem pfeifendem Keuchen schon wieder herausgezogen. Er erledigt ihn mit elf Stichen und schlägt ihm den Kopf ab. Als er der blasshäutigen Kreatur - genauer gesagt ihren Körperteilen - den Rücken kehrt, ignoriert er zunächst das Portal, das ihn zurück nach Avernus bringen wird und verlässt tief durchatmend den Boden. Er rast zu den Wolken auf, hoch, höher, immer weiter jenseits der Wolkengrenze, bis die Luft zu dünn zum Verweilen wird.
Und mit Erstaunen erkennt Raphael: Der Himmel ist leer. 

Chapter 28: 28 Makel & Rosenwasser

Summary:

Tav hat ihre Tage und Raphael, wies scheint, auch.

Notes:

Musik fürs Boudoir pt.2:
John McLaughlin, Al Di Meola - Manhã de Carnaval
Keith Jarrett - Spirits 8

The way you walk and I know the way you can
The way you're telling me you're not a dangerous man
I said it again, I'll say again
I'm not that kind of woman.
- "Carnival" by Tori Amos

Chapter Text

"Sie sind nicht vertraglich an ihn gebunden," sagte Hope.

"Aber er hat sie hergebracht," entgegnete Tav. 

"Und mit meiner Hilfe können sie wieder gehen. Wirklich! Sie müssen nur "Bitte" sagen, und, schwuppdiwupp, Portal steht offen - sie können abhauen. Was ich aber nicht hoffe, denn, Junge, ist das Haus ein Saustall!"

"Und warum tun sies dann nicht? Statt hier ohne Lohn zu schuften?"

"Na, weil die Tieflinge hier sicher sind. Sie haben einen Sinn im Leben. Vielleicht sogar zum ersten Mal überhaupt." Hope zuckte mit den Schultern. "Du vergisst, aus welcher Hölle sie kommen, Tav. Hier droht ihnen kein Hunger, kein Tod, kein Stress. Dafür haben sie Arbeit und Platz sich auszuruhen, bis sie weiterziehen. So eine Chance, bekommen nicht viele von uns."

Sie schien irgendetwas in Tavs Gesichtsausdruck zu erkennen, denn plötzlich sah sie zu Boden und kratzte sich dabei verlegen am Kopf. "Ah," sagte sie mit einem Nuscheln, "ganz vergessen. Du darfst ja nicht gehen. Das ist, ähm tja ... doof." 

"Hope -" Tav stockte, unterbrochen von einem plötzlichen, schmerzhaften Ziehen im Unterleib. "Uh. Du bist dir ganz sicher, dass Raphael sie nicht für seine Intrigen einspannt?"

Sie schüttelte den Kopf, um die Ablenkung, die ohne Zweifel eine gewisse Erleichterung mit sich brachte, von sich zu schütteln. "Dendar verdamme mich, Hope, warum bist du so unkritisch? Kommt dir das denn gar nicht komisch vor?"

Die Zwergin schenkte ihr nur ein entschuldigendes Schulterzucken und Tav verstand, dass sie an dieser Stelle nicht weiterkommen würde. Doch die Idee, dass er eine Hand voll Überlebender aus reiner Güte nach Avernus gebracht hatte, war eine derartige Unmöglichkeit, dass sie trotz aller Müdigkeit lange keinen Schlaf fand. Konnte es sein, dass der unausstehliche, Schwefel ausdünstende Intrigant so etwas wie ein Herz besaß? Dass er sich wirklich verändert hat? Hatte sie ihm zu Unrecht die Fähigkeit selbstlos zu handeln abgesprochen?

Sie kehrte auf ihr Zimmer zurück und kümmerte sich um das, was keinen Aufschub duldete. Die Fingerspitzen voller Blut. Es war ein Anblick, der sie dieses Mal mit einer Welle der Erleichterung beglückte; sie dankte still dem Universum und holte Jaheiras Lederbeutel mit den Kräuterbinden heraus. Anschließend nahm sie eine druidische Schmerzlösung und beschloss, das Bett für die nächsten zwölf Stunden nicht mehr zu verlassen. 

Was Raphael betraf, kam Tav, die wenig später zwischen weichen, seidenkühlen Kissen lag, auf keinen Nenner und sah sich schließlich von zweierlei Tatsachen geschlagen: Einerseits, davon, dass, solange sie kaum mehr als das Aktuelle wusste, sie ihn weiterhin scharf beobachten musste, bis sich sein großer Masterplan endlich zusammenfügte und sie ihn endlich schlagen konnte. Andererseits davon, dass der Schlaf sie an sich riss, ehe die erste Erkenntnis gedankliche Vollendung fand.

 

Umso zerknitterter erwacht sie nun. Tav hat gerade noch Zeit, sich die Locken aus der verschwitzten Stirn zu wischen, da spürt sie schon, wie Bett und Zimmer sich drehen und ihr Kopf mit ihnen.

Und plötzlich ist sie im Boudoir, genauer gesagt in Haarleps altem Bett. Umgeben von rotem Satin und dampfiger Luft. Irgendwo im Dunst zupft wie immer ein Saiteninstrument vor sich hin. Der Pool liegt hinter einem Schleier verborgen, aber sie hört das unregelmäßige Planschen und sieht einen Schatten, der sich hinter dem halbtransparenten Stoff bewegt. Tav erhebt sich, um dem badenden Teufel entgegenzutreten, das Herz zwischen schlaftrunkenem Unmut und - dank Hopes Worten - Besänftigung schlagend. 

"Raphael?"

Sie schlägt die Gardine zur Seite. Der Kambion sitzt mit dem Rücken zu ihr im Wasser, Arme auf den Knien und die Flügel weitgehend im Halbkreis aufgeklappt. Er reagiert nicht.

Dafür schnauft er tief wie im Schlaf. Seufzend reibt sie sich den letzten Sand aus den Augen und streckt den Nacken.

"Guck guck, alter Ziegenbock. Du hast gerufen?"

Sie beglückwünscht sich selbst, wie neutral heiter ihr Tonfall ist - ein Friedensangebot nach ihrer letzten Auseinandersetzung, deren Eskalation sie im Nachhinein bedauert. Aber sich freilich nicht als die Hauptschuldige sieht.

"Die drittklassige Teppichhändlerin ist zurück und steht zu Diensten."

Und sie kanns einfach nicht lassen.

Tav hört mehr das Fingerschnippen als dass sie es sieht. Aber auf einmal fliegt ihr von irgendwo des Beckenrands ein Kistchen aus Rosenquartz in die Hände, das sie beinahe fallen lässt, so sehr erschrickt sie. 

"Du kannst damit anfangen meine Schwingen zu säubern."

"Wie? Was?"

Er streckt den nackten Rücken, und spannt die Flügel weiter auf. Rauschend fließt das Wasser daran hinab. Raphael ist mit etwas besudelt, das keinen Zweifel an seiner Konsistenz lässt, der metallisch-säuerliche Geruch  unverkennbar.
Und einem unentrinnbaren Fluch gleich kehrt die Erinnerung an Abriymoch zurück - an die Gerüche, die Geräusche, den Anblick seiner arbeitenden Muskeln. Und darüber Blut wie noch nasse Tarnfarbe.

Und etwas in ihr zieht sich zusammen. 

"Bist du verletzt?"

Er schnaubt - es könnte ein Lachen sein, ein Schmerzenslaut. Sie lässt einen verwirrten Blick auf das Behältnis fallen und runzelt die Stirn. Sicher, im Tempel von Ilmater oder jeder anderen Heileinrichtung hätte sie Gaze und Alkohol erwartet. Nähzeug und Verbandsschere. Nicht aber ein Pediküreset mit ätherischen Ölen, Duftseifen und einen knubbeligen Massagehandschuh. Oh Götter.

"Ich ... soll dich waschen?" krächzt Tav. "Machst du Witze?"

Er macht keine Witze, und das erkennt sie nicht an seinem Hinterkopf, sondern daran, dass er grollt wie ein Bergwerk, als rumple in seinem Brustkorb Torm höchstpersönlich. Kopfschüttelnd geht sie in die Knie und legt das Kistchen auf dem Boden ab. Für einen langen, sehr langen Moment ruht ihr Blick auf seinen verdreckten Schultern.

"Kannst du das nicht selbst tun?" fragt sie schließlich.

Dafür hat er doch jetzt ein Geschwader aus Tieflingen und seinen tollen magischen Pool, oder nicht?

'Pff, wahrscheinlich spekuliert er auf ein Happy End.'

Allein der Gedanke macht sie fast seufzen. Sie wäre einem Mehr nicht abgeneigt. Aber solange Jaheira im Haus ist, verbucht Tav diese Idee als unklug. Und vielleicht spürt der Unhold das auch und ist deshalb so grantig. 

"Mach zu," sagt er so schroff, dass ein echtes Mäuschen sofort gesprungen wäre. 

Sie hingegen schnaubt belustigt. "Na, wer hat dir denn heute in den Wein gespuckt?"

Eine Stichflamme pafft vor seinem Gesicht auf und jetzt zuckt auch Tav zusammen.

"Ich rate dir mich heute nicht zu reizen. So schwierig das auch für dich ist," sagt er unwirsch. Und sonst nichts.

Da hat er nicht Unrecht - es reizt sie sich ihm zu widersetzen. Hats schon immer. Das verspielte Sticheln war bereits Bestandteil zwischen ihnen, als noch ihre Beziehung tatsächlich aus nichts als Spiel bestanden hatte. Andererseits wäre eine Spitze gegenwärtig zu voraussehbar und der Teufel würde sie, übellaunig wie er gerade ist, vermutlich einfach wieder in ihr Zimmer wegzaubern, damit sie ihm nicht auf die Nerven ging. Er rechnet wahrscheinlich sogar damit. 

Tav setzt sich artig auf den Hemdsboden und taucht den Massagehandschuh ins Wasser. Wringt ihn über Raphaels Flügelansatz aus und beobachtet das verkrustete Blut beim Zerlaufen. Eine Wunde ist noch keine in Sicht. Was nichts bedeuten muss. Er könnte sich nach einem Kampf geheilt haben. Raphael könnte angegriffen worden sein und sich mit Haut und Haar verteidigt haben. Sie traut ihm sowohl zu, dass er einen solchen Blutverlust leicht wegstecken würde, als auch, dass einiges davon nicht ihm gehört. Sie erinnert sich an seine Kraft und Energie, die sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat; als einst einer ihrer härtesten Gegner - schnell, stark und vielseitig - konnten sie ihn bei ihrer "Rettet Hope"-Aktion erst zu Fünft in die Knie zwingen, und das auch nur nach langem Kampfe.
Was bedeutet, dass der Feind dieses Mal entweder extrem mächtig oder in der Überzahl gewesen sein muss.

Langsam greift Tav zu dem Säckchen mit den Seifen und nimmt ein Stück heraus, um es in den Handschuh einzureiben. Alsbald flufft ein wohlduftender, grüner Schaum auf, fruchtig in der Note, ein Hauch von Eisenkraut. Das soll jetzt auf seiner Haut verteilt werden. Ihr Mund wird trocken. Der Rücken vor ihr ist wahrlich ... überdurchschnittlich. In Teint, Textur, Härtegrad, Breite. Sie weiß nicht wie und sie weiß nicht mit welchen Mitteln, aber Raphael hat, seit er vor ihrer Tür aufgetaucht ist, an Gewicht zugelegt. Das Drahtige ist ihm fast gänzlich abhanden gekommen; nun, zumindest in diesem sanften Licht, wölbt sich unter der kirschroten Haut der satte Muskel und darüber ein formgebendes, gesundes Polster aus Fett. Eine Statur endlich würdig, die Teufelskrone aus vier schartigen Hörnern zu tragen. Tav spürt, wie eine längst vergessene Schüchternheit Besitz von ihr ergreift; Raphaels Körper mutiert zu einem millenniumalten Relikt, für dessen Berührung sie keine schriftliche Erlaubnis hat. Ein unsinniges Gefühl, gewiss, hat sie ihn doch gewürgt und gebissen. Sie versteht nicht, was den Hautkontakt plötzlich so kompliziert macht.

Es muss etwas Spirituelles sein.

Bestimmt hat sich soeben der Fluss ihrer Monatsblutung verdoppelt. 

Raphael wendet den Kopf und der Blick aus dem Augenwinkel, der nur knapp an ihr vorbeizieht, ist Warnung genug nicht länger zu daddeln. Tav blinzelt sich aus der Starre, holt tief Luft geholt und streicht mit dem schaumigen Knäuel über die gänsehautähnliche Textur. Flüchtig, wie ein Phantom - der Teufel ist ganz Ungemach und sie will ihn nicht mit plötzlichen Berührungen antagonisieren. Sein Körper, ein zuckender Nervenhaufen. Und außerdem hart wie Marmor.

Tav räuspert sich.

"Du hast mich geweckt," sagt sie, während sie unter den Ansatz seines linken Flügels fährt.

Kein Blut dort. Doch sie spürt ihn unter ihrer Hand erbeben. Sie tut es noch einmal. Ein kleiner, schwerer Atmer. Ein weiterer Marker für eine sensible Stelle. Eine von vielen. Jedes Mal, wenn sie ihn berührt.

"War es ein schöner Traum?" fragt er, während Tav den Handschuh neu einseift, um das Kribbeln den Krampf im Bauch niederzuringen, "Es schien mir fast so."

Rauheit in seiner Stimme. 

"Ich habe dich erstochen," antwortet sie nach kurzem Überlegen, "also ja."

"Na na."

Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, in der sie nichts sagen, und Tavs Aufmerksamkeit driftet zu seiner linken gehörnten Schwinge, die sie nach einem sanften Rubbeln abwäscht. Es ist das erste Mal, dass sie den Flügel eines Teufels berührt, und es ist ein ... sonderbares Erlebnis. Der mehrgliedrige Oberarm, unter dem sich die Haut wie ein Segel strafft, fühlt sich wie ein knochiger Menschenarm an. Er ist fein behaart. Auch die Flughaut zwischen jedem Fingerglied ist voller Härchen, goldblond schlimmernd. Darunter erstreckt eine Landkarte aus roten Äderchen, nicht dicker als Menschenhaar, Leberflecken, und Narben.

Es ist fremdartig und, wie gesagt, schrecklich intim.

Ein wenig gedankenverloren streicht Tav über die Imperfektionen seines Flügels. So viele Kerben und Zeichnungen. So viele Jahrhunderte, gar Jahrtausende, um sie sich zuzuziehen. Kurios, dass sein Pool sie nicht alle geheilt hat. Genauso kurios wie die Narben an seiner Leiste. Ohne Witz und Worte beobachtet sie, wie sich das Gelenknest bei der nächsten winzigen Rührung seiner Schwingen bewegt - ein Stück animalischer Anatomie unter sich streckender Haut. Und theoretisiert, dass Tieflinge deswegen keine Flügel haben, weil ihr ganzes Dasein eine Bestrafung darstellen soll. Denn wie praktisch wären Flügel gewesen ... Ganz im Gegensatz zu den Hörnern oder dem Schwanz, die von ihrer Warte aus betrachtet zu nichts gut sind.

"Mein Kumpel Barth hat mal eine Gnomin hofiert; die konnte jeden, den sie massierte, wie ein offenes Buch lesen. Egal wen - eine Massge, und sie wusste über alle deine Probleme bescheid."

"Warum massieren, wenn es so viele einfachere Optionen gibt, jemanden zu durchschauen?" kommt es nach einer langen Sekunde und sie kann geradezu das Naserümpfen hören. 

"Es ging ihr nicht darum, zu durchschauen, sondern zu verstehen."

Er schnauft wieder, sagt aber nichts.

"Sie hat mir erzählt, dass sich auf diese Weise persönliche Wahrheiten auftun, die du niemals durch Mimik und Sprache erkennen würdest," ergänzt Tav und legt den Kopf schief, während ihr Zeigefinger zu seiner Schulter zurück fährt. Ihre Haut sieht auf seiner so unglaublich weiß und klein aus. "Besonders bei sanften Streicheleinheiten."

"Ein taktiles Geschäftsverhältnis pflegt sie da mit ihrer Umwelt."

Sie seufzt und während ihre Finger über die Mulde seines Schlüsselbeins gleitet, noch gentiler jetzt, murmelt sie: "Besonders mit denen, die ihr nahestanden."

"Dann fühle ich mich geehrt, dass du wohl Gleiches mit mir versuchst, Liebes. Härter."

Sie drückt rasch den Daumen in seinen Trapez - bohrt den Knöchel förmlich rein. Sie hinterlässt nicht nur keinen Abdruck, sondern auch null Reaktion von ihm.

Und dann, Sekunden zu spät, lacht sie leise. "Als hätte ich eine Wahl. Doch ich begreife langsam, wie es helfen könnte, die seelische Temperatur einer Person besser zu messen. Auch deine, Teufel. Die Verspannungen sprechen Bände."

Er winkt planschend ab und für einen kurzen Moment meint sie aus dem scharfen Winkel zu erhaschen, wie er den Mund miesmnutig verzieht.

Erst nach langen Sekunden antwortet er. "Mach dir keine Mühe. Deine Analyse ist nicht gewünscht." 

"Schade, mir brennt nämlich eine Frage unter den Nägeln."

"Wie ich dich kenne, wird es mehr als nur eine sein."

"Sie sind beide wirklich sehr brennend."

Es juckt ihr geradezu in der Kehle. Sie nimmt seinen schweren Seufzer als Einverständnis. "Ich weiß, dass du einige der Tieflingsklaven aus Phlegethos hergebracht hast."

Es ist immer gut mit der Tür ins Haus zu fallen. Alte Hausiererweisheit. Und zwar bevor der Hausbesitzer die Schotten dicht macht bzw. die Muskeln zu.

"Warum?" fragt sie. 'Gib mir Futter, gib mir einen Krümel von Zuversicht, dass meine Freunde sich in dir irren.' "Wohl kaum aus einer gütigen Laune heraus. Oder wirklich nur, weil das Haus einen Frühjahrsputz brauchte?"

Ob die Tieflinge das Boudoir reinigen? Die vollgesauten Bettbezüge auswechseln? 

'Teilt der Teufel sein Bett eventuell noch mit anderen Personen?'

Woher dieser Gedanke plötzlich herkommt, ist ihr ein Rätsel, und es melden sich gleich mehrere Stimmen zu Wort, von denen eine blödere Kommentare als die andere gibt. 

'Auf keinen Fall,' schreit die Lauteste, 'Haarlep hat versichert, dass er nur mit mit sich selbst schläft. Immer nur mit sich selbst ...' Aber dann: 'Und mit dieser Toten.'

Argh, fuck.

Bitte nicht. Nicht schon wieder dieses Bild. Dieses verflixte Panorama der Hölle WILL einfach nicht STERBEN.  

"Aus Notwendigkeit," sagt er da und Tav, völlig erstarrt in ihrer Grimasse, blinzelt.

"Aus Notwendigkeit ...?" presst sie zwischen den Zähnen hervor.

Er ist heute furchtbar einsilbig. Am liebsten würde sie ihn wieder würgen, bis ihm das volle Geständnis zu den Ohren rausfällt wie Goldtaler oder Pech oder was auch immer in den absurdesten Kindermärchen geschieht. Stattdessen plustert Tav die Backen auf und stößt die Unruhe, die Ungeduld und diese ganz besondere Erinnerung der Schande mit samt der Luft aus.

"Du hast mir gesagt, keiner von ihnen sei zu retten gewesen," wiederholt sie langsam. "War das gelogen, oder warum der plötzliche Sinneswandel?"

"Nein. Es war lediglich ein Dienst an die Hausherrin," brummt der Kambion, ein wenig redseliger jetzt, während er die Hand flach auf dem Wasser ausbreitet. "Sie hatte etwas für mich herzustellen und brauchte dazu Handwerker. Der Rest ist opportune Nebensächlichkeit."

Verdutzt hält sie inne. "Das hat sie mir gar nicht erzählt. Wofür denn?"

Tav wartet. Und als nichts kommt, atmet sie tief und hörbar aus.

"Du bist heute ausgesprochen maulfaul. Muss ich mir Sorgen machen? Oder einfach die Stille genießen, solange sie währt?"

Die Hand auf dem Wasser wird zur Faust. "Tu das, wozu du hergerufen wurdest, Tav."

Ihre Finger wandern zu seinem Hals, kitzeln die Halsschlagader. Ein kurzes Stillleben von Raphael mit der Nagelschere im Hals und sie schnaubt belustigt.

"All die Grübelei gibt Falten, weißt du? Macht dich älter."

Ihr Knöchel zärtelt von Kiefer bis Ohrläppchen hinauf. Ihre Lippen hingen einst dort. "Wenn nicht gar menschlich."

Plötzlich rückt er mit einer solchen Schnelligkeit von ihr ab, dass Tav beinahe vornüber ins Wasser fällt und sich gerade noch am Beckenrand klammern kann.

"Weiter zur Nagelpflege."

Und mit einem Grienen gleitet er durchs Wasser auf die andere Seite des Pools. Überrascht blickt sie ihm nach.

"Dein haptischer Sinn ist dem des Nacktmulls nicht unähnlich," knurrt er, als er auf der anderen Seite des Pools einrastet, ein Fuß nun aus dem Wasser.

Sie sieht das Rostrot an seiner Schläfe. Eine klebrige Nässe in seinem Haar.

"Woran liegt das, wundere ich mich?" fährt er fort, "Bist du ebenso blind und taub und gräbst dich mit deinen Patscherchen von Regenwurm zu Regenwurm? Der Gnom hätte dich besser lehren sollen."

Tav lässt sich von seinem Spottversuch nicht aus der Ruhe bringen. Sie nimmt das Kistchen an sich und geht ihm nach.

"Ich habe also Recht. Irgendetwas nagt an dir."

"Und sie ist noch nicht fertig mit dem Gemütsstudium."

"Du kannst mich ja jederzeit wegschicken."

"Oder dir den Mund stopfen und dich endlich irgendwo aufhängen, wie schon lange angekündigt."

Sie steigt bis zu den Waden ins Wasser und hockt sich wieder an den Beckenrand. Greift seinen ausgestreckten Fuß und legt ihn auf ihren geschlossenen Knien ab.

"Wirklich, Raphael, du bist heute derart unausstehlich, dass ich fast Angst habe, dir zu nahe zu kommen."

"Das ist meine Feierlaune," zischt er unter Ausstoß einer weiteren Stichflamme, "denn es gibt Grund zum Feiern."

"Ach?"

"In der Tat. Ich habe mich einer Fliege entledigt, die mir schon sehr lang um den Kopf schwirrte."

Er grinst böse. Während sie in dem Kistchen nach dem richtigen Werkzeug kramt, denkt Tav unweigerlich wieder an das Blut an seinem Körper.

"Scheint ja nicht zu deiner Zufriedenheit gelaufen sein."

Er lacht auf. "Was? Du störst dich an meinem Ausdruck? Hast du nicht vor, mich Monster zu nennen?"

"Warum? Welche unschuldige Seele hast du dieses Mal verflucht?"

Er zeigt Zähne, grinst noch breiter - flackert - und plötzlich fällt seine Miene in sich zusammen, wie ein Kartenhaus, und was übrig bleibt ist eine leere Grimasse. Hinter schattigen Wimpern verborgen sinkt was auch immer er denkt zum Wasser. Selbst das ist ein gefälliger Anblick.

"Keine unschuldige, glaub mir; nur ein Körper, den niemand vermissen wird."

Er muss sie nicht ansehen, damit sie die Wirkung spürt - die Vergeltungslaune. Eine Warnung an sie. Nein, eine Drohgebärde. Wie auch immer kaschiert, verfehlt sie nicht ihr ach so einsames Ziel, trifft ins vereinsamte Schwarze. Die Frage nach dem Warum bleibt ihr im Halse stecken. Tav versucht es noch nicht einmal runterzuschlucken. Schnappt nur nach Luft, denn - was solls? Raphael verschont sie nicht, weder vor seinen Worten noch vor seiner Anwesenheit noch vor dem hässlichen Grienen, das Sadismus schreit.

Na schön. Wenn er Feindschaft will, bekommt er Feindschaft.

Sie greift nach dem flachen Metallstab für die Nagelreinigung, umklammert es wie eine Waffe ... und schabt den Dreck von seinen verschrumpelten Zehen. Frostiges Schweigen. Macht diesen hochehrwürdigen Prinzenkörper wieder reine. Es ist widerwärtig und eine Demütigung. Er erniedrigt zu einer verfluchten Kammerzofe.

Die Furcht, die der Teufel in ihrer Brust gepflanzt hat, sprießt in etwas Neues. Verfielfältigt sich. Einschüchterung wird zu Sorge ('Verdammt, wen hat er ermordet?'). Wird Erregung (der aufgeregten Sorte). Wird Empörung.

Dieser kleine, armselige Tyrann.

'Wyll hat mich gewarnt.' 

Und sie hat nicht zugehört. Natürlich nicht. War viel zu beschäftigt damit, sich von dem Teufel einlullen zu lassen.

Tav packt die große Zehe, rammt ihm den Stab unter den Nagel und dreht ihn mit zusammengebissenen Zähnen. Boshaft und voller Ohnmacht. Raphael zuckt unter der Gewalt an seinem Fuß zusammen und stößt ein tiefes, katerhaftes Maunzen aus, aber sie hält seinen Fuß fest und stämmt sich gegen den kurzen Ruck, der sie fast mit ins Becken zu reißen droht.

"Tu das noch einmal, und -"

"Halt still," blafft sie, "dann tu ich dir auch nicht weh."

Ihre Blicke kreuzen sich und kurz drohen sie einander zu verbrennen, doch ihre springen unwillkürlich weiter, als sie seine Schwingen bemerkt. Und es wirft sie schon wieder aus dem Konzept. Sie zittern. Doch nicht etwa von ihrem kleinen Racheakt?

Er blufft nur. Versucht sie zu provozieren.

'Aber warum sollte er?'

Während Raphael seinem schweren Atem sichtlich in den Käfig der Ruhe zurückzwingt, sind seine Augen unverrückbar auf sie gerichtet. Undurchdringlich - verschlossen. Er verheimlicht ihr etwas. Und gemessen an seiner zum Zerreißen angespannten Wade ist es nichts Gutes. 

Der Unhold ist nicht nur schlecht gelaunt - er ist aufgewühlt. 

"Lass mich raten," sagt sie und schlägt dabei einen bewusst lockeren Tonfall an. "Du hast ein absolutes Chaos in Abriymoch und Dis hinterlassen, dir den Wegzum Thron freigemordet - und dann die Armee vergessen."

'Er hat die Armee vergessen.'

Shit.

"Stimmts? Jetzt wissen alle -" 'Von Asmodeus bis Zariel - oh Doppelshit', "dass du dahintersteckst. Sie wollen deinen Kopf. Und du hast weder Streitkräfte, noch Krone noch Deckung - nichts, um sie aufzuhalten."

Ihr wird ganz blümerant.

Er schürzt die Lippen wie zum Lächeln. "Chaotisch? Ich?"

Tav dreht sich halb um, um Waffe gegen Seife zu tauschen, muss aber innerlich tief Luft holen. Jasmin in der Nase.

"Ich weiß ganz genau, dass du Dispater aus dem Weg geräumt hast - bin ja nicht ganz doof," fügt sie an, während sie seine Wade mit dem Duftstein einseift, "und ich vermute auch mal Bel und Fierna. Damit hast du wohl jemanden am Stolzhorn gekratzt. Doch nicht etwa Herrn Papà?"

Seine Sehnen zucken unter ihren Händen – vielleicht, weil sie ihn wäscht. Vielleicht, weil er nicht auf Duftseife steht.

"Niemandes Stolz ist angekratzt." Und doch klingt seine Stimme frostiger als ein Eisquell. "Allenfalls ... erleichtert. Ein leerer Thron ist immer noch besser als einer, der beschmutzt wurde."

"Was für ein Schwachsinn," erwidert sie. "Du willst mir echt erzählen, eure höllische Elite lässt lieber zwei Ebenen im Chaos versumpfen, als dir die Zügel in die Hand zu drücken? Klingt eher so, als wäre dir das Ganze ohne Power-Krönchen übern Kopf gewachsen."

Sein Schwanz peitscht scharf durchs Wasser.

"So ist das nicht."

Ihre Hände, die ihn immer noch massieren, stoppen an seiner Wade. "Ach nee?"

"Nein." Er atmet aus wie ein Politiker, der zu einem öffentlichen Krisenstatement gezwungen wird. "Macht in den Höllen gehorcht keinem Zufall. Sie fußt auf Ordnung. Und diese Ordnung stellen die Baatezu durch strikte Hierarchie her. In ihren Augen sind die Neun nicht bloß der Hölle Welten, sondern die tragenden Pfeiler der universalen Schöpfung selbst. Eine leichtfertige Herrschaft wäre nicht nur töricht, sondern ein Aufruf zur Auslöschung. Nicht nur für uns infernalische Wesen, sondern auch für alles, was existiert."

Sein Schwanz peitscht scharf durchs Wasser. Trotzdem bleibt seine Stimme ruhig, obgleich jetzt mit Kante.

Tav beugt sich vor. "Auslöschung?" säuselt sie und kann nicht umhin, das bissige Amusement über seine Worte durchschimmern zu lassen, "Hältst du dich für so mächtig?"

Für einen kurzen Moment setzt er sich einem erneuten Duell mit ihren Augen aus, doch senkt bald schon den Blick wieder. 

"Nicht ich bin der Mächtige, Tav," korrigiert er in seiner rätselhaften Weise, "sondern das System. Bei uns in den Höllen hat jede Seele ihren Sinn, ihren Platz. Selbst der niederste Geist ist nach dem Muster der Naturbeherrschung und nach materieller Produktion gemodelt. In ewiger Fabrikation der perfekten Weltordnung, die von solcher Reinheit spricht, dass sie jede sterbliche Fantasie übersteigt."  

Sein Antlitz gleitet zur Decke, an der noch vor kurzem der Abend funkelte; Tav folgt seinem Blick, als er wie gebannt hinaufstarrt. Anstelle des Sternenhimmels windet sich jetzt ein florales Muster mit den Früchten des Sommers - Pflaumen und Birnen, die rund und reif die Äste biegen, dazwischen Roggen und Weizen - satt und gelb - besungen von einem Rotkehlchen, das froh den Schnabel aufreißt.

"Stell dir eine Welt ohne Dissens vor - denn Dissens ist dort unvorstellbar. Mal dir eine Welt frei von Schwäche aus, denn Schwäche kann dort nicht überleben. Ein Kosmos, in dem Loyalität absolut ist, dessen Konstrukt perfekt und ewig ist. Das ist Baator - eine Maschine, die Unvollkommenheit zu Staub zermahlt und nur ihre makellose Schönheit übrig lässt."

"Absolut, also? Das kenn ich doch irgendwo her."

Sie ist aus diesem erstaunlichen Monolog, den der Teufel ihr liefert, keinen Deut schlauer geworden, und doch hat er sie in seinen Bann geschlagen. Ihre Reaktion sichtlich genießend, lehnt er sich zurück und legt die Arme auf dem Beckenrand ab.

Da ist es wieder, das alte Halblächeln, das nicht bis zu seinen Augen reicht.

"Selbstverständlich ist es das - für Sterbliche zumindest. Für Unholde ist es der Pfad der Erleuchtung. Deshalb habe ich keinen Anspruch auf diese Throne erhoben, Tav. Ich bin nicht Teil der Vollkommenheit."

Sie muss wieder vergessen haben, seine Wade einzuseifen, denn er entzieht ihr ohne Kraftaufwand den Fuß und legt ihr den anderen aufs Knie.

"Aber ..." Sie starrt auf das nahezu haarlose Bein. "Was sollte dann meine Herumschleicherei in Dis? In Abriymoch?? Du hast Dispater und das Powerduo offensichtlich vernichtet - aber wozu? Erzählst du mir gerade wirklich, dass du aus reiner Bescheidenheit auf die Herrschaft verzichtest? Komm schon. Du wolltest damals doch auch nicht die Krone aus Altruismus."

"Die Krone war damals – jetzt zählt nur noch meine wahre Mission." Seine Stimme bleibt ruhig, aber etwas in ihr zieht sich wie Stahl unter Samt. "Ich dachte, das hätten wir klar gestellt. Ich habe erkannt, wie töricht der Traum von totaler Herrschaft war."

"Und doch gelang dir der Anschlag auf DREI Erzteufel. Also, wem verhilfst du gerade zur Macht?"

Für einen Moment betrachtet er sie schweigend. Sein Teufelsschwanz, der immer noch halb aus dem Wasser ragt, kommt bis auf die zuckende Spitze fast zum Stillstand. 

"Ah, Intrige," sagt er und seine Stimme ist weich und schwelgend, "der Baatezu täglich Frühstück, Mittags- und Abendmahl."

"Ja und jetzt sind dir andere Baatezu auf den Fersen. Du verwickelst mich in etwas, das mich noch den Kopf kosten wird."

Es kommt nur ein "Hm".

"Ich weiß, dass ich keinen Wert für dich habe," blafft sie, die Frustration kaum noch verbergend, "aber wenigstens eine Antwort könntest du mir geben."

Sie wartet auf mehr - es kommt nichts. Und immer noch dieses leere Lächeln. Allmählich ist sie am Ende jeder Erklärung - Raphael ist so verdammt verschlossen heute, aber gleichzeitig ordert er sie für eine verfluchte Waschung herbei. 

"Spucks aus, Raphael," raunzt sie, "Dein neuer Plan ist doch nur noch perfider. Sag mir, wofür muss ich meinen Hals hinhalten?"

Mit einem dunklen Lachen zieht er seinen Fuß aus ihren ohnehin reglosen Händen und richtet sich gerade.

"Was nützt dir eine Antwort, Myrmeen Liebes," singt er mit einer Tonlosigkeit, die seine seltsamen Worte überschattet, "wenn du Kar'niss liebst, wirst du auch jetzt deinen Hofknicks tun."

Langsam fährt er sich mit der Klaue übers mittlerweile feucht verschwitzte Gesicht und legt den Kopf auf dem Beckenrand ab. Tav starrt auf seine ungeschützte Kehle. 

"Sei also schön artig, Hähnin, und folg meinem Wink mit dem Zaunpfahl. Knickse," seufzt er zur Decke hinauf.

Die Verwundung sitzt tief, gibt sie zu. Sein Gebaren ist respektlos. Tav steht im Wasser auf und funkelt ihn verärgert an.

"Du kannst dieses Spiel nicht ewig spielen, Raphael."

Und ob er das kann; er macht es ihr mit einem "Ich bin mit dir fertig"-Schweigen deutlich.

Und er hat schon wieder Recht. Die Regeln ändern sich nicht, es sei denn, jemand bricht sie. Doch der Kambion hat es nicht nötig, denn er ist die Regel. Doch heute Abend ist alles anders.
Raphael ist nicht schadenfroh. Er versucht sie nicht zu ködern. Nein, er zieht sich von ihr zurück ... Es ist, als hätte er bereits entschieden, dass sie nicht länger Teil des Ergebnisses sein soll.

Tav spürt, wie es sie ins Wanken bringt. Es sind nicht die feindseligen Worte - das Lied kennt sie schon in- und auswendig, denn ihr Verhältnis besteht zu 90% daraus -, sondern das Schweigen dahinter; Er weist sie einfach ab, als gehörte sie schon zur Verluststatistik. Bam! - Raphael hat einen Bauern vom Brett gestoßen. Die Erkenntnis schmeckt wie Eisen in ihrem Mund.

Als sie handelt, ist es unüberlegt. Weder Strategie noch Stolz sind dahinter, sondern Schmerz, dass der Kambion, der Mann, der sie jahrelang begleitet, getriezt und fasziniert hat, sie plötzlich fallen lässt. Tav steht auf, um durch das Wasser auf Raphael zuzuwaten. Steigt zwei weitere Stufen ins Wasser hinab, näher und immer näher, bis zur Hüfte und bis ihre Knie sich fast berühren. Raphael hebt den Kopf und schließt die Beine. Dieses Mal lässt er sie nicht so nah heran. Aber das macht nichts, sie kommt vor ihm zum Stehen und betrachtet ihn mit offenem Ärger. Sein Gesichtsausdruck spricht ebenfalls Bände: "Wirklich? Du willst mich herausfordern? In meinem Ring?" Sie sieht es in seinen brennenden Augen.
Er ist nicht in Spiellaune.

Viel zu langsam, oder nicht langsam genug (wäre er eine Raubkatze, hätte er auf ihre ruckartige Armbewegung mit einer fauchenden Zerfleischungsattacke reagiert, kein Zweifel), greift Tav nach seinem Hals. Nach diesem hervorstechenden, angreifbaren Adamsapfel, der immerzu vor ihr auf- und abhüpft, wenn der Teufel sich sicher wähnt. Um ihn Teufel nochmal anzuhalten, zu dominieren, zu verstehen, die Wahrheit aus ihm herauszupressen.

'Um ihn zu beherrschen.'

Nichts anderes.

Doch sofort schnellen Raphaels Arme hervor, wollen sie packen - oder abzuwehren? - und er fährt auf. Flügel flattern auf, Wasser spritzt und Tav wendet rasch den Oberkörper ab. Der Teufel verfehlt sie. Seine Bewegungen im Wasser nicht minder behäbig als ihre. Sie weicht erneut aus, doch - es muss aus Naivität sein!- statt das Weite zu suchen, versucht sie erneut seiner Kehle, Brust, den Schultern - irgendwas! habhaft zu werden. Knurrend ergreift er die Frau an den Oberarmen. 

"Wohlwollen hin oder her, Mensch, tu das noch einmal und es wird das Letzte in deinem Leben gewesen sein," sagt er und sie spürt, wie sein kellertiefes Knurren in ihrer Brust vibriert.

"Ich bin nicht dein Scheißkanonenfutter," schießt sie zurück.

"Nein, du bist impertinent."

Er zieht sie mit einem derartigen Ruck an sich heran, dass ihr Nacken schnalzt. Schnuppert in der Luft und stößt einen Laut aus, der zwischen Stöhnen und Knurren liegt.

"Sag, sind das die monatlichen Verrücktheiten einer Frau? Oder soll das eine Wiederholung unseres Kamingesprächs werden?" murrt er wie ein großer, genervter Kater, "Nur ist mir leider nicht nach Kuscheln. Und auch nicht nach 'Berührungen und verständnisvollen Fragen'."

"Keine Floskeln, du alter Schauspieler. Klartext!"

"Du vergisst vor wem du stehst! Aber gern."

Er umfasst ihren Kopf mit beiden Händen, und plötzlich klappt ihr der Mund auf. Er wird sie doch etwa nicht -

"Hier hast du meinen Klartext."

Raphael zerquetscht ihr nicht den Kopf, dafür kann Tav dankbar sein. Dafür beehrt er sie mit einer neuen Alptraumvision. Rhythmische Geräusche von Hammer auf Amboss, Dampf und Blasebalg und Welten, die im Feuer unermüdlicher Produktion versinken. Ein alles verzehrendes Feuer, dem nur absolute Gehorsamkeit und Gleichförmigkeit widerstehen kann. Berge von Schädeln und darauf ein Thron. Schnee, Eis. Und oben sitzt ein König von verschwommener Gestalt. Tav kann so viel blinzeln wie sie will, aber das Gesicht scheint ständig zu wechseln. 

Gerade, als sie meint, es endlich auszumachen, ist sie zurück in ihrem Körper und fällt gegen Raphaels Brust. Nach einem kurzen Moment der Disorientierung hat sie sich aus seinem Klammergriff gerissen und macht einen Schritt zurück.

"Das? Das willst du?" japst sie.

Raphael betrachtet sie für einen Moment und beugt sich schließlich vor. "Es ist das, was ich beenden will."  

Oh, natürlich. Der Blutkrieg. Das hehre Ziel, mit dem er bereits die karsische Krone gerechtfertigt hatte.

"Ein Heiland," entfleucht es ihr, "Na, das sind ja ganz neue Töne, nicht."

Es scheint ihr wie gestern, als sie damals über sein Tagebuch gestolpert war. Es war über und über bestückt mit den Machtfantasien eines waschechten Gewaltherrschers.

"Du bist melodramatisch," erwidert er mit offensichtlichem Missfallen und macht einen Schritt zurück.

"Sprach der Diktator."

"Und schrecklich verbohrt in deiner Meinung," unterbricht er sie abwinkend, sein Tonfall nun wieder so abweisend wie zu Beginn, "Ich habe dir gerade mein Ziel kundgetan und damit deine Frage beantwortet. Lass es jetzt gut sein - oder besser noch: Geh."

"Das war alles andere als eine klare Antwort. Außerdem hast du immer noch nicht verraten, was passiert ist - was mich am meisten stört," kontert sie. "Gibs zu, dein Heilandplan ist in die Hose gegangen und jetzt hast du Schiss. Ich kanns doch sehen. Du hast Mist gebaut."

"Verwehr ihnen alles und sie protestieren schreiend," sagt er, als er sich von ihr abwendet, "Reich ihnen den kleinen Finger und sie wollen die ganze Hand."

Grummelnd setzt er sich wieder hin. Das Problem scheint wesentlicher Natur zu sein, denn es macht ihn sichtlich handlungsunfähig. Sie starrt ihn an, wie er in seinem Pool hockt und vor sich hin schmollt. Sie will schon aufstehen und davonmarschieren - denn verflucht sei sein Wellnessbad, verflucht sein Misserfolg - sie wird ihm nicht das Händchen halten.

Als er da, unerwartet, doch wieder den Mund öffnet. 

"Es ist alles egal. Manche Maschinen müssen unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Kollateralschaden unabwendbar. Und unser Untergang ebenso. Wir vergehen, wie vom Winde verweht."

Tav betrachtet seinen abgewandten Blick und - sie kann nicht sagen, woran es liegt, dass sie es zu sehen glaubt: an den steifen doch irgendwie kraftlosen Muskeln, an der Tatsache, dass er sie beim Sprechen nicht mehr ansieht, an den eingefallenen Schultern - erkennt jäh die Melancholie. Er sieht trübsinnig aus.

"Warum sagst du das?"

Was meint er? Forsch wirft sie die feuchte Mähne zurück und seufzt laut.

"Du bist melodramatisch," äfft sie ihn nach. Doch sobald die Worte von den Lippen fallen, schmecken sie fade, ja, falsch in diesem schweren Schweigen.

"Du vergehst nicht," fügt sie etwas verhaltener hinzu, "nie und nimmer. Du bist ... Raphael."

Der Teufel, der selbst dem Tod von der Schippe sprang. Dessen Worte nun so frei von jeder Absicht und Emotion klingen.

Warum ist er so verdammt traurig? 

"Ich schätze deine Ehrlichkeit," sagt er, nachdem er seine Stimme wiederfindet. Der Anblick - alles an ihm - ist beängstigend. "Trotzdem. Selbst Götter vergehen. Weniger bedeutende Wesen werden es auch tun. Egal, wie tollkühn sie sein mögen."

"Du nicht." Ihr Blick gleitet zu seiner panzerdicken Teufelshaut und ihre Worte kommen nur unfreiwillig. "Du bist unmöglich. Stur, selbstverliebt und manchmal schwer zu ertragen. Aber, verdammt, du könntest sie alle überdauern. Und selbst wenn du verschwindest - etwas von dir wird überdauern. Tut es bereits."

Raphaels Blick trifft den ihren, taxierend und schwer auszuhalten. Sein Ton dagegen gelassen. "Etwas? Meinst du Chaos?"

Sie blickt zur Seite weg und zuckt mit den Schultern. "Möglich. Oder vielleicht etwas, das haftet. Wie ein Brandmal. Jedenfalls haftest du."

Zwischen ihnen legt sich eine Stille, die dadurch auffällt, dass alles, was nicht sie beide sind, in den Hintergrund rückt. Selbst das Wasser schlägt so sacht gegen den Rand, als hätte es Angst, zu laut zu sein. Raphael bleibt reglos. Seine Flügel zucken, fast beiläufig – als wüssten sie nicht, ob sie sich schließen oder öffnen sollen.

"Du hättest auch einfach sagen können, dass ich unvergesslich bin. Es hätte weniger getroffen."

In die Kühle mischt sich Spott, doch sanfter.

"Ich soll den hinterlistigsten Unhold von Avernus treffen?" murmelt sie immer noch seinem Blick ausweichend. "Wohl kaum."

"Du triffts häufiger ins Schwarze, als du denkst." 

Das lässt Tav wieder aufblicken - und ihre Augen finden sich wieder.

"Und ich würde dich niemals eine drittklassige Teppichhändlerin nennen," fährt er fort, "Nicht mehr. Dein einziger Makel ist der Wert, zu dem du dich verkaufst."

Huh, hat sie sich verhört oder hat Raphael sie gerade gelobt? Tav kann sich nicht erinnern, jemals echte Wertschätzung von ihm bekommen haben. Niemals eindeutig, nie ohne Falltür. Selbst wenn seine Worte nicht glaubwürdig wären, so ist es sein von jedem leeren Gehabe geklärter Gesichtsausdruck. Es könnte sie aus dem Sattel werfen - stünde sie nicht ohnehin schon bis zum Schritt im Wasser und schrie die mittlerweile gut durchnässte Einlage nach einem frischen Wechsel. Wahrscheinlich ist das Poolwasser längst nicht mehr nur wegen Raphael so pink.

Der Gedanke macht ihre Nase kräuseln.

"Komm. Du hast noch Blut im Haar," sagt sie leise, "lass es mich auswaschen. Dann verspreche ich dich in Ruhe zu lassen."

Mit Seife und Handschuh postiert sie sich wieder hinter ihn, dieses Mal im Schneidersitz, während seine Hörner am Beckenrand aufliegen. Behutsam fährt sie über seine Stirn und Schläfen. Der Teufel blinzelt als ihre Blicke sich wieder kreuzen.

"So fürsorglich," sagt er, "hafte ich etwa schon an dir?"

Sie sieht zu ihm auf, aber nur für eine Sekunde, dann haben ihre Augen wieder seine besudelte Stirn fixiert. Mit dem anderen Daumen wischt Tav einen Schaumspritzer von seiner Augenbraue.

"Hm."

Fragend sieht er sie an. Ein Stirnrunzeln, als sei er nicht sicher, ob es Spott oder Zufall ist. Und dann, als entschieden sie gleichzeitig, fünfe gerade sein zu lassen, entgleitet ihnen beiden ein Lächeln. Nur ein kleines.

Ist es nicht unvermeidbar, dass diese ungewollte Hausgemeinschaft auch Dinge aufdeckt, die sonst ein jeder und jede für sich behalten will? Fehler, Laster, Ticks? Und erwartet sie nicht beinahe schon jedes noch so unmögliche Laster von ihm? Was sonst könnte sie da noch überraschen, wenn nicht das genaue Gegenteil? Vielleicht nicht unbedingt eine Tugend, doch stattdessen etwas, das die Wahrheit in sich trägt.

 

Chapter 29: 29 Vom grünen Daumen

Summary:

Sie können miteinander und Hope ist verwirrt.

Notes:

- Hope zitiert aus Baldur's Gate 3
- Mein Laurer-Joke funktioniert im Englischen besser, aber wenigstens ist er schlecht.
- DnD-Referenz: Laurer = Lurker Above

Chapter Text

Sie lungert in seinem Arbeitszimmer herum. Im Speisesaal. In den Korridoren nahe seiner üblichen Gemächer. Lippenkauend. Jedes Mal, wenn er seine üblichen Aufenthaltsorte aufsucht, wartet sie schon zufällig dort. Beobachtet ihn, seine Laune, sein Verhalten. Wie er sich die Stirn massiert, wenn er glaubt, allein zu sein. Nun, da Jaheira abgereist ist, gibt es keinen Grund mehr mit ihrem Leiden hinterm Berg zu halten. Dieses mentale Jucken, das einfach nicht zu lindern ist, der Untrieb, das andauernde Gefühl etwas sehr Wichtiges und Schützenswertes mit ihrem Nichtstun zu quälen. 

Aber Tav hat nicht den Mut zu fragen. Sie hat nicht die Geduld auf eine erfolgreiche Shoppingtour von Hope oder Gunja zu hoffen, und sie hat erst recht nicht die Demut ihn darum zu bitten. Stattdessen winkt sie der alten Druidin zum Abschied hinterher, als wäre alles in bester Ordnung, und dreht Däumchen. Schiebt ihr klitzekleines Problemchen auf. Lenkt sich mit Investigieren ab. Zu undenkbar wäre es, das rettende Balsam entgegenzunehmen, wenn die gebende Hand in der Vergangenheit doch so emsig Gift verteilte. Lieber durchwühlt sie des Teufels Schreibtisch und liest seine vermutlich absichtlich sterbenslangweiligen Journale, die allein durch verdächtige Leerphrasen und zugleich eine zunehmend erratischere Handschrift auffallen. Sie befragt die Tieflinge und findet nichts heraus, außer, dass ihr Herr für einen Baatezu bislang auffällig wenig Blut und Gedärme im Haus hinterlasse. Sie nickt lächelnd. Erinnert sich immer und immer wieder daran, dass ein Pakt mit dem Teufel immer in der eigenen Vernichtung endet, ob blutig oder nicht. Und weiß doch, sie wird nichts unternehmen können, solange Jaheiras verfluchter Knoten sie weiter mit seinem lautlosen Ruf nach Vollendung pestert.

Das eine Mal steht sie vor seiner unbestückten Bücherwand und linst zu dem Stapel von Zeitschriften, Flugblättern und Büchern hinauf, der unerreichbar weit oben sitzt wie die verführerischste Frucht an einem leer gefressenen Apfelbaum. Sie kontempliert über den vermutlich weltverschwörerischen Inhalt und über eine Leiter, als Raphael plötzlich hinter ihr erscheint und sie fast aus ihrer Unterwäsche aufschreckt. Er macht einen witzlosen Witz, sie kontert ähnlich dämlich und dann starren sie einander an wie zwei Schauspieler, die ihre Zeilen vergessen haben - erwartungsvoll und (in Tavs Fall) nervös. Alles, was ihr einfällt, ist ein bemüht ungeniertes Schulternzucken und ein schneller Rückzug. Ihr sei langweilig, sagt sie. Das ist ein valider Punkt, gewiss. Sie wiederholt dieses Prozedere mehrfach. Sie spürt jedes Mal seine Augen im Rücken, wenn sie geht. Er hakt nicht nach.

Beim dritten Mal jedoch fragt er unerwartet, ob sie einen Ausflug nach Faerûn unternehmen möchte. Wie immer ist er übertrieben formal: "Wäre dir ein Ausflug nach Hause zukömmlich?"

Fehlt nur, dass er in Reimen spricht. Der Teufel ist so altbacken in seiner Kommunikation, dass sie unwillkürlich schmunzeln muss. Warum gerade jetzt, weiß sie selbst nicht. Als junge Frau hatte es sie amüsiert und als seine Widersacherin aggreviert. Und jetzt ... Tav bemerkt wie er sie schief ansieht, sein Blick auf ihrem Mund, und leckt sich rasch das Lächeln von den Lippen, nicht in der Lage es anders zu verstecken. Beide lassen den Moment unkommentiert. Es ist ihr ganz recht, denn sie ist ohnehin viel zu abgelenkt von ihrem inneren Angsthasen, der immer noch mit den Hinterläufen gegen ihren Brustkorb kickt.  

'Verflixt nochmal - JA', denkt Tav, sie will nach Faerûn, und er weiß das ganz genau. Sie will Wyll und Minsc sehen, Tratsch austauschen und vielleicht ein-, zweimal Scratch den Ball werfen. Eine harmlose kleine Visite bei Freunden eben. Sie muss nach Helm's Hold und schauen, ob ihr Geschäft schon den Ratten gehört. Muss nachsehen, ob der Herr Vater noch unter den Lebenden weilt. Allem voran muss sie ihr vertracktes Knüpfwerkzeug holen. Der Zauberzopf treibt sie fast in den Wahnsinn. 

"Du hast mir verboten, Avernus zu verlassen," erwidert sie leise, "schon vergessen?"

Und als Raphael eine wegwerfende Handbewegung macht, als ginge es um einen Umweg zum Bäcker und nicht um ihre Geiselhaft, schießt sie sofort nach. "Gedroht hast du mir. Ich nehme so etwas ernst, auch wenn es nicht immer den Anschein hat."

"Wenn du mir zwei Dinge versprichst, bekommst du deinen Ausflug."

Ihre Finger klackern auf dem Holz seines Schreibtisches, der im Übrigen seit kurzem nicht mehr frontal zur Tür zeigt, sondern halb zur Terrasse. Als ihr Staccato keine weitere Informationen aus ihm herauskitzelt: "Und die wären?"

"Erstens, nimm mein Angebot an."

Angebot.

"Webstuhl, Stoff, Stricknadeln - was auch immer es ist, du sollst es haben."

Sie beißt sich auf die Unterlippe. Natürlich, sein Angebot. Es verfolgt sie seit Tagen. Sie kann kaum an etwas anderes denken. Und mit jeder Stunde klingt es süßer in ihren Ohren. Mit der Art, wie er es ihr unterbreitet hat, könnte Tav alles von ihm erbitten - und nichts. Solange es ihr hilft, wird er es erfüllen ... 

"Und zweitens?" fragt sie, ohne einen Einwand zu erheben.

Er mustert sie mit offensichtlicher Genugtuung.

"Nimm Mol mit," sagt er.

"Du hast wohl den Vertrag vergessen -"

"Der besagt, dass keiner meiner Agenten dich beschatten darf, solange du unter den Lebenden weilst?" unterbricht er sie, "Erstens, beschattet sie dich nicht, und, zweitens, tritt diese Regel erst in kraft, wenn beide Partner den Gegenstand des Vertrags erfüllt haben. Was nicht der Fall ist."

Er schlägt die Hände hinterm Rücken, die Falte über seiner linken Augenbraue etwas tiefer als sonst. Macht einen wohlgesetzten Schritt auf sie zu. Er ist milder gestimmt seitdem sie ihn gebadet hat, doch sie sieht immer noch die Anspannung in seinem Kiefer, die dünne Linie seiner Lippen. 

"Lass Mol dich begleiten," wiederholt er etwas sanfter, "sie wird dich nicht aufhalten oder aushorchen, sondern als reine Wache dienen."

"Ich habe schon Leibwachen."

Mit einem Seufzen richtet er sich gerade. "Die dich nicht sofort zurückbringen könnten, wenn etwas schiefginge. Wenn du dich wohler dabei fühlst, nimm meinetwegen auch die drei Kobolde mit. Solange Mol dabei ist. Dies sind meine Bedingungen."

"Deine Bedingungen," wiederholt sie. Sie wird NICHTS unterschreiben, schwört aber, dass für den Fall, dass sich das junge Wiesel als Spitzel entpuppt, ihre Backpfeife auch nicht vor der Wange einer Minderjährigen Halt machen wird.

"Zu unannehmbar?" fragt Raphael und sie merkt, dass er auf ihre Antwort wartet.

"Kommt drauf an. Wenn ich zusage, drehst du mir einen Strick daraus?"

Er schüttelt nur den Kopf. Raphaels Lächeln ist kaum vorhanden. Kein blumiges Wort. Dieser neue, nüchterne Ernst an ihm ist ihr nicht geheuer. Und doch - Tack. Tack tack. - ihr Fingernagel schlägt gegen das Holz und mit jedem Schlag schmilzt ihre Sturheit dahin. In der Tat, Tav will ihm etwas entgegnen, doch ihr fällt nichts ein, das den Atem wirklich verdient. Sie hätte gern Verbindlichkeit ohne Bindung. Vertrauen statt Vertrag. Doch Not kennt kein Gebot und Teufel keine paktlose Treue. 

So zieht sie den Arm zurück und drängt vor, als wolle sie den Unhold angreifen, umrempeln, umarmen. Und hält doch nur den Arm zum Handschlag hin. Sie wettet bereits auf seinen überraschten Gesichtsausdruck. Nicht aber erwartet sie eine solch heftige Reaktion, denn alles in Raphael weicht einzig vor dieser Geste zurück - sein Körper, der Ausdruck in den braunen, weiten Augen. Erstaunen und Skepsis, als sei in ihre Hand eine Granate vernäht. Raphael starrt ihre wartende Hand an. Er hat die Bedingungen gestellt und sie willigt ein; Und nun traut er dem Deal selbst nicht. Für einen Moment legt er die Handflächen eng an den Brustkorb und lehnt sich zurück, als müsse er sich schützen. Es ist zu ulkig.

Sie wirft ihm ein nachdrückliches "OK" vor die Füße.

Deal, alter Teufel.

Sie lässt sich auf ihn ein.

Im Gegenzug will sie, dass sie sich wie zivilisierte Leute die Hände schütteln. Als er schließlich ihre (unsichtbare) Hand(granate) nimmt, wirft er ihr ein vorsichtiges Lächeln zu.

"Auf eine fruchtbare Zusammenarbeit," sagt er.

"Das ist kein Pakt," erinnert sie ihn streng und zieht die Hand wieder zurück.

Warum auch immer, es macht ihn grinsen. Kopfschüttelnd lässt sie den Blick zu seinem Nacken gleiten.

"Und?" fragt sie, sehnsüchtig nach einem anderen, weniger explosiven Thema, "Was machen die Verspannungen?"

 


 

Dieser Tage braucht Hope nur noch zwei Magierhände, um sich zurückzulehnen, nicht, um mit der Arbeit hinterherzukommen. Wenn sie durch die Räume und Flure schlendert und ihr magischer Regenguss über alle Pflanzen niedergeht, schwirrt das Paar Hände samt Gießkanne in die versteckteren Ecken und wässert noch den kleinsten Strauch. Das ganze Haus riecht nach Stein im Sommerregen. Nach den Tagen von "lang lang ists her" irgendwo in Faerûn, als sie noch zu zweit waren und unter einem fettleibigen Despoten malochten. Die Erinnerungen könnten kühn und schön sein, aber meistens haftet irgendeine Qual an ihnen. Sie könnte sich diesen Trigger ersparen, diese zeitaufwändige Tätigkeit mit einem Zauberspruch aus der Ferne erledigen; doch sie will nicht. Es gibt manche Arbeiten, für die man sich Zeit nehmen sollte, so banal sie auch sind. Auch der angeknackste Geist gedeiht an ihnen am besten. Aber wem sagt sie das - niemandem außer sich selbst, und die weiß es ja bereits. Hahahaha.

Plötzlich hört Hope hinter sich schnelle kurze Schritte - patsch patsch patsch durch die Pfützen - und an ihr vorbei; es ist ein Tieflingjunge in Eile, verbeugt sich murmelnd vor der Hausherrin, bleibt aber nicht stehen. In seinen blauen Händchen liegt ein Goblinschädel, der ihr verdächtig bekannt vorkommt, doch schon huscht er um die Ecke und aus ihrer Sicht. Der Schädel ist garantiert Hopes Willkommenshalle "entnommen", wo Raphael seine ganzen Portschlüssel aufbewahrt. Aber wozu braucht der Junge den Schädel?

Sie folgt ihm - und unversehens ist sie vor dem Torbogen zu einer der größeren Logen im Herzen des Hauses, zum längeren Verweilen eingerichtet und von deren Ballustrade man auf den Brückenzugang blicken kann, der Empfangshalle und den Rest des Hauses miteinanderverbindet. Bevor Hope erkennen kann, was der Junge in der Loge treibt, bleibt sie in ausreichender Distanz stehen, unbemerkt. Stimmen. Mehrere davon.

Auf Zehenspitzen schleicht sie näher und postiert sich hinter einer der großen Topfpflanzen. Sie muss den Innenraum nicht sehen, um zu wissen, wer sich dort ein Stelldichein gibt. 

"Ah. Ich hätte uns etwas Praktischeres herbeizaubern können." Die Skepsis in Raphaels Stimme ist unverhohlen.

"Aber das (...) lustiger." erwidert eine Frauenstimme amüsiert und definitiv der Weberin gehörend. "Zieh dein Doublet aus."

"Nein."

"So komme ich nicht (...)punkt."

Hope hält die Luft an. Reckt den Hals durch das hängende Blätterwerk, um mehr zu verstehen.

"Und meine Antwort ist immer noch Nein."

"Was ist los mit dir?" frotzelt die Menschenfrau, "Ich dachte, du stehst gern im Mittelpunkt. Ein wenig mehr Haut zu zeigen brächte dir vermutlich mehr Bekanntheit als all deine Weltherrschaftsversuche zusammengenommen." 

"Du nennst mich geltungssüchtig? Das ist gewagt." Er klingt nicht vollends gekränkt. "Und das von einem so überaus bescheidenen Mäuschen. Du solltest dich selbst an die Nase fassen."

"Ach!"

"Ach," säuselt er zurück und etwas raschelt leise, "oder vielleicht sollte ich es einfach für dich tun. Wie gefiele dir ein Ochsenring?"

Zieht er jetzt etwa sein Wams aus? Der Teufel mit dem berühmten Stock im Arsch? Er zieht sich vor Tav aus? Tav und der Teufel. Oh. Oh! Hope fährt es heiß den Rücken hinab und sie spürt, dass das zwanghafte Kichern wie eine Blase ihre Luftröhre hinaufwandert. Knetet ihren Robenkragen und wippt auf den Füßen hin und her, um es an diesem Ausbruch zu hindern. Es ist offensichtlich, dass die beiden eine gemeinsame Vergangenheit verbindet und etwas darüber hinaus, ein seltsames Band, das niemand von den beiden gestehen will. Sie verstecken es so ungeschickt hinter ihren verbalen Attacken und der lückenhaften Geschäftsbeziehung, dass genau dieser Moment eigentlich gar keine Überraschung sein dürfte. Und trotzdem findet sie es so unglaublich, dass sie jetzt ihr halbes Kleid würgt, um nicht lauthals loszuprusten.

"Hm, das sähen deine neuen Freunde wahrscheinlich gar nicht gern," schäkert die Weberin zurück und die Bissigkeit in ihren Worten, macht Hope nervös kichern. "Nicht wahr, Kleiner?"

Von einer Seite dringt ein kleines, unsicheres Piepsen herüber, begleitet von Hüsteln. Der Junge ist immer noch im Raum mit ihnen. 

Nichts ergibt mehr Sinn.

"So funktioniert das nicht," seufzt Tav. "Wenn du nicht wenigstens eine Schicht Brokat entfernst, muss ich mir Golons Kriegshammer ausborgen und dich damit bearbeiten."

"Ich vertraue deinen Massagefähigkeiten," erwidert er.

"Ha-ha."

"Das sollte nicht lustig sein."

"Keine Sorge, es war ohnehin nicht echt. Mir ist bewusst, dass du keinen Sinn für Humor hast."

Ein Schnauben. "Ich sehe keinen Grund, einen solchen zu pflegen." Eine Pause. "Humor dient der Distraktion und Erleichterung. Ich brauche keines von beiden, noch die Notwendigkeit sie jemand anderem zu erteilen."

"Wundert mich nicht. Heh, was sagst du dazu, Kleiner? Ein Boss bar des Jokus."

"Mäuschen, ich sagte nicht, dass ich Humor nicht verstehe. Intellektuell gesehen, bin ich des Prinzips bestens vertraut."

"So, der brillante Raphael behauptet, er wisse, was Humor ist." Ein Lachen. "Dann beweis es mal. Erzähl einen Witz."

"Das habe ich nicht nötig."

"Weil dus nicht kannst."

"Und ob ich kann. Es ist schließlich nicht nesserisches Algebra."

"Kannst du nicht." Sie foppt ihn singend.

"Warum wurde der Laurer degradiert?"

Stille.

"Weil er die Klappe nicht halten konnte."

"Was ist ein Laurer?"

"Eine biologische Falle, die sich als falscher Boden tarnen kann. Ich dachte, du wärst im Unterreich gewesen."

"Und warum wird er dafür degradiert?"

"Klappe - Falle. Es ist ein Wortspiel, Tav."

"Kapier ich nicht."

Immer noch konfus wenngleich beruhigter, lehnt sich Hope zurück und zupft an den gelben Spitzen der Pflanze. Ihre Aufmerksamkeit wandert von dem vermeintlichen Tête-à-Tête zu dem Objekt, das seit Wochen zu sterben versucht. Sie überprüft die Erde in dem großen Terracotta-Topf. Feucht genug, natürlich. Es handelt sich um einen Gummibaum von der südlichen Schwertküste, der seit seinem Umzug nicht gedeihen will. Ist es das avernische Klima, die Abwesenheit von echtem Sonnenlicht oder der feuchte Luftstrom der Küste, der fehlt, sie kann es nicht sagen; unermüdlich lässt sie Exemplare derselben Art herbringen, simuliert Tageslicht und eine warme Küstenbrise, doch jedes Exemplar lebte keinen Monat. Jedes Stück Schwertküste, das hier stirbt, hallt wie ein Echo in ihrem Blut. Sonderbar diese Wirkung, denkt sie. Vielleicht ist es ein Überbleibsel ihrer Kerkerjahre. Vielleicht ist es auch so ein Zwergending - das Herz ist voller Fürsorge für das erwählte Medium, sodass es existenziell wehtut, wenn das Medium sie ablehnt. Sie will wahnsinnig davon werden. 

Hope berieselt das selbstmörderische Bäumchen mit einem dichten Nebel aus feinen Tropfen. Sie geht in die Hocke, drückt die dicken Zweige zur Seite, um den Stamm zu inspizieren. Nimmt ihn zwischen die Finger - es ist ein Zwirbel aus zwei dünnen Stämmen, von dem einer verdorrt ist. Ihr Atem stockt.

Aus dem Inneren der Lounge tönt Tavs Stimme, scharf und sardonisch. Gelächter folgt. Dann Raphael, der leise murrt.

"Danke für den Schädel, Kleiner. Du kannst gehen," sagt die Weberin laut, "Auf auf! Bevor sich deine Geschwister noch Sorgen machen."

Hope ergreift den Baum am Stamm. Ganz leise. Und auf einmal will sie bitterlich weinen, bis sich um sie ein ganzer Ozean bildet.

Chapter 30: 30 Des Teufels Fürsorge

Summary:

I want you hard in my arms, so soft on my bed. You get the key to my heart, oh, when you wear that sweet dress. But you're too physical, physical to me.
- Physical (You're so) by Adam & The Ants

Notes:

Danke fürs Dranbleiben, liebe Lesenden. Ich bin selbst kein Fan von 200k-Fanfics, aber mein Kapitel-Scheduling sagt mir, dass wir uns darauf zubewegen, und zwar locker. Sorry.

Chapter Text

Nach der Abreise von Frau Eisenmarschallin dauert es nicht lang, bis sie wieder im Bett landen. Das Novum: Es passiert frei von Streit und Drama, ein natürlicher Erdrutsch, sie beide zuerst konversierend auf dem Sofa und dann in hastiger Umarmung im Boudoir. Ihr Gewicht, das an ihm hängt, seine Hände unter ihrem Gesäß, die sie halten. Er sollte der Stärkere von beiden sein, aber es ist Tav, die nimmt und nimmt, während sie weiterhin das Küssen auf den Mund verfemt. Er drängt sie nicht. Es ist ein mühsam gewonnener Meter in diesem Grabenkrieg namens Gus Tava. Er will nicht darüber nachdenken. Nicht über die Gründe oder über Tavs Motive. Nicht über das, was in Malbolge geschah, und noch nicht einmal über seine Mission. Er will einzig dem Körpergenuss huldigen, ganz ohne Zeitdruck. Und so ist der erste Höhepunkt des Tages gefühlt binnen eines Atemzugs erreicht.

Bevor die Lethargie ihn völlig besiegt, bauscht Raphael das Kissen unterm Nacken zusammen und greift nach dem Glas Wein, das seit geraumer Zeit neben ihm schwebt. Schnippt umgehend, damit auch seine Sexgespielin ihren Durst löschen kann. Zuckt dann innerlich mit den Schultern und beschwört ein riesiges Buffet, an dem sie sich für an die nächsten hundert Liebesrunden laben könnten. Neben ihm ein hohes "Huch!". Lang ist es her, dass so viel Magie auf einen Schlag seine Poren verließ. Erfrischend, diese Freiheit. Wenigstens ein Gutes hat die Loslösung von Haus Mephistar und all den vermaledeiten Pflichten, denkt er und mit einem weiteren Wink zaubert er einen gedeckten Esstisch in romantischem Kerzenlicht herbei. 

Über den Glasrand hinweg beobachtet er, wie Tavs auf den Rindercarpaccio in vino di sangue und dann den gerösteten Griffonherz auf Beerengelee (jede Frucht enthält einen Tropfen einer verlorenen Erinnerung - eine davon ist Tavs; er fragt sich, ob sie sie erraten würde) schielt, bevor ihr Blick zum Teufel springt, der auf dem großen Bett neben ihr loungiert. Er senkt das Glas und lächelt. Genießt die träge Neugier, mit der sie ihn von ihrem Kissenmeer aus mustert, und die von seinem Gesicht zur nackten Brust sinkt, dann zu den Bauchmuskeln, und am Ende zu seinem Glied. Er kann ihre Augen hinter den niedergeschlagenen Wimpern nicht sehen, aber er stellt sich vor, dass sie ihn wie eines der ikonografischen Skulpturen studiert, die früher in seinen Korridoren standen und so einige Bewunderer fanden. Jede einzelne davon eine überlebensgroße Darstellung seiner royalen Gäste und die seine Schuldner mit zwecklosen Ritualen anbeten mussten. Heute steht nur noch eine.

Raphael mahlt jedes Mal Zähne, wenn er daran vorbeimarschiert. 

Aber schon wird er aus seinem dunklen Gedanken gezerrt, denn da liegt ihre Hand auf ihm, scheu und unschuldig, ihr Arm halb gestreckt, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Sie wandert kaum eine Nasenlänge Richtung Schritt - das reicht aber, um ihm eine wohlige Gänsehaut zu entlocken. Unverhohlen spekuliert er auf Teil Zwei ihres Schäferstündchen, dann hoffentlich endlich mit echter Penetration. Er streckt Glieder und Zehen, präsentiert sich in all seiner maskulinen Nacktheit. Nestelt mit einem Gewinnerlächeln an seiner Vorhaut. Sie hat ihn heute dort lediglich mit dem Atem gestrichen. Vielleicht wird sie ihn dieses Mal mit ihrem Rachen beehren. Sie haben in den letzten Tagen so hart an ihrem neuen, guten Verhältnis gearbeitet - sicherlich wäre mehr drin als nur Soft Petting. 

Für einen Moment schließt er die Augen, genießt das Kribbeln auf der Haut. Packt sich fester an und frohlockt über das harte Fleisch in seiner Faust. Lugt dann erwartungsvoll auf sie hinab. 

Kohlrabenschwarzes Haar offen, die hohe Stirn glänzend, kleine Schweißperlen in den dichten Brauen. Sie bilden eine Trennlinie, die schwer auf ihren Lidern liegt, so schwer wie die Hand, die über seinen Torso geistert. Es ist, als müsse sie den Weg mit ihrer Iris ebnen, bevor die Hand folgen kann. Verlorenheit in ihren Wangen - wie viele verlorene Seelen in Avernus hatte er schon gefangen und sie trugen den gleichen Ausdruck? Viele. Der Geruch von grauem Staub allgegenwärtig. Rief er ihren Namen, würde sie überrascht aufschauen? Ihre Finger streifen seine rechte Brustwarze. Er spürt die Kränkung, als sie nicht verweilen. Umkreisen den Hof seines Nabels, einmal. Zögern. Dann ein zweites Mal.

"So viele Spuren," haucht sie und es klingt als wäre sie in Trance.

Sie sieht noch nicht einmal hin, sondern starrt an ihrer Hand vorbei. Raphael hebt den Kopf vom Kissen, stirnrunzelnd. Es scheint, als sei sie gar nicht hier. Ihre Miene ausdruckslos.

"Hör nicht hin," sagt er.

"Hm?"

"Dem Ruf der Fäden - widerstehe ihm."

Es scheint sie aus ihrem Tagtraum zu wecken, denn kurz legt sie den Kopf schief und fixiert ihn.

"Keine Ahnung, was du meinst," murmelt sie und vergräbt eine Wange im Kissen, sodass er jetzt nur eine Wand aus schwarzem Haar vor sich hat. 

Vielleicht lügt sie, vielleicht hört sie die Klagerufe tatsächlich nicht - es spielt keine Rolle. Der eigentliche Affront ist doch diese Mauer. Mehr noch: Tav streichelt ihn auf eine Art, als bedeutete es etwas, ja, liebkost ihn so furchtbar zutraulich - als sei er irgendein ein wildes Tier, das man nur lang genug hinterm Ohr kraulen muss, um es zu bändigen. Er könnte sie zerfetzen, zermalmen, sie in einem Ruck von dieser Welt löschen. Stattdessen übt der Teufel sich in Duldsamkeit. Er hofft immer noch, dass sie ihn in den Mund nehmen wird.

Raphael gebietet sich zur Ruhe, als Tavs Daumen über jene kaum sichtbare Linie streicht, die den Verlust seines Beins markiert und die nur deshalb so auffällt, weil alles südlich der Leiste ein wenig rosiger, ein wenig schwächer erscheint als der Rest seines jahrtausendealten Körpers. 

"Es ist so weich."

Er spannt an. Er versucht es nicht zu tun, aber bei den Neun, seine Muskeln gehorchen nicht.

Ihre Berührung ist noch leiser als ihre Stimme. "Noch etwas, das wir gemeinsam haben," flüstert sie.

Raphael rutscht räuspernd hoch, bis sein Rücken vollständig gegen das Betthaupt lehnt. Ihr Daumen liegt nun auf seinem Innenschenkel statt der Narbe. Tav blinzelt zu ihm auf und er grient jovial.

"Wenn du etwas Hartes suchst, Liebes ..."

Er nimmt ihre Hand und drückt sie gegen seine Halberektion. Zieht daran vorbei und lässt sie die heiße Schwere seines Sacks spüren. Schnalzt dann anzüglich. Das Mäuschen verdreht die Augen, er lacht tief. Die Spannung scheint gebrochen. Aber sobald er den Griff lockert, kehren ihre umtriebigen Menschenfühler zu der Narbe zurück, und er muss tief Luft holen.

"Das hier - was ist hier passiert?"

Er schluckt. Ihre Fingerspitzen - so blödsinnig behutsam.

Und kaum da.

Pein.

"Maus -"

Er kann selbst nicht sagen, ob mehr als nur gegurgelte Laute aus seinem Mund kommen. Er hat schier das Gefühl als schrumpfe seine Haut und wird zu straff, kann nicht atmen, sich nicht bewegen - er kann nur sterben.

Oder sich freikämpfen.

Raphael schießt ächzend hoch, ergreift Tav (vermutlich etwas zu grob, denn für einen Moment erkennt er vor lauter auffliegender Frauenmähne nichts) und umklammert sie - mit einer Hand um eine Hälfte ihres Gesichts und mit der anderen um ihren Kiefer. Hält fest. Noch ein Blick in ihre erschrockenen Onyxaugen. Ihr Geist immer noch abwesend. Also stößt er sie in den Abgrund.

Felswände in Kupfer - Rot, Rot überall, abstrahiert natürlich (aus Hygienegründen), aber kein Schreien, kein Stöhnen, zumindest nicht wie in Abriymoch, nein (nie wieder). Da ist nur der Duft nach warmen Körpern und Blut, das durch Adern rauscht, und in der Ferne ein schnelles, erregtes Katschen von Haut auf Haut, wie ein Schlägel auf dem Hackbrett, das stets mit dem Kettenklirren konkurriert. Raphael hat keine weitere Sekunde vergeudet und sie in eine seiner Fantasien gestürzt - neu gewandet und ein bisschen weniger furchtsam als die bisherigen - während Tav sich von dem schwindelerregenden Ortswechsel erholt. Und kapiert, wo sie sich befinden. Oder besser gesagt, in welchem Zustand: Sie am Rücken aufgehängt und er in seiner wahren Gestalt hinter ihr und kurz davor in sie zu fahren. Wild und vergeltend und ohne jeden Skrupel.

Sie ist ihm unerträglich, sie und ihre Zärtelei. Dieser Kontakt - falsch. Schmerzhaft.

Starrt auf ihre verbundenen Hände.

Würde sie ihr am liebsten abschneiden.

Er knirscht mit den dämonischen Zähnen und verbrennt sie dort, wo seine mächtige Flammengestalt zwischen ihren Schenkel steht. Sie jault auf. Schreit.

Sekunden verfliegen, ehe Raphael selbst versteht, was er im Begriff ist zu tun, doch Tavs Stimme - und sein Name auf ihren Lippen - ruft ihn zurück. Schaudernd lässt er die Frau los. Das Feuer geht aus. Um sie herum wallen die Seufzer anderer "Gefolterter" mit einem langen Ah! auf, als erleichterte es sie, dass er sie leben lässt. Raphaels Schatten folgt seinem Herrn und Meister und schrumpft auf die Größe seiner geflügelten, flammenlosen Kambiongestalt. Keine Glut, keine Rachlust mehr. Nur Raphaels Klauen, auf Tavs zuckendem Gesäß. Dann auf ihren Verbrennungen, wo sie jede Spur seiner Gewalt heilen. Und schließlich an Tavs Hüften, sich um sie webend und sie langsam auf seinem Glied zweiteilend, vorsichtig, geradezu liebevoll, dass es ihn fast umbringt. Es war nicht ernst gemeint, will er sagen und küsst sie aufs Schulterblatt. Nur ein kleiner, verspielter Terroranschlag. Er sieht zur Seite weg. Tav, die immer noch über dem Boden baumelt, sichtlich überwältigt. Aber Raphael lässt sie nicht mehr los und bedeckt sie mit der heruntergeregelten Hitze seiner Haut. Als würde es sie beruhigen. Alles wieder in Ordnung. Und dann leckt er über ihre Einstiche und sie ächzt zum Lied ihrer Fesseln.

"Gehorche mir. Tu was ich sage," spricht er gegen ihre Schulter. "Und ich gebe dir alles, was du willst."

Das Seufzen der Erleichterung verwandelt sich rasch in etwas anderes, etwas, das er zu reproduzieren versucht. Immerzu und überall hört er den Zaubergarn, hört die Wehklagen, doch jetzt ist ihr Winseln wie Balsam. Lindert die ärgsten Schreie.

"Ist das ein Ja?" Auf das letzte Wort zieht er sie weiter auf seinen Schaft. Manövriert sie so, dass sein Gewicht an jenen magischen Nerven reibt, die Tav nach wenigen Malen erzittern lassen. Eng wie eine eingeölte Faust ist sie, buttrig und warm. Freilich sind die Empfindungen nur ein Schatten und freilich ist es auch Teil ihrer Fantasie - er gibt ihr seinen Schwanz, sie füllt die Lücken. Sie weiß es nur nicht - stöhnt ungeniert, als er sie beide bis zum Anschlag zusammenführt - unfähig zu jedem mehrsilbigen Wort. 

"Klingt wie ein Ja." Er grinst.

Sie kann nichts tun, gar nichts, kann nur hilflos vor- und zurückpendeln. Doch er schwört, dass ihre Muskeln bei jedem Hinausgleiten versuchen, ihn festzuhalten. 

"Genau so," sagt er, als sie um ihm herum kontraktiert, und erst einen Atemzug später merkt er, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hat. Er packt ihre Fessel und lässt sie mit vollem Schwung auf ihn zurückfallen, "Genau so. Nimm mich. Zeig mir, was du kannst." 

"Gagh." Mehr Wimmern.

"Hmm, du machst immer die vorzüglichsten Geräusche," sagt er, "selbst im Traum." 


Und sie sind zurück. Gespannt beobachet Raphael, wie Tav keuchend zu sich kommt. Ein faszinierender Prozess - dieses Ringen um Bewusstsein, und in den meisten Fällen eine Verschwendung wertvoller Zeit. Jetzt aber hält es ihn gebannt, die Erwartung auf ihre Reaktion. Als sich die Rädchen in ihrem hochroten Kopf drehen und Tav ihn blinzelnd fixiert, antwortet er mit einem Zwinkern. Fluchend stößt sie ihn weg und dreht sich weg, um sich eilig nach Wunden und anderen Zeugnissen abzutasten. Natürlich ist nichts da. Von seinem Platz aus schaut Raphael zu, wie ihre Locken über den makellosen Rücken fallen.

"Du bist ein Sadist, Raphael," kläfft sie über die Schulter. "Du und deine scheiß-Albträume. Tu das nie wieder. Hörst du? NIE WIEDER."

Er seufzt. Es ist ein schöner Rücken. Kräftig und feminin. Fehlen nur die Stahlringe.

"Es geht nicht immer um verdammte Verführung," Als sie sich mit dem Schwung ihres Ärgers ihm zu dreht, rutscht die Decke von ihrer Front und legt zwei (in Kambiongröße gemessen) nahezu handfüllende Brüste frei. Die Nippel hart. "sondern nur - verflucht nochmal - um ein simples Gespräch. Kannst du das?! Hey, hier oben spielt die Musik. Bist du nicht dazu in der Lage?"

Ihr Schimpfen bleibt unkommentiert, denn er sieht das echte Feuer in ihren Augen und riecht das Aroma ihrer Lust, und nichts, was sie sagt, kann dem, was ihr Körper ihm verrät, etwas entgegensetzen. Sie will ihn genauso wie er sie will, das steht außer Zweifel. Aber die Vorstellung daran, was passieren könnte, wenn er spontan mit der Hand in ihr Haar griff und sie küsste, versetzt seinem Herz derart in Aufregung, dass er es nicht wagt. Und ja, er gibt seiner kleinen Heldin insgeheim Recht gibt: Nicht alles ist kühle Berechnung. Raphael erfasst heftige Sehnsucht nach Verbindung, die mehr ist als Vertrag. Doch er kennt nur das - Klauseln. Und Schmerzen. Er weiß von der weiblichen Libido kaum mehr als trockene Theorie - muss da der Gesamtausgabe von "Ergonomik der Stimulation" blind vertrauen, wenn dort steht, dass das, "was alle Frauen wollen" Jenes ist: einen Liebhaber, der wie ein Priester verehrt und wie ein Tier begehrt.

Also, in Ermangelung einer besseren Idee, schnappt Raphael sich eins ihrer Beine.

Tav lässt einen indignierten Protestschrei los, doch landet mit dem Gesicht in den Laken, Arme ausgestreckt. Ohne Umschweife reißt er die Bettdecke von ihr und mit pumpender Hand beginnt er sie wie ein Hund zu beschnüffeln, zu nippen, zu küssen, zumindest da, wo sie ihn lässt, und damit sie ihn nicht aus Verpflichtung oder irgendwelchen dummen Motiven anfassen muss. Damit niemand irgendeinen Deals fürchten und sie kein weiteres Wort mehr wechseln müssen. Es gehe ihr nicht immer um Verführung, sagt sie. Nur um ein "simples Gespräch". 

"Zu spät, ich bin schon verführt," murrt er gegen ihre Haut.

"Oh, BITTE."

In diesem Zustand ist er nur zu einer Sache in der Lage. Alles andere - nicht das Hirnschmalz wert. Aber auch sie will nicht bloß reden, das sieht jeder Blinde. Die Kicks, die Tav gegen seinen Kopf austeilt, kommen so schnell zum Erliegen wie ihr Protest ("Fass mich nicht an, ich bin wütend." - "Zu wütend für Sex?" - "Hmpf."), und nach etwas kämpferischem Herumwälzen hat er ihre Beine mühelos vor sich geöffnet, wie in der Vision; nur liegt sie auf dem Rücken und er auf ihren angewinkelten Knien und drückt ihre Hüfte in die Matratze, um einen guten Blick unter ihren Busch zu werfen. Ihr Zentrum ist rosig und - er fährt mit dem Daumen drüber - prall (er wundert sich, welches Element seiner Fantasie das verursacht haben könnte: der Sex, die Haken, seine Zunge?). Der Teufel tut ihr nichts als einen Gefallen, als er ihre niederen Lippen mit seinem Mund versiegelt und lutscht. Das Mäuschen piepst und schnappt nach Luft. Seufzt ergeben. Auf diese Weise vergisst es endlich ihre Melancholie. So merkt es sich, wer das Wichtigste in diesem Raum ist. (Er). So bleibt jede Berührung unter seiner Kontrolle.

Raphael thront hinter ihr und brummt gegen das süchtig machende Fleisch. Inhaliert direkt von der Quelle. Schmeckt einen Hauch von Reife und altem Blut. Und erinnert sich vage an menschliche Biologie, Fruchtbarkeit, natürliche Blutung. Er stöhnt auf. Kann kaum an sich halten, als er beobachtet, wie sie wimpernschlagend in ihre Unterlippe beißt und schnurrt. Allein das Geräusch - das i-Tüpfelchen auf einem Meistervertrag. Der Kern frei von Putz und Schein - die nackte Wahrheit. Sie will ihn auch. Will ihn an sich haben. Und ihr Wollen gräbt sich tiefer und tiefer in jeden ihrer Muskel, je intensiver Finger und Zunge arbeiten. Binnen Minuten keucht und windet sie sich unter seinem Handwerk, schwillt an, wie auch er anschwillt, das Blut direkt unter ihrer Haut, die er unermüdlich reizt, bis sie zu guter Letzt kommt, heiser kieksend und strampelnd und dann -! Dann ist auf einmal die untere Hälfte seines Gesichts nass. Raphael gefriert, linst auf den dunklen Fleck unter ihr. Es riecht nach ihrem aromatischen Sekret, aber auch nach Urin, nur ... getreidiger. Raphael hebt langsam den Kopf und wischt sich über das Kinn und starrt auf seine tropfende Hand. Schnuppert nochmals daran und, weil die Neugier siegt, züngelt er an einer Fingerspitze. Sein Gesicht ist getüncht in ihrem Geruch, die Luft schwanger davon. Sein Erstaunen verwandelt sich in Faszination und Raphael packt Tav nochmals bei den Hüften, Fokus ganz auf dieser wundersamen Stelle, die die klugen Köpfe Vulva nennen. 

Klingt fast wie Vulkan. Lava. Wunder.

"Nochmal. Nochmal," raunt er und setzt erneut zur Fingerarbeit an.

Tav schüttelt den Kopf und quengelt, dass sie überreizt sei.

"Psst." Er lauscht auf das nasse Geräusch. "Ich will mich gut um dich kümmern. Beine auf und lass mich." Ein feuchter Kuss. "Dich noch einmal kosten." Er hebt ihren linken Oberschenkel mit kitzelnden Fingern. "Genau hier ..." 

Doch Raphael meint nicht dort, denn er schiebt die Nase unter ihre Labia und seinen Mund gegen eine verstecktere Öffnung - und mit einem Quieken versucht Tav ihre Hüfte zur Seite zu drehen. Er hält inne, Atem an Haut und Härchen, und kost die Außenseite ihres Schenkels mit dem Bett seiner Nägel, dort, wo ihre Adern dicht unter der Haut schimmern und sie zuverlässig erschauert. Und dann, als sie beruhigt ist und er sicher ist, dass sie ihn nicht treten wird, schiebt er das Kinn vor und leckt den Rand dieses verbotenen Ortes. Erprobt sich an diesem Tabu, das in all den Jahrhunderten seiner sexuellen Reifung nur ein spezieller Inkubus brach, und vergräbt drei Finger tief in ihrem Zentrum.

Von Fleisch, Kern und Stumpf - der Teufel hat von ihrer ganzen Frucht gekostet. Hat Buchseiten mit ihr gefüllt.

Sie fasst ihn nicht noch einmal an, also kommt Raphael in seine eigene Hand, klaglos. Denn er kennt sie jetzt, denkt er, als er noch einmal tief einatmet, und sich ein letztes Mal melkt. Sie ist so gut wie seins.

Chapter 31: 31 Hat es dir gefallen?

Summary:

Nähe ist ein schneidendes Schwert.

Notes:

Can I get off without reliving history
And let every echo just sing to itself?
Can I move on without knowing specifics
While memories hum like a hive shaken out?
- Perfume Genius

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Es fühlt sich so an, als würde der Tag zu Neige gehen. In Wirklichkeit ist er einfach nur müde und das Herumliegen im Bett lädt zur Schläfrigkeit ein. Raphael würde diesem allzu sterblichen Gefühl am liebsten nachgeben. Trägheit. In samtweichen Kissen und in angenehmer Begleitung eine Todsünde. Sie liegt immer noch neben ihm. Jetzt Brust an Schulter und ihr linkes Bein halb über ihm drapiert. Und mit jedem Zentimeter Haut mehr, das sie miteinanderteilen, scheint die Unruhe in der Luft leiser zu werden. Aber das Schlimme am Glücklichsein ist, dass es der kürzeste aller Zustände ist, und jedes zärtliche Innehalten nur eine verborgene Qual, die aufs Ende schielt. Er weiß, er kann nicht verweilen. Zuviel zu tun. Sie sind schon seit Stunden im Boudoir. Vielleicht können sie es später wieder tun. Vielleicht können sie es immer wieder tun.

"Also, warum sieht dein Bein so anders aus?"

Oder auch nicht. Die ungehörigen Fragen, denkt er und starrt selbst auf das seltsam nachgewachsene Gebilde. Nun, sie war vorhin schon derart darauf fixiert, dass Herumdruchsen nichts bringen wird. Er muss antworten.

"Es kam mir abhanden - nicht ganz freiwillig, wohlgemerkt," antwortet Raphael so umständlich wie möglich, "und der Versuch es selbst zu heilen lief nicht so erfolgreich wie erhofft."

"Mhm," erwidert Tav nur und fährt mit dem Finger wieder über die Narbe. Als er schon wieder unwillkürlich zuckt, hält sie inne.

"Was?", kommt er ihr zuvor, kann aber gerade noch ein veräterisches Wegrücken unterbinden, "Enttäuscht vom Resultat?"

Er sollte nicht nachhaken - es klingt nach Rechtfertigung. Er muss sich nicht rechtfertigen, er weiß, wie er aussieht. Hätte sie ihn damals aus dem Kerker befreit, wäre es nie so weit gekommen, hätte er nie auf einem Bein durch die Kloake von Mephistar kriechen müssen, hätte nicht beinahe vor den Mauern der Stadt sein Dasein ausgehaucht. Es steht ihr nicht zu über ihn zu richten.

"Nein. Ich finde es eher erstaunlich, dass du ganze Glieder zurückheilen kannst," erwidert sie langsam.

Oh.

Er weiß nicht, wo er eher hingucken soll - auf ihre glänzenden Onyxaugen, die ihm mit neuen Fragezeichen schmeicheln, oder auf ihre Hand, die immer noch dreuend über seiner Haut verharrt. "Obgleich mich bei euch Baatezu nix mehr schocken sollte ... Wie hast du das geschafft? Ein Fass Heilbalm geext? Eine Seelenmünze verschluckt?"

"Nein," sagt er leise und hört selbst, wie im Echo ihres Kompliments seine Stimme immer leiser wird, "mit meiner eigenen Magie."

"Nicht bloß ein Seelenfänger, sondern auch ein Magier, was?"

Teufel, dieses Lächeln. Das letzte Mal als er es an ihr sah, war sie so jung gewesen. Verschämt, verschmitzt und vom Leben noch unversehrt. Er hatte sich damals in eine Taverne manifestiert - kostümiert, versteht sich -, in einen Kuhstall, in dem sie eigentlich putzte, aber Pilgern und Handelsreisenden beim Lanzbrettspielen auf die Nerven ging, indem sie ungebetene Ratschläge austeilte. Raphael war vermutlich der erste und einzige gewesen, der sie zu einer Partie einlud. Natürlich hatte sie verloren.

Aber genau diese kindliche Neugier sieht er jetzt in ihr; Es ist, als wäre sie wieder neunzehn und frei von Vorurteilen. Eine bittersüße Erinnerung. 

"Kein Magier - ein Zauberer vielmehr," erwidert er knapp, aber ihre Augen fordern mehr.

Mit einem Seufzen drückt er ihre Hand gegen sein Abdomen, das sich schwerfällig hebt und senkt. "Die Kräfte sind angeboren. Sie lassen sich durch Gegenstände, Rituale und, ja, auch durch Seelen verstärken - aber sie sind bereits in mir. Dass ich zu der Zeit keine Möglichkeit hatte, genügend Kraft zu bündeln, ist der Grund, weshalb es ... so fehlerhaft aussieht."

"Nun, es ist jetzt Teil von dir. Ein einzigartiges Stück Arbeit."

Ihre Stimme ist hell und verhuscht.

Er zieht seine Hand zurück und sieht sie schief an. "Mein magisches Versagen macht mich einzigartig? Du klingst wie eine Mutter, die ihr völlig unbegabtes Kind tröstet," sagt er mit sardonischem Unterton und heimst sich ein schnaufendes Kichern ein. "Nun - danke, trotzdem. Obgleich es etwas Nachbehandlung vertragen könnte."

Sie berührt ihn noch immer und es macht etwas mit ihm. Er will sie zurückberühren.

"Ich wäre übrigens dazu in der Lage -" Nimmt ihm den Bass aus der Stimme. Fährt ihm unter die Haut. "Ich könnte sie entfernen."

"Alle? Auch die tiefen an deinem Bauch?" Ihr Finger fährt über seine Leiste und Raphael fühlt eine Welle der Erregung.

"Die Narben dort sind Zeugnisse schwarzer Magie - sie sind praktisch permanent. Nein, ich meine die an deinem Bauch." Er rächt sich mit einem ebenbürtig zarten Streichen seiner Fingerspitzen.

Narben erzählen immer so wundersame Geschichten - Ihre muss herausragend sein, da ist er sich sicher. Stattdessen weicht Tav wie von einer Schlange gebissen zurück. Zieht sich das Bettlaken über die Mitte, sodass alles zwischen Brust und Oberschenkel verdeckt ist. Etwas sticht in seinem Brustkorb.

"Sie ist alt," erwidert sie mit der Decke über ihrem Geheimnis, "sie tut niemandem etwas."

Ihre ganze Haltung ist auf einmal abweisend.

"Nur keine Scham, meine Liebe," säuselt Raphael, "der Schnitt stammt von einer Klinge, nicht wahr? Solch eine Verunstaltung ist selbst Jahre später einfach zu heilen."

Er versucht sie zu umgarnen, er versucht es wirklich, und zwar aufrichtig. Stattdessen richtet sich Tav auf und ballt die Fäuste. "Nur weil du es abstoßend findest, heißt das nicht, dass du es ändern darfst. Es ist immer noch mein Körper."

Er mustert sie scharf.

"Habe ich dich gekränkt?" Sie antwortet nicht. "Möchtest du mir verraten, wo du die Narbe herhast?"

"Nicht im Moment."

Starrt ihn an und er starrt zurück. Das Strahlen in ihren Augen ist fort - nur noch zwei schwarze, stille Winterseen. Wer hineinfällt, muss wohl ertrinken oder strampelnd erfrieren. Wahrlich, diese Kälte ...

"Es würde dir gut tun, wenn -"

Jetzt liegt sie auf ihm, ihre Hände wieder an seiner Kehle. Immer an seiner Kehle. Und der Griff so fest, dass er das Kinn runterdrücken muss, um seine Luftröhre zu schützen. Seine Arme sind kapitulierend zur Seite ausgestreckt, sein Atem stockt. Aber er kann immer noch lächeln.

"Nicht jetzt, habe ich gesagt."

Er sieht die Bewegung in ihren Augen. In Momenten wie diesem begreift er, dass dies Rache ist. Dass sie nicht hier ist, weil sie es will. Sie wirkt so seltsam kalt und verbissen, als trieb sie durch ein Meer und versuchte selbst nicht unterzugehen. Doch irgendwie hat sie sich an das hier, was auch immer es ist, das zwischen ihnen läuft, wie an einen Strohhalm geklammert. Warum oder wieso, weiß Raphael nicht, und er ist sich ziemlich sicher, dass sie es ihn auch nicht wissen lassen will - auch wenn er eine Ahnung hat: Denn er spürt sie auch, die dunkle Ekstase. Er kann nicht länger so tun, als hätte sie seine Integrität nicht längst kompromittiert. Er ist durch mit dem Schauspiel.

"Tav."

"Nicht."

Druck an seiner Gurgel. Sie bestraft ihn definitiv. Lässt ihn für das büßen, was er ihrem Liebhaber angetan (oder nicht angetan) hat. Erführe sie zu diesem Zeitpunkt die Wahrheit über Kar'niss' Verbleib, wäre jegliche Toleranz Raphael gegenüber auf der Stelle Geschichte. Doch wenn alles nach Plan verläuft, wird ihr die Erkenntnis nichts mehr bringen. Dann ist sein Ziel in derart greifbarer Nähe, dass er sie nicht mehr braucht. Dann kann sie seinetwegen zum Himmel fahren.

Die Mauern um sie herum erzittern augenblicklich. Krümmen sich wie Klageweiber über ihm und weinen und Raphael spürt, wie auch sein Selbst um etwas bangt, und wie die Grundfeste bebt nun auch er. Sie steigt ab - er dreht sich weg, Hand an der Kehle. Es ist der Knoten, dieser magisch verfluchte Knoten. Dann hört er, wie sie sich umdreht, und sieht zurück. In Erwartung, was sein dramatisches Mäuschen nun jetzt ausheckt. Aber sie hat einfach nur das Gesicht in der Hand vergraben.

 


 

Er richtet sich auf seinen Ellenbogen auf. Sie merkt, dass er sie schief ansieht.

"Hat es dir gefallen?", fragt er plötzlich. "Bist du befriedigt?"

Seine Stimme ist seltsam verhalten.

Mit einem Seufzen schwingt sie sich auf die Füße und beginnt wortlos die wenigen Klamotten, die sie zuvor getragen hatte, aufzusammeln. Es ist Zeit zu gehen.

Der Braten am Buffet ist erkaltet, die aufgetürmten Speisen haben ihre Frische verloren. Sie spürt seinen bohrenden Blick. Wie fliehen?

"Du hast sicher bemerkt, dass der Orgasmus vorhin nicht ganz einvernehmlich verlief," sagt sie endlich und streckt ihm ungeniert ihr nacktes Hinterteil hin, während sie ihre Unterhose aufklaubt. Daneben liegt eine halb zerquetschte Cherrytomate. Aber auf dem Boden tummeln sich so einige Spuren ihrer Lust und Völlerei der vergangenen Stunden, "Hast mir mit deiner Vision gedroht - wenn ich nicht kleinbeigebe, tust du weiß-der-Geier-was mit mir." 

'Lügnerin. Du hast dich noch nicht einmal richtig gewehrt,' wispert eine Stimme. 'Er hat mich eingeschüchtert - überwältigt!,' schnauzt sie zurück.

"Das ist mir durchaus bewusst," erwidert Raphael ganz unbeeindruckt, immer noch breitbeinig in den Laken, "aber du flunkerst: Ich konnte deine Erregung vorhin deutlich spüren, noch bevor ich dich wirklich angefasst habe. Du riechst immer noch danach. Wie auch immer, das war nicht meine Frage."

Sie wünschte, sie könnte sich vor seinem Blick verkriechen. "Magst du, was wir tun?"

Tav will fast auflachen. Erwartet er ernsthaft, dass sie sich ihm öffnet? Wenn er es doch selbst nicht tut?

"Kommt drauf an."

"Worauf?"

"Wie sehr würdest dus mögen vergewaltigt zu werden?"

Für eine Sekunde entgleitet ihm der Ausdruck; Tav kann es nur kurz sehen, dann verschwinden Raphael und das Zimmer hinter dem Leinen, das sie sich über Kopf und Schultern zieht. Kämmt sich mit den Fingern durchs Haar und bindet den Kragen zu. Totenstille im Raum.

"Du weichst meiner Frage aus," sagt er schließlich.

Gewiss, für diesen Move fühlt sie sich kurz schlecht, aber sie wird ihm die Gewissheit nicht geben. Jede seiner Berührungen ist eine Schandtat. Kann nicht existieren ohne Kalkül. 

"So wie du vor fast jeder meiner Berührungen zurückweichst," schießt sie zurück, "Woran liegt das?"

"Lenk nicht ab," sagt der bornierte Unhold, aber hochzufrieden sieht sie seinen Kiefer arbeiten. Er ist ein Fürstling in den fürstlichen Federn, dem gerade der morgendliche Kakao verwehrt wird - ein Unding. Augenverdrehend wirft sie ihre Sandalen auf den Haufen Kleidung in ihrem Arm. Es reicht.

"Wie könnt ichs wagen, oh großer Herr und Meister," sagt sie und für einen klitzekleinen Moment zaudert sie, unsicher darüber, welchen Tonfall sie anstimmen soll. Soll sie klagen, schimpfen, schweigen?

"Ob zufrieden oder nicht ..." Sie zuckt mit den Schultern. "Es spielt keine Rolle, was ich denke. Ich bin nichts anderes von dir gewohnt. Also mach dir keinen Stress, ich leb noch. Doktor ruhig weiter an -" Sie sucht handwedelnd nach dem richtigen Ausdruck, "deinem messianischen Befreiungsplan. Nur merk dir Eins, Raphael: Meine Narben gehen dich nichts an. Verstanden?"

Tav hat alles unter Kontrolle - die Situation, ihre Kleidung im Arm. Bis auf ihre Ehre. Die liegt irgendwo zwischen den Laken und trocknet gerade ein. 

"So. Ich muss einen Teppich knüpfen. Steh nicht auf, ich finde schon raus."

Sie hört sein Schnaufen und weiß, dass er streiten will. Sie wartet nur auf seine nächste Drohung, während sie die Bühne ihres Liebesspiels verlässt, auf eine weitere Erpressung mit Kar'niss' Seele, um sie daran zu erinnern, wer die Zügel in der Hand hält. Aber seine Atmung verstummt, und als nach weiteren Sekunden nichts kommt, sieht sie zurück. Das Bett ist leer und Raphael fort.

Notes:

Ich bin nach diesem Kapitel erstmal in der Sommerpause. Wir sehen uns wieder im September.

Chapter 32: 32 Kind des Ungehorsams

Summary:

"I wish my dead days would quit bothering me and leave me alone."
Oder: Raphael teilt seine Pläne mit uns. Außerdem hat er schlechte Laune.

Notes:

- Zitat oben ist aus Henderson the Rain King (Saul Bellow)
- Raphael ist von Tools "Fear Inoculum" inspiriert
- Das hier, das ist Raphael, so wie ich ihn mir in meiner Geschichte vorstelle: ne echte Dramaqueen, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Bild von natokafox
Musik:
Sleepwait - Fear Inoculum (acoustic cover)

(See the end of the chapter for more notes.)

Chapter Text

Er umkreist zum gefühlt sechshundertundsechsundsenchzigsten Mal seinen Schreibtisch, ohne auf Rücksicht auf die Dokumente, die sein Mantelrock von ihrem Platz fegt. Tavs Abweisung verfolgt ihn, so scheint es, wie das Pech den Demodanden. Zahn auf Zahn und Herz in der Faust. Sein Glück zwischen Parkett und Schuhsohle geworfen, als sei es nichts wert. Bald läuft er auf einer Umlaufbahn aus Papier um den Schreibtisch herum, Daumen hinterm Rücken zwirbelnd. Er kam hierher, um der Allotria im Herzen zu entfliehen. Stattdessen rotiert er nun um sie.

Sie.

Sie.

Immerzu um sie.

Um diesen brennenden Stern, laut dessen Schuldzuweisung er der Schuft der Geschichte sein soll. Die Rollen klar verteilt: Der Teufel korrumpiert, die Menschenfrau erleidet.    

Heuchlerin.

Ach.

Hätte er doch nur den Mund gehalten. Verfluchte Ehrlichkeit.

Er muss unwillkürlich den Mund verziehen.

Ja, früher hielt er viel auf seine Ehrlichkeit, früher war sie der beste Schutzschild in jedem Vertragskampf gewesen. Doch in ihrer Nähe wird sie zur Falltür. Vor ihr will er alles preisgeben. Es ist schwer nicht zu verbittern.

Schnaubend kommt der Kambion hinter dem Schreibtisch zum Stehen und stützt sich mit den Fäusten ab. Sein Blick irrt über die Karten, die vor ihm liegen, aber er nimmt sie kaum wahr - die speckigen Straßenpläne von Grenpoli und Malagard, die Landkarte mit den regionalen Portalen. Den Grundriss von Baalzebuls nächstem Megabau, unter einer Flasche Rotwein auf der einen und einem übergelaufenen Kelch auf der anderen Seite aufgerollt - eine komplette Stadt, über dem Boden schweben soll.

Vergeltung sollte er üben. Ihren Ausflug nach Faerûn kanzeln.

'Du an mir zerrender Quälgeist,' stöhnt Raphael innerlich auf und nimmt tief Luft, 'hinfort mit dir und lass mich meine Arbeit tun.'

Mit etwas Konzentration versucht er seinen Herzschlag auf Moderato zu zügeln. Als sein Puls ihm endlich wieder gestattet, die Pläne vor ihm zu lesen und nur für die nächsten Minuten das Schreckgespenst namens Tav in den Hintergrund zu verbannen, hebt er eine Kralle und spinnt einen silbernen Faden von Tragkabel IX zur Niete von Knoten 37/Nordostjoch A. Langsam und mit minimalem Zittern im Finger.

"Die neunte Saite reißt zuerst ..." murrt er und reibt die gerunzelte Stirn. "- bei 0,78 Lastverhältnis und ... einer nicht mehr dämpfbaren Eigenfrequenz."

Bauwesen ist nicht sein Fachgebiet. Aber er ist sich ziemlich sicher, dass der gekidnappte Statiker ihn nicht angelogen hat. Raphael kann sehr überzeugend sein.

"Hier -" Er zeichnet über die "37" ein kleines Fuchsohr. "- beginnt der Fall."

Und damit der Fall von Baators notorischstem Wendehals. Es ist nicht verwunderlich, dass spätestens seit dem Anschlag von Abriymoch die anderen Erzteufel ihre Hauptsitze bis auf den letzten Zahn aufgerüstet und den Einreiseverkehr eingeschränkt haben - alle, bis auf Lord Baalzebul. Der ist viel zu sehr damit beschäftigt, in seiner neuesten Stadtruine zu hocken und Türmchen zu stapeln. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass er sich in Gorloron versteckt. Bleibt nur die Frage, wie gut sein Versteck gesichert ist. Der stammelnde Statiker behauptete, es gebe kaum Personal und so gut wie keine magischen Barrikaden. Wenn das stimmt, ist die unfertige Stadt das perfekte Ziel.

Baalzebuls Grab.

Und nein, er wird sie dieses Mal nicht involvieren. Sie würde nur über die "Unschuldigen" klagen, in seinem Pool weinen, und am Ende wäre gar nichts gewonnen. 

Raphael kann spüren, wie jeder Muskelstrang sich augenblicklich in seinem Nacken zusammenzieht. Es ist nichts, was er mit Atemübungen und einer Massage loswird. Was Wunder, muss er dieses wichtige Etappenziel doch mit dem bislang schwächsten Artefakt, das ihm die Shadovaren beschafft haben, erreichen, und zwar zeitgleich mit einer parallel laufenden Aktion. Erst wenn ihm das gelingt, kann er übers Aufatmen überhaupt nachdenken

Nackenrollend blickt er zur Decke hinauf. Spürt die Erschöpfung. Er jongliert mit zu vielen Aufgaben gleichzeitig. Wäre Haarlep da, würde er sich von ihm den Kopf freiblasen lassen. Sex hat so viele gute Nebenwirkungen.
Sein Blick schlägt einen trägen Bogen hinüber zu den Stapeln, die wie zwei Wasserspeier in den oberen Regalen sitzen. Er hat sie alle gelesen, in Teilen gleich mehr als ein Mal, und dennoch ist er, subjektiv gesprochen, nur dümmer geworden. Raphael beäugt das mittlerweile zerfledderte "Erregungslandkarte: Interaktive Zonen des Menschenweibchens und ihre Reaktionen auf taktile Reize", den Tausendseiter "Ergonomik der Stimulation", die "Dialektik der Dominanz" und das völlig überbewertete "Entschlüsselung der Göttin", sowie das großformatige "Vulva-Kompendium der gemeinen Annis-Hexe (inklusive lebensgroßer Zeichnungen)" - wobei er Letzteres versehentlich aufgegriffen hat.
Nun, der Inkubus ist für fort und seine Nachfolgerin ('in spe', fügt er wehmütig hinzu) brüskiert ihn nur, also muss er sich irgendwie anders okkupieren. Und das wird er. 

Also gedenkt er kurzerhand seinem alten Hobby. Wie sagte er einst dazu? Ein Stück wahres Verbrechen.

Warum nicht?

Raphael lässt die Pläne links liegen und verlässt das Arbeitszimmer, zu Fuß versteht sich. Seine Vermieterin erkennt sofort, wenn in ihrem Haus fremdgezaubert wird, weswegen er jeden Besuch seiner ehemaligen Folterkeller auf die gute alte analoge Weise unternimmt. Hope hat natürlich all seine einstigen Gefangenen befreit. Trotz ihrer gemeinsamen Übereinkunft wäre es wenig zuträglich, wenn sie erführe, dass das Verlies längst nicht mehr so menschenleer ist wie gedacht. Die Arme hatte sich so angestrengt, das Teuflische aus ihrem Haus zu verbannen. 
Er erlaubt sich einen Anflug von Schadenfreude darüber, dass ihm der Segen guter Planung bislang so hold geblieben ist. Dass niemand ihn bislang im Verdacht hat.

'Beinahe niemand.'

Gewiss, bis auf diesen stillen Beobachter, den Tav erwähnt hat. Wie hieß er doch gleich?

'Phönix.'

Wenn sie überhaupt die Wahrheit gesprochen hat. Ein (vermutlich von ihr frei erfundener) Faktor, um ihn zu verunsichern.

Den er nichtdestotrotz genau beobachten sollte.

'Hah. Kein Problem als Vogelfreier.'

Er kann sich so viele Wachen herbeizaubern, wie er will. Nichts und niemand wird ihm entgehen, denn er hat jetzt alles, was er braucht: die Freiheit, das Kapital und - bei Lolths verfluchter Fratze - verdammte Selbstkontrolle.

Er beißt die Zähne zusammen und grinst. Erstaunlich naiv ist doch die Welt der Baatezu, kleindenkerisch und kurzsichtig. Alle wollen ein Stück vom Kuchen und jeder schielt eifersüchtig auf den Nachbarteller. Niemand rechnet mit einem Raphael, der den gesamten Tisch in Brand setzen will.

Der Teufel marschiert nun zur Zugangstreppe, die nach unten führt, in düster-freudiger Erwartung, den goldenen Messingknopf drücken zu dürfen. Er ist angetan von den Transportkammern, die die Klerikerin installiert hat. Im Allgemeinen zieht er sie dem Fingerschnippen vor. Sie sind so Art Nouveau; es läuft sogar Musik. 

Doch als Raphael jene verstaubte Statue passiert, wird er erneut aus seinem frohen Behagen gerissen. Hope hat alle teuflischen Porträts aus dem Haus verbannt, selbst die goldene Grimasse über seinem Bett. Einzig und allein das äußert prominente Abbild des Herrn von Cania posiert im Gang. Ein Mahnmal, das die Zwergin aus Dreistigkeit stehen ließ. Das ihn zutiefst grämt, während er darauf wartet, dass sich endlich die höllenverfluchten Türen schließen. Wären ihre Rollen vertauscht - wäre Raphaels Abbild dort gestanden und ein machtloser Mephisto an seinerstatt vorbeigetrabt - hätte dieser sicherlich die Zwergin vor Zorn gelyncht. Wäre Raphael immer noch der alte, hätte er wahrscheinlich das Gleiche getan. Stattdessen wedelt er einmal mit der Hand und da jagt ein Riss quer durch das goldene Gesicht. Da. Der Dickschädel ist nun gespalten und die Tür geht zu.

Er wirft ihm ein Grinsen zu. Einst waren sie sich so ähnlich.

Raphael summt zur Musik, und beobachtet wie der Messingfinger über der Tür  langsam von rechts nach links wandert. Er inspiziert seine Fingernägel und gibt ihnen mit einem Wimpernschlag ein schnelles Finish. Seufzt und lässt die Hände zur Seite fallen. Er kann polieren und lackieren, bis er schwarz wird - die Makel des Vaters sind immer noch da. Die Passion. Die Rage. Was eben in dieser Gesellschaft unerwünscht ist. Im Übrigen eine heikle Sache, denn obwohl die Höllen vor Ressentiment nur so strotzen, gilt Hass als chaotische Regung und ziemt sich nicht für so einen wichtigen Erzteufel. Eine Ironie, die Raphael nicht zum ersten Mal zynisch grienen macht. Der Herr der Kälte war ein passionierter Verächter von Raphaels flamboyanter Art, und Raphael ein Versager im Ertragen der ständigen Kränkung: Er sei nicht mordlustig genug wie Vorzeigetochter Antilia, nicht so treudoof wie Bruder Brennende Seele. Er sei einfach zu ... 

Ihm will das Wort nicht einmal über die Lippen gehen. Der Herr Vater hatte ihn mehr als ein Mal mit Raphaels Mutter verglichen - das Wort der Schande verfolgt ihn unnachgiebig.

Menschlich.

Raphael und die Statue ist längst nicht mehr auf dem gleichen Stockwerk, aber die Verwundung schmerzt noch immer. Die Laune ist mit ihm in den Keller gefahren. Verdammte Zwergin. 

Die Türen öffnen sich mit einem blechernem "Bing" und er tritt hinaus an die kühle Luft. Der Flur ist leer. Kein Ton von Leben. In seinem schwachen Bein sticht es schon wieder. Er ignoriert den Schmerz, biegt nach links ab und steuert auf die nächste Steintreppe zu. Schnauft den verräterischen Kitzel aus der Nase, der ihn jedes Mal an den Rand der körperlichen Dysfunktion bringt, sobald er in dieses feuchte, kalte Eck des Hauses kommt. 
Es ist schon wunderlich, wie sich sein Leben innerhalb kürzester Zeit so grundlegend verändert hat, während die Welt doch dieselbe geblieben ist. Die meisten Baatezu finden es beruhigend, dass es "niemals einen neuen Anfang gibt", wie ein infernalischer Philosoph einmal schrieb, "sondern nur neue Zyklen". Dass sich nie etwas ändert. Selbst nach dem großen Aufstand gegen Asmodeus, als die Höllen zuletzt ihre Herrscher wechselten, landeten die gleichen alten Gesichter auf neuen Posten. Das Einzige, was sich veränderte, war der Grad des Verfalls ihrer Welten. Im Grunde gibt es niemals ein Scheitern, aber auch niemals einen Sieg. Ohne die Toten keine Zukunft. Nur einen ewigen Kreislauf der Privilegien und Degradierung und, in seltenen Fällen, einen wahren Tod.

Darum beneidet Raphael die Materielle Ebene: Du kannst eine Stadt als Mörder verlassen und in der nächsten Geschäftsmann werden – die Möglichkeiten sind grenzenlos. Die Welt der Sterblichen ist kurzlebig und vergesslich. Teufel besitzen diesen Luxus nicht. Zwar könnte technisch gesehen ein Kambion Erzteufel werden; aber dein niederes Erbgut haftet an dir wie schlechter Geruch. Das Sterbliche. Das Abnormale. Er spürt immer noch die Ketten an den Händen. Ganz geschweige davon, dass ihn sein Vater das erste Mal seit wahrscheinlich tausend Jahren berührt hat. Ihm wäre fast das Herz explodiert. 

So viele Superlative. 

Er sollte nicht an solche Dinge denken. Er hat schon wieder Krallenabdrücke auf der Handinnenseite.

Das Leben ist zu großartig, um zu verzweifeln, und – wie der Kleriker den gesegneten Kuss seiner Gottheit spürt – ist er sich jetzt absolut sicher, dass er das Rad brechen kann, dass er Baator so verändern kann, wie es verändert werden muss. 'Schandkind' Raphael mag viel Chaotisches fühlen. Aber was Raphael nicht mehr fühlt, ist Angst.

Auf der untersten Treppe des untersten Stockwerks atmet der Teufel den Moder sharranischer Magie ein. Donnernd fliegen die Kerkerflügel auf und er lauscht auf das Echo, bis es in den kalten, dunklen Höhlen verhallt. Stolz tritt er ein (oder hinaus. Hier drinnen fühlt es sich an wie draußen, nur wie eine andere Welt ohne Sternenhimmel). Selbstbewusst.

Dann niest er doch noch. Ein hoher, ungraziöser Schall. 

Er kneift die Augen zusammen und erträgt die Irritation. Wischt sich dann die Nase am Ärmel ab und schreitet voran. 

Er kann es durchziehen. Einen echten Neuanfang schaffen. Platz für die Jungen machen. Ein sterbliches Konzept zwar, an dem Raphael aber immer mehr Gefallen findet: Wenn die Alten nicht gehen wollen, werden sie eben gegangen. Er wird all sein Können und Wissen über die Welt einsetzen, um das zu erreichen (und vielleicht noch ein wenig gute Unterhaltung, um sich vor der Leere zu schützen, die ihm nachts im Nacken sitzt). Schließlich weiß er nun, was im Leben zählt - der Kopf ist klar. Raphael wurde wie alle anderen auch Zeit seines Lebens mit einer falscher Ideologie vergiftet. Aber nicht mehr. Er wird das größte Unkraut dieser Welt rausreißen. Keine Scham mehr. Keine falsche Gier. Nichts kann ihn jetzt mehr vergiften, denn er ist resistent geworden. Segne diese Immunität, jubelt sein Herz.

SEGNE SIE.  

"Atem. Asche. Wiedergeburt," zitiert Raphael sich selbst. Der letzte Vers auf der letzten Seite seines Tagebuchs. Und der letzte Hofknicks an Mephistopheles, bevor er alles in die Luft jagt.

Er tritt vor die Plattform, die wieder belegt ist, so wie einst Hope dort stand, freilich jetzt mit einer in Ketten gelegten Gestalt besetzt, die beinespreizend den Zug der Eisenketten standhalten muss. Über der Plattform schweben flatternden Gewandes zwei Shadovar-Wachen.

"Gale Dekarios. Wach, wie ich sehe," flötet er höflich - und stockt unwillkürlich, verwundert über die Gereiztheit in der eigenen Stimme.

Er räuspert sich.

"Verzeiht die späte Aufwartung. Ihr hängt hier schon eine ganze Weile," sagt er mit einem Hauch mehr Wärme, "doch gestattet mir meine größte Freude einen solch renommierten Magier aus Waterdeep wie Euch willkommen heißen zu dürfen. Welch Klasse unter unseren Gästen! Und Euer Hunger erst! Dass Ihr kürzlich meinen Höllendämmerhelm verschlungen habt, traf mich, ehrlich gesagt, etwas unvorbereitet. Nun ja, nun ja. Was solls ..." 

Eine Schande um das gute Stück. "Bon appetit."

Der Mann knurrt und gurgelt und schüttelt das Haupt, doch gegen die magischen Fesseln ist er macht- und sprachlos.

"Aber Waterdeep und Verdauung - das geht einfach Hand in Hand," ruft der Teufel, "exzellente Pasteten. Horrender Käse."

Nachdenklich hebt er einen Finger. "Bei meinem letzten Besuch hörte ich sonderbare Dinge über Mystras Auserwählten. Das machte mich neugierig: Was muss ein renommierter Kenner des Gewebes wie Ihr tun, um es sich derart mit seiner Göttin zu verscherzen, dass sie ihm eine Bombe einpflanzt? Wisst Ihr, wie außerordentlich das ist? Ihr tragt ein nesserisches Artefakt in Eurer Brust - ein Objekt von solch ungezügelter Macht, dass Ihr starke Zauber konsumieren müsst, um es am Implodieren zu hindern. Ihr könntet Städte auslöschen. Ganze Landstriche."

Er starrt auf die Brust des Mannes, die durch die verrutschte Tunika lugt. Dunkler Flaum. Der verschnörkelte Anstich einer Tättowierung. Die Physis - für einen Magier ausgewöhnlich fit, wäre da nicht der gequälte Gesichtsausdruck, die hängenden Schultern, der Hufeisenmund. Offensichtlich fordert das Artefakt seinen Tribut.

"Ihr leidet darunter, nicht wahr?" fragt er dann und der Mann lässt für einen Moment den Kopf hängen, als übermanne ihn nur beim Wort schon die Erschöpfung.

Aber nur für wenige Sekunden, dann stiert er sein Gegenüber wieder trotzig an. Raphael nimmt es mit milder Freundlichkeit. Er kann sich einer gewissen Sympathie für diesen Gale Dekarios nicht erwehren.

"Ich habe eine gute Nachricht," sagt Raphael dann, und er weiß nicht so recht, ob er dabei Bedauern oder Vorfreude empfinden soll, "Ihr werdet diese Bürde nicht länger mit Euch herumtragen müssen. Ich gedenke das Artefakt für den Ansturm auf Mephistar einzusetzen."

Der Magier zieht die Augenbrauen zusammen.

"Gewiss wird es Euch freuen zu hören, dass Ihr damit höchstpersönlich Mephistos Untergang besiegelt. Ein nobles Unterfangen, also."

Ein überraschtes Stirnrunzeln. Dann, als dämmere es ihm plötzlich, werden die Augen schlagartig weit. Es ist gar komisch, wie der Mann von einem Zustand der Verwirrtheit in die nächste stürzt. Raphael zwinkert zu einem der Shadovaren hinauf, die ihn bislang nichts als ignoriert haben wie zwei seelenlose Geister. Welch eine Dreistigkeit. 

"Lediglich beim Wann bin ich mir noch nicht sicher," merkt er an, während der Geknebelte vor ihm nun wild mit dem Kopf schüttelt, und versucht sich den säuerlichen Ton zu verkneifen, "es ist nicht leicht einen Plan einzuhalten, wenn der Lieferdienst nicht auftaucht, wisst Ihr? Wir sind ja noch lange nicht am Endziel. Daher entschuldige ich mich für die Wartezeit - ... Jaaa?"

Mit einem Wink ist die Mundfessel verschwunden und ein stammelnder Magier schnappt japsend nach Luft.

"Du kannst das nicht tun! Nicht mit der stärksten Magie der Welt," krächzt er, und schluckt, als müsse er die raue Kehle erst wieder benetzen, "wenn du die Sphäre aus mir entfernst, detoniert sie." 

"Habe ich etwas von Entfernen gesagt?"

Früher hat er Hope auf diese Weise gequält.

"Aber -"

Dieser ist ihm etwas zu panisch.

Raphael bringt ihn mit einem Wink seiner Hand zum Schweigen. "Versteht doch: Ihr opfert Euch für die gute Sache, Dekarios," schnaubt er und mit dem Herz in finsterer Erwartung schlagend, tritt er heran. "Zeigt Stolz." 

Er will sein Betteln nicht. Sein Herz schlägt so schnell - freilich nicht vor Angst oder Zweifel. Niemals mehr vor Zweifel. Es schlägt, weil es sich freut.

Ja.

Vielleicht wäre er besser niemals hergekommen.

Was redet er da? 

Raphaels Schatten wächst, die irritiert pumpenden Klauen auch. Und Gale Dekarios, dem unfreiwilligen Publikum, klappt sprachlos der Mund auf.

"Ihr werdet die Welt zum Erbeben bringen. Seine. Eure. Unsere."

Er hebt die Arme, als hätte das gesamte Universum darin Platz.

"Bis alles in Asche liegt," knurrt er und spannt die Flügel auf.

Im Gesicht des Magiers liegt der blanke Horror. 

Oh, er liebt einen dramatischen Abgang. Es wird soll das sein, woran sich Raphaels unglückliche Klienten am ehesten erinnern, wenn er nicht mehr da ist: nicht an die Verträge, die er sponn, sondern die Bombe, die er platzen ließ.

Ja, Tav, denkt er, er wird das größte 'Brandmal' sein, das die Welt je gesehen hat.

 


 

Sie schlägt die Augen auf, und da ist nichts als der heulende Wind und rieselnder Schutt. Eine wohltuende Stille, könnte man meinen, wäre da nicht das unsägliche Hitzegefühl auf der Haut. Tav muss sich erst wieder orientieren, wo sie ist, was sie hier tut. Warum sie von Kopf bis Fuß von grauem Staub bedeckt ist, der wie Spinnengift brennt.

Als sie die Augen aufschlägt und den seltsamen Himmel über sich sieht, kehrt die Erinnerung wieder. Das weiße Licht. Der seltsame Riesenpilz. Und dann - eine Wand aus dunklen Wolken, die auf sie zugerast war. Die Druckwelle muss sie derart heftig zu Boden geworfen haben, anders kann sie sich die heftigen Kopfschmerzen, das Schwindelgefühl nicht erklären. Tav kommt hustend auf die Beine, elendig mühsam nur, als wären ihre Knochen aus Blei. Spuckt den widerlichen Geschmack von saurem Mehl aus. Reibt sich die Augen und blinzelt durch die lichter werdende Staubwolke. Was sie nun am Horizont sieht - oder besser gesagt, nicht sieht - ist kaum zu begreifen.

"Mol?" hört sie sich selbst sagen, "Was ist passiert?"

Ganz offensichtlich ist der Krater passiert. Sie kann sich den gesunden Menschenverstand so viel in die Augen zurückreiben wie sie will - der Krater ist ein bleibender Fixpunkt. Hah. "Punkt". Kein Baum, der noch stünde, kein Stein auf dem andern mehr. Die Siedlung mit den Tieflingen und die riesige Baustelle - alles von diesem gigantischen Loch ersetzt, das von einem Ende ihres Sichtfeldes zum andern gähnt. Baldur's Gates Zerstörung war ein Kinderspielplatz dagegen.   

"W-wie ist so etwas möglich?"

Ein mühseliges Aufraffen hinter ihr. Ein Umhang, der zur Seite geschlagen wird.

"Warst wohl länger nicht mehr in Dis oder Abryimoch, was?" Hüstelnd tritt Mol neben sie und stämmt die Fäuste in die Seite. "Tja, herzlichen Glückwunsch. Damit gehörst du jetzt zum erlauchten Kreis der Mitwissenden."

Tav kann sie nur entsetzt anstarren.

"Oooh man," sagt das Mädchen, als sie ihren Blick bemerkt, und bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Raphael wird mich umbringen."

Notes:

Sorry für die Wartezeit, wie immer ist die Englischübersetzung Schuld.

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