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Die Schattierung von Schwarz

Summary:

Leo Hölzer ist Polizist geworden um die Menschen seines Landes zu beschützen. Als religiöse Fanatiker ihrer aller Freiheit vernichten, beschließt er, sich gegen sie zu stellen und damit auch gegen alles, was seinem Heimatland angetan wird. Was das für ihn bedeutet und wie sehr ihn das zerstören wird, ahnt er dabei nicht.

 

Leos Geschichte im Handmaid's Tale-AU.

Notes:

Hallo zusammen,

hier nun wie mehrfach angedeutet Leos Sichtweise auf die Geschehnisse in Gilead. Auch das hier wird keine nette Geschichte und in manchen Punkten vielleicht auch noch etwas dunkler als Adams Version aus den Farben. Die zwanzig Kapitel werde ich vermutlich nicht knacken, dafür wird das Posttempo ein bisschen langsamer sein. 😉

Vielen Dank an dieser Stelle nochmal an alle, die auf meine damalige Frage, welche Szenen ich mit aufnehmen soll, geantwortet haben. ❤️🌻 Ich habe sie samt und sonders berücksichtigt!

Ich wünsche euch viel Spaß und passt beim Lesen auf euch auf. Triggerwarnungen gibt es wie immer zu Beginn eines Kapitels.

(See the end of the work for more notes.)

Chapter 1: Prolog

Chapter Text

 

Es beginnt schleichend. 

Zuerst ist da eine neue Partei, klein, mit Spinnern, die niemand ernst nimmt, weil die Religionen dem Weltlichen weichen. Eine Untergrundbewegung, die noch nicht einmal vom Inlandsgeheimdienst beobachtet wird.

Sie findet mehr und mehr Anhängerinnen und Anhänger, fischt bei denen, die am Frustriertesten sind. Sie sucht sich einfache Schuldige an der Lage und zieht damit durch die Gegenden, die abgehängt und wirtschaftsschwach sind. Sie bietet Unmut einen Nährboden und spinnt so ihr Netz über ein ganzes Land. 

Leo ist von Anfang an dabei, ermittelt in brutalen Mordfällen, Angriffen auf Menschen anderen Glaubens und andere, sexueller Orientierung. Er verfolgt die Kriminalstatistik und ist in Sorge, dass sich die religiösen Fanatiker, als die er sie bezeichnet, weiter ausbreiten. Er verfolgt die sozialen Netzwerke, sieht, wie sie Diskussionen monopolisieren und Hetzkampagnen gegen andersdenkende Menschen starten. 

Die schweigende Mehrheit ignoriert es und bietet den Fanatikern so die Möglichkeit, Zuspruch zu gewinnen, die wiederum in den abgelegenen Dörfern und abgehängten Gegenden Terror verbreiten, ohne, dass der Staat schlussendlich genug Personen hat um einzugreifen. Es gibt nicht genug Haushaltsmittel um die Zahlen der Sicherheitsapparate zu erhöhen und die Attraktivität für Jobs bei der Polizei oder den Geheimdiensten zu finanzieren.

Die Demonstrationen beginnen und sie werden der Gewalt nicht mehr Herr. Leo schiebt Sonderschichten, arbeitet teilweise wochenlang sieben Tage am Stück, nicht als Mordermittler, sondern auf der Straße, um die Demonstranten in Schach zu halten, die immer gewalttätiger und brutaler werden.  

Parallel dazu sinkt die Geburtenrate und es stellt sich heraus, dass die Männer diejenigen sind, die zu all dem noch unfruchtbar werden. Die Wissenschaft hat keine Anhaltspunkte, woher es kommen könnte. Niemand weiß, was dagegen zu tun ist. 

Dann gibt es Krieg, nicht in ihrem Land, sondern ein paar tausend Kilometer weiter, aber dieser stürzt Leos Heimatland in eine noch größere Krise. Die demokratischen Parteien streiten und zerstreiten sich, können ihre Differenzen nicht mehr beseitigen. Das gibt den Fanatikern die Chance, mit einfachen Lösungen für komplexe Probleme mehr und mehr Stimmen zu holen. 

Sie gewinnen örtliche Wahlen und die vermutete Regierungsunfähigkeit bleibt aus. Stärke, die in Leos Augen nur auf der Diskriminierung von Menschen fußt, findet Zuspruch, denn die Freiheit und Gleichheit aller Menschen ist das, was in Krisenzeiten am Ehesten ins Hintertreffen gerät.
 
Doch Leo kämpft, für dieses Land, die Menschen, die Freiheit. Er ist nicht alleine bei diesem Kampf, doch vergebens. 

Das Land wählt und die Fanatiker gewinnen die Wahl. Haushoch, weil sie einschüchtern, Wahllokale bedrohen und Wahlunterlagen fälschen. Weil Menschen so desillusioniert sind, dass sie nicht mehr zur Wahl gehen oder aus Protest wählen, damit die Situation besser wird.

Es dauert ein halbes Jahr, bis die Fanatiker die Demokratie soweit ausgehöhlt haben, dass ihnen die Justiz gehört und hörig ist. Sie besetzen die Spitzenposten in Staatsanwaltschaft und Richterschaft nach eigenem Gutdünken. Trupps ziehen marodierend durch die Straßen und dieses Mal wird die Polizei nicht entsandt um die Bevölkerung zu schützen. Anzeigen werden nicht angenommen oder abgeschmettert.

Leo bleibt hartnäckig, geht demonstrieren, er versucht, seinem Eid treu zu bleiben. Er schützt die Schwachen so gut es geht, doch einem langsam unterwanderten Apparat ist auch er nicht mehr gewachsen. Dem demokratiezersetzenden, menschenfeindlichen Apparat, der nahtlos in eine Diktatur abgleitet.

„Wir müssen doch etwas tun“, versucht er es dennoch, in ihrem Verschwörerkreis, wie Pia sie am Anfang noch augenzwinkernd genannt hat, zu platzieren. Sie treffen sich mittlerweile regelmäßig im Verborgenen. Sie, die sich auf einem Lehrgang im Innenministerium kennengelernt haben oder zusammenarbeiten. 

Pia und Esther gehören zu seinem Team, ihnen vertraut Leo ebenso blind, wie er Henny und Rainer vertraut, die ebenfalls Teil seiner Dienststelle sind und mit ihm für Recht und Gerechtigkeit streiten. Mit Karow, Nina und Maik hätte er da mehr Probleme, wenn er nicht wüsste, wie sehr sie die Fanatiker hassen, die an der Macht ist. Adams Treue ist notorisch, wenn auch bärbeißig.

„Und was willst du tun?“, schnaubt Karow verächtlich und er sieht aus, als hätte er eine harte Woche gehabt. Unter dem Deckmantel des Wanderns haben sie sich eine Hütte im Wald gemietet, fernab von neugierigen Ohren und Augen. Karow ist ungewohnt zerknittert angekommen und hat sich als Erstes eine Flasche Bier genommen. Sie sitzen alle bei Kerzenschein auf der Couch und Maik knirscht so hörbar mit den Zähnen, dass sowohl Nina als auch Leo fragend zu ihm sehen. 

„Es von innen heraus zerstören. Von außen erreichen wir gar nichts“, sagt er leise, aber bestimmt.

„Das wären wir gegen wie viele?“, fragt Nina und nippt an ihrem Rotwein. An ihrer Geste ist nichts Entspanntes und Leo weiß, dass sie diese Woche einen Großteil ihrer Fälle hat abgeben müssen. Wie viele Kolleginnen in der Hauptstadt. Frauen haben im aktiven Dienst nichts mehr zu suchen, werden zu Büroarbeiten verdammt.   

Esther schüttelt ablehnend den Kopf und greift nach Pias Hand. Sie verschränken die Finger ineinander. Hier können sie das tun, auf der Arbeit ist die Zurschaustellung von gleichgeschlechtliche Zuneigung mittlerweile von ihrem Dienststellenleiter untersagt. Weil es ekelhaft und widernatürlich sei. Leo, der selbst Männer liebt, ist an jedem Tag wütend darüber. Gleichwohl ist er froh, dass er sich niemals geoutet hat. 

„Zu viele“, knurrt sie und Rainer schüttelt den Kopf.

„Wir müssten nur in die höheren Ebenen kommen. Uns als wertvoller Mitglieder ihres Glaubens zu erkennen geben.“

„Und dann?“, fragt Adam, der von all dem gar nichts hält und viel lieber wie viele andere auch fliehen würde. Auswandern, in eines der angrenzenden Nachbarländer, bevor die Grenzen dicht gemacht werden. Die Gerüchte, die Maik aus Geheimdienstkreisen mitbringt, sagen nichts Gutes. Die Nachbarstaaten fürchten sich vor der Entwicklung in diesem Land. 

„Ich bin auch für von innen heraus unterwandern und zerstören, sie einen nach dem anderen vernichten.“ Karows Worte sind dunkel und verächtlich. Sie sind Leo beinahe schon zu dunkel und destruktiv, denn das würde bedeuten, dass sie die gleichen, radikalen Wege gehen wie die Menschen, die nach und nach die Demokratie zu einer Diktatur machen. 

„Du sprichst von Morden“, sagt Leo leise und der Raum wird still. Morde sind gegen das Gesetz. Immer noch. Karow nickt zusammen mit Maik. 

„Wenn uns nichts anderes übrig bleibt, dann jage ich dem selbsternannten frommen König Schürk auch eine Kugel durch den Kopf. Aber ich dachte eher an einen Umsturz mithilfe anderer Regierungen.“

„Du glaubst doch nicht, dass die kommen werden“, schnaubt Esther, doch Maik nickt grimmig. Auch er sieht müde aus, ausgelaugt.

„Irgendwann werden sie es, weil sie sehen, was mit unserem Land passiert und wie sehr es das Verteidigungsbündnis destabilisiert. Ich kann die Verbindungen herstellen, ich weiß, wen ich ansprechen muss. Aber wir müssen nur Stand halten. Wie lange...weiß ich nicht.“

„Es kann schief gehen und wir wissen nicht, was sie noch alles planen“, wirft Henny ein und deutet mit der Möhre, die sie gerade in der Hand hält auf den Tisch zwischen ihnen, als würde dort ein Plan liegen. „Wir wissen nicht, ob und wann wir erfolgreich sein werden und wir wissen nicht, ob wir nicht auffliegen und inhaftiert werden.“

„Aber uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen einen Widerstand aufbauen und uns mit anderen zusammenschließen. Wir müssen uns um diejenigen kümmern, die unsere Hilfe brauchen“, sagt Leo entschlossen und es ist tatsächlich das, was er fühlt. 

Unabdingbare, eiserne Entschlossenheit im Angesicht brachialen Unrechts. 


~~**~~


Die hält, als die Grenzen dicht gemacht werden. Nicht von den Nachbarländern, sondern von den Fanatikern in ihrem Land. 

Die hält, als Schürk Leos Heimatland den Namen Gilead gibt und die Demokratie mit einem hinterhältigen Grinsen in eine theokratische Militärdiktatur umwandelt und innerhalb von Wochen alles bisher Bekannte auflöst. Er stellt Homosexualität unter Strafe und verbietet Frauen das Arbeiten und Annehmen von Geld für Arbeit.

Die hält umso mehr, als die Fanatiker mit den ersten, fürchterlichen Fangaktionen von flüchtigen Menschen und Hinrichtungen beginnen und die Einwohnerinnen und Einwohner einteilen. In Kasten, in Aufgaben, in Zwangsarbeit und Sklaverei. Mit dem Verbot für Frauen, zu arbeiten und Geld zu verdienen.

Sie geben ihnen Farben und an den Farben unterscheidet sich, wer Rechte hat, wer entmündigt wird und wer versklavt wird. 

Es ist schlimmer, als Leo jemals befürchtet hat. Grausamer, als er es sich in seinen dunkelsten Stunden ausgemalt hat.

Leo steht in seinem kargen Zimmer in der Kaserne, in der sie alle guten, linientreuen Polizisten befohlen haben um sie einzuschwören. Er hat gelernt, zuzuhören und zu ertragen, auch wenn alles in ihm schreit und tobt und angeekelt ist. Er wird heute vereidigt und Leo ist schlecht bei dem Gedanken daran, was er schwören wird und wie sehr das den bereits geleisteten Eid konterkariert.

Er kann nicht zurück, denn in der Hütte im Wald haben sie beschlossen, diesen Weg zu gehen und mit jedem Mord, mit jeder Straftat gegen die freiheitlich demokratische Ordnung werden sie grimmiger, diesen Weg auch zu gehen. Bis zum bitteren Ende, denn das ist es, wofür sie stehen.  

Leos Finger gleiten über den steifen Anzug, der auf dem einfachen Bett liegt. 

Er ist schwarz und Leo ahnt, dass diese Farbe sein Untergang sein wird.

 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 2: Die Dunkelheit allen Seins

Notes:

Einen schönen Sonntagabend euch allen,

hier geht es nun mit Leo weiter auf seinem Weg in Gilead. Ich danke euch allen, die ihr die Farben gelesen habt und nun auch noch Leos Version erfahren wollt. ❤️ Viel weniger traurig wird sie jedoch nicht, das kann ich euch versichern.

Deswegen hat dieser Teil auch mehrere Triggerwarnungen: Selbstmord, plastisch beschrieben, Unterstützung beim Selbstmord, plastisch beschrieben, Folter, Erwähnung von Vergewaltigung, Folter, Erniedrigung, homophobe Sprache, Homophobie als solche, Entmenschlichung.
Ich habe eine Szene aus den Oktobermorden mit eingefügt, weil sie eigentlich in diese Geschichte gehört. Daher wundert euch nicht, wenn ihr sie schon kennen solltet.

Stay safe.

Zum Thema Suizid gibt es in Deutschland mehrere Hilfsangebote:

Die Nummer der Telefonseelsorge lautet 08001110111 und ist rund um die Uhr erreichbar.

Telefonseelsorge, Suizidprophylaxe, Nummer gegen Kummer

Chapter Text

 

Leo hört zu. 

Ihren fanatischen Worten, ihren Plänen und Ansichten, mit denen sie sich alle übertreffen wollen, die Gunst der Herrschenden erlangen wollen. 

Er hört zu und merkt sich Namen und Gesichter, Ansichten und Taten. Er lernt ihre Sprache wie Vokabeln und ist es nicht auch so? Ihre Sprache ist nicht seine Sprache, aber um zu überleben und um tief in ihr Herz eindringen zu können, muss er mit ihnen sprechen können. 

Leo nimmt ihre Worte und pervertiert sie, formt sie und infiziert sie so lange mit noch mehr Fanatismus, bis sie von einem Geschwür durchdrungen sind. Das Geschwür ist er, zumindest sieht er sich als solches, und er hofft, dass er zerstören kann, was sie sind, noch bevor sie ihn herausschneiden. 

Immer wieder versucht er, etwas über die anderen herauszufinden, wo sie sich aufhalten und was das System mit ihnen gemacht hat. Esther, Henny und Anna sind in die Klasse der Marthas einsortiert worden. Hausdienerinnen, Haushälterinnen in braun. Sie sind, wie so viele andere Frauen auch, unfruchtbar und somit fast ganz unten in der Nahrungskette.

Die fruchtbaren Frauen werden besser behandelt. Sie sind die potenziellen Kandidatinnen zum Heiraten für die künftigen und amtierenden Kommandanten. Pia, Nina und Eva sind so klassifiziert, zumindest ist es das, was Leo in einem kurzen, hastigen Gespräch mit Esther herausbekommen hat. 

Robert und Rainer hat es am Schlimmsten getroffen. Sie sind als fruchtbare Männer erkannt worden und ihr vermeintliches Geschlechtsverrätertum bringt sie in die Gewalt der Fanatiker. Leo hat Sorge um sie beide und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass sie eher schneller als später entkommen können und für die Torturen dort stark genug sind. 

Sie haben gewusst, dass das passieren kann und dennoch ist es ein Schlag und schnürt Leo in einsamen Nächten die Kehle zu, wenn er an die Beiden denken muss. 


~~**~~


Leo steigt auf in der Hierarchie, dank seiner Sprache und seines ernsten Fanatismus. Er wird zum Kommandant eines kleinen Ortsbereiches und natürlich wird es dann auch von ihm erwartet, dass er sich eine Frau nimmt. 

Eine Gemahlin, in Petrol, gefällig, fromm und bereit, Gilead Erben zu schenken.

Seine Wahl fällt auf Pia, die fast nichts davon ist. Es ist Bestandteil ihres Planes, sich selbst zu schützen und als Team in der Nähe zu bleiben. Pia erbittet Esther als Magd und Leo fordert sie. 

Sie kommen damit durch und es ist ein erster, kleiner Sieg, dass sie zusammen als Team agieren können. 

Die Hochzeitszeremonie ist eine reine Farce, denn Leo liebt Pia nicht so, wie sie Esther liebt. Die Beiden sollten eigentlich heiraten, wollten es auch, bevor Roland Schürk und seine Fanatiker die Macht übernommen haben. 

Nun wäre alleine das Eingeständnis an ihre Liebe ihr Todesurteil oder das Ticket in eines der unzähligen Bordelle, die es natürlich gibt. Jezebels nennen sie sich, gefüllt mit Frauen, die vergewaltigt werden oder den Weg gewählt haben, um nicht harte, körperliche Arbeit leisten zu müssen. Lesen und schreiben dürfen sie alle nicht mehr, das ist laut Ideologie lediglich den wahren, den richtigen Männern vorbehalten.

Ihr Konstrukt schützt Pia und Esther und macht Leo zu einem einsamen Menschen, dessen Streben darauf ausgerichtet ist, möglichst viel Informationen zu erlangen und Verbindungen zu knüpfen. Wieder und wieder ekelt er vor sich selbst und vor den Worten, die seine Lippen verlassen, die von Reinheit und Vernichtung aller Häresie schwadronieren. Die Verbote und Maßregelungen, die per Dekreten aus der Hauptstadt kommen, werden von Tag zu Tag schlimmer.

Pia an seiner Seite ist die fromme und stumme Gemahlin, die ihren Mann über alles liebt und gemeinsam klettern sie die Ränge hinauf, erhalten ihr gestohlenes Haus und eine gewichtige Aufgabe im System Gilead. 

Eine Aufgabe, die nicht schlimmer sein könnte. Widerlicher. Ekelerregender. 

Fruchtbare Männer sollen in Zentren gesperrt und dort indoktriniert und umerzogen werden. 
Es sind fahle Worte für die Gewalt, die den Männern dort angetan werden soll, die in den Augen Gileads unwürdig sind. Die Männer sind schwul oder bisexuell, anscheinend tragen sie etwas in sich, das sie fruchtbarer macht als andere. So die zerstörerische These der Fanatiker, die, so weiß Leo aus eigener Erfahrung, nicht zutrifft. 

Die Männer in Rot sollen Mägde heißen, als abwertende Bezeichnung für ihre gleichgeschlechtliche Liebe. Frommer dann „Söhne Isaaks“ und auch das ist fürchterlich, bedeutet es doch, dass sie auf dem Altar des Fortbestehens von Gilead geopfert werden. 

Männer, die das Pech haben, fruchtbar zu sein und nach einem Leben in selbstverständlicher Freiheit nun als Sklaven dienen. Männer, die sich gegen die Folter auflehnen, die verzweifeln werden. Die unter der Folter zersplittern und verrückt werden. 

Leo weiß, dass es so kommen wird und er will jeden einzelnen von ihnen retten. Er schwört es sich, dass er möglichst viele vor den Klauen dieses Systems bewahren wird. 

Wenn er kann. 


~~**~~


„Der wichtigste Punkt ist, den Willen der Männer zu brechen. Wenn sie nicht mehr in Versuchung kommen, sich gegen uns zu erheben und ihre ekelhaften Triebe in geordnete Bahnen gelenkt werden, dann können wir sie den Haushalten problemlos zuordnen.“

„Mägde. Wir hatten uns auf Mägde geeinigt. Das waren noch nie Männer und jetzt sind es nur noch Samenspender.“

Leo sitzt in der Runde der Männer, die über das Schicksal ihres Landes entscheiden. Für seine Region ist er wichtig genug, um zu diesem erlauchten Kreis zu gehören, der in einem Gesamtrat entscheidet, wie die Männer, die sie zum großen Teil über Samenbanken identifiziert haben, am Besten gebrochen werden, damit sie keinen Ärger mehr machen. 

„Die Stellschraube ist Einzelhaft. Wir nutzen die Gefängnisse dazu, da haben wir Zellen und brauchen verhältnismäßig wenig Personal, um sie zu bewachen. Die Onkel werden ihre Ausbildung übernehmen und die Augen halten sie gefügig. Ich halte das für einen wirtschaftlich vertretbaren und effektiven Plan.“

Leo kennt mittlerweile jeden der hier anwesenden Kommandanten mit Namen und Angewohnheiten und weiß um ihre Vorgeschichten. Er kennt den religiösen Fanatismus der Männer hier im Raum und aus dem heraus wundert ihn keine der Grausamkeiten, die die Männer für andere beschließen nur um die Fruchtbarkeit des eigenen Landes zu retten. 

Er selbst hält sich zurück, hört jedoch aufmerksam zu. Seine Meinung ist noch nicht gefragt und Leo ist dankbar darum. 

„Einzelhaft hat schon in Guantanamo für wahre Wunder gesorgt. Umso glücklicher und fügsamer sind sie dann, wenn sie in die Haushalte dürfen, wenn die Alternative Einzelhaft und Schläge durch die Augen ist.“

„Wie hoch ist die Chance auf Amokläufer?“

„Fragen Sie das unsere Psychologen vor Ort, Kommandant Weniger.“

Leo hasst Weniger und das aus tiefster Seele. Der Mann ist gnadenloser Sadist und Menschenhasser. Insbesondere hasst er queere Männer und lässt nichts aus, um sie an der Mauer hängen zu sehen. Oder sie zu versklaven, wenn sie noch fruchtbar sind. 

Leo hasst ihn wie fast alle der Anwesenden. Unter anderem sich selbst. 

„Die Haushalte werden die Anlaufstellen für die Mägde sein“, meldet er sich zu Wort, verbindlich und kühl, so neutral, wie es ihm möglich ist. „Der angelernte Gehorsam wird sie keine Probleme machen lassen, wenn die Roten Zentren im Hintergrund als Versicherung für Ungehorsam stehen.“

Rote Zentren. 

Was für ein Euphemismus. Foltergefängnisse. Das sind sie. Umerziehungsanstalten, die ihren Ursprung in der Konversionstherapie genommen haben.


~~**~~


Zum Qualitätsmanagement gehört auch immer die Überprüfung, ob das eigene Konzept Bestand hat, hat Leos alte Chefin gesagt. Das ist lange bevor sie mit ihrer Familie geflohen ist und Leos Schwestern und Eltern mitgenommen hat, gewesen, wirkt aber immer noch nach. Jetzt…ein unglaublicher Hohn, denn Leo steht in einem solchen, erdachten und konzipierten Zentrum. 

Er und die anderen Kommandanten der Kommission zur Sicherstellung der Fruchtbarkeit Gileads sind eingeladen worden zu einem Besuch.

Sie sehen, wie die Mägde erzogen werden, aus sicherer Entfernung auf einer Balustrade, die man nicht einsehen kann. Sie sehen, dass die Männer zum Knien gezwungen werden, stundenlang, im Regen. Gruppenbestrafungen sind an der Tagesordnung, Amputationen und körperliche Strafen werden vor Ort ausgeführt. Den Männern wird beigebracht, dass sie keinen anderen Wert außer dem ihrer Zeugungskraft besitzen. Es riecht nach Verzweiflung und Erniedrigung und es ist schlimmer, als alles, was die Kommission es sich jemals ausgedacht hat. 

Menschliches Leid, dutzendfach, und Leo ist flau im Magen. Er klammert sich an die Kaffeetasse in seiner Hand und sieht genauestens hin, prägt sich jedes Detail ein. Er nimmt auf, was die Berichte nicht sagen. Das ist eine Aufgabe, das ist seine Verantwortung. Er darf nicht wegsehen, sondern muss hinsehen um es zerstören zu können.

„Wir haben aber auch einen speziellen Raum und ich kann Ihnen sagen, meine Herren, er ist äußerst wirkungsvoll.“

Sie werden vom aufmerksamkeitsgierigen und von sich selbst überzeugten Leiter des Roten Zentrums in einen ruhigeren Bereich geführt. Ort der Stille heißt er und es ist der fürchterlichste, schrecklichste und schlimmste Euphemismus, den Leo in Gilead für alles, was sie tun, gehört hat. 

Der Ort der Stille ist eine Zelle, die komplett mit schallschluckenden Materialien verkleidet ist. Es gibt kein Licht in ihr und am Boden sind Vorrichtungen eingelassen, an denen ein Mensch angekettet werden kann. 

„Die Abwesenheit von jedwedem Geräusch oder Schall führt bei den störrischen Mägden zu Wundern, meine Herren. Vier Stunden in unserem Ort der Stille und die Mägde sind wie neu, demütig und gehorsam. Wir haben einen Kandidaten, der für eine Sitzung vorgesehen ist und ich bitte Sie, sich selbst ein Bild unserer Vorgehensweise zu machen. Ich empfehle diese flächendeckend auszurollen.“

Der kahlgeschorene Mann, der hereingezerrt wird, ist widerspenstig. Er beleidigt die Augen und spuckt dem ihm predigenden Onkel ins Gesicht. Seine Mimik gleicht eher der eines wilden Tieres, auch dann, als Leo über die Kameras mitverfolgen kann, wie er mit Händen und Füßen an den Boden gekettet wird. Er bäumt sich auf und wehrt sich, spuckt Flüche und Beleidigungen in Richtung des Systems. Dann schaltet die Kamera auf Nachtmodus um, als die Tür zugeht und ihn in völlige Stille taucht. 

Es dauert nicht lange, da begreift der Mann, dass seine Schreie noch in seinem Mund verstummen. Es braucht ebenfalls nicht lange, da beginnt er Panik zu haben vor der eigenen Stille des vermeintlichen Grabes. 

Es braucht noch nicht einmal vier Stunden, bis der Mann vollkommen apathisch dort am Boden liegt, die Lippen fest aufeinandergepresst, als hätte er selbst vor dem Geräusch seines eigenen Atems Angst. Als sie ihn herausholen, wehrt er sich nicht und zuckt vor jedem Geräusch zurück, das an seine überempfindlichen Ohren dringt. Sie gehen mit ihm ihr Gehorsamsprogramm durch und er leistet keinerlei Widerstand mehr. 

Verstört und verängstigt folgt er ihren Anweisungen.  

Leo muss einen Moment lang die Augen schließen, weil ihm so übel ist. 

„Gut, nicht wahr?“, geifert der Leiter des Roten Zentrums nach Lob und Weniger lacht zustimmend. Leo lächelt, aber es ist ein Automatismus, den er sich angewöhnt hat. Eine Maske, nicht viel mehr. 

Gut wird sein, wenn du tot bist, wirft er dem Leiter des Zentrums in Gedanken an den Kopf und wie so oft kocht Hass in ihm hoch. 

Er weiß, dass er den Anblick nicht vergessen wird. Wie so vieles. 


~~**~~


Das Gesicht des Mannes, sein Leid, brennt sich in Leos Gedanken und Träume. Aus den hunderten Schicksalen, deren Weg Leo jeden Tag, jede Woche, jeden Monat kreuzt, sticht immer wieder er hervor. 

Leo ahnt, nein weiß, dass der Mann es nicht geschafft haben wird. Wenn er nicht körperlich daran zugrunde gegangen ist, dann seelisch. Er wird nicht mehr er selbst sein, zerstört bis auf den Grund seiner Seele. Er wird zum Sinnbild derjenigen, die Leo zu retten versucht. 

Mehr noch als Robert und Rainer, die die pervertierten Tests bestanden haben und nun als Mägde klassifiziert werden, während Maik und Leo auf Unfruchtbarkeit getestet und für den Staat als wertvoll erachtet worden sind. 

Es ist schlimm zu sehen, wie die Sorge um seinen Partner Maik innerlich auffrisst – wohl verborgen hinter einer ausdruckslosen Maske. Die Sorge um Rainer wiederum nagt an Leo und wäre Esther nicht, hätte er bereits einige Entscheidungen getroffen, die zu Rainers Gunsten gewesen wären, sie aber in Gefahr gebracht hätten. 

So ist es Segen und Fluch zugleich, dass Rainer ihnen als Magd zugeteilt wird. Der erste Mann in Rot ist ausgerechnet sein Freund und ihr aller ehemaliger Arbeitskollege. Mitverschwörer. Widerständler. Ein Mann, dessen brillanter Verstand viele Steuerstraftäter hinter Gittern gebracht hat. 

Vielleicht können die vorgeschriebenen und streng einzuhaltenden Zeremonien umgehen. 

Leo hofft, wider besseren Wissens, dass es nicht so weit kommen wird. Er hofft, dass es Rainer und Pia erspart bleibt. Er hofft, dass sie alle darum herumkommen.

Darum. 

Die Vergewaltigung. 

Leo, der Polizist, ist mittlerweile Leo, der Straftäter. Ein Mann, der andere Menschen foltern lässt, der sich durch Nichtstun und passive und aktive Mittäterschaft schuldig macht. Er ist ein Mann, der nach außen hin keine Gnade kennt und fanatisch ist. 

Er ist ein Mann, der verzweifelt nach Wegen ins schweigende und untätige Ausland sucht, um Fluchtrouten auszumachen, gesperrte und verratene Fluchtwege weiter zu geben. Er ist ein Mann, der innerlich um Hilfe schreit.  

Wieder und wieder und wieder.

Rainer kommt zu ihnen und die Dunkelheit wird ein bisschen heller. Leo kann sogar wieder lächeln, weiß aber, dass das Glück zerbrechlich und nicht von Dauer ist. Monate, denn das ist der Zeitraum, der als geeignet angesehen wird, damit die Mägde sich nicht einleben in den Haushalten, aber die Arbeit erledigen und sich ganz ihrer Aufgabe widmen. 

Wie kurz es ist, ahnt er erst, als er das Schreiben der Evaluationsbehörde zur Reinhaltung und Erhaltung der Zeugungskraft in Gilead in den Händen hält, das ihm bestätigt, dass Rainer einer Magd unwürdig ist. Und dadurch, dass sie bereits ein Geschlechtsverrätertum bei beim festgestellt haben, ist er zur Arbeit in den Kolonien freigegeben. 

Kolonien, was für ein beschönigendes Wort für Mülldeponien voller, toxischem und radioaktivem Müll, in denen die arbeiten, die keine drei Monate überleben sollen und elendig an der Sklavenarbeit dort zugrunde gehen.  

Leos Herz pocht schmerzhaft, als er Rainer das Schreiben zeigt und dessen hageres und durch das Rote Zentrum gezeichnete Gesicht sich nachdenklich verzieht. Er ist zu ruhig dafür, was es für ihn bedeutet und seufzt. a

„Lass mich eine Nacht drüber schlafen“, sagt er und was bleibt Leo, als Ja zu sagen. Er weiß selbst, dass Rainer aufgrund des GPS-Chips und der flächendeckenden Überwachung bei einer Flucht nicht weit kommen würde. Dass er höchstens versuchen könnte, aus der Kolonie zu fliehen. Mit mäßigem Erfolg, denn die Zäune sind hoch und die Todesstreifen um die Lager herum selten überwindbar. Die Wachen sind schusswütig, weil sie immer Nachschub bekommen und die Männer und Frauen, die zu ihnen kommen, hassen. 


~~**~~


„Rainer, was tust du da?!“

Heiße Angst schießt durch Leos Nervenbahnen und lässt sein Herz für einen Moment aussetzen, als er im Türrahmen zu Rainers Badezimmer steht. Sein Freund sitzt nackt in der dampfenden Wanne, der ganze Raum ist warm und feucht. 

Rainer hält eines der Küchenmesser an sein linkes Handgelenk. Er sieht hoch und auf seinem Gesicht steht deutlich die traurige Gewissheit, die er seit heute Morgen hat. Durch Leos Worte und seine häretische Tat, Rainer ein Schriftstück zu zeigen, das dieser eigentlich nicht lesen dürfte. 

„Du weißt, was, Leo. Du weißt es“, sagt er ruhig und Leo schüttelt wild den Kopf. Natürlich weiß er es, aber er will es nicht wahrhaben. So kann und darf das hier nicht enden. Das ist unmöglich. Er muss Rainer davon abhalten. 

„Es muss doch eine Möglichkeit geben! Das kann nicht die Lösung sein. Bitte Rainer, nicht! Leg das Messer weg, wir finden eine Lösung. Ganz bestimmt.“

Rainer lächelt und die Traurigkeit auf seinen Lippen ist unübersehbar. „Und welche? Unsere Fluchtrouten sind noch nicht aufgebaut. Die anderen Länder sind noch nicht überzeugt. Maik hat eine Niederlage im Süden erlitten, wie du weißt. Sie werden mich wegbringen, damit ich langsam in den Kolonien zugrunde gehe. Drei Monate Leid und Krepiererei gegen das hier.“

Er hebt das Messer hoch und deutet damit auf sein Handgelenk, als wäre es das Normalste auf der Welt. Wieder schüttelt Leo verzweifelt den Kopf und kommt näher. Hilflos streckt er seine Hand aus und umfasst Rainers Finger, will das Messer greifen und wegschleudern, damit es keinen Schaden anrichten kann. 

Leo geht vor der Wanne auf die Knie, sieht Rainer flehentlich in die ruhigen Augen. Die selbstverständliche Ruhe und der Frieden dort lassen eiskalte Sorge Leos Rücken hochkriechen.

„Bitte nicht, wir werden mit Sicherheit eine Lösung finden.“ Dass er auch jetzt noch, nach all der Zeit, so naiv und dumm ist, das zu glauben, ist bemerkenswert, findet selbst die dunkle, gehässige Stimme in Leo. Die, die Rainer sieht, seinen Kollegen, seinen Freund, ein Mitverschwörer. 

Einen Menschen. 

Mit einem Recht auf ein freies Leben ohne Schmerzen, Sklaverei und Fanatismus. Niemand, der es verdient hat zu sterben. 

„Vielleicht. Aber nicht jetzt. Nicht in nächster Zukunft. Leo, du weißt, was sie mit mir machen werden. Wir haben es uns geschworen, dass wir uns beschützen, wenn es hart auf hart kommt. Auch das gehört dazu. Es hat für mich nicht geklappt mit unserem Plan und deswegen musst du mich gehen lassen. Es ist besser für mich, Leo.“

Daher ist also die Ruhe in Rainers Denken gekommen. Leo taumelt und in diesem Moment hasst er nichts mehr als seinen schwarzen Anzug, den er noch vom Tag trägt. Er ist einer der Kommandanten, einer der Fanatiker. Zumindest gibt er sich für den Rest der Welt den Anschein. Dass Rainer, der das Blutrot der fruchtbaren Männer trägt, ebenso ungläubig und häretisch wie er auch ist, dass sie beide schwul sind, das weiß nur der eingeweihte Kreis. 

Dass ihnen mitnichten etwas daran liegt, dass Gilead groß wird, auch. 

So haben sie sich geschworen, aufeinander aufzupassen und das System von innen heraus zu sprengen. 

Mayday. 

So haben sie sich genannt. Nach dem internationalen Notrufsignal im Sprechfunk. Ein Signal mit oberster Priorität. Hilfe für alle Unterdrückten, alle Gequälten, alle Gefolterten. 

Aus hehren Zielen ist bittere Realität geworden. Leo schwindelt beim Gedanken daran, dass Rainer in die Kolonien gebracht werden, in die säurehaltigen und radioaktiven Mülldeponien, deren giftige Dämpfe innerhalb von Wochen zum qualvollen Tod führen. In denen die Männer und Frauen gequält werden, weil der Hass gegen sie so groß ist. Weil sie ihr eigenes Geschlecht lieben und nicht so sind, wie es die verdorbene Doktrin vorgibt. 

Leo hat die Männer und Frauen dort gesehen und sein Magen dreht sich um bei den Erinnerungen, dass er Rainer an diese Monster verlieren wird.

Es ist zu früh. Zu früh für Rainer. Zu spät für ihn. 

„Bitte nicht“, fleht Leo und lehnt seine Stirn an die seines bestens Freundes. „Vielleicht schaffst du es ein paar Wochen länger und sie…“

Rainer greift zu und es schmerzt Leo. Er zieht seine Hand zu sich und Leos Hemd wird nass. 

„Das wird nicht der Fall sein, Leo. Das weißt du. Sei vernünftig und lass mich gehen. Hier und jetzt. In deiner Gegenwart, in deinen Armen. Lass mich meinen Tod selbst wählen und lass mich nicht an einer kaputten Lunge ersticken. Lass sie mich nicht noch mehr foltern, als sie es schon getan haben. Gönne ihnen nicht die Genugtuung, dass sie noch einen schwulen Mann mit ihren Elektroschockern foltern und ihn so lange prügeln, bis er sich nicht mehr regt.“

Wild und voller schlechtem Gewissen schüttelt Leo den Kopf, will sich entziehen, doch Rainer hält ihn eisern bei sich. 

„Das geht nicht, ich brauch dich“, wimmert Leo, bettelt um das Leben seines Freundes. Wen er anbettelt, Rainer oder eine Macht, die das Blatt noch wenden kann, ist ihm nicht klar. Er weiß nur, dass er selbst nicht in der Lage dazu ist, zu helfen. Er ist noch zu unbedeutend. Noch zu unbedeutend in der Hierarchie. Er hat es noch nicht nach oben geschafft. Nicht weit genug. Sein Wort hat noch nicht genug Gewicht, damit Dinge zuverlässig so laufen, wie er es möchte. 

„Du kannst mich nicht alleine lassen, ich brauch dich, du musst hier bleiben“, wispert er leise und der Egoismus in seinen Worten schmerzt ihn. 

„Sie werden mich bald holen und du weißt, was das heißt. Du weißt, was das an Leid für mich bedeutet, also kürze ich meinen Tod ab.“

Der rationale, analytische Teil in Leo weiß, dass Rainer Recht hat. Der vernünftige Teil in ihm stimmt dem Vorhaben zu. Der emotionale, der menschliche Teil schreit und kämpft und will die Hoffnung nicht aufgeben. Er weigert sich zu begreifen, dass Rainer, wie so viele gute Menschen vor ihm und nach ihm, sterben wird. Leo wird nichts dagegen tun können und so ist er irrational. Will hoffen. Will, dass alles gut wird. 

Wie ein Kind, das sich die Augen zuhält, im festen Glauben, dass das Böse ihn dann nicht sieht. 

„Leo, komm schon“, sagt Rainer sanft und Leo schießen Tränen in die Augen. 

„Bitte nicht“, wispert er. „Ich brauche dich.“

„Und ich brauche dich. Hier. Jetzt. Du wirst mich ewig haben. In deinen Gedanken, in deinen Erinnerungen, in deinem Herzen. Du wirst dir an meiner Stärke ein Beispiel nehmen und Gilead für mich vernichten. Mein Vermächtnis wird in dir weiterleben und du wirst diesen verfluchten Fanatikern den Garaus machen.“

Es sind fürchterliche Worte. Schlimme Worte. Was soll Leo denn mit Erinnerungen, wenn er Rainer nie wieder anfassen und berühren kann? Wenn er nie wieder seine Stimme oder sein Lachen hört? 

Leo schluchzt erstickt, weil er die Schreie nicht herauslasen darf, und schüttelt wieder und wieder den Kopf. Er will nicht, er kann nicht. Er erträgt es nicht. 

„Du hast Pia und Esther, sie werden dich unterstützen. Sie sind für dich da. Halte dich an sie, Leo.“

„Aber sie sind nicht du.“

„Sie glauben an das, was wir erschaffen haben. Sie glauben an dich. Du glaubst an sie. Gemeinsam schafft ihr das.“

„Ich kann doch noch nicht einmal dich schützen, wie soll ich dann…“

Rainer hält ihm den Mund zu und schüttelt streng den Kopf. „Argumentiere nicht so, Leo. Du wirst andere schützen können, wenn die Zeit reif ist und die Logistik steht. Viele von ihnen. Du wirst sie mit der Hilfe der anderen außer Landes schaffen und die Route nach mir benennen. Die Rainerallee.“

Der Versuch eines schrägen Witzes misslingt und Leos Welt verschwimmt. Er will keine Rainerallee. Er will Rainer. Lebend. Atmend. 

Leo schweigt mit zugeschnürter Kehle und sein bester Freund nimmt das als Zustimmung. 

„Magst du mich ein letztes Mal umarmen?“, fragt er und Leos Welt zerbricht. Er selbst bricht, sein Widerstand zerbirst in Millionen Teile. Er wird nie akzeptieren, dass Rainer sterben muss, aber er wird sein Leid nicht verlängern. Er darf es nicht. 

Er umarmt Rainer so eng, als würde er ihn nicht gehen lassen wollen. Presst ihn an sich, als wäre dieser seine Lebenslinie. Weint, als würde er bereits jetzt trauern. Rainer erwidert seine Umarmung und nun weint auch er stille Tränen. 

„Soll ich dich halten, während du…?“, fragt Leo schließlich erstickt, denn das ist es, was er für seinen Freund, Arbeitskollegen und Studienkollegen tun kann in dieser Hölle, die Gilead heißt. 

„Ja“, sagt Rainer schlicht und zieht sich nach vorne, macht Raum und Platz für Leo.  

Leo steigt zu ihm in die Wanne und das warme Wasser schwappt um ihn herum, schwappt über auf den in die Jahre gekommenen Holzboden. Die Wanne ist zu klein für zwei ausgewachsene Männer und fast kann Leo sich nicht hinter Rainer niederlassen. Er will es auch nicht. Am Liebsten will er ihn an sich ziehen und nicht wieder loslassen. Mit ihm fliehen, gegen jede Wahrscheinlichkeit erfolgreich damit sein. 

Rainer lehnt sich an ihn und Leo umfasst ihn mit seinen Armen, so eng und so versichernd, als wäre er der Anker. 

„Erzähl mir ein paar lustige Geschichten von der Dienststelle, während ich einschlafe, okay?“, verlangt Rainer und Leo schluchzt trocken auf. Er presst seine Wange an Rainers und holt stockend Luft. Rainer seufzt. 

Einschlafen. Es klingt so harmlos. So beschönigend für das, was passieren wird. 

Leo bringt kaum die Silben hervor, so zugeschnürt ist seine Kehle, doch er hält Wort. 

Er hält Wort, als das Wasser im fahlen Mondlicht dunkel verfärbt. 

Er hält Wort, als Rainers Körper im Todeskampf um sein Leben anfängt zu zucken.

Er hält Wort, als Rainers Körper still wird. 

Er bricht erst sein Wort, als Pia in den Raum kommt und panisch nach Esther ruft. 

Dann schreit er, stumm, denn die Augen hören alles. 


~~**~~


Es dauert zwei Tage, bis Leo nach den unendlichen Befragungen durch die Augen und den Rat nach Hause kommt, freigesprochen von dem Vorwurf, zu nachlässig mit seiner Magd gewesen zu sein. Sobald die Tür hinter ihm zufällt, fällt auch seine Maske ab und entblößt das Nichts, das er ist. 

Er zittert am ganzen Körper und das Letzte, was er sieht, bevor die Welt vor seinen Augen verschwimmt, ist Pia, wie sie auf ihn zukommt und ihn in die Arme schließt. Sie trainiert immer noch heimlich und entsprechend stark ist auch ihr Griff, mit dem sie ihm Wärme spendet, wo nur noch Kälte in seinem Körper ist. 

Sie bringt ihn in den Keller, in ihren Safe Space. Esther kommt ihnen hinterher und sie nehmen ihn stumm in ihre Mitte, legen ihm eine der dicken Decken über die Schultern. Leo weint, ist hilflos seinen Emotionen ausgeliefert, die immer noch nicht fassen können, dass Rainer nicht mehr da ist. 

Rainer, mit dem er die Ausbildung zusammen gemacht hat. Mit dem er in einer Studenten-WG gewohnt hat. Der immer vergessen hat, die Kühlschranktür zu schließen. Mit dem ihn eine jahrelange Freundschaft verbunden hat. Der Mann, der Leo soviel bedeutet, ist nicht mehr und das Nichtsein ist unbegreiflich. Jeden Tag wird es weniger begreiflich und jeden Tag wächst die Verzweiflung.

„Ich kann das nicht. Ich kann das nicht. Es ist alles meine Schuld. Ich kann das nicht“, schluchzt er erstickt und Pia presst ihre Lippen an seine Schläfe. 

„Nein, Leo, es ist nicht deine Schuld. Das ist einzig und alleine die Schuld der Fanatiker, die sich an die Macht geputscht haben. Nicht deine, hörst du. Du gibst dein Bestes“, flüstert sie erstickt. Rainer war auch ihr Freund, ein lieb gewonnener Kollege. 

„Würde ich mein Bestes geben, wäre Rainer nicht tot“, wispert er und Esther birgt seine Finger in ihrer Hand. Sie hat Tränen in den Augen, doch ihre Lippen sind vor bitterem Hass verzogen.

„Wir wussten alle, worauf wir uns einlassen, als wir uns entschlossen haben, diesen Staat von innen heraus zu schwächen, Leo. Auch Rainer. Wir wussten das und ja, es tut verdammt weh, aber es gibt unendlich viele Menschen, die dich brauchen. Uns. Als Einheit. Als diejenigen, die ihnen Wege zur Flucht ermöglichen.“ 

Ernst sieht sie ihn an und Leo ist schon versucht, den Kopf zu schütteln, als sie ihn unterbricht. 

„Pia und ich brauchen dich. Adam, Maik und Karow verlassen sich auf dich. Anna, Malik und Henny verlassen sich auf uns. All die Menschen, die da draußen sind und gefoltert werden, erniedrigt werden, brauchen unsere Hilfe. Wir wussten das, als wir uns dazu entschlossen haben, zu bleiben, Leo. Und nichts wäre schlimmer und würde Rainer weniger wollen, als dass du jetzt aufgibst. Lebe, Leo. Lebe für ihn, für uns, für all diejenigen, die unsere Hilfe brauchen.“ 

Esthers flehende, beinahe schon beschwörende Worte dringen tief in Leos Inneres, zerstören dort, was noch von ihm übrig ist. Er findet keine Worte, die er ihr darauf antworten kann. Er ist wie leergefegt und vielleicht haben Esthers Worte deswegen soviel Erfolg damit, sich auf den Ruinen seines Selbst festzusetzen.


~~**~~


Leo bricht die kommende Zeit auf unendliche viele Arten und Weisen. 

Trauer dominiert seinen Alltag, ebenso wie das Wissen, dass er Rainer nie wiedersehen wird. Oder erst dann, wenn er selbst tot ist. 

Leo ist mittlerweile davon überzeugt, dass er sehr schnell sterben wird, und dass aus ihrem Plan nichts mehr werden wird. Doch das kann er Rainer nicht antun und nicht all den anderen, denen sie geschworen haben, sie zu schützen und ihnen zu helfen. 

So ist es der Schwur, der ihn aufrecht erhält, der ihn weiterhin atmen, essen, schlafen lässt und am Ende soviel Wut, Hass und Zorn hervorbringt, dass Leo nur noch eine Hülle seines vorherigen Selbst ist. Seine Kälte richtet sich gegen all diejenigen, die diesem Staat freiwillig dienen und die er ruchlos und gnadenlos hinter sich lässt in seinem Aufstieg in dieser Hölle. 

Leo findet seine Form der Rache. Er beurteilt die Fanatiker nach ihren eigenen Regeln, jagt sie mit ihrer falschen Frömmigkeit und ruft wieder und wieder die Augen, wenn er auch nur den kleinsten Anlass für fehlerhaftes Verhalten sieht. 

Er lässt so viele der Fanatiker wegen kleiner Nichtigkeiten über die Klinge springen, dass er sich den Ruf eines eisernen, fürchterlichen Kommandanten aneignet, der seinen Bereich mit harter, unnachgebiger Hand führt. Unerbittlich geht er gegen alle vor, die vermeintlich gegen das System sind. 

Mit dem Kommandanten, den er wegen der brutalen Vergewaltigung und Verstümmelung der diesem zugeteilten Magd hinrichtet, macht Leo sich zum zweiten Mal die Hände blutig. Zum ersten Mal ist es das Blut eines Menschen, der widerlicher nicht hätte sein können. Unter dem Deckmantel des Urteils aufgrund des Geschlechtsverrätertums exekutiert er den Mann auf dem Marktplatz der kleinen Stadt, in der sie untergekommen sind. Er legt ihm selbst die Schlinge um den Hals und stößt ihn vom Podest, sieht zu, wie der Körper zuckt.  

Und findet in dem Moment so etwas wie Frieden in sich, nur um Minuten später von Schuldgefühlen geplagt zu werden.

Sein Mord findet Gefallen in den Augen des Großkommandanten Schürk, der in ihm anscheinend so etwas wie einen Ziehsohn sieht. Er nimmt ihn unter seine Fittiche und lässt ihm mehr und mehr Aufgaben zukommen. Zieht ihn ins Vertrauen seiner widerlichen Pläne. Wieder und wieder muss er in die Hauptstadt, sich die Tiraden des widerlichen Drecksschweins anhören, seine Spiele mitspielen und sich auf sein Niveau herablassen. 

Pia und Esther sind da, sie sind immer da, in den Nächten, in denen er weiterbricht, auseinanderfällt und nicht mehr aufhören kann zu weinen, wenn Trauer durch seine Leere bricht. Sie sind da, um ihn zu unterstützen. Sie sind da und machen die Arbeit, die er nicht machen kann – gehen auf anderen Wegen in den Untergrund als er, sprechen andere Menschen an. 

Es dauert ein halbes Jahr, dann haben sie den ersten Rettungskorridor und funken zum ersten Mal Mayday.

Es ist Leo eine grimmige Genugtuung, dass er ausgerechnet der Frau des Großkommandanten das Leben rettet, indem Maik sie zur Leiche schminkt und er die zierliche, ältere Frau dazu bewegen kann, sich auf den Waldboden zu legen, als hätte er sie da erschossen. Sie zittert am ganzen Körper und fast ist es unmöglich, aber dann gelingt es ihnen trotzdem. Während Leo zurück in die Hauptstadt reist, begleitet Maik sie die letzten Kilometer zur Grenze – und darüber hinaus. 

Er lügt dem Großkommandanten mit grimmiger Genugtuung wagemutig und lebensmüde ins Gesicht und erhält seine Auszeichnung dafür. Als getreuer Gefolgsmann.

Die erste von vielen, die ihn hoch in der Gunst des widerlichsten Sadisten dieser Welt stehen lassen. Er beschmutzt Leos Seele mit seinen Worten und seiner Vorliebe für seinen besten Regionalkommandanten, doch das ist nichts im Vergleich zur grimmigen Genugtuung, die Leo in sich fühlt, als die Fluchtkorridore halten und sich weitere öffnen.


~~~~~~

Wird fortgesetzt.

 

Chapter 3: Die Bitterkeit des Lebens

Notes:

Einen guten Start ins Wochenende euch allen,

hier nun der neue Teil zu den Schattierungen. Dass es heller wird, möchte ich noch nicht sagen und dementsprechend umfangreich sind auch die Triggerwarnungen: Gewalt, Folter, Erwähnung von Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung, frauenfeindliche Sprache, Entmenschlichung, selbstverletzendes Verhalten.

Chapter Text

 


Gilead ist durch und durch verdorben. 

Es gibt keinen Bereich dieses Staates, der nicht durchzogen ist von menschenverachtender Grausamkeit. Pia, Esther und er versuchen, ihr Zuhause zu einem sicheren Ort zu machen – sowohl für sich selbst als auch für die Mägde, die ihnen nach und nach zugeteilt werden. Männer, früher in Freiheit, nun durch die Roten Zentren so gebrochen, dass sie als Gefangene der Haushalte keinen Widerstand mehr leisten. 

Die Männer, die wie Fremdkörper in ihr Anwesen kommen, haben fast alle Angst. Und dann werden sie von ihnen vergewaltigt, einer nach dem anderen. Unter dem Deckmantel der Frömmigkeit reitet Pia die auf dem Rücken liegenden Männer. Sie wagen es nur bedingt, die Zeremonien ausfallen zu lassen, aus Angst davor, was passieren würde, wenn eine Magd sie verrät. 

Ein Standbein von Gilead ist, dass jeder jeden verrät, freiwillig und unfreiwillig. Leo weiß, dass die Männer in Rot in den Zentren verhört werden, solange, bis sie alles über die Kommandantenfamilien preisgeben. Er weiß, dass fast alle brechen oder freiwillig Informationen weitergeben, also müssen sie den schönen, fanatischen, verdorbenen Schein wahren. 

Er weiß es, Pia weiß es und Esther weiß es. 

Was niemand weiß, ist, dass Pia die Pille nimmt. Solange sie es verhindern kann, wird sie nicht schwanger werden. Solange ihnen diese Möglichkeit noch zur Verfügung steht, werden sie sie ergreifen. So auch jetzt und Leo beobachtet sie dabei, wie sie die kleine, unscheinbare, weiße Tablette wie einen Schatz zwischen ihren Händen hält.  

„Auf Gilead“, sagt sie mit grimmiger Genugtuung und schluckt sie mit einem Glas Wasser. 

Leo nickt, denn lächeln kann er nur noch selten aus eigenem Antrieb und schon gar nicht aus Fröhlichkeit heraus. 

Pia, Esther und er haben oft darüber gesprochen, wie sie mit den Verbrechen, die sie an den Männern begehen, umgehen. Wie sie mit den Vergewaltigungen, die Pia sich selbst aufzwingt, umgehen. 

Nicht gut, ist die kurze Antwort und Leo hat Wege gefunden, sich dafür zu bestrafen, ohne dass jemand das Ergebnis dessen sieht. 

Er hält seine Hände unter kaltes Wasser und schlägt dann solange auf seine Finger, bis er vor Schmerz fast bewusstlos wird.  

Das Brennen hilft, seine Gedanken und seine Schuld zu fokussieren und sich selbst für das zu kasteien, was er tut. Das ist seine Sühne, zumindest die, die er gerade geben kann. Schmerz hilft, genauso wie emotionale Distanzierung von den Menschen, die ihm begegnen. 

Nur Pia und Esther lässt er noch in sein Herz, im erweiterten Kreis auch Henny, Adam, Maik, Anna, Nina, Eva, Malik und Karow.

Anders geht es nicht, denn wenn er über die logistische Einteilung der versklavten Männer entscheiden muss, braucht er einen kühlen Kopf und darf keinen Blick auf Einzelschicksale haben. Er hat dafür gesorgt, dass sie durch das ganze Land gefahren werden, immer zu anderen Orten. Es sollen sich keine Strukturen verfestigen, damit kein Widerstand aufkommen kann. Damit die Männer die Orientierung verlieren und sich noch hilfloser fühlen als zuvor. 

Das ist die offizielle Version. 

Leo hat diesen Vorschlag gemacht, aber eigentlich dient er auch dazu, keinen Verdacht zu erregen. Je öfter die Männer von Zentrum zu Zentrum geschoben werden, desto mehr verschwimmt ihre Spur und desto leichter zu begründen ist es, dass ihre Unterlagen verschwinden oder geändert werden. Sie werden zwar mithilfe der roten Ohrchips getracked, aber es macht es Leo einfacher, ihnen dabei zu helfen, zu entkommen. Das Entfernen ist eine blutige Sache, aber es funktioniert.

Wobei es nicht Leos alleiniger Verdienst ist. Ganz im Gegenteil. Esther kann sich als Martha viel freier bewegen als er und bringt die Botschaften von Haushalt zu Haushalt. Pia hält bei offiziellen Terminen die Augen und Ohren offen. Er selbst identifiziert Kommandanten, die Gilead ebenso untreu ergeben sind, wie sie selbst. Sie haben ein Netzwerk aufgebaut an Menschen, die genauso angewidert von diesem Staat sind wie sie. Menschen, die anderen Menschen helfen und sie nicht zerstören wollen. 

Dazu wird Leos äußere Schicht hart. Sie bedeckt den weichen, nutzlosen Kern der Menschlichkeit, der bei jeder Tat, die er begeht, schreit und in seinem Gefängnis gegen die Mauern hämmert. 


~~**~~


Leo begibt sich so nahe an die Grenze, wie er kann. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, aber eins, das sich lohnt, denn es eröffnet neue Wege. 

„Herr Hölzer“, schüttelt ihm der Verbindungsbeamte des ausländischen Geheimdienstes die Hand. Endlich wieder einen normalen Titel zu haben und nicht Kommandant genannt zu werden, ist eine Insel der Alltäglichkeit und Leo sonnt sich in der Anrede. Sie beruhigt ihn, gaukelt ihm für einen Moment vor, nicht der zu sein, der er ist. 

„Herr Król. Ich freue mich, Sie zu sehen.“

Leo meint es ernst. Jede Information, die er weitergeben kann um Gilead zu schwächen, ist eine gute Information. Und wem, wenn nicht Król, kann er alles weitergeben, was er weiß? Die dunklen Stunden, in denen er dem Mann vorwirft, zu spät Kontakt zu ihm aufgenommen zu haben, verschweigt er. Król tut sein Möglichstes und Leo sein Bestes, das nie genug sein wird.  

„Wie geht es Ihnen?“, fragt der Verbindungsbeamte und Leo zuckt mit den Schultern. 

„Ich mache meine Arbeit und liefere Ihnen Namen und Informationen, damit Sie mehr Menschen hier herausholen können.“ Mehr will Leo nicht. Sich zu verausgaben bis zur Erschöpfung, damit möglichst viele fliehen können und Gilead zum Schluss so geschwächt ist, dass das Land und alle religiösen Fanatiker implodieren und wie andere, fürchterliche Staaten und Diktaturen, scheitern. Darüber hinaus erlaubt er sich keine positiven Gefühle. 

Der blonde Mann mit der weichen Stimme lächelt nachsichtig, vielleicht auch etwas bemitleidend, lässt sich aber von Leo die Liste und Akten von Menschen geben, die dieser Staat versklavt hat. Leo hat sie gestohlen, damit Król sie mit den endlosen Namenslisten abgleichen kann, die aus den Personalsystemen dieses Landes gerettet werden konnten. Damit sie wissen, wer zu ihnen kommt und damit die Menschen, die fliehen können, wieder die sind, die sie vorher einmal waren. Vom Namen her, denn dass die Männer und Frauen, die unterdrückt, gefoltert und vergewaltigt werden, traumatisiert sind, das steht außer Frage. 

„Sie sind ein wertvoller Verbündeter, Herr Hölzer“, bekräftigt er schließlich wie jedes Mal und Leo schnaubt. 

„Wäre ich wertvoll, hätte ich die Machtergreifung verhindert“, sagt er und meint es auch so. 

Sie sind zu spät gewesen und das als Polizisten. Haben die Anzeichen gesehen und gegen sie gekämpft. Der Putsch…ein unvorstellbarer Umsturz ist zu schnell gekommen. Sie konnten nicht mehr verhindern, dass die religiösen Fanatiker eine geschwächte Regierung mit inhaltslosem Wahlprogramm überrannt haben, von jetzt auf gleich alle Sicherheitsbehörden besetzt und alle Regierungsinstitutionen, die zum Schutz gegen eine solche Übernahme dienen sollten, außer Gefecht gesetzt haben. 

Das freie Land, in dem Leo geboren worden ist, ist nun eine Diktatur, die Menschen dafür hinrichtet, an einen gnädigen Gott zu glauben und dafür, auf das eigene Geschlecht zu stehen. Frauen dafür, dass sie lesen. Mägde, wenn sie ihre Aufgaben nicht erfüllen. 

Eigentlich hätte Leo schon längst hingerichtet werden müssen. 

Doch er kämpft verbissen und er ist noch nicht fertig. Jede gerettete Seele gleicht die Schuld aus, die er sich tagtäglich auflädt. Zumindest ein bisschen. Seine vollständige Schuld kann niemals beglichen werden und wenn Leo eines herbeisehnt, dann, dass er endlich für all die Gräueltaten, die er begangen hat, bestraft wird.

„Sie hätten das nicht verhindern können, Herr Hölzer. Sie sind einer gegen viele.“ Król und seine beruhigenden Worte, die nichts bedeuten. Er hat nicht genug getan. 

„Ich bin einer, der Verbrechen begeht und die er schlussendlich büßen wird.“

Król lächelt sein weiches Lächeln und Leo weiß, dass er mit ihm nicht zu diskutieren braucht. Aber die Zeit wird kommen, in der er büßt, dessen ist er sich sicher. 


~~**~~


Adams aktuelle Magd ist ein Mann, dessen Wut nur allzu sichtbar unter der Oberfläche schlummert. 

Leo erkennt das in jeder Geste des lockigen Mannes, in jeder Bewegung, mit der er ihnen auftut. Er weiß von Adam, dass sie den schönen Schein aufrecht erhalten, aber dass der, der eigentlich Vincent Ross heißt, ihm die Kaffeetasse auf die Untertasse knallt und ihm mit vor Wut dunklen Augen reicht, beunruhigt ihn schon. Sie dürfen keine Aufmerksamkeit erregen, auch wenn es nur Leo ist, der zu Besuch ist. 

„Ja, habe ich“, seufzt Adam auf Leos noch nicht gestellte Frage und wird durch die blauen Augen aufgespießt, die vor kurzem noch knapp an Leos vorbeigeschrappt sind. 

Leo hebt die Augenbrauen. Es ist bereits nach der Zeremonie und er ahnt, dass Adam und Eva Vincent Ross geschont haben. Er ahnt, dass sie vermutlich noch ganz andere Dinge mit ihm besprochen haben. Adam ist da mutiger als Leo und weniger im Fokus des Großkommandanten. Im Schatten von Leo und seiner Strenge kann er anders agieren und Leo beneidet ihn darum. 

Er braucht seine Zeit, bis er sich auf das Wissen einlässt, das damit einhergeht und nickt schließlich Adam zu, als Zeichen, dass er verstanden hat, was zu tun ist.

„Danke, Vincent“, sagt er deswegen leiser als geplant und der lockige Schopf ruckt hoch. Überrascht und beinahe fassungslos wird er gemustert und für lange Sekunden starren sie sich in die Augen. Graduell verschwindet die Wut und macht etwas Platz, das man fahle Hoffnung nennen könnte. 

„Möchtest du dich ebenfalls setzen? Ich denke, Adam wird schon mit dir über deine Möglichkeiten gesprochen haben."

Es braucht etwas, bis der Mann stumm bejaht und sich dann zögernd niederlässt. Leo erkennt die Erziehung der Roten Zentren in jeder Bewegung und in der sich anschließenden Haltung. Vincent fällt es ebenso auf und wütend löst er sich aus der Haltung, ballt seine Hände zu kampfbereiten Fäusten. 

Er ist widerspenstig und hat Leben in sich. Wut. Zorn. Das ist gut. Sie brauchen alles davon, um ihn hier herauszuholen. Er muss stark genug sein für das Kommende, denn leicht wird es nicht. Gegebenenfalls tödlich.

„Es kann sein, dass du es nicht überleben wirst“, rückt Leo gleich mit der bitteren, unumstößlichen Wahrheit heraus und Vincent sieht ihn so entschlossen an, dass es Leo schaudert. Wenn er so stark ist, wie Adam es ihm berichtet hat, dann wird er diesen Weg gehen können. Dann wird er sich auch außerhalb von Gilead durchbeißen. 

„Und das hier ist ein Leben? In welcher Welt leben Sie, Herr Hölzer?“, fragt eine ruhige, aber bissige, melodische Stimme und Leo schaudert. 

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, genauso unpassend wie die Anrede des Mannes in Rot. 


~~**~~


„Ich habe eine Bitte“, sagt Vincent ungewöhnlich sanft, wenig auf den üblichen Hass und die allpräsente Wut gepolt, die er sonst Leo und Adam gegenüber zeigt. Auch jetzt noch, nach all ihren Treffen und nachdem sie ihn eingeweiht haben in ihre Pläne. Er ist kooperativer als vorher, aber das mildert die Verachtung ihnen gegenüber kein Stück. 

Leo weiß, dass sie es nicht anders verdient haben. 

Nun wirkt er fast unterwürfig und Leos Rücken frisst sich eine Anspannung hinauf, die er sich nicht ganz erklären kann. 

Leo ist wieder einmal zu Besuch bei Adam, um mit ihm die weitere Verteilung der knapper werdenden Ressourcen zu besprechen. Mehrere Länder haben ihre Handelsabkommen mit Gilead aufgekündigt. Es fehlt an wichtigen Dingen und neue Handelsabkommen dauern. Die anderen Länder zögern, denn es kommen mehr und mehr Horrorberichte aus diesem Land. 

Mit jeder geflohenen Magd dringen mehr und mehr Schauergeschichten aus Gilead in die Welt und die Weltgemeinschaft möchte den Staat erst einmal mit diplomatischen Taktiken in die Knie zwingen. Noch wehrt sich Gilead und der Großkommandant schwingt immer leidenschaftlichere Reden, wie groß sein Staat ist, doch Leo hofft, dass es nicht mehr lange dauert und dass der Punkt überschritten wird, an dem es wieder egal ist, was hier passiert. 

Vielleicht erlebt er noch den Fall dieses Landes. Das wäre schön. 

Vincent räuspert sich. „Adam…er ist…du…du musst ihn auch retten, weil…“

Weiter kommt er nicht, als das vielsagende Geräusch von schnell abbremsenden SUV vor der Tür zu hören ist. Vincent weiß nicht, dass er heute geholt wird…ebenso wenig wie Leo und Adam. Natürlich haben sie vorher alles in die Wege geleitet, was als begründende Unterlagen dienen wird; die schlimmen Anschuldigungen, dass er die Frau des Kommandanten unsittlich angefasst hat und sich der Sodomie schuldig gemacht hat. Die gefälschten Testergebnisse, die ihm bescheinigen, dass seine Fruchtbarkeit schwindet. 

Es dauert keine zehn Sekunden, bis die schwarz vermummten Männer das Haus betreten und nicht lange fackeln. 

Alarmiert sieht Vincent von ihm zu den Männern, die ihn schweigend packen und hochzerren. Sie sind brutal und Leos Herz klopft schmerzhaft in seiner Brust. Ja, er weiß, dass es ihre Verbündeten sind, er weiß, dass unter den Masken nur loyale Kämpfer stecken, trotzdem…

„Was soll das? Was ist-“, presst Vincent panisch hervor und verstummt mit einem gedämpften Aufstöhnen, als sie ihm auch schon den ledernen Knebel anlegen, der seinen Mund zupresst und ihn am Sprechen hindert. Weil solche wie er nicht sprechen sollen. 

Es muss glaubwürdig aussehen für alle, die nun zusehen. 

Er wird abgeführt und er wehrt sich panisch. Die Männer müssen ihn regelrecht zum Auto schleifen und hineinzwingen, weil er so viel Angst hat. 

Leo hofft, dass alles gut geht, dass Króls Männer ihn in ein paar Stunden in Empfang nehmen werden, damit er in Freiheit ist – offiziell gestorben in den Kolonien, als er versucht hat, einen Wärter zu überrumpeln. So wird es in der Akte stehen, die er erhalten und im Rahmen des monatlichen Berichtswesens an den Großkommandanten weiterleiten wird. 

Adam wird den Konvoy begleiten. Offiziell, um sicherzustellen, dass der Verräter an Gilead seine gerechte Strafe erhält, inoffiziell, da er Absprachen mit Król treffen muss und das eine günstige Gelegenheit ist. 

Leo sieht zu, wie die Autos wegfahren und beißt sich an den Reifenspuren und Schleifspuren fest, die den ordentlichen Kies durcheinander gebracht haben. 

Wenn alles gut geht, wird Adam morgen wieder da sein, übernächtigt, aber glücklich, weil er dem Mann, der es ihm die letzten Monate über angetan hat, ein Leben in Freiheit bieten kann. 

Von Adam hat Leo auch den Hinweis, dass er immer fragen muss, was die Männer in Rot essen oder eben auch nicht. Und es ihnen möglich machen. Vincent, so hat Adam ihm stolz erzählt, nimmt ihm zum Beispiel sein verhasstes Gemüse ab, gibt ihm dafür aber das spärliche Fleisch. 

Er muss also Vegetarier oder Veganer sein – etwas, das er außerhalb von Gilead wieder ausüben können wird. 


~~**~~


Adam torkelt pünktlich um zehn Uhr morgens in Leos Haus. Übernächtigt und müde, aber mit einer Zufriedenheit, die Leo beruhigt, weil sie bedeutet, dass Vincent in Freiheit ist. Leo hofft, dass diesem geholfen werden wird, seine Wut irgendwann hinter sich lassen zu können. Er hofft, dass das erlittene Trauma durch fähige Psychologinnen und Psychologen behandelt wird. 

Dass er nicht zu hoffen braucht, weil das aufnehmende Land seine Betreuung bereits auf Flüchtende wie Vincent eingestellt hat, weiß Leo und es beruhigt ihn.  

„Er hat gesagt, dass ich dich retten soll“, sagt Leo und schiebt Adam eine Tasse Kaffee über den Tisch, die dieser murrend annimmt. 

„Mich?“

„‘Du musst ihn auch retten‘. Das waren seine Worte.“

Adam schnaubt und es hat einen bitteren Einschlag. Er befühlt seine Wange und Leo überlegt, ob Vincent Adam zum Schluss eine reingehauen hat. Verständlich wäre es. 

„Ich war nur nett zu ihm, sonst nichts. Er wird mich vergessen haben, sobald die Psychologen ihn davon überzeugt haben, dass ich nichts weiter als sein Gefängniswärter gewesen bin. Der zwar nett zu ihm war, aber eben auch nicht auf einer Ebene mit ihm. Sie werden ihm sagen, dass er mir ausgeliefert war und sich deswegen mit mir gut stellen musste. Das Übliche eben.“

Adam schnaubt verächtlich und es ist durchtränkt mit Frust. Leo versteht es, versteht aber auch die Argumentation der Psychologen. Genau das passiert hier und die Mägde können nicht wissen, dass Adam und er versuchen, ihnen zu helfen. Ohne etwas zu fordern. Oder manchmal, in dem sie Unmenschliches fordern. 

„Er ist in Sicherheit“, bekräftigt Adam noch einmal und streicht noch einmal über seine Wange.  

Leo nickt. Wieder einer. Heute ist ein guter Tag. 


~~**~~


Leo kommt zu spät.

Er hört Pias gedämpfte Schreie zu spät, er sieht Esthers Panik zu spät. Er erkennt die Anzeichen einer fanatischen Magd zu spät. Er kommt zu spät und kann nur noch sehen, wie Esther das Leben aus dem Mann herausprügelt, der versucht hat, die Liebe ihres Lebens zu vergewaltigen.

Schon vor Gilead war sie eine fähige Polizistin und ihre Reflexe sind mitnichten über die letzten drei Jahre verrostet. 

Sie bringt den am Boden liegenden Mann beinahe um, bevor Pia sie mit zitternden Händen und verweintem Gesicht davon abhält und sich an sie klammert, als würde davon ihr Leben abhängen. 

„Hör auf, Martha, hör auf“, flüstert sie wieder und wieder und Leo sieht auf den wimmernden, blutigen Mann am Boden. Er ist noch bei Bewusstsein und flucht, bringt auch jetzt noch verschwommene Worte hervor, die keiner hier hören will. Fanatischen Dreck, widerlich und ekelhaft.

„Geht ins Haus“, befiehlt er den beiden Frauen sanft und nickt Pia ermutigend zu, die ihn mit großen, erleichterten, dankbaren Augen ansieht. Sie blutet aus einer Stirnwunde und ihre Lippe ist geschwollen. Sie hat sich heftig  gewehrt, wie auch nicht? Schließlich ist sie diejenige gewesen, die ihn bei ihren Polizeitrainings immer wieder auf die Matte geschickt hat.  

Sie werden nachher im Keller darüber sprechen, aber nicht jetzt. Jetzt ist es wichtig, dass er seine Rolle spielt, um gegenüber dem auf dem Boden liegenden Mann keinen Verdacht zu erregen. 

Leo wartet, bis Esther und Pia die Tür zum Garten hinter sich geschlossen haben und zieht den Mann, der aktuell noch seinen Namen trägt, zu sich hoch. Dessen Gesicht ist geschwollen und Leo sieht, dass ihm gleich zwei Zähne fehlen, die hier irgendwo liegen müssen. Genugtuung erschafft Wärme in Leo. Esther hat ganze Arbeit geleistet.

„Du hast dich an meiner Gemahlin vergriffen. Du wolltest sie außerhalb der heiligen, uns gebotenen Zeremonie vergewaltigen. Du hast angefasst, was mir gehört.“ Kalte, fanatische Worte, nicht mehr als ein Tathergang, gesprochen von dem Mann, der Leo vorgibt zu sein. Er flüchtet sich dorthin, denn alles andere würde bedeuten, dass er jedwede Kontrolle über sich und seine Emotionen verliert. 

„Die Fotze hat schwanger zu werden, für etwas Anderes ist sie nicht da in den Augen des Herrn! Das solltest du am Besten wissen!“, spuckt ihm der Mann höhnisch-verzweifelt entgegen und Leo schlägt zu. Es ist, als würde die Gewalt ein Tor einreißen. Zu sich, dem Mann, der keine Gewalt mehr sehen kann. Der nicht mehr Bestandteil sein möchte bei Vergewaltigungen, bei Hinrichtungen, Schauprozessen. 

Der wahre Leo kommt zum Vorschein und er verliert den Kampf gegen seine Selbstbeherrschung. Schlägt zu. Wieder und wieder und wieder. Als er damit fertig ist, tritt er den am Boden liegenden und wimmernden Mann, der vor ihm liegt und sich schlussendlich nicht mehr rührt. 

Leo hört auf, bevor dieser stirbt und ruft dann die Augen. Er geht streng nach Protokoll vor und stellt sich den Fragen der Augen und des Rates, schlussendlich der der Onkel. 

Er untermauert damit einmal mehr seine Position als gnadenloser Kommandant ohne Skrupel, der jede Abweichung der Norm in Gilead nicht toleriert und gnadenlos ahnden wird. Er festigt seinen fanatischen Ruf als treuer Gefolgsmann eines Staates, der von Unterdrückung und Diskriminierung lebt.

Es ist ein Leichtes, so wütend, wie er ist. 


~~**~~


„Wirklich bedauerlich, Hölzer. Sehr bedauerlich.“

Leo sitzt dem Großkommandanten gegenüber und mustert dessen drahtiges, raubtierhaftes Gesicht. Nicht lange, denn Schürk will Unterordnung, nachdem er sich überzeugt hat, dass sein Gegenüber den Mut hat, es zumindest zum Teil mit ihm aufzunehmen. 

Nicht zu viel, denn das könnte als Widerstand und Angriff gewertet werden und tödlich enden.

Der Raum, in der er befohlen worden ist, ist prunkvoll. Marmorne Böden und hohe Decken machen ihn kalt und einschüchternd. Bewusst, weiß er, denn der Großkommandant liebt es, seine Macht zu demonstrieren. 

„Sie haben Recht daran, diese ungehorsame Magd zu strafen und der Häresie Einhalt zu gebieten.“

Schürk lehnt sich in seinem Ledersessel zurück und spreizt die Beine. Ein wahrer Mann, natürlich. Jemand wie er, der nur die Vormachtstellung des Mannes kennt, muss anscheinend so sein. 

Es gibt niemanden, den Leo so hasst wie er und niemanden, um dessen Hals er lieber seine Hände legen würde als um den von Schürk. Zudrücken, bis die wässrigen Augen hervorquellen. Die ekelhaften Worte stoppen, die aus seinem Mund kommen. Das Problem eines ganzen Landes mit einem Mord lösen. 

Wenn es denn damit getan wäre. 

Mit Schürk sind es viele, die genau daran glauben. Der Mann als Macht, die Frau als Gefäß, queere Männer als Sklaven, denen das eigenständige Denken herausgefoltert wird. Manchmal hat Leo das Gefühl, dass die Gruppe um ihn die Einzigen sind, die sich daran stören, doch dann weiß er, dass das nicht stimmt. 

Bespitzelung und Terror haben ein Klima der Angst erschaffen. Mit der Angst kommt das Denunziantentum. Jeder bespitzelt jeden und möchte sich bei den Augen besonders gut darstellen. Sie müssen aufpassen, höllisch auf der Hut sein. 

„Ich danke Ihnen, Großkommandant“, erwidert Leo tonlos knapp. Es ist eine Lüge und mit der Zeit ist er wirklich besser darin geworden, sich zu verstellen. 

„Da gibt es nichts zu danken, Hölzer. Aber ich muss auch sagen, dass die Magd Recht hatte. Es ist an der Zeit, dass Ihre Gemahlin schwanger wird. Sie ist jung, gesund und es wurden keine Hinderlichkeiten festgestellt. Ein Mann wie Sie kann sich die Kinderlosigkeit nicht erlauben. Sie sind Gileads Zukunft…werden Sie nicht zu unserer unrühmlichen Vergangenheit.“

Roland Schürk bleckt seine Zähne, was vermutlich ein Lächeln sein soll, und Leo behält mit Mühe seine Ausdruckslosigkeit bei.  

Das ist noch nicht einmal mehr eine Drohung. Es ist eine Warnung, ein Versprechen, dass er vernichtet werden würde, wenn er sich nicht den Spielregeln fügt. 

„Natürlich Großkommandant.“

„Ihre Frau hätte gut daran getan, die Magd machen zu lassen. Vielleicht hätte es endlich geholfen, Ihnen einen Statthalter zu bringen.“

Leo will schreien. Er will sich übergeben. Er will so lange auf Roland Schürk einschlagen, bis dessen Gesicht nur noch eine rote, deformierte Masse ist. Pia hätte sich vergewaltigen lassen sollen? Damit sie schwanger wird?

„Meine Gemahlin ist Ihm gefällig, Großkommandant. Sie sehnt sich nach einem Kind, einem Stammhalter, der Gilead treu dient und Ihnen loyal ergeben ist. Sie leidet darunter, dass es bisher nicht von Erfolg gekrönt war. Ich bin mir sicher, dass es bald klappen wird.“ 

Leo ist erstaunt von sich, wie ausdruckslos und ruhig seine Stimme klingen kann angesichts des Sturms, der in ihm tobt. Noch nicht einmal seine Finger zucken, auch wenn sie Roland Schürk wirklich ermorden wollen auf brutalste Art und Weise. 

Hoffentlich erstickst du eher an deinem Fanatismus, fügt er in Gedanken hinzu und neigt demütig den Kopf. Ich werde ihn dir in den Rachen stopfen, ich werde dich und deine ekelhafte Ideologie ausrotten. 

„Da bin ich mir auch sicher, deswegen lasse ich Ihnen eine Magd schicken, deren Erfolg unbestritten ist. Sie hat schon einige Kinder gezeugt, die zu prachtvollen Streitern Gileads heranwachsen werden und wird aktuell durch Onkel Boris trainiert.“

Wie gerne hätte Leo Schürk doch seinen Mageninhalt vor die Füße gespuckt. Trainiert, was für ein Euphemismus für die Folter, der der Mann in diesem Moment unterzogen wird. 

„Mit Sicherheit wird sie den sehnlichen Wunsch Ihrer Gemahlin auf ein Kind erfüllen.“

Roland Schürk erhebt sich und Leo tut es ihm gleich. Er weiß, wann er entlassen ist und wann es besser ist zu gehen. Wie immer lässt er den Kaffee und das Gebäck unangerührt dort stehen – eine Prüfung des Großkommandanten. Erst, wenn dieser die Erlaubnis dazu erteilt, ist es genehm, Kaffee zu sich zu trinken. Nur die Lebensmüden nehmen das Gebäck. 

„Ihre Gemahlin tut gut daran, sich keinen weiteren Fehltritt zu erlauben“, droht der Großkommandant nun offen und Leo nickt. Er darf sich nichts zu Schulden kommen lassen, denn sonst ist all sein Bestreben, in seiner Region die Zügel in der Hand zu halten, zunichte gemacht. Er darf seine Position nicht verlieren, denn das würde bedeuten, dass er dem Widerstand nicht mehr dienlich sein könnte. 

Und dass Schürk ihm Pia wegnehmen würde um sie in eines der Bordelle zu stecken. 

„Wir werden Ihnen keine Schande bereiten, Großkommandant.“

Leo ist entlassen und er flieht beinahe zu Moritz, dem jungen Fahrer, den er vor einer Todesstrafe bewahrt hat, weil dieser mehr schlecht als recht jemandem zur Flucht verholfen hat. Der Preis dafür, dass sie es ihm nicht hatten nachweisen können, sind zwei Finger…ein geringer Preis und dennoch ganz im Zeichen von Gileads Widerwärtigkeit. 

Moritz trägt es ihm unverdienterweise nicht nach, ganz im Gegenteil. Er freut sich, dass er leben darf und dass er weiterhin dem Widerstand dient. Er ist eine gute Seele, loyal und ein Licht in der Welt, die für Leo manchmal zu dunkel wird. 

Der junge Fahrer bringt ihn nach Hause und Leo überbringt Esther die schlechte Nachricht, weil er Pia damit nicht belasten kann. 

Ihre Ohrfeige brennt und der Schmerz ist willkommen. Leo fühlt sich schuldig für die Worte, die er wiedergibt und umso besser ist es, dass Esther hart zugeschlagen hat. 

Sie zischt ihm wütend ins Gesicht und Leo verharrt stumm, lässt sie ihre Wut an ihm austoben. Er muss ihr diesen Raum für ihre Verzweiflung geben. Diese wird jedoch viel zu schnell zu Trauer und sie entschuldigt sich. Weint. Entschuldigt sich noch einmal.

„Ich habe es verdient, Esther“, sagt Leo schlicht, als würde es das besser machen. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 4: Die Stimme eines Toten

Notes:

Guten Abend zusammen,

hier nun das vierte Kapitel der Schattierung. Wie auch in den Farben thematisiere ich hier die Zeremonie, daher gibt es eine Triggerwarnungen: Vergewaltigung, Erwähnungen von Folter.

Vielen Dank euch allen für euer bisheriges Interesse an Leos Version der Farben. Vielen lieben Dank für eure Kommentare und Sprachnachrichten, Kudos und Klicks! ❤️🤗

Chapter Text

 

Aufgrund der Drohung des Großkommandanten lässt er auch der nun eintreffenden Magd den Halskragen anlegen. 

Laut sich verbreitender Gerüchte ist der Hölzer-Haushalt der Schlimmste, dem man dienen kann. Esther hat Leo das Getuschel hinter vorgehaltener Hand mit grimmiger Genugtuung bestätigt und bei neuen Eintreffenden in ihrer Region verbreitet. 

Sie sind überein gekommen, dass sie die nächste Magd genau unter Kontrolle behalten, entsprechend streng und unnachgiebig vorgehen um ihren Ruf nicht zu gefährden. Dass sie den Mann auch engmaschig beobachten, damit es nicht noch einmal zu einem Übergriff kommen kann.

Pia ist die Entschlossenste unter ihnen. Trotz oder gerade wegen Roland Schürks Drohung.

Die Sonne scheint so fröhlich, als würde sie den Onkel und die Magd willkommen heißen wollen. Es ist warm, die Bienen summen durch den wilden Garten und ungebetene Erinnerungen an vergangene, unbeschwerte Tage kommen in Leo hoch. Sie sind unnütz und schlimm, insbesondere jetzt. In weniger als einer Stunde kommt der Onkel. Er ist einer derjenigen, die ihre Aufgaben besonders genau nehmen und die ihm anvertrauten Männer grausam straft und unterwirft. Ein Vertrauter von Roland Schürk und damit ein Mann, der mit äußerster Vorsicht zu genießen ist.

Er bringt einen Mann mit, den sie einschätzen müssen und der ihnen gefährlich werden kann. Ein Mann auf persönliche Empfehlung des Großkommandanten kann nur ein Spitzel und durch und durch indoktriniert sein. 

Pia klopft leise an und kommt in sein Zimmer. Die vergangene Nacht haben sie zu dritt in Pias und Esthers Bett geschlafen. Leo hat es eigentlich nicht gewollt, aber die beiden Frauen haben ihm keine Wahl gelassen und wenn er es sich ehrlich eingesteht, hat die Nähe gut getan. 

Denn auch das ist eine Form der Bestrafung, die Leo sich selbst auferlegt – der Entzug jedweder persönlicher Nähe. Von Berührungen, von Zärtlichkeit, Lust und Intimität ganz zu schweigen. 

Leo weiß schon gar nicht mehr, wann er das letzte Mal Sex gehabt hat. Oder wann er mit einem anderen Mann in einem Bett gelegen und körperliche Nähe ausgetauscht hat. Er lebt enthaltsam, so wie es Gilead vorsieht, ein Mönch quasi, und die Lust, sich selbst zu befriedigen, ist auf dem Weg hierhin verloren gegangen. Warum sollte er auch Lust empfinden? Mit wem?

Pia und Esther nehmen ihn regelmäßig in den Arm, in ihre Mitte, damit er nicht vereinsamt, aber das ersetzt nicht jemanden in seinen Leben, den er lieben darf. 

Eine weitere Strafe für seine Taten. 

„Hey. Wir schaffen das“, murmelt sie und gibt ihm einen keuschen Kuss auf die geschundene Wange. Leo weiß, dass er das nicht verdient hat, aber er weiß es besser, als es Pia zu versagen. 
 
„Ja, das tun wir“, bestätigt er schließlich, denn sie haben keine andere Möglichkeit. Sie müssen das schaffen. Immer und immer wieder. 

Sie umarmen sich lange und eng und Pias Hände, die Leos Rücken zurück auf- und abstreichen, sind Versicherung und Labsal zugleich. 


~~**~~


Seine Worte sind schöner Schein, stellt Leo fest, sobald er in den Raum kommt und die Welt einen Moment aufhört, sich weiter zu drehen, als er den vor ihm sitzenden Mann sieht. Dem Anblick eines Kommandanten gefällig zurechtgemacht mit ohrlangen, blonden Haaren. Groß, schmal, durch den roten Halskragen auf Leos Verlangen hin geknebelt. 

Leo erkennt ihn jedoch sofort an der Form seines Gesichts und hat bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht gedacht, dass er noch leben würde. Und schon gar nicht, dass er Leo jemals wieder über den Weg laufen würde. Noch gut erinnert er sich an dessen Widerstand vor zweieinhalb Jahren und wie nachhaltig dieser gebrochen worden ist in dem stillen Raum. 

Leo muss sich besinnen, bevor er die automatisierten Worte äußert, mit denen er bekräftigt, dass er froh ist, nun wieder die Möglichkeit auf einen Erben zu haben. Seine Stimme klingt fest und streng und Leo ist stolz darauf, dass er trotz seines Erstaunens nichts davon zeigt. 

„Desleo, ich heiße dich willkommen in meinem Haushalt. Du wirst nur dann sprechen, wenn es dir erlaubt ist. Du wirst meine Gemahlin weder ansehen und noch ansprechen. Trittst du ihr zu nahe oder berührst du sie, wird die Strafe dafür schlimmer sein als alles, was du jemals gekannt hast. Die Martha wird dir deine Aufgaben abseits der Zeremonie zuteilen und auch sie wirst du mit Respekt behandeln. Nicke, wenn du mich verstanden hast.“

Die Maske, die Leo auf dem Gesicht, aber auch in Mimik und Gestik trägt, sitzt und so lässt er gnadenlose Strenge und eine eindeutige Warnung auf den Mann niederregnen, der sich nicht rührt und keine Sekunde lang den Blick vom Teppich hebt. Der eine Statue sein könnte, so flach, wie er atmet. Er sitzt, als wäre er nicht mehr in dieser Welt und vielleicht hat sich Leo doch geirrt. Vielleicht haben sie ihn doch so sehr gebrochen, dass sein Geist verloren gegangen ist. Schürks Worte ziehen ihre Kreise in Leos Gedanken. Wahrlich gebrochen.

Leo tut das, was er am besten kann – er gibt sich den Anschein der Ungeduld, des Drakonischen. Dass es dazu dienen soll, den Mann aus seiner Starre zu holen, das muss niemand in diesem Raum außer Pia und Esther wissen. 

„Desleo, nicke, wenn du das verstanden hast.“ 

Es braucht etwas, dann neigt der in Rot gekleidete Mann tatsächlich seinen Kopf. Dem Onkel an seiner Seite gefällt das nicht und er greift zu seinem Stock, was beinahe in Sekundenschnelle eine Reaktion in dem Mann hervorbringt. Er zuckt und Leo kann es ihm nachfühlen. Onkel Boris ist berüchtigt dafür, die Männer in seinem Zuständigkeitsbereich mit Elektroschocks auf den vermeintlich richtigen Weg zu bringen, sie damit zu quälen und ihnen Angst zu machen. Er ist bekannt für seine Grausamkeit. 

Für die nächsten Monate nicht, denkt sich Leo grimmig und verabschiedet den Onkel mit dem gebotenen Respekt, aber auch mit der geforderten Gnadenlosigkeit.

Sie haben bereits vorher besprochen, dass zunächst Esther ein wachsames Auge auf den Mann hat und ihn einschätzt. Leo nickt ihr schweigend zu und sie bedeutet ihm unwirsch, ihr zu folgen. Der Mann gehorcht augenblicklich, mit gesenkten Schultern und gesenktem Blick. Ein Sinnbild von Demut, Unterordnung und Angst. 

Er ist die Antithese zu dem Mann von zuvor, aber Leos Bauchgefühl spielt verrückt, wenngleich er nicht genau weiß, warum. Egal, wie rational er an die Situation geht, da ist etwas Anderes, ungreifbar und unfassbar schwammig. 

Eines jedoch ist sehr konkret: der Mann, der immer wieder in seinen Träumen auftaucht und der ein Sinnbild für alle zu rettenden Unterdrückten ist, ist hier. Bei ihnen. Geschickt vom Großkommandanten um ihnen ein Kind zu schenken. Ein Widerspruch wie er nur in Gilead existieren kann.

 
~~**~~


Wann immer Leo Zeit hat, folgt er dem Mann durch das Haus, ungesehen und leise. Zuallererst, um ebenfalls sicher zu gehen, dass Pia nichts passiert, wenngleich Esther einen hervorragenden Job macht. Dann aber auch, um herauszufinden, wer dieser Mann ist, der seinerseits wie ein Gespenst durch das Haus schleicht und so gut wie gar keine Geräusche macht. Es ist, als will er niemanden auf sich aufmerksam machen und mit der Umgebung verschmelzen…aus Angst, dass ihm Gewalt angetan wird. Er nimmt ohne Widerstand alles an, was Esther ihm aufgibt zu tun. Er spricht kaum und wenn dann nur so leise, dass Leo weder seine Worte versteht, noch eine Stimmfärbung ausmachen kann. 

Leo hat den Eindruck, als würde dieser Mann nicht mehr am Leben teilnehmen. Er scheint vollkommen in sich versunken zu sein und nur die Finger, die anscheinend über jede Textur in diesem Haus gleiten müssen, lassen Leo erkennen, dass überhaupt noch Leben in diesem Körper und Geist ist. Fast scheint es Leo wie die Art von blinden Menschen zu lesen, nur dass es nicht Buchstaben sind, sondern Oberflächen. 

Aber vielleicht ist es so? In seiner Akte ist nicht vermerkt, was der Mann vorher für einen Beruf ausgeübt hat. Das passiert, wenn die Fänger es nicht wissen oder wenn die Männer sich trotz Folter ausschweigen. Vielleicht hat er viel gelesen oder ist Akademiker gewesen und das vollkommene Fehlen von Beschäftigung gleicht der Geist mit Eindrücken aus. Das, was dazu dienen soll, die Männer in Rot mehr und mehr zu brechen, wird mit einem verzweifelten, letzten Aufbäumen des Geistes beantwortet, einem Versuch, das eigene Sein zu retten. 

Zu genau denkt Leo aber nicht darüber nach, schließlich haben das Leben vor Gilead und die Emotionen der Männer in Rot keine Bewandtnis mehr. Zudem darf Leo sich nicht zu sehr in diejenigen einfühlen, die gefoltert werden, denn dann ist es ihm nicht mehr möglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Und das ist es was er hier tun kann. Handeln. Planen. Schlussendlich von innen heraus zerstören. 

Leo darf sich schon deswegen nicht in seine Menschlichkeit fallen lassen, weil das den Mann in Rot zu einem Menschen macht, dem Leo bald schlimme Gewalt antun wird. 

Nach wie vor gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie die Zeremonie ausfallen lassen können. Keinen. Es gibt nur die Warnung des Großkommandanten. 

Immer wieder muss Leo an den Widerstand denken, den der Mann in sich gehabt hat, der aber nun verschwunden ist, als hätte es ihn nie gegeben. Nur ein einziges Mal zeigt dieser vermeintlich einen Hang zur Rebellion und das ist ein Missverständnis, weil er Pia nicht gesehen hat. 

Leo hat immer noch den zitternden und schlotternden Mann vor Augen, der zu Boden starrt und sich nicht verteidigt, weil es ihm aberzogen und verboten worden ist. Erst Pia muss Leo aus seiner Wut lösen, die sich eigentlich nicht gegen den Mann vor ihm richtet, sondern gegen denjenigen, der versucht hat, Pia zu vergewaltigen und auch gegen Leo selbst. Ja, er ist auf sich selbst wütend, denn wegen ihm hat der Mensch, der vor ihm steht, bittere Angst. 

Sein schlechtes Gewissen befriedigt Leo mit kaltem Wasser und Schlägen. 

Der Mann in Rot ist ein Schatten seines früheren Selbst, wahrlich gebrochen. Trotz seiner Größe möchte er sich möglichst klein machen. Kein Wort entkommt seinen Lippen und selbst durch Pias aus ihrem guten Herzen heraus geborene Erlaubnis, sie ansehen zu dürfen, ist er eher verstört als beruhigt, wagt sogar den Widerspruch, dass Leo es verboten hat. Er ist ein Wesen der Angst und Leo verschließt sich jedem Gefühl in sich, was in ihm bei dieser Beobachtung aufkommt. 

Leo weiß nicht, ob dieser nicht ein bereitwilliger Spion für die Augen ist, also muss er sich so drakonisch verhalten, wie es sein Ruf ihm gebietet. Er kann sich keinen Fehltritt als Kommandant erlauben. Dass er – als er beim Käsediebstahl erwischt wird – seine Beute teilt, damit der andere Mann Esther gegenüber schweigt, wird da hoffentlich nicht schaden. 

Vielleicht ist das auch eine kleine Belohnung dafür, dass der Mann die Rainer-Maus im Garten nicht tötet, sondern sie mit einem Stück Brot füttert, das er aus seiner roten Robe zieht. Als er sie vorsichtig in seinen langen, teils krummen Fingern birgt, wird es Leo ganz warm ums Herz.

Eine gefährliche wie überraschende Emotion.


~~**~~


Die Arbeiten des Mannes in ihrem chaotischen Garten werden schnell zu Leos bevorzugtem Zeitvertreib, wenn er denn da ist und sich nicht um die Verwaltung seiner Region kümmern muss. Es ist eine zeitraubende Aufgabe, aber eine, die ihn so weit es geht, hinter die Kulissen schauen lässt. 

Er hat es weit geschafft in der Hierarchie und die Kommandanten unter ihm leben in ständiger Angst. Vor ihm. Das ist gut. 

Gerade eben steht Leo jedoch bequem hinter der Gardine seines Schlafzimmers und schaut aus dem Fenster, versucht, sich ein Bild zu machen, ohne, dass dieser ihn sieht.

Immer noch gibt es keinen Hinweis auf Häresie und die Zeremonie rückt näher und näher und näher. 

Leo verdrängt den Gedanken an die bevorstehende Vergewaltigung mit Wucht und konzentriert sich auf den blonden Mann im Garten.  

Heute ist die Brombeerhecke dran und Leo kann nur die Augen über Esther rollen, die ihre Chance sieht, das sie störende Gebüsch endlich loszuwerden. Leo ist da anderer Ansicht, hat sich aber gegen sie nicht durchsetzen können. Genaugenommen hat er es auch nicht so stark versucht, dass es gefruchtet hätte. 

So hat der Mann in Rot die undankbare Aufgabe, die Hecke zu beseitigen. Dass er dazu seine rote Robe auszieht und ordentlich aufhängt, Leo somit einen Einblick das darunterliegende Leinenhemd erlaubt, ist etwas, das ihn im ersten Moment kalt erwischt. So etwas ist abseits der Zeremonien noch nicht vorgekommen und als der Mann nun auch noch die Ärmel hochschiebt und Leo einen Blick auf die Hände und Unterarme werfen kann, weiß er im ersten Moment nicht, wohin mit sich. 

Nackte Männerhaut hat er immer nur in Roten Zentren gesehen und immer war es mit dem Leid der dort gefangenen Männer verknüpft. Die nun so alltägliche Geste hämmert sich durch die Schicht an zähem Schutz um seine wahren Empfindungen. 

Die Absurdität der Situation nagt an ihm, doch Leo kann und will nicht wegschauen, auch jetzt nicht, als der Anlass seiner Unruhe sich die dicken Handschuhe gegen die Brombeerstacheln überstreift und sich der Hecke Stück für Stück annimmt. 

Der Mann weiß, was er tut, seine Bewegungen vertraut und zielgerichtet. Das ist noch viel schlimmer, weil es eine Anziehungskraft auf Leo ausübt, die er lange nicht mehr gespürt hat. Leo sieht hier keine Vorsicht, sondern Kompetenz und Selbstbestimmung und was kann es Schöneres geben als das? Insbesondere bei einem Mann, der Rot trägt und dessen Leben dazu gezwungen ist, zu dienen und am Besten mit der Wand, an der er geparkt wird, zu verschmelzen?

Vielleicht ist er Gärtner gewesen, kommt es Leo in den Sinn, seine morgigen Aufgaben längst hinter sich gelassen. Er arbeitet so schnell mit seinen Händen, dass man meinen könnte, dort wäre nie ein ausuferndes Gestrüpp gewesen. Angesichts der Tatsache, dass er keine Schere führen darf, ist das beeindruckend. 

Als er jedoch den Strunk samt Wurzelwerk aus der Erde reißen möchte, kommt das Ganze ins Stocken und Leo sieht fasziniert zu, wie der Mann zieht und zerrt, sich in den Boden stemmt, die noch verbliebenen Muskeln unter dem Hemd angespannt, das Gesicht vor Unwillen und Frust verzogen. Es ist die erste, wirklich menschliche Regung in dessen Gesicht und Leo fiebert fast mit. Es ist fast normal und für einen Moment öffnet sich der Schleier Gilead von seinem Fühlen. 

Umso überraschter lacht Leo dann auf, als der Mann samt urplötzlich nachgebendem Strunk in einer Fontäne von Erdreich nach hinten in die Hecke fliegt. Es sieht urkomisch aus und Leo ist im ersten Moment voller offener, ehrlicher Freude durchflutet, bevor er bemerkt, dass der Mann liegen bleibt und Sorge ihn von seinem Fenster vertreibt. 

Er geht schnellen Schrittes hinunter und aus dem Haus, bereits wieder in seiner Kommandantenpersona. Zumindest, bis er das leise Lachen des am Boden liegenden Mannes hört. 

Anscheinend geht es ihm gut, das kann Leo sich anhand der frei glucksenden Laute, die die sonst verschlossenen Lippen verlassen, erschließen. Es ist ein schönes Lachen, weich und sanft, es perlt geradezu von den schmalen Lippen. 

Vergnügtes Lachen hat Leo schon lange nicht mehr gehört und das nimmt ihm schlagartig seine Immunität gegen alles Positive.

Und so bleibt Leo ein paar Sekunden, vielleicht aber auch länger, stehen, hört zu, genießt regelrecht die Leichtigkeit der Sonne gepaart mit den Geräuschen, bevor er sich besinnt, dass die Augen überall sind. Er strafft seine Schultern und atmet tief durch, lässt den Menschen Leo zurücktreten in die Dunkelheit des schwarz tragenden Kommandanten. 

„Gepriesen sei der Tag, Desleo“, sagt er trotzdem nicht ganz so streng, wie er es gerne möchte und auch das Lächeln verschwindet nicht recht aus seinem Gesicht. Er bekommt es auf jeden Fall nicht dazu und so rappelt sich der liegende Mann abrupt in eine sitzende Position auf und sieht ihn an. 

Zum ersten Mal, seit er hier ist. 

Verbotenerweise. 

Katastrophalerweise, denn Leo sieht in die großen, blauen, schönen Augen, in das kantige, von Blättern und kleinen Ästen umrahmte, erdbeschmutzte Gesicht und spürt, dass sich in ihm etwas regt, was nie wieder hervorkommen sollte. 

Er räuspert sich um den eigenen Frosch im Hals loszuwerden und der Mann nimmt das als Zeichen, augenblicklich seine Augen zu senken und sich auf die Knie zu begeben, demütig und unterwürfig. 

Vorbei ist der Moment und der Mensch, der Leo vor Gilead einmal war, giert nach mehr.

„Gepriesen sei der Tag, Kommandant“, erwidert er mit unsteter Stimme und zum zweiten Mal innerhalb von Sekunden gerät Leos Welt so sehr in Schieflage, dass ihm schwindelig wird und er fast taumelt. Der Mensch in ihm befreit sich nun mit aller Macht aus seinem Gefängnis und krallt sich verzweifelt an die Oberfläche. 

Er lässt Leo mit nichts zurück als mit vollkommener Unfähigkeit, auch nur in Ansätzen kompetent auf die Situation zu reagieren. 

Der Mann hat Rainers Stimme. 

Er klingt wie sein verstorbener Freund, er hat selbst die gleiche Intonation. Sie ist nicht so fest wie Rainers, aber die gleiche Weichheit, die gleiche Stimmfärbung…Leo starrt und starrt und sein Innerstes reißt, als der Verlust seines besten Freundes durch die Oberfläche bricht. 

Er braucht wertvolle Sekunden, bis er auch nur einen Gedanken daran fassen kann, Worte zu bilden. Bis er wieder atmen kann.

Der Mensch, der Rainer in den Armen gehalten hat, während er gestorben ist, weint und blutet hier, ungesehen und hoffentlich unerkannt.  

Leo braucht zu viel Zeit, um sich zu fangen. 

„Wie ich sehe, warst du erfolgreich in deinem Kampf gegen die Brombeerhecke“, verlässt es schließlich seinen Mund, ein vorsichtiger Versuch, etwas mehr aus dem anderen Mann herauszubekommen, die Stimme noch einmal außerhalb des notwendigen Grußes zu hören. Rainer zu sehen in dem Mann, der vor ihm kniet. 

Doch dieser schweigt, hat den Blick zu Boden gesenkt. Ganz wie eine Magd es tun sollte. 

„Ist es dir gelungen?“, schiebt Leo deswegen nach und eigentlich sollte die Frage doch eindeutig sein. Ist sie aber nicht. Anscheinend nicht eindeutig genug für den Mann, dessen Augen auf die Erde gerichtet und dessen Lippen verschlossen sind, als hätte er Leos Frage nicht gehört. 

Erst, als Leo bewusst wird, dass sich der Mann exakt an die von ihm gleich zu Beginn vorgegebenen Anweisungen hält, begreift er, was er tun muss. Er brummt, frustriert über sich selbst, über seine Persona, die ihn so streng hat sein lassen. Frustriert über ein System, das Menschen verbietet, zu sprechen. 

„Ich erlaube dir zu sprechen. Grundsätzlich. Also du darfst ohne gesonderte Aufforderung sprechen“, sagt Leo entsprechend gestelzt und hofft, dass es nun eindeutig ist und dass es dem Mann mit Rainers Stimme die Möglichkeit gibt, mehr zu sagen. 

Leo bricht damit nicht nur mit einer Konvention, das weiß er, aber der Mann, der Rainer auch heute noch jede Minute des Tages vermisst, der nachts weint, wenn die Trauer zu schlimm wird, setzt sich durch mit seiner Gier und zurücknehmen möchte Leo diese in einer normalen Welt überhaupt nicht notwendige Erlaubnis auch nicht mehr. 

Tatsächlich ist es auch genau das, was der Mann gebraucht hat, um zu antworten und Leos Welt in den Klang eines toten Mannes zu hüllen und sie ordentlich durchzuschütteln. 

Leo weiß, wie er sich gegenüber den anderen Kommandanten zu verkaufen hat, aber bei dem Mann, dessen leise und raue Stimme nur das Notwendigste hervorpresst und der immer auf der Hut ist, nichts Falsches zu sagen und sich nicht falsch zu bewegen, versagt ihm seine Kommunikationsfähigkeit. Leo ist ungelenk und viel zu neugierig. Aber gleichzeitig ist jedes Wort Balsam für Leos inneren Menschen, der vom Schreien zum Weinen zum Zuhören übergegangen ist. 

Leo beschließt, den ganzen Tag mit dem Mann zu verbringen, mit ihm die Brombeeren von den garstigen Ästen zu trennen. Er geht sogar so weit, dem Mann noch mehr auf den Speiseplan zu setzen als bisher schon und Adams Rat zu befolgen und zu fragen, ob dieser etwas nicht verträgt. Alles, nur damit der Mann mit ihm spricht und damit eine eitrige Wunde in Leos Seele ausschabt. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass er ihn vor Esthers ungerechtem Zorn verteidigt und nachher mit ihm zu Abend ist. Das hat er bisher noch mit keinem Mann in Rot getan und so ist es ein seltsames Abendessen. 

Dass er den Mann zur Sperrstunde ins Haus schicken muss, lässt Leo das Herz bluten. 

Doch als er am Abend zu Bett geht, hat er Rainers Stimme im Ohr, die mit leisen, vorsichtigen Worten zu ihm spricht. Seine Welt ist heute ein Stück sanfter gewesen, aber es ist nicht Rainer, von dem Leo träumt, sondern der Mann, dessen Lachen und ihr gemeinsames Beerenpflücken einen sonnigen Punkt in Leos dunkler, schwarz schattierter Welt gesetzt haben, der wie alles Gute in Gilead mit Sicherheit alsbald verdorben sein wird.


~~**~~


Leo schläft oftmals nachts nicht, weil ihn seine Gedanken an die nächsten Schritte und Planungen nicht loslassen und sein Kopf nicht abschalten kann. 

In solchen Nächten wandert er durchs Haus, lautlos wie ein Geist, und versucht sich auszumalen, welche Menschen hier einmal gewohnt haben und nun – so hofft er – in Sicherheit sind. Dass sie Wahrscheinlichkeit gering ist, weiß er, aber es hilft gegen die Unruhe. 

So auch heute. Esther schnarcht und somit ist die Stille des Hauses nicht ganz so still, wie es manchmal der Fall ist. Unter dem Schnarchen jedoch liegt noch etwas Anderes und das hört Leo erst, als er zur Treppe ins Dachgeschoss geht. Dort, wo die Männer in Rot ihren Rückzugsort haben, mit einem Fenster, das sich nicht ganz öffnen lässt, damit sie sich nicht hinunterstürzen. Es ist vorgeschrieben, da die Selbstmordrate der versklavten Männer am Anfang unerwartet hoch gewesen ist. 

Für Leo nicht unerwartet, aber für die Fanatiker, die an das glauben, was sie sich zurechtgelegt haben, dafür umso mehr. 

Er meidet die knarzenden Stufen der Treppe und steht ungesehen von möglichen Blicken hinter der leicht angelehnten Tür. 

Anscheinend träumt der Mann und spricht im Schlaf. Er stöhnt leise und murmelt immer wieder die gleichen Worte, die Leo sich erst erschließen, als Esther eine Schnarchpause macht. 

„Unter Seinem Auge. Unter Seinem Auge. Unter Seinem Auge.“

Wieder und wieder, wie in einer Dauerschleife. 

Leo schaudert es. Ist es eine Schleife der Traumatisierung oder des Glaubens? Er vermag es aus den verwaschenen Worten nicht erkennen. 


~~**~~


Die nächste Zeremonie kommt zu schnell. 

Weder Esther noch Pia noch Leo haben eine Ahnung, ob sie dem Mann vertrauen können, der zwar mehr spricht, aber immer noch so unterwürfig und demütig ist, dass er mit Sicherheit keine Zeit verlieren würde, um den Onkeln zur Verhinderung weiterer Gewalt alles zu sagen. Ist es nicht bittere Ironie, dass das, was Gilead am Meisten ausmacht – die Unterdrückung der fruchtbaren Männer – das ist, was sie gerade am Meisten an einem Urteil hindert? 

Sie können ihn nicht einschätzen, den, der vom Großkommandanten persönlich geschickt worden ist, und so bleibt ihnen keine andere Wahl. 

Drei Tage vor der Zeremonie sitzen sie alle im Keller, während Moritz oben ein Auge auf den Mann hat, der seinem Tagwerk nachgeht und dem nicht anzumerken ist, was er über die Zeremonie denkt. 

„Schürk hat ihn extra in unseren Haushalt gebracht. Ich denke nicht, dass wir ihn einweihen können.“ Leo starrt auf die vernarbte Holztischplatte vor sich und schüttelt den Kopf, will weder Pia noch Esther in die Augen sehen. Er verdammt Pia damit zu Geschlechtsverkehr, den sie nicht will und Esther dazu, zu ertragen, wie sich ihre Partnerin einem Mann aufzwingt, der kein Recht hat, nein zu sagen. Ebenso wenig wie sie, was es zu einer doppelten Vergewaltigung macht. 

Esther ist wütend und das wird sich bis nach der Zeremonie auch nicht ändern. Leo gesteht ihr diese Wut zu, muss er, denn sonst würde Esther daran zerbrechen. 

„Dann sperre ich ihn ab morgen ein. Ich lasse ihn nicht frei herumlaufen, während er diese verfluchten Dreckstabletten nimmt und die Gelegenheit vielleicht als günstig ansieht“, grollt sie und Leo ist nicht überzeugt. 

„Ich glaube nicht, dass er so ist wie sein Vorgänger“, merkt er vorsichtig an, immer im Hinterkopf, dass die beiden Frauen das Vorrecht der Entscheidung haben, nicht er. Er kann nur Denkimpulse geben. Argumente einstreuen. 

„Du glaubst es, aber du weißt es nicht“, hält Esther gnadenlos dagegen und Leo sieht hoch. Ihre Entschlossenheit lässt keinen anderen Weg zu als den, den sie gehen wird. Pia zuliebe. 

„Gut, aber dann kümmerst du dich um ihn die zwei Tage.“

Esther schnaubt, nickt aber und Leo fühlt sich gar nicht gut damit. Er weiß, wie grausam sie sind, indem sie den Mann nun auch noch zwei Tage einsperren. Es gibt Untersuchungen, dass die stillen Räume die Männer so nachhaltig traumatisieren, dass sie auf jede Form der Stille mit weiterer Verzweiflung reagieren. Was dazu genutzt wird, sie weiter zu brechen, wenn sie Widerstand leisten. Was bei vielen Männern in Rot dazu führt, dass sie versuchen, sich aus eben jener Verzweiflung zu töten. 

Leo möchte das hier nicht. Er möchte, dass sie in der Hölle, die Gilead darstellt, ein Mindestmaß an Anstand zeigen können. 

Kurz huschen seine Augen zu Pia, die kalkweiß und unruhig auf ihrem Holzstuhl sitzt. Sie hat Angst und Leo weiß nicht, wie er sie ihr nehmen soll. 

„Es tut mir leid“, flüstert er in den Raum und spezifiziert nicht genauer, was. Das muss er auch nicht, denn es ist schlicht alles, was ihm leid tut. 

 

~~**~~


Die Zeremonie ist eine noch größere Katastrophe als die versuchte Vergewaltigung der Magd zuvor. 

Der Mann ist groß und Pia hat Schmerzen, während sie sich auf ihm bewegt. Sie zittert am ganzen Körper und hat Tränen der Verzweiflung in ihren Augen. Leo kann nichts tun, kann sie nicht anfassen, sie nicht trösten, nichts, sondern muss warten, bis sie fertig ist und vollzogen haben, was Gilead von ihnen verlangt. 

Zwischen ihnen liegt ihnen wehrlos ausgeliefert der Mann, der genauso gut eine Puppe sein könnte, so leblos und teilnahmslos wie er ist. Es ist ein fürchterlicher Anblick und Leo weiß, dass er leidet. Genauso wie Pia. Schlimmer. Er ist keiner der ganz Frommen. Die wirklich an das glauben, was sie tun. 

Mit einem Mal ist Leo wütend, so wütend wie nie zuvor. Nicht auf den Mann vor ihm, sondern auf Gilead, dennoch presst und drückt er dessen schmale Handgelenke so brutal auf das Bett, dass er sich mit Gewalt zurückrufen muss. Derjenige, der am Wenigsten dafür kann, ist der Mann, dessen Wille in diesem Land nichts mehr zählt und der sich nur deswegen nicht wehrt, weil jede Strafe sein Leben noch schlimmer machen würde. Sein Puls flieht schier unter Leos brutalen Händen, doch kein Ton entkommt ihm. Kein Aufstöhnen. Kein Wimmern. Kein Seufzen.

Es dauert schier endlos lange und endlich kann Pia aufhören. Sie steigt mit schmerzverzerrtem Gesicht von dem unter ihr liegenden Mann und richtet mit schlotternden Fingern ihr Kleid. Sie taumelt und Leo macht sich von dem Mann auf dem Bett los, lässt ihn liegen und ist mit zwei Sätzen bei ihr, hält sie, während sie stumm weint. Er verbirgt ihr Gesicht vor dem immer noch bewegungslos auf dem Bett liegenden Menschen.

„Geh auf dein Zimmer“, befiehlt er viel zu harsch für die Situation und im Hintergrund hört er, wie der Mann gehorcht und schließlich auf lautlosen, nackten Füßen das Zimmer verlässt und die Treppe hinaufgeht. 

Kaum hat er den Raum verlassen, bricht Pia zusammen. Sie presst sich die Hand auf den Mund und weint, schluchzt leise, während Leo sie nur hilflos im Arm halten kann. Lange Zeit sitzen sie dort, weil sie den Schein wahren müssen. Erst dann kann Pia zu Esther zurück, unter dem Deckmantel des Dienstes einer Martha an ihrer Herrin. Kann Luft schöpfen, wie immer nach den Zeremonien.

„Und schon wieder einer, der durch uns vergewaltigt wurde“, flüstert sie und erhebt sich. Sie lässt Leo auf dem Boden kniend zurück, und für einen Moment sehen sie sich an. Vorwurfsvoll und voller Leid. Dann taumelt sie hinaus, zu Esther. 

Leo bleibt zurück, alleine mit sich und dem Monster, das er geworden ist. Mit einem Berg an Schuldgefühlen, der mit jedem Mal größer wird. Wieder hat er einem Mann das Elementarste genommen, was diesen ausmacht. Wieder hat er Pia dazu verdammt, zur Täterin und zum Opfer gleichzeitig zu werden. Wieder ist er gnadenloser Mittäter. 

Leo straft sich selbst diese Nacht, ausgiebig, während Pia und Esther unten streiten. Pia ist jetzt schon der Meinung, dass sie es hätten verhindern können. Esther spricht dagegen. Leo ist sich auch unsicher. 

Das ist der Gedanke, der ihn begleitet, während er sich vor Schmerz übergibt und seine Finger so steif sind, dass er sie die halbe Nacht nicht bewegen kann. 

 

~~~~~~~ 

Wird fortgesetzt. 

 

Chapter 5: Die Worte der Annäherung

Notes:

Guten Abend und ein schönes sonniges Wochenende euch!

Es geht aufwärts. Ein bisschen. Mit kleinen Babysteps. 🤗

Viel Spaß euch beim Lesen und vielen lieben Dank für eure Nachrichten, Kommentare, Kudos und Klicks. ♥️

Thematisiert werden sexualisierte Gewalt und Folter. Beides wird aber nicht explizit beschrieben.

Chapter Text

 

Der Morgen danach ist schlimmer als sonst. 

Anstelle der bedrückenden, erstickenden, schuldgeladenen Stille der anderen Male liegt Panik in der Luft, scharf und zerschneidend. 

Der Mann, den Leo in seinen Armen hält, ist nackt und Leo entgeht nicht die bittere Ironie der Pietà. Er atmet, ist am Leben, wenngleich er nicht so aussieht. Er zittert und seine ganze Haut ist klamm. Er atmet flach und ist nicht ansprechbar, seine Lider sind flattrig. Leo birgt ihn an seiner Brust und lässt seinen Blick über den Körper streifen, auf der Suche nach einem Grund für die Bewusstlosigkeit. 

Der Mann hat Tätowierungen, die von einem anderen Leben zeugen, einem frei bestimmten Leben. Darüber liegen Narben, so unzählig, dass Leo sie nicht beziffern kann. Er kennt ihren Ursprung… es sind schlecht verheilte und vormals entzündete Narben von Elektroschockern, klein, aber grausam. Von Stöcken. Gürteln. Eine Einschusswunde ist auch dabei, etwas, das so aussieht, als stamme es von einer Verbrennung. Der ganze Körper ist eine Landkarte an Gewaltspuren, Vorder- wie Rückseite. 

Das, was Leo hier sieht, ist die nachdrückliche Folter eines Menschen, der sich gewehrt hat – bis zum letzten, klaren, freien Gedanken. Und der doch gescheitert ist. 

Die Schutztätowierung auf dem Rücken, derer Leo kurz ansichtig wird, hat nicht geholfen, denkt er in einem Anflug an bitterem Zynismus. Sonst wäre der Mann frei und nicht wortwörtlich und im übertragenen Sinn in den Händen von Menschen, die sich ihm aufzwingen, körperlich, mental, emotional. 

„Ich habe ihn im Schrank gefunden und er ist kurz aufgewacht. Als er aufstehen wollte, hat ihm der Kreislauf versagt. Bevor er bewusstlos geworden ist, hat er gesagt, dass es Nebenwirkungen unserer verfickten Vergewaltigungsdrogen seien“, berichtet Esther tonlos und einen Moment lang ist Leo irritiert von ihrer Wortwahl. Dann begreift er, dass ihre Worte ein Zitat sind und er sieht sie mit großen Augen an. Er begreift das, was sie schon seit ein paar Minuten weiß und der eiskalte Ball in Leos Magen wird von Augenblick zu Augenblick größer. 

Nicht gebrochen. Nicht hörig. Er…er wollte es nicht. 

So eindeutig die Worte sind, so schlimm ist auch ihre Bedeutung für die Frage, ob sie es hätten umgehen können. Ob sie einen anderen Weg gefunden hätten als den, den sie nun gewählt haben und der der Sanduhr des Traumas noch ein weiteres Korn hinzugefügt hat. 

Schuld brennt in Leo und auch – wie er nun erkennt – ebenfalls in Esther, die untypisch hilflos ist, während sie neben ihm kauert und den Mann wie eine giftige Schlange anstarrt. Sie hat Angst, erkennt Leo und er tut es ihr gleich. Er hat Angst um den Mann, der nicht zu Bewusstsein kommen will, egal, wie oft er ihn nun mit dem Namen anspricht, ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn und über die Wangen streicht, der ihm für seinen Aufenthalt in diesem Haushalt gegeben worden ist. 

Kein Wunder…die wenigsten Männer reagieren auf die falschen Namen oder tun es nur, weil sie dazu gezwungen worden sind. 

„Bring mir ein Glas Wasser und schau, ob es tatsächlich die Tabletten gewesen sind oder ob es etwas anderes ist. Haben wir vergessen, das Reinigungsmittel einzuschließen?“

Haben sie nicht. Pia überprüft es und betritt dann langsam und sorgenvoll den Raum, den sie für gewöhnlich meidet.

Leo hingegen konzentriert sich auf den Mann in seinen Armen und redet ihm gut zu. Versucht es, gefangen zwischen seinem Auftreten als Kommandant und zwischen der Angst, dass der Mensch in seinen Armen stirbt.

Doch er kommt wieder zu sich und es zerreißt Leo innerlich, dass er trotz seines Zustandes, trotz der Zeremonie immer noch versucht, Leos Worten zu gehorchen und zu folgen. Dass er Angst vor Leos Stimme hat, als er strenger wird, damit er nicht wieder einschläft. 
Falsch, schreit es in Leo, FALSCH FALSCH FALSCH. Was diesem Mann angetan wird, ist falsch und während er ihn versorgt, ihn an sich presst und ihm Wärme schenkt, kann Leo nur an dessen leblose, ja schon beinahe entrückte Gestalt auf dem Bett denken. 

So sieht ein Mensch aus, der sich ganz weit weg wünscht von allem. So sieht ein Mensch aus, der gelernt hat, nicht gegen das ihm auferzwungene Trauma zu rebellieren. 

Dem Mann geht es so elend, dass er sich übergeben muss und das bringt Bewegung in Esther und Pia, während Leo ihm die Haare aus der Stirn hält, damit er wenigstens diese Erleichterung hat. Leo sieht kein Blut in dem Erbrochenen, aber auch nicht wirklich etwas Festes. Vermutlich hat der Mann nichts gegessen vorher und Leo fragt sich, wie sehr seine Befürchtung, dass er linientreu ist von der Realität abweicht, in der der Mann in Rot lebt.  

Sobald sich dessen Magen beruhigt hat, versucht Leo ihn dazu zu bewegen, aufzustehen und mit ihm ins Bad zu gehen. 

Vergeblich. 

Er kann sich noch nicht einmal aufrichten und so hebt Leo ihn auf seine Arme. Dass ein so großer, erwachsener Mann leicht genug ist um getragen werden, ist ein ekelhafter Auswuchs aus den Konzepten, die die Gesundheitsaufseher für die Männer in Rot entworfen haben: wie weit kann man sie hungern lassen, dass ihre Zeugungskraft nicht beeinträchtigt ist, sie aber zu schwach sind, um Widerstand zu leisten. 

Es hat Gründe, warum Esthers Eintöpfe mit ordentlich Fett angereichert sind. 
  
Leo wäscht den Mann, der entrückt in der Badewanne sitzt und die dunklen Hämatome befühlt, die Leo auf ihm hinterlassen hat. Der weint, während Leo sich größte Mühe gibt, sanft zu sein. Es zerreißt Leo das Herz, ihn so zu sehen. 

Erst im Bett wird dieser unruhig, will weg und Esther ist es, die Leo darauf aufmerksam macht, was Leos Nähe in Verbindung mit dem Bett auslöst. 
Wie verbrannt weicht er zurück und die hoffnungsvolle, leise Nachfrage, ob die Zeremonie wirklich vorbei wäre, erschüttert nicht nur Leo. 

Während sie auf den Arzt warten, lässt Leo alles aus dem Zimmer entfernen, was für einen Suizid verwendet werden könnte und bekommt, als er dann gleich mehrere Verhaltenscodices bricht, eine fürchterliche Antwort. 

„Sie hat Essen gebracht“, flüstert der Mann elendig und die Auslassung in Verbindung mit seinen vorherigen Worten offenbart Leo, was er nicht für möglich gehalten hätte. 

Zwei Tage ist der Mann eingesperrt gewesen. Zwei Tage, in denen sich Esther um ihn hätte kümmern sollen. Müssen. Zwei Tage, in denen sie ihm nur das Essen gebracht hat, wie der Mann mit leisen, vorsichtigen, nicht kritisierenden Worten gesteht. 

Leo ist so wütend wie schon lange nicht mehr. Auf Esther. Auf Gilead. Auf sich selbst. Er hätte besser aufpassen müssen. Auf ihn. Auf seine Bedürfnisse nach der Zeit, die er im stillen Raum verbracht hat. Er hätte sich stark machen müssen dafür, dass er nicht eingesperrt wird. 

Aus dieser Wut heraus schmeißt Leo alle Konventionen über Bord, die er sich gerade leisten kann. Er will, dass der Mann ihn ansehen darf und befiehlt es ihm sanft. Es ist ein Kampf und Leo bricht das Herz zu sehen, wieviel Angst und Widerwillen der Mann davor hat. Er erteilt ihm die grundsätzliche Erlaubnis, wann immer sie unter sich sind. Das ist noch nie dagewesen und ein Bruch mit dem Kommandanten, der Leo sein muss. Es ist auch gefährlich, doch Leos Herz setzt sich hier durch. 

Sein Bauchgefühl tut es. 

Sein Bauchgefühl konfrontiert den Mann auch mit dessen Aussage und wenig überraschend reagiert dieser mit Panik und Verneinung. Leo nimmt ihm diese und gibt ihm zu verstehen, dass er auch in dem Wissen, dass dieser die Zeremonie bei ihrem eigentlichen Namen genannt hat, nicht drakonisch sein wird. 

„Es tut mir leid, was ich tun musste. Was wir dir antun mussten“, wispert er und der unruhige, unstete Mann auf dem Bett, dessen Augen nicht stillstehen können und immer auf der Suche nach Ablenkung und neuen Eindrücken sind, hält inne. Er ist so überfahren, dass er gar nichts mehr sagt. 
Als der Arzt kommt, ist es ein Leichtes für Leo, den Wunsch des Mannes zu erkennen, zu folgen und ihm keine Beruhigungsmittel spritzen zu lassen. Auch das ist eine Foltermethode der Zentren, wie er weiß. Die Panik und Angst, die der Mann davor hat, sind greifbar.

Leo beschließt, dass er keine Stille in diesem Haus mehr ertragen muss. Kein Eingesperrtsein in diesem Raum, ohne Kontakt zu ihnen. Selbst wenn sie seine Häscher und Vergewaltiger sind, so vertreiben sie dennoch die Stille, mit der der Mann so nachhaltig gefoltert und gebrochen worden ist. 

Wenigstens das kann er tun, wenn er ihn nicht schon vor einer schlimmen Katastrophe hat bewahren können.


~~**~~  


„Du hast ihn alleine gelassen“, presst Leo wütend hervor, kaum, dass er die Kellertür hinter sich geschlossen hat. Esther steht mit verschränkten Armen und finsterer Miene hinter dem Tisch, Pia mit sorgenvollem Gesicht neben ihr. 

„Du hast dich dafür stark gemacht, dass wir ihn einsperren zwei Tage lang, damit er keine Gefahr für Pia ist und du hast zugestimmt, als ich dich darum gebeten habe, dass du dich um ihn kümmerst. Stellst du dir das unter Kümmern vor, Esther? Ihm das Essen hinzustellen, ihm die Tabletten zu reichen und sonst nichts? Hast du die Einsamkeit in seinen Worten gehört, Esther? Nein, hast du nicht, weil du nicht da warst die zwei Tage. Weil du ihm das Essen hingestellt hast und gegangen bist, als wäre er ein Gegenstand. Willst du ihn noch mehr brechen?“

Die Wut und Aufregung machen Leos Stimme lauter als sonst. Er ballt seine Hände zu Fäusten, während er die leise, ängstliche Stimme des oben im Bett liegenden Mannes in seinen Erinnerungen hört. Der auslässt, was nicht passiert ist, damit er sein Leben hier nicht zu einer Hölle werden lässt. 

Leo lässt es nicht zu, dass etwas ausgelassen wird.

„Ach und das soll schlimmer sein als die anschließende Vergewaltigung, Leo?“, knurrt Esther und Leo macht einen Schritt auf sie zu. Heiße Wut kommt in ihm hoch. 

„Du meinst, nur weil Pia und ich ihm schlussendlich auch noch seine körperliche Selbstbestimmung entreißen, kannst du ihn vorher mit Einsamkeit foltern? Ja? Ist das die Aussage, die du treffen willst? Hast du ihn dir angeguckt, die letzten beiden Tage über? Hast du einmal gefragt, was mit ihm ist oder hast du ihm einmal zugehört? Nein. Du hast ihn alleine gelassen mit sich und seinen Gedanken und Emotionen an die bevorstehende Vergewaltigung. Du hast ihn geistig verhungern lassen zwei Tage lang. Einen Mann, der ohnehin schon am Rand der Verzweiflung steht.“

Leo redet sich in Rage wie schon lange nicht mehr. Er ist erfüllt von einem Zorn, den er sonst nur für fanatische Kommandanten empfindet und Esther schluckt deutlich. 
Seine Worte sind unfair, das weiß Leo. Sie sind scharf, verurteilend und sie lassen kein Spielraum in dem Vorwurf, der in ihnen lauert. 

Esther öffnet den Mund, sieht dann zu Pia, die stumm den Kopf schüttelt. Sie ist in der Angelegenheit auf Leos Seite, erkennt er. 

„Ich…ich konnte nicht. Er hat…er wurde vom Großkommandanten geschickt“, beginnt Esther hilflos und Leo schnaubt verächtlich. 

„Du konntest nicht und hast zwei Tage nicht einen Ton gesagt! Du hasst den Falschen, Esther. Der Mann oben kann dafür nichts, dass er versklavt worden ist. Der Mann oben kann nichts dafür, dass er die Tabletten nehmen muss. Er kann nichts dafür, was Pia geschehen ist und dass er Pia mit seiner Größe wehgetan hat. Er leidet und du hast sein Leiden noch vergrößert, bevor wir ihm fast den Todesstoß versetzt haben. Er ist ein Mensch, kein Ding, und ich verlange von dir, dass du wieder gut machst, was du ihm angetan hast.“

„Ich habe nicht…“, versucht sie erbost, dagegen zu halten, doch Leo lässt sie nicht. Er bringt sie mit einer Geste zum Schweigen und das, was sie anscheinend auf seinem Gesicht sieht, reicht aus, damit sie die Lippen aufeinanderpresst. 

„Doch, hast du! Wage nicht, die Schuld von dir zu weisen!“

Esther bleibt still und auf ihrem Gesicht erkennt Leo bereits das schlechte Gewissen und eine Schuld, die er genau da sehen möchte. Bösartigerweise. Aus Wut und Zorn geboren. 

„Ich werde ihn außerdem abends zu mir holen“, verkündet Leo und die beiden Frauen starren ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Esther mehr als Pia, aber Esther ist ohnehin die Kritische, die Vorsichtige, das schlechte Gewissen ihres Haushalts. 

Er hat ebenso am heutigen Tag veranlasst, dass Moritz den Raum mit allem ausstattet, was sie finden können. Ein Gemälde, das er Adam abringen wird, im Wissen, dass dieser sich bitter darüber beschweren wird, dass er sein Wimmel- und Suchbild nun abtreten muss. Den rosafarbenen Samtsessel zum Draufschreiben wird Moritz aus seinem Gartenhaus opfern und Leo wird die Pflanze aus der Empfangshalle nach oben geben. Die Denk- und Geschicklichkeitsspiele, die Esther so verachtet, hat er bereits aus ihrem Spielevorrat abgezwackt um sie dem Mann zu geben, während dieser regeneriert. 

„Warum solltest du das tun? Du bist der drakonische Regionalkommandant, kein Mägdeliebhaber. Du riskierst unseren Ruf“, knurrt Esther und dunkel starrt Leo ihr in die Augen. Für gewöhnlich vermeiden sie es zu streiten, aber manchmal ist es unvermeidbar. Heute ist so ein Tag. Heute gehen sie beide aufs Ganze.

„Ich lasse nicht zu, dass er weiter vereinsamt.“ 

„Er ist eine Magd. Eine Magd hat im Arbeitszimmer des Kommandanten nichts zu suchen. Das wissen die Mägde, das wissen auch die Zentren“, hält Esther dagegen und Leo schüttelt entschieden den Kopf. 

„Ich werde es entsprechend begründen und nein, ich werde nicht darüber diskutieren. Ich informiere euch darüber.“

Esther schnaubt verächtlich. „Nur weil er dich an Rainer erinnert mit seiner weichen Stimme und seinen vorsichtigen Worten, heißt das nicht, dass…“

Noch bevor Esther sich bewusst wird, was sie gerade gesagt hat, sinkt die Temperatur im Raum. Es wird still, Leo wird still. Seine Wut von vorher ist nichts im Vergleich zu der, die er nun empfindet. Dass Esther sich dazu herablässt, Rainer ins Spiel zu bringen, ist ein Low-Blow, den sie schon lange nicht mehr gebracht hat. Seit Ewigkeiten nicht. 

Es wird kalt zwischen ihnen und es ist Pia, die mit einem missbilligenden Kopfschütteln nach Esthers Oberarm greift. 

„Lass es gut sein, Liebes“, sagt sie sanft und Leos Herz schmerzt so sehr, dass er sich wegdrehen muss. Trotz aller Wut packt ihn immer noch die Liebe zwischen den beiden Frauen, die tagtäglich durch Gilead auf die Probe gestellt wird. 

Sanft umfasst sie auch Leos Hand. 

„Komm Leo, sei bitte nicht böse“, versucht sie ihn zu beschwichtigen und er schüttelt unmerklich den Kopf. „Esther, entschuldige dich. Und ja, wir haben alle etwas gut zu machen bei dem Mann in Rot. Da hat Leo Recht. Ihm geht es wegen uns schlecht. Noch schlechter als es ihm eigentlich gehen sollte.“

Esther knirscht so sehr mit den Zähnen, dass Leo es bis zu seiner Position hört. Langsam dreht er sich zurück und begegnet ihrer stürmisch gerunzelten Stirn. 
„Es tut mir leid“, presst sie hervor und Leo starrt ihr in die Augen. Sie starrt zurück und Sekunden lang halten sie das unangenehme Blickduell. „Und ja, ich kümmere mich um das blonde Gift da oben.“

„Er ist kein Gift.“

„Für deine Rationalität schon.“

„Ich habe Mitleid, Esther.“ Sie alle wissen, was es mit dem Mann auf sich hat, Leo hat es den Beiden und Moritz gleich nach seiner Ankunft mitgeteilt. Sie wissen, dass Leo gesehen hat, wie er gefoltert worden ist. Wie er gebrochen ist. 

„Hoffen wir, dass uns dein Mitleid nicht an die Mauer bringt“, grollt Esther, doch sie gibt nach. Das macht auch Leo weicher und er nickt. 

„Bist du nicht mehr böse?“, fragt Pia fast schon kindlich und Leo schüttelt nach einer Zeit den Kopf.

Wenn er eines ihnen gegenüber nicht sein will, dann ist das böse. Oder ungehalten. Er will nicht mit ihnen streiten, aber er hat etwas, das er schon lange nicht mehr verspürt hat – ein Ziehen zu einem Menschen hin. Und vielleicht hat Esther auch Recht. Es ist Rainers Stimme, die ihn immer wieder zu diesem Mann lockt, aus Sehnsucht und gebrochener Hoffnung. 

Aber das bedeutet doch nicht, dass er den Mann nicht als eigenständigen Menschen ansieht. Sie müssen ihn nicht schon mehr foltern, als sie es ohnehin schon tun. Nicht einen Menschen, der ohnehin schon am Boden ist. 

„Ich will nicht, dass er endgültig zerbricht“, murmelt Leo.


~~**~~


Der Mann ist Polizist. 

War.

Er war Polizist.

Während Leo noch verarbeiten muss, wer vor ihm sitzt und dass der Mann, der nur auf Befehle wartet, einmal so war wie Leo selbst, erzählt dieser mit leisen Worten von einem Sommer, den er mit seinem Partner an einem See verbracht hat. Schwul oder bisexuell, wie alle Mägde. Es ist auch der Mann, mit dem sein Gegenüber in leisen, schimpfenden Worten spricht und der ihn anscheinend traurig macht, obwohl er nicht da ist. 

Der Sommer mit seinem Partner ist nicht das, was Leo insgeheim schockiert. Der Mann, der vor ihm sitzt, die Schultern hochgezogen, der ganze Körper auf mögliche, von Leo ausgehende Gewalt programmiert, erzählt von Vincent, und Leo begreift, dass es der Vincent sein muss, den er gerettet hat. Er begreift, dass der Mann, der laut den Akten Adam Barns heißt, der Adam sein muss und dass er von Anfang an hätte wissen können, dass dieser auf ihrer Seite ist. Dass der vor ihm sitzende Mann derjenige ist, der gerettet werden soll. 

Eben jener, der nicht weiß, dass sein Partner noch lebt und im Gegenteil denkt, er sei tot. Um nichts in der Welt würde Leo lieber sagen, dass er noch lebt und in Freiheit ist, doch er kann nicht. Darf nicht. Es wäre ihr aller Todesurteil. So muss er schweigen. 

Das Wissen darum lässt es Leo beinahe schwindelig werden und mit Mühe schluckt er gegen die bittere Magensäure an. Er hätte es wissen und ihnen allen schlimme Dinge ersparen können.  

Damit er nicht wahnsinnig wird, während er der Stimme lauscht, klammert sich Leo an die Fakten. Adam, der Polizist, auch wenn es nicht in der Akte steht. Ungewöhnlich ist das nicht, es kommt immer wieder vor, dass die Männer, die gefangen genommen worden sind, keine Ausweise bei sich getragen oder gelogen haben, was ihre Berufe anging. Oder dass es den Fängern schlicht egal war, was die Männer unter der Folter gesagt haben. 

Adam, dessen Schmerz über den Verlust seiner Freiheit und dessen Schuld, dass er nicht gut genug gewesen ist, um sich den Monstern entgegen zu stellen, so deutlich auf seinem Gesicht steht, dass es Leo auseinanderreißt. 

Adam, der Rainers Stimme hat, mit der er leise mit seinem vermeintlich toten Freund spricht. 

Leo berührt den Mann vor sich und es ist anders als die notwendigen Berührungen beim Waschen oder an den Tagen vorher. Es ist…versichernd und Leo schaudert innerlich ob dem Gefühl, das es bei ihm auslöst. 

Er weiß, wie gefährlich es ist, den Männern in Rot Namen zu geben und sie bei ihren alten Namen zu nennen. Für gewöhnlich vermeidet er es, damit er sich nicht zu tief in ihr schlimmes Schicksal fallen lässt. Doch jetzt und hier wollen seine Gedanken nicht aufhören, den Namen zu denken, der nicht Rainer ist. Vielleicht genau deswegen. Vielleicht, weil der Name des Mannes bedeutet, dass er nicht in dem stillen Raum gebrochen worden ist. 

Zumindest hofft Leo das, doch die leise, demütige Frage des Mordermittlers, ob er irgendwann den Raum verlassen dürfe, offenbart das Gegenteil. Sie trifft Leo so unvorbereitet, dass sein ganzer Körper sich dagegen wehrt, fliehen will vor dem verängstigten Mann in Rot. Leo kommt nicht weit, dann besinnt er sich, dass er antworten muss – in seiner Kommandantenpersona. Leo weiß nicht, wohin mit sich und der Mann versucht ihn zu beschwichtigen, weil er denkt, dass Leo wütend ist. Auf ihn. 

„Ich werde nicht ungehorsam sein“, flüstert er und Leo will schreien. Du sollst ungehorsam sein, du sollst ein Mensch sein! Es war falsch, dich zu brechen!, will er ihm entgegenschleudern und muss so fest seine Lippen aufeinanderpressen, dass es wehtut. 

„Ich weiß, dass du das nicht sein wirst”, er mit gepresster Stimme anstelle dessen. „Und das ist…ich bin…du wirst…” 

Mehrfach setzt er an, findet jedoch kein einziges Mal die richtigen Worte. Und die Worte, die rauswollen, würden ihn auf mehr als eine Art enttarnen. Leo holt Luft, schafft es nicht und ballt seine Fäuste. 

Schlussendlich lässt er los und spricht, bevor er sich ein weiteres Mal zum Schweigen bringen kann. Sein ganzer Körper befindet sich im Krieg mit ihm und Leo ist regelrecht übel. 

„Du wirst nie wieder eingesperrt, nicht hier. Nicht in meinem Haus. Du…solltest auf dein Zimmer gehen, weil es meiner… Gemahlin nicht gut ging. Obwohl ich gesehen habe, dass es dir nicht viel besser ging als ihr und ihr beide unter dem, was passiert ist, gelitten habt. Ich hätte das niemals sagen sollen und nein, es ist kein dauerhafter Befehl, dass du hier in diesem Zimmer bleiben sollst.“ Er hält inne, holt Luft, als ihm etwas bewusst wird. „Ist das der Grund, warum du noch nicht unten warst?”

Der Mann nickt vorsichtig, immer auf der Hut vor ihm und Leo setzt seinen Plan, ihn zu sich zu holen, in die Tat um. 

Der Weg dahin ist eine kommunikative Katastrophe und einen Moment lang hat Leo Angst, enttarnt worden zu sein. Doch das, was er so ungelenk hervorgepresst hat, war nur missverständlich. 

Nur. 

Missverständlich auf die schlimmste Art und Weise, denn der Mann vor ihm scheint von ihm zu denken, dass er sich ihm nicht nur während der Zeremonie aufzwingen wird. Erst, als Leo ihm versichert, dass er sich nur mit ihm unterhalten möchte und dass er keinerlei Absicht hegt, ihm körperlich nahe zu kommen, löst sich die Anspannung in den Schultern des Mannes. 

Seine Lippen teilen sich zu einem überraschten Oh und die Wangen nehmen tatsächlich etwas Farbe an. Auch Leo ist durch den Wind und am Liebsten möchte er ihm wieder und wieder versichern, dass er ihn schützen und ihm nicht wehtun wird – nicht auf diese Art und Weise und auch sonst nicht, wenn er es verhindern kann.

Leo zementiert in diesem Moment, dass er den Mann retten wird. So wie Vincent es sich gewünscht hat. 

Auch wenn er noch nie in seinem Leben so nervös ist, wie in der Sekunde, als es tatsächlich an seiner Tür klopft und der Mann im Türrahmen steht. 

Verboten. Häretisch. Menschlich. 


~~**~~


Beflügelt von seinem ersten Treffen mit dem Mann – eine leise Stimme in Leo flüstert den Namen „Adam“, aber er bringt sie rigoros zum Schweigen – schützt Leo ihn vor Onkel Boris. 

Es ist Instinkt, aber auch grimmige Genugtuung, seitdem er weiß, dass Onkel Boris für das  verantwortlich ist, was dem Mann geschehen ist. Pia schüttelt den Kopf, will nicht, dass er das Risiko eingeht, doch Leo hat sich in dem Moment, in dem Rainers Stimme gepeinigt zu ihm dringt, dazu entschlossen, zu helfen. Nicht dem Onkel, sondern der Magd. 

Demjenigen, der am Wenigsten etwas dafür kann, was geschehen ist und der immer noch mit der Überdosis zu kämpfen hat.
Leo tut etwas noch nie Dagewesenes: er stellt sich zwischen Magd und Onkel und weist eben jenen an, aufzuhören. Weiter noch, er macht ihm Vorwürfe, die nur allzu leicht von seinen Lippen kommen. 

„Hier geht es nicht um Erziehung, Onkel Boris, hier geht es um Ihr Fehlversagen als Hüter Ihrer Schützlinge. Sie haben meiner Magd die falschen Tabletten mitgegeben. Sie waren nicht sorgfältig genug um das zu prüfen. Nun werfen Sie meiner Magd vor, dass er es hätte wissen müssen. Sie aber sind zuständig dafür, die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Das ist Ihre heilige Aufgabe. Der Magd hingegen obliegen andere Aufgaben und ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass selbstständiges Denken bei Mägden nicht nur verpönt, sondern auch verboten ist.”
Etwas, das Leo schnell gelernt hat, sind Ränkespiele und Drohungen. Er hat sie zwangsweise gemeistert, was nicht bedeutet, dass er sie grundsätzlich gerne macht. Es gibt Ausnahmen und das hier ist eine davon, denn die Befriedigung über seine Worte erfüllt Leo weitreichend. 

„Isaaks Sohn hat trotz einer weitreichenden und gefährlichen Vergiftung seine Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit erfüllt und die Zeremonie unseren heiligen Regeln entsprechend durchgeführt, obschon es bereits dort zumindest für ihn ersichtlich war, dass etwas nicht stimmt. Erst danach hat er zu erkennen gegeben, dass es ihm nicht gut geht. Wenn Sie sich also dazu entscheiden, sich an meinem Eigentum zu vergreifen, dann werden Sie das künftig erst nach Konsultation mit mir tun. Und nun entfernen Sie sich, Onkel Boris, oder die Augen werden Kenntnis von Ihrer eigenen Unzulänglichkeit und Liderlichkeit erlangen.”

Wie gut es doch tut, den Mann, der die Zeremonie ebenso Vergewaltigung nennt wie Leo auch, als frommen Diener Gileads darzustellen und ihn somit vor Boris‘ Zugriff zu schützen. Ihn genau damit zu schützen, was Leo und Pia vom Großkommandanten aufgezwungen worden ist. Schürk wollte, dass der Mann hier ist, also wird Leo die Gesundheit der prämierten Magd auch schützen. 

Er bleckt die Zähne, was vielleicht als Lächeln interpretiert werden kann. Oder eben als das, was es ist, eine Warnung und eine Drohung an den Onkel, sich nicht noch einmal an einer frommen Magd zu vergreifen, die durch seine eigene Schuld krank geworden ist.

Onkel Boris widerspricht und Leo zerlegt ihn Silbe für Silbe, nährt sich aus der Maske des erbarmungslosen Kommandanten. Er gebietet ihm zu gehen und Boris tut genau das, während in seinen Augen ein Funke an sadistischer Rache glimmt. Leo weiß, dass er nun doppelt die schützende Hand über den Mann zu seinen Füßen halten muss, damit dieser nicht Opfer der Rache des Onkels wird. 

Wenn der Namensvetter von Adam dann überhaupt noch hier ist. 

Esther kümmert sich um die Verbrennungen des Mannes – Adam, flüstert es wieder in ihm und Leo scheut immer noch davor zurück – und als Leo schlussendlich zu ihm kommt, seine Wut zurücksteckt und ihm dann auch noch etwas offensichtlich Gutes tut, fühlt es sich wundervoll an. 

Es ist ein kleiner Akt der Zuneigung und des Dienens, doch es ist das, was Leo für einen kurzen Augenblick in seinem Leben vollkommen glücklich macht, als er sieht, wie gut es dem Mann tut und wie sehr es diesen entspannt.   

Adam, flüstert seine innere Stimme lauter. 


~~**~~


Häretisch ist gar kein Ausdruck für das, was Leo macht, als er an einem warmen Abend das Spielbrett zwischen ihnen ausbreitet und Adam den Beutel mit den Steinen hinhält. 

Er sitzt den deutlich sichtbaren Schock des Mannes aus, auch wenn jede einzelne Nervenzelle in Leo in Flammen steht und er am Liebsten aufstehen und im Zimmer herumgehen möchte, weil er so voller nervöser Freude ist. 

Das ist nichts zu dem Moment, in dem er Adam Stift und Zettel überreicht. 

Es ist verboten. Es steht unter Strafe. Mitnichten wird Leo jemanden hiervon erzählen, auch wenn seine Gedanken bei Onkel Boris und Großkommandant Schürk sind, denen er beiden nicht nur einen Mittelfinger zeigt, dass er die Magd, die sie versucht haben zu vernichten, mit guten Dingen aus sich heraus holt. 

Die Finger des Mannes, der weder lesen noch schreiben und schon gar nicht spielen darf, zittern, aber als Leo ihm das Gegenteil versichert, greift er zu. Zögernd. Abwartend. Sieht zu ihm und wartet auf Leos stumme Ermunterung. Schreibt. Spielt. Hält sich zurück. Leo verbietet es ihm spielerisch grummelnd und auch da zeigt der Mann Mut. 

Zeigt, dass er nicht gebrochen ist. Dass er kein blinder Anhänger Gileads ist. Dass er danach giert, als Mensch wahrgenommen zu werden und denken und handeln zu dürfen.

Eines der Worte, die Leo legt, ist Resilienz und er ahnt, hofft und glaubt, dass der Mann, der vor ihm sitzt und langsam Stück für Stück aus der Schutzburg herauskommt, in die er hineingekrochen ist, genau das ist. 

 

 

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Wird fortgesetzt. 

Chapter 6: Die Erkenntnis der Wahrheit

Notes:

Guten Morgen ihr alle!

Ich wünsche euch einen schönen Ostersonntag und frohe Ostern an diejenigen, die feiern. 🌻

Hier nun der nächste Teil er Schattierung, wie gewohnt am Sonntag. Ich danke euch für all eure Kommentare, Sprachnachrichten, Klicks, Kudos und generell das Interesse, das ihr der Fic entgegenbringt. ❤️

Viel Spaß euch beim Lesen! Für diesen Teil gibt es Triggerwarnungen: Thematisierung von Suizid und Erwähnung von Vergewaltigung

Chapter Text

 

Der Vorteil, sich lautlos durchs Haus zu bewegen, ist, dass Leo Dinge sieht, die er nicht sehen sollte und die dadurch zu kleinen Geheimnissen in seinem Herzen werden.

Der Durchgang zur Küche ist einer dieser Orte und Leo kann unbehelligt dort stehen und den Mann in Rot bei seinen Tätigkeiten beobachten, ohne, dass dieser ihn sieht, auch wenn er unauffällig über seine Schulter schaut. 

Es ist geradezu verdächtig, wie er sich verhält und Leo wartet stirnrunzelnd auf das Nächste, was der Mann tun wird, kurz nachdem dieser sich versichert hat, ob Esther wirklich den Raum verlassen hat. 

Er lauscht, hört nichts und greift dann zu den mitgebrachten Zweigen an Gartenkräutern, die wie Leo aus eigener, leidvoller Erfahrung weiß, für Esther nur Deko sind, aber nichts, womit sie jemals auch nur auf den Gedanken kommen würde, ihre Eintöpfe interessanter zu gestalten. Leo erkennt ein paar der Zweige, die der Mann in den großen, vorsichtigen Händen hält und sie nun abrupft, damit er sie unter den blubbernden Eintopf mischen kann. Das tut er mit sorgfältiger Schnelligkeit und schaut sich noch ein weiteres Mal um, bevor er sich einen Löffel greift und probiert. Kritisch runzelt er die Stirn, fügt noch etwas von den nadelartigen Kräutern hinzu und probiert dann noch einmal. 

Dieses Mal nickt er leicht und Leo ist fasziniert von dem Hauch Zufriedenheit, den er auf dem immer noch viel zu ausgemergelten Gesicht sieht. Wenngleich da ein Hauch Farbe auf den Wangen ist, der aber viel zu schnell durch erschrockene Blässe ersetzt wird, als Esther sich von der anderen Seite aus wieder dem Raum nähert und der Mann – Adam – alles wegräumt, was darauf hindeuten könnte, was er gemacht hat. 

Leo weiß, dass es kein Gift ist, dafür hat er schon vor langer Zeit gesorgt. Also ist er hier Zeuge eines Aktes der versteckten Rebellion geworden, die dazu dient, die ewig gleichen Eintöpfe etwas abzuändern. 

Er lächelt und wieder zieht in seiner Magengegend etwas, das Leo niemals so benennen würde, aber was aller Wahrscheinlichkeit nach egoistisches Glück ist. 

Das in Windeseile vernichtet wird, als er sieht, wie Adam die Rainer-Maus hochhebt. Leo hat wirklich Angst um das kleine Tier, hat Angst, dass der Mann in Rot sie zerquetschen wird, weil er nun nicht mehr ganz unten in der Nahrungskette steht. 
Doch wie er auch schon die Kräuter vorsichtig in seinen Fingern geborgen hat, so tut er es nun auch mit dem grauen, kleinen Körper der gierig fressenden Maus. 

Kann man Leo da verübeln, dass er nicht anders kann, als zu ihm zu kommen?

„Ich habe ihn Rainer getauft“, gibt er preis und erfährt, dass die Rainer-Maus auch eine Vincent-Maus ist. Ein unschuldiges Wesen, Träger zweier Namen, die beide nicht mehr in Gilead sind. Einer…tot, aber am Leben. Der andere…

Leo sieht in den Himmel und gibt sich seiner kindlichen Vorstellung hin, dass Rainer von oben auf ihn hinunterschaut und dass es ihm dort, wo er ist, gut geht. Seine Seele blutet, auch wenn sein Herz von der Stimme seines verstorbenen Freundes im Garten gehalten wird.

Bei Adam. 


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„Gepriesen sei der Tag, Kommandant.“

Vorsichtig mustert Thomas Manzer ihn und am Ende seines Grußes ist deutlich die Frage zu hören, die sein Hiersein provoziert. 

„Gepriesen sei er“, erwidert Leo streng, an der Grenze zum Inquisitorischen. Er starrt Manzer direkt ins Gesicht und lässt ihn dabei nicht aus seinem Fokus. So wie er es mit fast niemandem tut, mit Ausnahme des Großkommandanten.

Manzer ist nicht für höhere Positionen vorgesehen und der Archivar aller wegzuschließenden Bücher. Dazu zählt in den Augen des Regimes häretische Literatur, also jedes Buch, das von Frauen geschrieben worden ist, jedes fiktionale Buch und alles, das selbstständiges Denken fördert. Alles, was Gleichheit zum Thema hat. Queere Bücher, natürlich.

Viele wurden verbrannt, zeremoniell auf Scheiterhaufen des wahren und reinen Glaubens geworfen. Ekelhafter Fanatismus hat sie vernichtet und Leo hat ein paar derjenigen, die die Bücher der Freiheit mit glänzenden Augen ins Feuer geworfen haben, bereits bestrafen lassen. Wegen anderer Verfehlungen. Einer ist an der Mauer gelandet, weil er einen Mann in Rot so schwer verprügelt hat, dass dieser nie wieder zeugungsfähig sein wird. 

„Ich wünsche zwei Bücher zu erhalten“, erläutert Leo sein Hiersein und schiebt Manzer den Zettel mit den Titeln durch das Gitter, ohne auch nur eine Sekunde den Blick zu senken. Er macht es unangenehm, für den Mann vor ihm mehr als für sich. 

Leo spielt hier mit dem Feuer, dennoch schlägt sein Herz ruhig und gleichmäßig. Im  Vergleich zu dem, was er sonst tut, ist es eine Lappalie und dazu noch gut erklärbar. 

„Wofür, Kommandant?“

Ein Faux-pas seitens Manzer und das erkennen sie beide in der Sekunde, in der die Frage die schmalen, blutleeren Lippen des Mannes verlassen hat und den staubig riechenden Raum zwischen ihnen ausfüllt. Leo lässt das Schweigen nun unangenehm von weiß gestrichenen Wänden hallen und runzelt schließlich die Stirn.

„Wiederholen Sie die Frage, Manzer“, fordert er und der schluckt sichtbar. Er schweigt und senkt dann seine Augen. 

„Unter seinem Auge, Kommandant“, lenkt er ein, demütig, wie es von ihm gefordert ist und Leo macht mit seiner Hand eine kleine, aber unscheinbare Handbewegung. Seine Mitarbeiter wissen mittlerweile, was sie bedeutet und wie schnell sie Leos Befehle daraufhin ausführen sollen. So auch Manzer. Ohne ein weiteres Wort steht er auf und eilt in den hinter ihm liegenden Raum. Es braucht seine Zeit, aber dann kommt er mit den zwei geforderten Wälzern zurück, schiebt sie eilig auf den Tresen zwischen ihnen. 

„Entschuldigung, Kommandant.“

„Beim nächsten Mal kommt es hoffentlich nicht bis zu einer Entschuldigung“, erwidert Leo ungnädig und nimmt die Bücher. Es ist ihm eine besondere Genugtuung, dass sie ausgerechnet für Adam sind und er einer Magd damit geistige Nahrung verschaffen wird. 

Die Genugtuung hält bis zu seinem Büro und Empfangsraum, denn es wartet bereits eine Rückrufforderung des Großkommandanten auf ihn. Dringend und unaufschiebbar, wie immer mit Schürk. 

Leo wählt sich in die Videokonferenz ein und sieht keine zehn Sekunden später das verhasste, drahtige Gesicht auf dem Bildschirm. Hyänenhaft lächelt der Großkommandant und Leo neigt seinen Kopf in Anerkennung von falschem Respekt. 

„Gepriesen sei der Tag, Großkommandant“, grüßt er und Schürk nickt seinerseits knapp. 

„Gepriesen sei er. Mir wurde zugetragen, dass Sie mit dem zuständigen Onkel in einen Streit geraten sind“, kam er gleich zur Sache, etwas, das Leo bei normalen Menschen schätzte. Bei Schürk war es ihm wie der Rest des Mannes auch, verhasst. 

„So ist es“, bestätigte Leo und konnte sich gut denken, woher diese Information kam. Boris hatte seine Verbindungen genutzt um sich darüber zu beschweren, was zu Adams Schutz passiert war. Natürlich. 

„Erklären Sie sich“, fordert der Mann lauernd und Leo nickt wohlverhalten.

„Selbstverständlich, Großkommandant. Der Magd wurde die falsche Dosierung des Fruchtbarkeitselixiers mitgegeben. Sie war doppelt so hoch wie für die Magd geplant und hat in dem Zug schwere Vergiftungserscheinungen hervorgerufen, die nur durch die schnelle Hilfe des eintreffenden Arztes zielgerichtet behandelt werden konnten. Die Aufgabe der Onkel ist es, die richtige Dosierung für die Mägde jederzeit bereit zu halten und so ist es unentschuldbar, dass eine solche Liderlichkeit geschehen ist. Nicht auszudenken, was wäre, wenn die Magd ihre Zeugungsfähigkeit eingebüßt hätte. Ich war erbost, insbesondere deswegen, weil die uns zugeteilte Magd durch Ihre Gnade zu uns gekommen ist, damit ich Gilead nunmehr einen Erben schenken kann.“

Leos Stimme ist sorgsam selbstgerecht und angemessen wütend, dass die Regeln nicht befolgt worden sind. Das lässt er den Großkommandanten auch in seiner Mimik sehen, der nun ihn durchdringend mustert und seziert. 

Leos unter dem Tisch verborgene Hand ballt sich zur schmerzhaften Faust. Neben ihm, außerhalb des Kamerafokus, liegen die beiden Bücher für eben jenen Mann in Rot, den Leo nicht als Magd bezeichnet, sondern als Menschen. 

Den er lesen lässt. Der ihn ansehen darf. Der das Wort an ihn richten darf, auch wenn Leo es ihm vorher nicht explizit erlaubt hat. 

Fahr zur Hölle und schmor im Fegefeuer, schleudert Leo dem Großkommandanten stumm entgegen und dieser schnaubt amüsiert. 

„Mit Verlaub, Großkommandant, für das eigene Versagen eine Magd zu bestrafen, widerspricht meinem Begriff von Verantwortungsübernahme für die eigenen Taten. Daher habe ich den Onkel gebeten, mein Haus zu verlassen und habe es mir zum Ziel gemacht, aus der bereits wohlgeformten Magd ein perfektes Gefäß für Gilead zu machen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinn.“

Das ist es, was Leo sieht, noch bevor Schürk den Mund aufmacht. 

„Ich weiß eben, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Kommandant Hölzer.“

Leo nickt und gibt sich den Anschein, als würde er sich über das Kompliment freuen. 

In Wahrheit freut er sich über alles, was er tut, um Roland Schürks Imperium zu hintergehen und zu vernichten.  


~~**~~


Kaum zurück auf dem Anwesen, schließt er die Bücher sorgsam weg, bevor er sie am Abend schließlich genauso sorgsam zitternden Händen übergibt. Alles in Leo kribbelt unter der Musterung der großen, überraschten Augen und ihn freut, dass ihm die Überraschung gelungen ist. 

Er selbst muss noch arbeiten und die Berichte über geflohene Familien und Mägde auf Unregelmäßigkeiten auswerten, die er selbst sorgsam verborgen hat, so sieht er aus dem Augenwinkel, wie dieser zu dem Sessel geht, das erste Buch aufschlägt und seine Augen so schnell hin- und herhuschen, dass Leo befürchtet, dass die Bücher nicht einmal bis morgen reichen werden. 

Der Mann, der in Leos Gegenwart Tag um Tag entspannter und weniger verkrampft scheint, wird plötzlich wieder genau das. Anspannung frisst sich den schmalen Körper empor und die markanten Kieferknochen mahlen so laut aufeinander, dass Leo es bis zu seinem Schreibtisch knirschen hört. 

„Kommandant?“, fragt der Mann in Rot schließlich zögerlich und so leise, dass man es überhören könnte, wenn man nicht so genau zuhört wie Leo. 

„Ja?“

„Nachdem Onkel Boris erfahren hat, dass der letzte Kommandant mir das Lesen gestattet hat, hat er mir die Finger gebrochen. Er hat gesagt, dass wenn… dass er mir beim nächsten Mal die Finger abnimmt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass…“ 

Die Stimme des Mannes, der einmal Mordermittler gewesen ist, ist so unterwürfig und klein, dass es Leo wie ein Schlag in die Magengrube vorkommt. Die leise Frage, sticht dabei tief in sein Herz. 

Leo hasst den Onkel wie nichts in dem Moment. Er verabscheut dessen psychische und physische Gewalt, die begünstigt wird durch den Auftrag der Roten Zentren. Wieder einmal muss er das Mitleid niederkämpfen, um keine falschen und doch richtigen Worte in den Raum zu stellen, die Pia, Esther und ihn den Kopf kosten könnten. 

„Gib sie mir“, fordert er mit gepresster Stimme und Adam missinterpretiert das. Er denkt, dass er die Bücher wieder zurückgeben solle und die traurige Enttäuschung, die mit diesem vermeintlichen Wissen einhergeht und die Leo auf Adams Gesicht sieht, tut mehr weh, als Leo es zugeben möchte.

„Nicht die Bücher. Deine Hand. Die mit den gebrochenen Fingern“, klärt Leo auf und die Strenge in seiner Stimme soll die Erschütterung verbergen, die in ihm tobt. Adam gehorcht und behutsam legt er die entsprechende Hand in seine. Esther würde ihn hierfür einen Kopf kürzer machen und ihn anfauchen, dass er sich nicht noch mehr öffnen sollte, als er es bereits getan hat, aber Esther ist nicht hier und so hört Leo auf sein Bauchgefühl. 

Sacht streicht er über die verletzten Gelenke und zeigt, dass Adam ihm vertrauen kann und dass er ihm nicht wehtun wird. Er äußert sich kritisch über das Vorgehen der Ärzte und vorsichtig, zurückhaltend stimmt Adam ihm zu. 

„Onkel Boris sagte, dass das Verschwendung sei, weil sie sowieso bald abkämen“, gibt er einen Teil seiner Folter preis und Leo empfindet nur Hass für Boris. Das. Die richtige Heilung, die jedem Menschen zustehen sollte.

„Das wird nicht passieren“, sagt er mit grimmiger Entschlossenheit. „Er wird es nie erfahren. Ich werde nicht zulassen, dass er dich für das Lesen hier bestraft. Oder für irgendetwas Anderes. Ich werde nicht zulassen, dass er es herausfindet.“

Es ist das Versprechen, das Leo geben kann. Von ihm wird niemand etwas erfahren, niemand wird Hand an den Mann in Rot legen, solange er ihn schützen kann. Die Finger in seiner Hand zucken und aus dem Augenwinkel heraus sieht Leo, wie der Mann sich entspannt. Obwohl er selbst steht und dieser sitzt. Obwohl er ihn anfasst. Obwohl er schwarz trägt und der Mann rot. 

Obwohl…

Leo verdrängt jeden Gedanken an die vergangene und jede kommende Zeremonie und schwört sich ein weiteres Mal, dass er alles dafür tun wird, dass dem Mann nichts passiert. Nicht mehr unter seinem Dach. 

Um das zu erreichen, wird Leo weiterhin auch sprachlich die Distanz beibehalten müssen. Er bietet nicht das Du an, auch wenn es unter seiner Oberfläche lauert, das zu tun. Er muss das Gefälle zwischen ihnen beiden beibehalten, damit es keine Ausrutscher gibt vor anderen. 

Das hält ihn aber nicht davon ab, Musik mit Adam zu hören und schlussendlich seinen Namen zu legen. 

Weil er es kann. Weil er anerkennen möchte, dass der Mann nicht seinen Namen trägt, sondern einen eigenen. Dass Leo ihn kennt und ihn auch benutzt. Gedanklich…jetzt auch real. Es ist intim, fast zu intim und sein Herz rast wie verrückt, während er vier Buchstaben legt, verharrt, sich den Anschein gibt, möglichst unbeteiligt zu sein und dann hochsieht. 

Adam sieht ihn an, starrt dann auf seinen Namen, sieht ihn wieder an. Seine Lippen sind geöffnet, sie fragen stumm nach dem Warum, nach dem, was ein Bruch mit jedweder Konvention ist. 

In Leos Magen flattert eine Horde an Schmetterlingen und dennoch zieht und zerrt sein Instinkt an ihm. Leo kann den Finger nicht darauf legen, aber so überfahren, gleichzeitig aber auch erleichtert der Mann ist, so sehr lauert etwas im Hintergrund. 

Als er sich verabschiedet und „Gute Nacht“, sagt, hängt etwas Ungesagtes in der Luft, das Leo Bauchschmerzen bereitet. 

Immer noch kann er es nicht ausmachen. Eine minimale Dissonanz, etwas, das in seinem Hinterkopf kratzt. 


~~**~~


Es ist wie bei Rainer. 

Der gleiche Einfall des Mondlichts. Der gleiche Geruch des Raumes. Sogar die Uhrzeit ist gleich. Nur hat der Mann, der sich nun versucht, das Leben zu nehmen, kein Messer, sondern eine der Cutterklingen, wie Leo nun im Schein der grellen Badezimmerlampe sieht. 

Leo kann nicht denken vor Angst, dass er auch diesen Menschen wie Rainer an Gilead verlieren wird. Er kann nicht denken, nicht handeln, er fällt vollkommen aus der Rolle des Kommandanten, als er den Mann mit Gewalt davon abhält, sich die Klinge tief genug in die Haut zu schneiden, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, den er für den Menschen kämpft, der sein Leben beenden möchte, weil er nicht erträgt, dass ihm auch noch der letzte Rest von Rainer genommen wird. 

Entsprechend brutal ist Leo auch, gnadenlos in seinen Bewegungen und Berührungen. In seinen Worten, mit denen er den Mann in Rot anschreit, ihm zu erklären, was das soll. 

Pia und Esther werden dadurch angelockt, aber er schickt sie weg, weil er sich selbst darum kümmern will. Darum. Die Sache Adam. 

Er hat Angst, solche Angst, und versteht es nicht. Er hat doch alles versucht, um es erträglich zu machen. Er ist doch Wagnisse eingegangen, warum ist es nicht genug? Warum ist es nie genug, gellt es in Leo, während er im Raum steht, seine Hand von dem Schnitt pocht und er so wütend auf den vor ihm kauernden Mann ist, dass es beinahe an Hass grenzt. 

Ungerechtfertigtem Hass, denn der Mann ist weder Rainer, noch weiß er, was passiert ist, noch kann er etwas dafür, dass Leo Rainers Tod immer noch nicht überwunden hat. 

Der Mann vor ihm schweigt und das Schweigen bricht Leo auf verschiedene Arten und Weisen. Es bringt nun ihn zum Reden, auch wenn er die Worte eigentlich tief in sich vergraben sollte. Er setzt sich, weil ihn Schwindel überkommt bei dem Gedanken daran, was er im Begriff ist zu tun. 

„Rainer hat sich in diesem Raum umgebracht. Er war einer deiner Vorgänger und sollte in die Kolonien gebracht werden, weil die Testergebnisse festgestellt haben, dass er trotz erster Tests unfruchtbar ist. Er…hat es herausbekommen, sich ein Messer genommen und ist dann in der Badewanne verblutet.“

Auch wenn die Wahrheit aus ihm herausdrängt, schafft Leo es trotzdem, sie zu modifizieren. Er sagt das, was wichtig ist und es bricht aus ihm heraus wie ein Tier, das sich seinen Weg nach draußen gefressen hat. Sein ganzer Körper schmerzt, er ist wund, er blutet und hinter der Fassade des Kommandanten lauern schon die Tränen, die ihm immer noch in die Augen schießen, wenn er daran denkt, wie er Rainer gehalten hat.

„Ich lasse nicht zu, dass das nochmal passiert! Ich lasse nicht zu, dass du stirbst!“

Ob seine Worte wirklich an den Mann gerichtet sind, der Adam und nicht Rainer heißt, weiß Leo nicht. Und dennoch kehrt er mit seinen Forderungen nun zu Adam zurück. Zu dem Mann, der vor ihm auf dem Boden sitzt und sich klein macht, der Angst hat vor Leos Wut und der im grellen, kalten Badezimmerlicht entsetzlich zittert. 

Der Anblick von Angst und Panik lässt Leo ruhiger werden. Er kämpft mit der Wut, ringt sie nieder wie ein wildes Tier und atmet tief ein. Er sperrt den Menschen Leo wieder ein, denn der ist mit Sicherheit nicht zurechnungsfähig gerade. 

Der Mensch Leo würde dem Mann vor ihm wehtun vor lauter Verzweiflung. Er würde an ihm rütteln, ihn schütteln, ihn anschreien. Nichts davon darf er sich erlauben, schon um Adams Willen nicht, der damit rechnet, dass Leo ihm brutale Gewalt antut als Strafe für den Versuch. 

Natürlich weiß Leo, was die Zentren mit denjenigen tun, die versuchen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Gewalt, so brutal, dass sie brutale Angst vor einem erneuten Versuch erschafft, aber nicht brutal genug, um die Zeugungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Sie sperren die Männer wochenlang ein, fesseln sie an Betten und brechen sie. Betreiben genau geplante Gehirnwäsche, der die Männer ohne Gnade ausgeliefert sind. 

„Sag mir warum“, fordert der Kommandant in ihm rau. „Ich gebe…dir Freiheiten, Freiraum. Du wirst hier nicht geschlagen und gefoltert, du hast geistige Nahrung. Du hast gesagt, dass du nicht suizidal bist, sondern, dass alles zu still ist. Ich habe mir doch Mühe gegeben, diese Stille zu füllen. Wir spielen, du liest, wir hören Musik, ich nenne dich bei deinem Namen. Was davon ist so falsch, dass du dir das Leben nehmen willst?“

Eigentlich kennt Leo die Antwort. Die einfache, brutale, schlimme Antwort. Sein Leben ist falsch. Er ist gefangen, versklavt, ist aus einem selbstbestimmten Leben gerissen worden. Die Gründe sind einfach und Leo kennt sie alle. 

Dennoch muss er es aus dem Mund des aus Angst schier katatonischen Mannes hören.

Adam!

Erst sein richtiger Name, bringt den Mann aus seinem Schneckenhaus heraus. Nicht ganz, auch noch nicht einmal zur Hälfte, über zumindest so weit, dass er es sich traut zu sprechen. Er braucht mehrere Ansätze um überhaupt die Stimme zu einem Flüstern zu erheben. 

„D…die Spiele, die Bücher, das Schreiben…die Musik…der Garten…Dinge, die ich nicht haben darf und die mir hier erlaubt werden, das ist der Höhepunkt meines Glücks. Ich bin glücklich, ich bin dankbar, dass es hier keine…wenig Gewalt gibt. Ich weiß, dass es über dem ist, was ich von diesem Leben erwarten darf und das macht mich so glücklich, wie ich sein kann. Aber das ist es auch schon, eigentlich dürfte ich das nicht haben.“

Leo hätte nicht gedacht, dass er noch ein Herz hat, das weiter zersplittern kann, doch hier ist es. In Scherben vor ihm. Das, was er Adam an Erleichterungen entgegengebracht hat, ist der Zenit seines Glücks? 

Am Liebsten möchte Leo schreien und nicht mehr aufhören. Er möchte Gilead in die Luft sprengen und alle Fanatiker töten. Adam müsste nichts erlaubt werden. Er wäre frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. 

„Eigentlich bin ich hier um…um zu dienen. Mit meinem Körper. Ich darf nicht denken, ich darf nichts sagen, ich bin nur ein Gefäß um Kinder zu erschaffen. Und das wird auch wieder so sein, wenn ich hier weg bin. Dann komme ich ins Rote Zentrum zurück, wo Onkel Boris seine Wut an mir auslassen wird. Sie machen die Zeiten dort schlimm, damit wir…in den Haushalten gefügig und gehorsam sind, weil wir froh sind, von dort weg zu sein. Wie bitter das doch ist…wie bitter doch jede Form des Glücks hier ist.“

Adam ist sich dessen bewusst. Er weiß, was sie in den Zentren tun, damit Männer wie er hier gehorchen. Er weiß es und macht es das nicht umso schlimmer? Seine Angst vor weiterer Folter ist deutlich hörbar, mehr noch. Sie ist greifbar und brennt unter Leos Haut. 

„Und dann, nach Wochen im Roten Zentrum, wo sie foltern und missbrauchen und erniedrigen, werde ich wieder in einen neuen Haushalt geschickt um vergewaltigt zu werden. Der Haushalt wird nicht so sein wie der hier. Mit Sicherheit nicht und ich kann nichts machen. Ich werde die Erinnerungen an diese Tage haben und wissen, wie es sein könnte. Ich werde die Erinnerungen haben und wissen, dass so mein altes Leben aussah, bevor sie mich gefangen und in einen Käfig gesteckt haben. Es gibt nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt und deswegen…“

Leo will nichts mehr, als Adam an sich ziehen und ihm zu versichern, dass das nicht passieren wird und dass er ihn heute noch wegschafft. Raus aus dem Land, weg vom Roten Zentrum. In die Freiheit, da wo Vincent auf ihn wartet und wo sie schlussendlich wieder glücklich sein können. Abseits von Gilead. 

Am Liebsten würde er ihm jeden Zuspruch geben, den er braucht.

Zuspruch ist manchmal auch das Messer, das das eigene Leben beendet, merkt eine kleine Stimme in Leo an, die leise, aber bestimmt ist. Zuspruch ist auch, zu erlauben, dass das Leben selbstbestimmt beendet wird, wenn es unerträglich wird. Und den Zeitpunkt entscheidest nicht du, denn sonst bist du wirklich das, was er von dir denkt. 

„…deswegen ist es besser, jetzt meinem Leben ein Ende zu bereiten als dass ich jahrelang als Sexsklave von Haushalt zu Haushalt weitergereicht werde und schließlich in den Kolonien krepiere. Es macht doch keinen Unterschied ob ich noch da bin, oder nicht. Niemand interessiert sich für mich als Menschen, nur für meinen Schwanz und die Anzahl an Kindern, die ich diesem Land bringen kann.“

Ich. Ich interessiere mich für dich, für die Art, wie sich seine Stirn zusammenzieht, wenn du dir den nächsten Spielzug überlegst. Ich interessiere mich für deine Kompetenz, die durchscheint, wenn du Dinge hier frei entscheiden kannst. Ich interessiere mich für deinen Mut und ich höre deine Stimme, gellt es in Leo, während er vor Adam steht und schweigt. 

„Ich will nur bei Vincent sein. Nur weg von hier“, schließt er rau und bevor Leo weiß, was er tut, erhebt er sich und überwindet die Distanz zwischen ihnen mit zwei vorsichtigen Schritten. Was Leo genau tun möchte, weiß er nicht und entsprechend unschlüssig öffnen und schließen sich seine Lippen. 

Vincent lebt!, schleudert er Adam entgegen. Er lebt und du wirst zu ihm kommen. 

Leo atmet ein und trifft eine Entscheidung, die ihn und Adam in nach einem verbalen Kampf und einer Versicherung in sein Arbeitszimmer bringt. Ihm ist übel, was er damit alles aufs Spiel setzt, aber er spürt, dass es sein muss, um den Mann vor einem neuen Selbstmordversuch abzuhalten. 

Es kommt für Leo nicht in Frage, Adam einzusperren. Es kommt für ihn erst recht nicht in Frage, ihn ans Zentrum auszuliefern. Er hofft, dass er Erfolg hat mit dem, was er tut, ansonsten…

Ja, was? Riskiert er Esthers und Pias Leben für ein Bauchgefühl, von dem er weiß, dass es richtig ist? Die banale und schlimme Antwort darauf lautet ja. Ja, weil er sich so sicher ist. 

Leo entscheidet sich für den Sprung ins eiskalte, tiefe Wasser und streicht zweimal über die Akte, die leicht und doch schwer in seinen Händen wiegt. Er reicht die dünne Mappe weiter und als Adam sie nicht öffnet, befiehlt er es ihm. Minutiös überwacht er jede Bewegung des Mannes in Rot. Jede Regung in dessen Gesicht. Jede Emotion, die in seinen Augen aufleuchtet, die ihn seine Lippen zusammenpressen lässt. 

Die Adam schlussendlich zum Weinen bringt. 

„Kommandant Raczek hat durchgesetzt, dass Vincent Ross in die Kolonien geschickt wird. Auf dem Weg dorthin gelang es deinem Freund zu fliehen. Nach meinen Informationen lebt er. In Freiheit.“

Eine Halbwahrheit, denn Vincent ist es mit Adams und seiner Hilfe gelungen zu fliehen. Häresie in Reinform. Würden die Augen das mitbekommen, würde er seines Amtes enthoben und Schlimmeres. Adam würde für das reine Wissen hart bestraft werden. Pia und Esther würden aus seinem Haushalt gerissen werden. Aber dennoch sagt Leo Silbe für Silbe, presst sie hervor, weil er will, dass der vor ihm sitzende Mann begreift, dass er nicht alleine ist und dass es noch nicht vorbei ist. Es gibt Chancen und Möglichkeiten, er muss nur durchhalten. 

Er darf nicht wie Rainer gehen. Das darf er nicht. Wenn er Adam rettet, dann kann er auch einen Teil von Rainer retten und dann ist seine Schuld nicht ganz so immens, oder? Zumindest ist sie ein My geringer. Adam muss sich einfach für das Leben entscheiden. 

Adam glaubt ihm nicht, dass er Vincent wiedersehen kann und jetzt drängt sich der Mensch, der Leo ist, nahtlos in den Vordergrund. Er steht auf und umfasst vorsichtig Adams Gesicht. Angst trägt sich ihm entgegen und Leo sitzt es aus. Er will einen Punkt machen und tut das auch. 

„Sag niemals nie, Adam. Vincent war stark genug dafür und ich sehe keinen Grund, warum du schwächer sein solltest als er.“

Er sieht Hoffnung in den blauen Augen, die da vorher nicht war. Er sieht den Funken von Glauben an ihn und an seine Worte. Das ist ein Anfang, aber es macht Leo auch etwas anderes bewusst, was er nicht außen vor lassen darf. Bei aller Angst, bei aller Trauer um Rainer…

Er kann Adam nicht seinen freien Willen zurückgeben um ihm ihn dann zu nehmen. 

Des einen Menschen Wille ist des anderen Menschen Hölle. Das weiß Leo. Auch wenn die letzten Jahre Gilead ihm anderes suggeriert haben, so bedeutet Menschlichkeit auch Gleichberechtigung. Nicht nur er hat das Recht, mit seinem Willen anderen die Hölle auf Erden zu bereiten. Er nimmt genug, als dass er jetzt nicht zurückstecken müsste.

Adam hat genug Hölle hinter sich und so ist es Fatalismus, der Leos Worte lenkt, nicht Vertrauen und schon gar nicht Optimismus. 

„Wenn deine Zeit hier nahezu vorbei ist und sich dir die Möglichkeit noch nicht eröffnet hat, dann verspreche ich dir, dich gehen zu lassen. Ich gebe dir ein Messer, damit du das tun kannst, was du heute Abend tun wolltest. Aber das, was ich dafür als Gegenleistung haben will, ist deine Geduld und etwas Vertrauen. Versprich mir das.“

„Okay“, erwidert Adam zögernd. Zu zögernd. Das ist kein Versprechen, das ist Unterordnung und das ist nicht genug.  

„Das reicht mir nicht“, schüttelt Leo den Kopf und sieht, dass Adam ihm darin zustimmt. 
 
„Meinen Sie das ernst? Dass Sie mir ein Messer geben?“

Ich würde es liebend gerne nicht tun, gellt es in Leo, doch er lässt sich nichts anmerken. Ich will es nicht tun, weil Rainer sich mit meiner Hilfe das Leben genommen hat und er mir immer noch fehlt. Er fehlt mir so sehr! 

Leo schweigt, weil er gegen sich kämpft, gegen das Nein, das hinter seinen Lippen lauert. Er muss schweigen, weil er sonst sagen würde, dass er es in keinem Fall akzeptieren würde, wenn Adam sich das Leben nähme. 

„Ich habe Rainer geholfen, sein Leben zu beenden“, entkommt das, was am Wenigsten entkommen darf und Adam sieht ihn mit großen, verwunderten Augen an. Ein Kommandant, der einer Magd zum Suizid verholfen hat…das ist Häresie in Reinform und Leo weiß, dass wenn Adam es darauf anlegen würde, er nun an der Mauer landen würde. 

Doch das ist nicht das Schlimmste, denn das Zugeständnis nimmt Leo die Luft zum Atmen, befeuert durch den Mann, der vor ihm sitzt und Rainers Stimme hat. Befeuert durch Erinnerungen an Rainer. 

„Ich würde gerne eine Nacht darüber schlafen“, wispert Adam in Leos Leid hinein und macht es in dem Moment nur schlimmer. Er scheint über seine eigenen Worte nachzudenken. „Habe ich überhaupt eine Wahl?“

Es braucht etwas, doch dann nickt Leo.

„Du kannst eine Nacht darüber schlafen, aber das wirst du in meinem Zimmer tun. Ich will dich in meiner direkten Nähe haben, um über dich wachen zu können. Und…“, schiebt Leo nach, als er die aufkommende Angst in Adam sieht. „…meine Gemahlin schläft nicht dort. Sie hat ihren eigenen Raum, ebenso gibt es für die Zeremonie einen eigenen Raum. Abseits der Zeremonie nächtige ich dort nicht.“

Es ist das Zugeständnis, das Leo an seine eigene Angst machen muss und wieder etwas, das ihn nahtlos an die Mauer bringt. Abseits der Tatsache, dass er selbst schwul ist. Im Bett mit einer Magd, Esther wird ihn nicht nur einen Kopf kürzer machen, wenn er ihr morgen alles erzählt. 

Derjenige, der ihn nicht dafür kritisiert, folgt ihm nun nach oben und auf Leos Aufforderung, eine Seite im Bett zu wählen, nimmt er die dem Fenster zugewandte. Leo hätte nichts anderes erwartet, aber womit er nicht gerechnet hat, ist, dass Adam sich auf den Boden setzt, anscheinend im festen Vorsatz, die Nacht auf dem harten Holzboden zu schlafen. 

Es wirft Leo zurück in seinen Erinnerungen. Er hat es vorgeschlagen, dass den Männern in Rot in den Zentren das Bett genommen wird. Weil es unter allen Strafen die am wenigsten Brutale gewesen ist. Aber entmenschlichend. Deswegen ist Leos Bett auch alles andere als bequem und bereitet ihm jede Nacht Schmerzen. Weil er nicht im Luxus schwelgen wird, wenn die Männer wegen ihm leiden. 

„Bett, nicht Boden. Eine Seite vom Bett. Die solltest du dir aussuchen. Es ist genug Platz für uns beide“, presst Leo auf Adams leise Frage, ob er nicht auf den Boden gehen sollte, hervor. 

Vorsichtig, immer mit Blick auf ihn legt Adam sich hin und Leo folgt ihm kurze Zeit später. Es ist komisch, wieder mit einem Mann im Bett zu liegen, aber gleichzeitig ist es auch so durchdrungen von einer Notwendigkeit, dass Leo nicht auf dumme Gedanken kommen kann, Adam so nahe zu sein. Sie liegen zusammen im Bett, Adam wird schlafen und Leo wird die Nacht über ihn wachen. So einfach ist das. Mehr ist nicht. 

So einfach ist es nicht, denn Adam spricht sein Beileid für Rainer aus und Leos Emotionen spielen verrückt. Bis auf ihre Verschwörendengruppe ist er der Erste, der es weiß und der aus seinem Herzen heraus Mitleid hat, was er nicht haben müsste. Nicht Leo gegenüber. 

Sie sprechen über Vincent und Adam und das ist ein weitaus sicheres Thema für Leo. 

„Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien und dir Angst gemacht habe“, murmelt Leo und die Entschuldigung ist bei weitem nicht genug für das, was Adam jemals in seinem Leben erlitten hat. Wegen Leos Taten. Unter Leos Händen. Dennoch trifft sie auf ein gnädiges Danke.

Vollkommen unverdient. 

Als das Schweigen über sie hineinbricht, werden auch Leos Gedanken ruhiger. Adams Gegenwart, sein Atmen, seine körperliche Präsenz in Leos Nähe tun Dinge mit ihm, die Leo so nicht erwartet hätte. Er kommt zur Ruhe und entspannt sich tatsächlich. Die schlimme Härte seines Bettes ist nicht ganz so schlimm, die Einsamkeit in diesem Raum gefüllt. 

Leo entspannt sich so sehr, dass er einschläft und erst aufwacht, als er sich in der Nacht umdrehen möchte und feststellt, dass er etwas im Armen und fest an seine gesamte Vorderseite gepresst hält. 

Etwas. Jemanden. Den Mann, den er davon abgehalten hat, Selbstmord zu begehen und den er in dieses Bett befohlen hat, als Bedingung dafür, dass er sich den Suizid noch überlegen kann. Der Mann, der tief schläft, was gut ist, denn Leo wird mit jeder Sekunde, die er hier liegt, panischer. 

Es tut ihm leid, dass er sich Adam erneut aufzwingt. Dieses Mal noch viel schlimmer, weil er ihm körperlich so nahe ist. Es tut ihm leid, dass er sich selbst im Schlaf nicht beherrschen kann und sich Adam nähern muss. Der ihm ausgeliefert ist und sich nicht wehren kann. 

Estutmirleidestutmirleidestutmirleid, schreit er innerlich und will sich lösen, als er bemerkt, dass sein Arm durch eine Hand festgehalten wird, die seine Hand an Adams Brust presst. 

Oh fuck.

Er kommt hier nicht weg. 

Leos Herz flieht wie ein Kolibri dahin, während er Adams Atemzügen und den kleinen Geräuschen lauscht, die dieser im Schlaf von sich gibt. Es sind keine Alpträume, aber manchmal hat Leo das Gefühl, dass es kurz davor steht. Immer, wenn er leise brummt, beruhigt sich der Mann vor ihm, der Leos Körper Signale sendet, die er sich nunmehr seit drei Jahren versagt hat. Adams Wärme strahlt auf Leo und das Gefühl des Körpers unter seinen Händen ist so surreal, dass Leo hofft, dass er träumt. 

Tut er nicht. Aus der dunklen Nacht wird die Dämmerung und erst als die Vögel beginnen zu singen, lässt Adam seine Hand gehen. 

Leo nutzt die günstige Gelegenheit und flieht abrupt aus dem Bett, als wäre es voller Schlangen. Sekunden lang steht er unschlüssig in dem stillen Raum, sieht auf Adams abgewandte Gestalt und möchte nichts sehnlicher, als sich wieder hinzulegen. 

Aber das steht ihm nicht zu. So geht er kalt duschen, wenngleich das das Kribbeln in der Hand, die Adam festgehalten hat, nicht wegwaschen kann.

 

~~~~~~~

Wird fortgesetzt.

Chapter 7: Die Tiefe des Verrats

Notes:

Einen wunderbaren Start ins Wochenende euch,

hier nun der neue Teil zu den Schattierungen. Vielen lieben Dank euch allen für die Kommentare, die Sprachnachrichten, die Kudos und Klicks. ❤️

Für diesen Teil gibt es ein paar Triggerwarnungen: Folter, Erbrechen

Ich wünsche euch dennoch viel Spaß beim Lesen! 🌻🤗

Tatsächlich war ich auch die Woche sehr versucht, bereits erste Szenen des dritten Teils zu schreiben, habe aber brav an dieser Geschichte weitergearbeitet. 😉

Chapter Text

 

Stille.

Die Zelle, in die sie Leo gebracht haben, wird beherrscht durch ein geräuschvolles Nichts. Niemand spricht mit ihm, niemand ist bei ihm, alles ist still in diesem fensterlosen Raum mit hartem LED-Licht. Es riecht nach Mensch, menschlicher Angst und menschlichem Verderben. 

Es riecht so, wie es von draußen in die Zelle hineinklingt. 

Draußen sind Schreie, um sich herum kann Leo sie gut hören: Männer…Frauen…die Menschen schreien vor Schmerzen, vor Angst, vor Verzweiflung. Er hört sie unverständliche Worte betteln, untermalt von Geräuschen, die von Folter sprechen. 

Leo lauscht. Ist Esther auch unter ihnen? Hört er sie? Manchmal vermeint er, ihre unverkennbare Stimmlage zu hören, doch dann entgleitet ihm die Sicherheit wieder.  

Sie haben sie verhaftet und Esthers panische Laute hängen in Leos Gehörgängen fest, ebenso wie sich Pias angstvoller Blick eingebrannt hat in seinen Erinnerungen.

Er hat seinen Haushalt ins Verderben geführt, durch das, was er nicht gut genug getan hat. Er ist schuld, dass sie Esther und ihn mitgenommen haben und nun befragen werden – zu was auch immer. Leo hat gelernt, ruhig zu bleiben, klar zu denken, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen von den Fanatikern. Er versucht genau zu handeln…mit wenig Erfolg. 

Ist es möglich, dass Adam sie verraten hat? Wahrscheinlich ist es, aber sicher? Leos Bauchgefühl sagt nein. Leos Bauchgefühl sagt, dass Adam keiner der Spione Gileads ist und bald sicherlich zurückgebracht wird ins rote Zentrum. 

Vor seinem inneren Auge hat Adam, so sie ihn denn gelassen haben, schon längst zur Klinge gegriffen und sich umgebracht. Adam, der mit niedergeschlagenen Augen und hängenden Schultern die erste Tablette genommen hat, für eine Lust, die er nicht will. Am Liebsten hätte Leo sie ihm noch am Küchentisch weggenommen, doch der Druck, der auf dem Haushalt lastet, ist zu groß. Wenn er will, dass sie überleben, wenn er will, dass Adam die Chance auf eine Flucht erhält, dann muss er ihm auf diese unmenschliche Art und Weise wehtun. 

Musste. 

Denn vermutlich ist das hier sein Ende. 

Ihr aller Ende.

Leo schließt seine Augen. Er hat Angst, weil er weiß, dass es schlimm werden wird. Er trauert, um Esther, um Pia, auch um Adam. Um ein Leben, das geprägt war von falschen Entscheidungen und Leid, das er Menschen gebracht hat. 

Vielleicht hat Adam sich jetzt schon umgebracht und liegt wie Rainer verblutet in der Wanne. Wahrscheinlich wird Leo ihn nie wiedersehen… weil er selbst nicht zurückkehren wird. Ganz sicher nicht, wenn die Augen ihn gefasst haben und ihn nun endlich für alle Verbrechen gegen Gilead zur Rechenschaft ziehen. 

Leo hat Angst, einerseits. Aber er ist auch erleichtert, dass sein ewiges Versteckspiel nun ein Ende hat und er dazu stehen kann, dass er dieses Land hasst. Wie sehr er dieses Land und die Menschen, die sich in diesem System wohlfühlen, hasst. 

Es ist einen Moment komplett still um ihn herum und Leo schließt seine Augen. Selbst die Schreie haben aufgehört und reduzieren seine Welt auf das rhythmische Brummen der Lüftung seiner Zelle. 
Seine Finger streifen rastlos über die fleckige, durchgelegene Matratze, die selbst seine Unbequeme in den Schatten stellt. Nicht, dass sie ihn schlafen lassen werden, denn Schlafentzug ist eine beliebte Foltermethode der Augen. 

Einfach, aber wirksam.

Genauso wie das Schmoren in den eigenen Gedanken und den Hoffnungen, doch noch am Leben bleiben zu können. Auf Milde und Gnade hoffen zu können. Das einzig Gute ist, dass er den Mann in Rot in seinem Haushalt nun nicht niederhalten muss, während Pia ihn und sich selbst zum Geschlechtsverkehr zwingt. 


~~**~~


Natürlich lassen sie ihn nicht schlafen. 

Leo ist erschöpft, trotz der Schreie, gerade wegen seines Hungers. Wie viele Stunden er hier ohne Kontakt zur Außenwelt gesessen und seine Schuld in sich hineingefressen hat, weiß er nicht. Hilflosigkeit liegt wie ein schweres Band um seinen Hals und drückt zu, erschwert ihm das Atmen und Schlucken gleichermaßen. Er hat Bauchschmerzen und ihm ist schlecht, seine Hände fahrig und zittrig. 

Als er sich hinlegt, um zumindest ein bisschen Schlaf zu bekommen, fängt es an – vorhersehbar. Laute Musik, die aus den Lautsprechern in den oberen Ecken dröhnt und ihn daran hindert, zu schlafen. Das Licht in der fensterlosen Zelle bis zum Anschlag hell. 

Quälend lang geht es so und Leo bleibt nichts anderes, als sich die Hände auf die Ohren zu pressen und sich bäuchlings auf die Matratze zu legen, das Gesicht in den schweißigen, teils blutigen Bezug der Matratze zu pressen. Er kann dadurch den Lärm nicht verhindern, aber ihn für sich erträglich machen, sodass er nicht dauerhaft seine Trommelfelle schädigt. 

Für den Fall, dass er das hier überleben wird.


~~**~~


Da sind die Männer in Schwarz mit Sturmhauben, die abrupt in seine Zelle kommen, fast eine willkommene Erlösung, weil sie Abwechslung bedeuten. Fortschritt. Irgendein Zeichen, was nun mit ihm geschehen wird. 

Mittlerweile ist Leo nicht nur schlecht, sondern auch schwindelig vor Hunger und so lässt er sich von ihnen ohne Gegenwehr in einen neuen Raum abführen. Er stolpert zwischen ihnen und lässt sie gewähren, als sie ihm grob das Hemd vom Körper ziehen, das Unterhemd zerschneiden und ihn zu dem metallenen Stuhl in die Mitte des Raumes zwingen. Sie fesseln seine Arme an die kalten Metalllehnen und treten ebenso schweigend zurück, machen Platz für einen Fragesteller. 

Leo weiß, was jetzt kommt. Er war schon häufig bei entsprechenden Befragungen auf der anderen Seite. 

Als er nun hochsieht, ist es Maik, der vor ihm steht. Das zweite Auge, der Cheffolterer. Der Spezialist für Kommandanten, die unter dem Verdacht stehen, Verrat begangen zu haben. Ausdruckslos starrt Maik auf ihn hinunter und nichts, aber auch gar nichts in seinem Gesicht lässt erahnen, dass sie auf einer Seite stehen. 

Der Seite des Widerstandes. 

Vielleicht ist es nur poetische Gerechtigkeit, dass er wenigstens durch die Hände eines Freundes gefoltert und schlussendlich sterben wird. 

„Gepriesen sei der Tag, Kommandant Hölzer“, grüßt er in der kalten Ausdruckslosigkeit eines Menschen, dem nur der Auftrag wichtig ist. Leo weiß, dass es nicht der Fall ist und dennoch schaudert er. 

„Gepriesen sei er, Kommandant Balthasar.“ Leos Stimme ist rau und erst, als er spricht, erkennt er, wie durstig er ist. Dass der Durst sein geringstes Problem sein wird, weiß Leo. Aber es dient auch dazu, ihn mürbe zu machen. 

„Uns ist es gelungen, die Flucht von Kommandant Feldhausen samt seiner Familie zu verhindern. Er untersteht Ihrer Region.“

Feldhausen hat versucht zu fliehen? Mit samt seiner Familie? Leo schluckt schwer. Feldhausen gehört zu ihnen, ein Mann, der das System gleichsam hasst wie auch fürchtet. Seine Flucht ist für nächstes Jahr geplant gewesen und nun? 

Leos Gedanken rasen und doch ist es Ruhe, die seine Magengegend besänftigt. Es ist nichts, was er mit Adam getan hat. Oder mit Pia und Esther. Sie haben keine Anhaltspunkte für ihrer aller Verrat. Esther wird auch dicht halten, egal, was sie ihr antun. Das weiß Leo. Er kennt Esther, er vertraut ihr.

„Was wissen Sie darüber, Kommandant Hölzer?“

„Nichts.“ Alles. Maik weiß das, er weiß es auch. Über die Flucht weiß er aber genauso wenig wie Leo selbst. So spielen sie beide ihre Rollen auf unterschiedlichen Seiten. 

Maik verschränkt seine Arme vor seiner Körpermitte. Sein Anzug sitzt perfekt, schwarz in schwarz, keine Farbe. Leo schaudert und es ist nicht nur wegen der Kälte. „Ich frage noch einmal, was wissen Sie darüber?“

„Meine Antwort wird sich nicht ändern. Feldhausen war ein loyaler Kommandant. Von Fluchtplänen wusste und weiß ich nichts.“

„Ich glaube Ihnen nicht.“

Vorhersehbar, das Misstrauen. Ebenso vorhersehbar, wie die Tatsache, dass sie ihn nun an den Strom setzen würden. Er kennt Gilead viel zu gut. 

„Die Aufgabe der Augen ist es zu wissen, Kommandant Balthasar“, bleckt Leo die Zähne, ein Zeichen seines Missfallens. Das Einzige, das er sich erlaubt und das Zeichen seiner hilflosen Wut ist, die nun über ihn hineinbricht, als ihm der Schmerz der Stromstöße das klare Denken nimmt und er sich einzig daran festklammert, dass es Maik ist. Nicht einer der wahren Treuen. 

Ob es das besser macht? Leo weiß es nicht und hat auch keine gute Antwort darauf, bevor der Schmerz ihn in die Bewusstlosigkeit treibt. 


~~**~~


Die nächsten Minuten, Stunden und Tage verschwimmen zu einer Einheit aus Fragen, Schmerzen, aus Brei und Wasser, die Leo zwar am Leben halten, aber ihm auch den restlichen Spaß an eben jenem nehmen. 

Maiks Stimme ist eine Konstante in der Grausamkeit der Befragung und Leo pendelt sich darauf ein, nur auf sie zu hören und die Fragen so harmlos und fanatisch wie möglich zu beantworten. Eintönige Monotonie, durchbrochen von Elektroschocks, Einsamkeit, den Schreien anderer Menschen und Leos eigenen Schreien. 

Durchbrochen schlussendlich von Gift.

Leo sitzt wieder auf dem Stuhl, den er zu hassen gelernt hat. Er selbst kann sich nicht richtig reinigen, stinkt, fühlt sich unsauber, auch das ist eine wirksame Folter. Er hat sich seit Ewigkeiten nicht geduscht. Oder richtig geschlafen. Oder ohne Schmerzen geatmet. 

Durchzuhalten ist mittlerweile seine Prämisse. Niemanden zu verraten. Zu hoffen, dass er überzeugen kann, auch wenn es schmerzt und er schreien möchte. In Leo ist es laut und er hört seine Gedanken kaum hinter den Schreien, die in ihm gellen. Keinen davon lässt er hinaus, die Maske des Kommandanten fest auf seinem Gesicht. Fest über seinem eigentlichen Kern. 

Maik hat eine Spritze in der Hand und setzt sie an, spritzt Leo die durchscheinende Flüssigkeit. Er ist ausdruckslos wie immer, doch Leo erkennt eine Grundanspannung. 

Warum, das ahnt er nach ein paar Minuten der Stille. 

Sein Herz schlägt von Sekunde zu Sekunde schneller. Ebenso schnell verliert Leo seine Fähigkeit, frei gegen den Schmerz anzuatmen. Seine Brust wird immer enger und er schnappt mühsam nach Luft, jeder einzelne Atemzug ein Kampf ums Überleben. 

Gift, Maik hat ihm Gift gespritzt und hebt damit Leos Folter auf eine ganz andere Ebene. 

Leo kämpft – dieses Mal ums Überleben. Er kämpft gegen das Gift in seinem Körper und gegen die Gedanken, die das Gift hervorwühlt. Bilderfetzen ziehen vor seinem inneren Auge davon, werden zu schwer greifbaren Szenarien, die Leo unter sich begraben.

Er sieht sich selbst, wie sie ihn an die Mauer bringen, er spürt, wie sie ihn aufknüpfen. Immer höher wird er gezogen, seine Beine baumeln verzweifelt nach Halt suchend in der Luft. Seine Hände sind gefesselt und er kann sie nicht bewegen, sich nicht retten, nichts tun. „Elender Geschlechtsverräter!“, rufen sie von unten und Leo fällt mit einem gewaltigen Knall zu Boden. 

Mit diesem liegt er plötzlich in einem nur von Mondlicht erhellten Raum. Unweit von ihm sitzt Rainer in der Wanne und hält das Messer an seine Pulsadern. Weil sie ihn in die Kolonien bringen. 
Aber Leo weiß einen Weg zu fliehen, er kennt ihn, er muss es Rainer nur sagen, doch er ist wie gelähmt. Er kann nur hier liegen und nichts tun, sich nicht rühren, muss geschehen lassen, was geschieht. 

Feldhausen, was ist mit Feldhausen?, flüstert Rainer mit letzter Kraft, so als würde sein Leben davon abhängen und alles in Leo möchte schreien, dass Feldhausen ein guter Mensch ist und zu ihnen gehört. Er will es schreien, um Rainer zu retten, doch er muss schweigen. Schweigen ist oberste Prämisse und Leo erkennt, dass er selbst sich den Bann dazu auferlegt hat. 

Rainer stirbt und Leo hat Blut an seinen Händen. 

Er wird aus dem Raum geworfen und sitzt mit einem Mal auf dem Bett und vor ihm liegt Adam. Hilflos, entblößt, entehrt, so wie es Gilead will. Er wehrt sich gegen Leos Griff, stemmt sich dagegen, doch Leo hält ihn eisern und grausam unten. Adam ist verzweifelt und er fleht, doch Leo versteht seine Worte nicht. Er ist taub für das, was ihn erreichen soll, doch dann dringt es zu ihm durch. 

„Sie müssen ihm sagen, was mit Feldhausen ist“, wimmert Adam und weint. Seine Augen werden feucht, Tränen laufen über seine Wangen. Pia steht neben dem Bett und sieht kopfschüttelnd auf Leo hinunter. 

„Sieh dir an, was passiert, wenn du es nicht sagst. Du vernichtest alle, die deiner Gnade ausgeliefert sind.“ 

Leo schluckt so lange seine Bitterkeit hinunter, bis sie ihm wieder hochkommt. Er schreit. Er kann gar nicht mehr aufhören damit. Er schreit und schreit und schreit…

Bis er keine Stimme mehr hat und alle Wut aus ihm herausgeschrien ist. 

Bis es dunkel wird um ihn herum, so drückend dunkel.


~~**~~


Als Leo wieder zu sich kommt, liegt er mit dem Bauch auf der unbequemen Matratze in der Zelle. Er kann seine Zunge nicht bewegen, so pelzig, dick und trocken ist sie, ein Klumpen nutzlosen Fleisches in seinem Mund. Leo schafft es, seine Augen gerade mal zur Hälfte zu öffnen, dann fallen sie ihm wieder zu, was vielleicht auch besser so ist um den Schwindel zu bekämpfen, der ihn fest in seinem Griff hält. 

Das Klackern der Lüftung ist laut und arhythmisch und Leo glaubt, wieder richtig atmen zu können, aber genau kann er es nicht sagen. Ihm ist kalt, das weiß er und er zittert. Sein ganzer Körper zittert unter der Unwucht des Giftes, das Maik ihm gespritzt hat. 

Sie sind Freunde, doch niemand darf das wissen. Maik steht auf seiner Seite, doch die letzten Tage…Leo kann den Zorn und die Wut nicht ganz von sich fernhalten, ebenso wie die ungerechtfertigten Vorwürfe in Maiks Richtung. Sie spielen alle ihre Rollen und jetzt…

Wird Maik ihn auch an die Mauer bringen, wenn er aufgrund seiner Halluzinationen etwas gesagt hat, was sie alle verraten hat? Leo hofft inständig, dass nicht, aber wirklich sagen kann er es nicht. 

Muss er auch nicht, denn er wird schmoren gelassen. Niemand kommt und selbst, als er wieder in den Schlaf abgleitet, wecken sie ihn nicht. Es scheint ihm wie eine Henkersmahlzeit so kurz vor seinem Tod. 

Das Geschenk des ungestörten Schlafes. 


~~**~~


Das nächste Mal wird Leo wach, als Männer in braun seine Zelle betreten. Sie ziehen ihn schweigend von der Liege und nehmen ihm nun auch noch seine Hose. Leo wehrt sich nicht, hat gar keine Kraft dazu. Er lässt geschehen, was geschehen muss und hofft, dass es schnell geht, wenn sie ihn hängen.

Doch sie legen ihm kein Büßergewand an. Er bekommt eine Art Morgenmantel, umgelegt und wird unter groben Berührungen aus dem Raum hinaus über den dunklen Betonflur in eine Art Duschbereich geführt. Dort warten eine Einzelkabine, Seife und kaltes Wasser auf ihn.

Anscheinend soll er sich reinigen. Leo heißt beides willkommen, auch wenn er sich kaum auf den Beinen halten kann und immer wieder würgt, weil sein Magen gegen das Gift rebelliert. Er schafft es, ohne sich zu erbrechen und als er schlussendlich fertig ist, ist er durchgefroren, aber sauber. Er darf sogar den Mantel wieder überziehen und wird in seine Zelle zurückgebracht. 

Nun kommt sein Mageninhalt doch noch heraus und er erbricht sich in die metallene Toilettenschüssel. Es kommt nicht viel, wie auch? Leo kann sich kaum auf den Beinen halten und bleibt schließlich auf dem Boden sitzen, erschöpft und kraftlos, sein Körper ein einziges Sammelsurium an Schmerzen und Vergiftungserscheinungen. 

Er muss über seine unzusammenhängenden Gedanken wieder eingeschlafen sein, denn das nächste Mal, als er zu sich kommt, steht Maik vor ihm. Leo sieht hoch und es kostet ihn Kraft. 
Was hat er Maik alles erzählt unter der Einwirkung des Gifts? Wen hat er alles verraten? Wann werden sie alle an der Mauer für Verrat gehängt werden? 

Leo fühlt Schmerz für Pia, Esther und Moritz. Aber auch für Adam, dem gegenüber er sein Versprechen nicht wahrmachen kann. Wenn Adam noch lebt, heißt das. 

Falls.

„Kommandant Hölzer, ich teile Ihnen mit, dass der Rat Sie des Verrates und der Mithilfe des Verrates am Gottesstaat Gilead für nicht schuldig befunden hat. Es ist nunmehr gesichert, dass der Häretiker Feldhausen den Verrat und die Flucht außerhalb Ihres Wirkungskreises geplant und durchgeführt hat. Sie werden demnach noch am heutigen Tag aus der Haft entlassen. Nichtsdestotrotz erwartet Großkommandant Schürk, dass es in Ihrer Region nicht noch einmal zu einer derartigen Liderlichkeit und Ketzerei kommt.“

Stumm starrt Leo Maik ins Gesicht. Er vermeint, Erleichterung zu erkennen, aber sicher ist er sich nicht. 

Frei. Er ist frei. Nicht des Verrats überführt. Er hat es geschafft, selbst unter dem Einfluss des Gifts nichts zu verraten. Selbst unter dem Einfluss der Folter. 

Leo kämpft sich die Wand hoch, denn das ist das Einzige, was er wirklich kann. Kämpfen, solange, bis es zu spät ist. Kämpfen, damit er weiterhin Unschuldige retten kann. Kämpfen, um diesen Staat zu vernichten. 

Kämpfen, damit er nicht einfach sitzen bleibt und stirbt. 

„Die Martha?“, fragt er und Maik schüttelt knapp den Kopf. 

„Dazu werde ich nichts sagen.“

Leo schweigt und lässt die Verweigerung auf sich wirken. Er will Maik anschreien, dass er Esther da endlich herausholt, wenn sie noch nicht freigelassen worden ist, aber nichts kommt über seine Lippen. Stumm bleibt er stehen und ballt die Hände zu Fäusten. Sie ist eine von uns, liegt auf seinen Lippen, ohne herausgelassen zu werden. 

Maik mustert ihn und nickt unmerklich. Die einzige Versicherung, die Maik ihm geben kann. 

„Bringen Sie mich in meinen Haushalt, Kommandant Balthasar“, erwidert Leo anstelle allem, was in ihm tobt, kalt und vergräbt sämtliche Gefühle in sich, die aufwallen wollen. Das Einzige, was er kanalisiert, sind Zorn und Hass. 

Fanatische Stärke, die nun als erstes die Männer trifft, die ihn rasieren und beim Ankleiden helfen sollen. 


~~**~~


Die Straßen mit den zerstörten Häusern und leeren Geschäften ziehen wie im Flug an Leo vorbei, ebenso wie die erblühende Natur ein paar Minuten zuvor. Die weiten Felder, unendlich bis zum Horizont. Das Einzige, was Gilead wirklich hervorbringt. Weizen. Roggen. Gerste. Lächerlich auf dem Weltmarkt und isolierend. 

Es läuft nicht so, wie Großkommandant Schürk es sich vorstellt. Nicht viele der autokratischen Staaten haben ihre Mithilfe signalisiert. Gilead wird nicht angegriffen, aber es gibt weitreichende Probleme. Embargos. Geplatzte Handelsabkommen. Internationale Isolation. 

Leo starrt auf das Land, das einmal seine Heimat gewesen ist, und erkennt, dass er genau so ist wie der Boden, über den er wandelt. Innerlich verrottend, blutend, schmerzend. 

Sie biegen schlussendlich in seine Einfahrt ein und Leo erkennt, dass der Garten gepflegt ist, noch bevor er die Farben sieht, die am Eingang stehen. Es ist immer noch ein wenig verschwommen, doch alle sind da. 

Alle.

Pia steht dort, bleich und zitternd. Adam steht neben ihr, in sich zusammengesunken, sich möglichst klein machend. Moritz, mit Freude auf dem runden Gesicht. 
Leo steigt aus und mustert sie alle. Wie von ihm erwartet ist er zärtlich zu Pia und hart zu dem Mann, der seinen Namen trägt. Wie so viele zuvor schon und doch ganz anders. 

Leo ist voller strenger Grausamkeit ihm gegenüber, er muss es sein, er darf keinem Verdacht mehr auf sie lenken, solange sie beobachtet werden. Erst im Haus wird er nachgiebiger, sanfter, freundlicher, kann sich erlauben, seine wahre Seite zu zeigen. Den Bruchteil seiner wahren Seite, denn eigentlich möchte Leo sich nur noch in eine Ecke verkriechen und die Hände auf die Ohren pressen. Eigentlich möchte er sich nur noch seiner Verzweiflung hingeben. 

Das kann er aber nicht. 

Esther ist noch nicht zurück. Sie haben sie noch. Sie foltern sie noch. Vielleicht kommt sie auch nie zurück. 

Leo tröstet Pia, die die gleichen Gedanken hat. Er nimmt sie in den Arm und streicht ihr sanft über den Rücken, spendet ihr Trost. 

„Ich möchte mit dir sprechen“, murmelt er erschöpft und müde. Die Tage zerren und ziehen an ihm, wollen ihn mit hinunterreißen. 

„Natürlich.“ Sie weiß warum. Sie weiß auch, dass sie in den Keller müssen dazu. 

Doch zunächst…

„Heb deinen Blick, Desleo“, befiehlt er sanft und kann seinen Namen aus seinem eigenen Mund nicht mehr hören. Er hasst ihn, verachtet ihn, jetzt in dem Moment nur umso mehr, in dem Adam gehorcht. Zu vorsichtig. Zu ängstlich. Ihm seine Scharade draußen zu sehr glaubend. 

Leo löst sich von Pia und streckt die Hand in Richtung Adams immer noch von seinem Selbstmordversuch verletzter aus. Gehorsam folgt der Mann seiner Aufforderung und nachdenklich streicht Leo über die Handinnenfläche, besieht sich den mit Sicherheit noch empfindlichen Schnitt. Er lächelt erschöpft und drückt Adams Finger sacht.

„Schön, dass du noch da bist“, flüstert Leo und meint es so. Adam ist nicht Rainer, er hat noch nicht zum Messer gegriffen. Er ist noch bei ihnen und hat Leo nicht alleine gelassen. Auch wenn der Mann vor ihm es weder weiß noch ahnt, so ist er in diesem Augenblick Leos Stärke und sein Grund, den Kampf weiter zu führen. 

Er hat an Leo und Leos Worte geglaubt. Er vertraut ihn. Er braucht ihn. Leos Worte haben einen Unterschied gemacht. 

Leos Leben hat einen Zweck, immer noch. 


~~**~~ 


„Sie werden sie umbringen“, flüstert Pia unter Tränen und Leo kann nichts weiter tun, als sie zu halten und das Zittern ihres schmalen Körpers auszuhalten, das von Trauer und Verzweiflung spricht. Er hat Schmerzen dabei, doch die müssen hinten anstehen. „Sie werden sie töten und dann…“

Was dann geschieht, bleibt offen. Pias Stimme versiegt hilflos und Leo kann es ihr nachempfinden. Er hat ihr hier im Keller in kurzen, knappen Worten geschildert, was passiert ist und ist ihrem Mitleid wie auch ihrer Verzweiflung ausgewichen. Wenn er zugelassen hätte, dass sie ihn berührt, in ihre Arme nimmt, ihn tröstet, dann wäre er vermutlich auseinandergebrochen in Millionen Teilen. Zerborsten bis ins kleinste Atom. 

So hält er weiterhin. 

„Sie wird zurückkommen“, sagt er mit mehr Überzeugung in der Stimme, als er wirklich fühlt. 

„Wir können nicht länger bleiben“, flüstert Pia und Leo hält inne. Atmet nicht. Regt sich nicht. Sie haben geschworen, den Menschen zu helfen, sie zu schützen. Sie haben geschworen, möglichst viele hier raus zu bringen. Wenn sie jetzt gehen, dann können sie nicht mehr helfen. 

Er löst sich von ihr, tritt einen Schritt zurück. Nimmt einen Schluck Limonade und ein Stück Schokoladenriegel, bei dem seine Geschmacksnerven Amok laufen. „Pia, ich weiß nicht…“

Entschlossen schürzt sie die Lippen. „Leo, die Schlinge um unseren Hals zieht sich enger und enger. Schürk bedroht uns, weil wir noch kein Kind haben. Er lässt dich foltern, weil Thomas versucht hat zu fliehen.“

„Das ist das normale Prozedere.“

„Nein! Es ist nicht normal, dass Menschen gefoltert werden!“, begehrt Pia auf und Leo krampft seine Finger zu starren Krallen. Eigentlich hat sie Recht.   

„Aber wir können doch nicht aufhören? Was ist mit den Anderen? Was ist mit Menschen wie Ada…Desl…wie ihm?“, endet er elendig, noch nicht einmal den Namen des Mannes oben aussprechen könnend, weil er solche Angst hat, ihn als den wahren Menschen, der er ist, zu sehen und sich vollumfänglich dem zu stellen, was ihm angetan worden ist – auch von Leo. 

„Was ist mit uns, wenn sie uns inhaftieren und umbringen?“, hält Pia dagegen und Leo schluckt trocken. Sie haben sich geschworen, dass wenn eine oder einer von ihnen Skrupel bekommt, sie dann aufhören. Aufhören müssen, denn das hier, das geht nicht alleine. Das geht nur zu dritt und mit den Anderen. 

„Bisher haben sie es nicht getan.“ Wie schwach die Ausrede ist, erkennt Leo an Pias missbilligendem Gesicht. 

„Niemand ist sicher“, sagt sie wütend und wahrere Worte gibt es nicht. 

Leos schmerzender Körper und seine schreiende Seele stimmen ihr zu. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 8: Die Notwendigkeit der Qual

Notes:

Einen schönen guten Abend euch!

Nach einem Abstecher in die Welt des Fluffs geht es nun wieder in die dunkle Welt von Leos Leben in Gilead. Für diesen Teil gibt es Triggerwarnungen: Selbstverletzendes Verhalten, Folter, Körperverletzung.

Vielen herzlichen Dank euch für eure Kommentare, Kudos, Klicks und Sprachnachrichten. ♥️🤗Viel Spaß euch mit dem neuen Teil!

Chapter Text

 

Wie tief Leo sich in seinen Gefühlen befindet und wie sehr sie außer Kontrolle geraten, wenn er Adam vor sich hat, wird ihm mit einem eiskalten Schauer bewusst, während er mit Adam zählt, um diesen aus seiner Panikattacke zu lösen. 

Die Männer in Rot sind traumatisiert, das weiß Leo nur zu gut. Er kennt jede einzelne Abhandlung über die seelischen und geistigen Auswirkungen, die das sogenannte Training auf die gefangenen Männer hat. Er weiß, was Strenge und Grausamkeit triggern können und es jetzt vor sich zu sehen, dringt so leicht durch seine Mauer aus Distanz, dass Leo von der Faust, die seinen Magen zusammenpresst und nicht mehr gehen lassen will, doch überrascht ist. 
Adam ist nicht der erste Mann, der in seinem Haushalt mit den Folgen der Folter zu kämpfen hat, aber der erste, bei dem Leo seine Kommandantenpersona hinten anstellt, um Trost zu spenden und von Mensch zu Mensch zu sprechen.  

Jedes Wort, das seinen Mund verlässt, tut Leo leid. Die Ankündigung von Empfängen, in denen die Grausamkeit gegenüber Mägden besonders hervorgehoben wird. Oder von Einkaufsrunden. Es gibt Männer, die freuen sich über die kurzen Runden, die sie außerhalb der Haushalte drehen dürfen. Es gibt aber genauso viele Männer, denen die dauerhafte Gefangenschaft eine Angst vor weiten Flächen eingebrannt hat. Vor einer Freiheit, die früher vollkommen normal für sie gewesen ist.

Von Król weiß Leo, dass es in seinem Land spezielle Programme für die Männer in Rot gibt, Therapien, die auf die Behandlung dieser Angststörung ausgelegt sind. Auch. Sie sind auf jedes Trauma ausgelegt, das die geflohenen Männer mit sich bringen. Das ist gut, nur jetzt, hier, hilft es weder Adam noch Leo. So presst Leo den Mann, der gerade noch geglaubt hat zu ersticken, unbeholfen an sich, will Wärme, Nähe und Schutz demonstrieren. 

Du zwingst dich ihm auf, er will es gar nicht, flüstert eine gehässige Stimme und Leo ist kurz davor, Adam los zu lassen, als dieser sich entspannt, weich und nachgiebig wird. 

Das ändert an seiner eigenen Unfähigkeit, seine Gefühle hinter der Mauer zusammen zu pferchen und sie nicht sein Handeln beeinflussen zu lassen, gar nichts und in diesem Moment stellt sich Leo alle Fragen, die er sich nie stellen sollte. Wie stark Adam unter den Kommandanten vor ihm gelitten hat. Was sie ihm über das Offensichtliche hinaus angetan haben. Wie traumatisiert er ist.

Leo schreibt es auch seiner Angst um Esther zu, deren Leben von Minute zu Minute mehr am seidenen Faden hängt, auch wenn Maik ein Auge auf sie haben wird. Hier ist nichts mehr so, wie sie es in den letzten Monaten und Jahren ertragen konnten. Alles ist durcheinander und sie alle sind gefährdet. 

Das brandheiße Spiel, das sie spielen, verbrennt sie langsam. 


~~**~~


Maik hält Wort, doch Esther kommt unvollständig zurück. 

Sie haben sie so sehr gefoltert, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Sie haben ihr den kleinen Finger amputiert und ihr gedroht, ihr alle Finger abzuschneiden und sie in ein Jezebels zu stecken, wenn sie ihnen nicht die Wahrheit sagt. 

Pia weint, während Esther ihnen haarklein darlegt, was die Augen ihr angetan und was sie sie gefragt haben. Leos Kopf droht zu zerspringen – vor Wut auf Maik und seine Gnadenlosigkeit. Natürlich, sie müssten die Scharade weiter spielen, aber das hier…das…

Esther schwankt, verliert fast das Bewusstsein und Leo befiehlt sie ins Bett. Sie zuckt bei seinem strengen Ton zusammen und Leo tut augenblicklich leid, was er nicht bedacht hat. Pia hilft ihr hoch, doch bevor sie sich aus dem Keller bringen kann, zwingt Esther sie noch einmal, ihr beim Umdrehen zu helfen. 

„Wir gehen, Leo. Wir verlassen Gilead. Sie sind uns auf der Spur und wir dürfen nicht alles leichtfertig riskieren, um weiter zu machen, nur um schlussendlich an der Mauer zu landen. Das ist es nicht wert. Nicht mehr. Nicht nach all den Leben, die wir gerettet haben.“

Leo will widersprechen, aufbegehren. Er will sagen, dass das alles obsolet macht, was sie bisher erreicht haben. Er will fragen, was mit all denen ist, die sie noch retten können. Nichts davon fragt oder sagt er und gibt Esther somit den Nährboden, eine Entscheidung zu treffen. 

„Wenn, dann nehmen wir so viele Unschuldige und Gequälte mit, wie wir können“, sagt er im Angesicht ihrer Wut seinerseits grimmig. „Ich möchte niemanden im Stich lassen.“

Schon gar nicht Adam, ergänzt eine leise Stimme in seinem Inneren, die schmerzt und zieht und die noch ganz andere Dinge fühlt, von denen Leo geglaubt hat, dass sie tot sind. 


~~**~~


Leo springt von Kellergespräch zu Kellergespräch. Bei sich, im Raczek-Haushalt, in näherer Zukunft werden sie sich noch außerhalb der Stadt in einem der stillgelegten Bunker treffen. Sie alle. Denn sie müssen das besprechen, was kommen wird. Sie müssen sich rüsten für den Kampf, vielleicht sogar den finalen Kampf.

„Du wirst ihn nicht anrühren. Du wirst ihn mit Respekt behandeln. Du wirst ihn begleiten und unterstützen und ihn nicht fertig machen, hast du mich verstanden?“ Leo verschränkt seine Arme und knirscht mit den Zähnen, als Robert zynisch wie arrogant lächelt, ihn von oben bis unten mustert. 

Leo sitzt, Robert steht, das müssen sie ihm zugestehen nach allem, was er durchleidet. Er braucht das Gefühl, das Ruder in der Hand zu haben. Kontrolle auch über Kommandanten. Das hat nichts mit ihrer Entscheidungsfindung zu tun, aber viel damit, Robert die Kontrolle über sein Leben zu geben. Fast täglich geht er hier in diesem Haushalt Adam an und Adam giftet zurück…zum Leidwesen von Henny und Eva, die nur noch mit den Augen über Kommandanten Raczek und seinen Mann in Rot rollen.   

„Süß, so besorgt um deine Magd? Was ist los, ist herzlos-Hölzer tatsächlich ein Herz gewachsen?“, giftet Robert zurück und Leo starrt ihm wütend ins Gesicht. 

„Ich kenne dich, Robert, und ich weiß, was für einen Spaß du dir daraus machst, sie über die Klippe zu stoßen, um zu provozieren. Aber lass ihn in Ruhe, ihm geht es nicht gut.“

„…im Gegensatz zu uns anderen Mägden, na sowas. Uns geht es ja blendend.“ Beißender Zynismus gräbt sich in Leos Gehörgänge und er seufzt. Stellt seine eigene Wut zurück. Lässt Robert Raum und den Sieg. 

„Ich spreche von Agoraphobie und ich erwarte, dass du ihm unter die Arme greifst, ihn nicht fertig machst und ihn auf der Straße zusammenbrechen lässt“, entgegnet Leo einen Moment lang zu sehr in seiner Kommandantenrolle, als dass Robert nicht darauf reagieren würde. Er senkt den Blick und reißt dann doch den Kopf wieder hoch, knurrend wie ein wildes Tier. 

„Als wenn ich nicht wüsste, was die psychischen Folgen einer dauerhaften Inhaftierung sind, Hölzer. Mehr als du, der sich in seinem feinen schwarzen Anzug den Arsch nachtragen lässt. Sperr die Ohren auf. Was ich mit ihm mache, ist meine Sache, klar?“, kommt wenig überraschend sturer Widerstand und erst Hennys leises Seufzen mindert die Spannung im Keller. 

„Robert“, mahnt sie sanft und eine Löwendompteurin könnte nicht weniger Erfolg haben, ihn durchatmen zu lassen. Einmal, zweimal, ein drittes Mal, bevor er die Arme vor seiner Brust verschränkt und mit einem letzten, tiefen Atemzug die Spannung aus seinem Körper wegatmet.

„Leo macht sich nur Sorgen“, lenkt sie für alle Anwesenden im Raum ein und Leo ist wirklich dankbar darum. 

„Überraschenderweise.“

Ertappt fokussiert Leo sich auf die Tischplatte. Was soll er auch sagen? Auch jetzt noch ist die Barriere zwischen ihm und seinen Gefühlen dünn und er schier unstet. Er achtet darauf, dass Adam genug isst, er achtet auf die Anzeichen von Angst, er beobachtet und ist darauf bedacht, den Gedanken des Ermittlers genug Nahrung zu geben, während er im Hinterkopf fortwährend Angst hat, dass dieser sich doch vielleicht umbringt. 

Robert seufzt schließlich und rollt mit den Augen. „Na gut, ich werde den Kleinen mit Samthandschuhen anfassen.“

Leo hofft, dass er sein Versprechen auch halten wird.


~~**~~


Tut er nicht, auch wenn Leo dafür handfeste Beweise fehlen. Einen Verdacht hat er, da Adam ihn an dem Abend aus großen Augen anschaut, immer wenn er glaubt, dass Leo nicht hdinsieht. Wenn Leo dann doch hinsieht, wendet er ruckartig seinen Blick ab. Sein ganzer Körper vibriert vor nervöser, unsteter Energie, wie sie nur Robert hervorruft.

„Wie war es mit…Desadam?“, fragt Leo schließlich leise und der Name kommt ihm nur stockend über die Lippen. Am Liebsten möchte er das Präfix weglassen, Robert Robert und Adam wieder und wieder bei seinem richtigen Namen nennen. Der Drang ist da, stärker als jemals zuvor. Er verbietet es sich. Diese Barriere zu überschreiten, wird nicht gut für ihn sein. 

Ertappt sieht der reale Adam hoch, mustert ihn nervös und schluckt ein paar Mal. „Gut“, haucht er und das Wort flüchtet mehr, als es im Raum steht. Die langen Finger können gar nicht mehr aufhören, die Buchstaben auf dem Schieber umzusortieren und Adam räuspert sich leise. Leo beobachtet ihn dabei, obwohl er weiß, dass je eher er seine Augen abwendet und je eher er sich ihrem Spiel zuwendet, er umso eher das warme Kribbeln im Magen loswird. 

„Er war nett…nein fromm. Unter seinem Auge, er war fromm. Eine fromme Magd“, fällt Adam hastig in alte Verhaltensmuster zurück, ohne, dass er es wirklich bemerkt. Es schmerzt Leo so sehr, dass er kurz durchatmen muss. Die strahlend blauen Augen vermeiden jeden Kontakt, als wäre das, was er gesagt hat, nicht okay. Und ist es nicht so? Wehe, es entwickeln sich Freundschaften unter den Männern in Rot. Diese werden aus Sorge vor Widerstand sofort und gnadenlos niedergeschlagen. Auch Einsamkeit ist eine Form der Folter. 

Aber eine Lüge ist das, was Adam gesagt hat, auf jeden Fall, denn Robert ist weder nett noch fromm.

„Es ist in Ordnung. Du kannst ehrlich sein.“

Adam löst sich langsam aus seiner Nervosität und sein Gesicht verzieht sich innerhalb von Sekundenbruchteilen leidend. Gepeinigt und voller hilfloser Verzweiflung sieht er Leo an, schürzt die Lippen. 

„Muss ich wirklich öfter mit ihm laufen?“, fragt er mit einem leicht weinerlichen Einschlag und Leo räuspert sich vernehmlich, nimmt einen Übersprungshandlungsschluck Limonade um sein Lächeln zu verbergen. Robert Karow hat diesen Effekt. Auf alle. Und auch wenn er ein ernstes Wort mit ihm sprechen wird, was er getan hat, so scheint Adam doch im Groben unversehrt zu sein. 

„Ich fürchte ja“, sagt er leise und schenkt Adam mir einem entschuldigenden Lächeln nach. Kurz erhascht er einen Blick auf Adams Lippen, die für den Bruchteil einer Sekunde zu einem Schmollen zusammengezogen sind. 

Es ist derart losgelöst und frei, so unbedacht und instinktiv, dass es Leos Herz in Aufruhr versetzt. 


~~**~~


Der erste, notwendige Empfang kommt und Leo hat mit Adam Raczek ausgemacht, dass sie beide ein besonderes Auge auf den Mann in Rot haben, der die anwesenden Kommandanten alleine bedienen muss. 

Sie trinken Alkohol, lachen, sind fröhlich, glauben eine Gemeinschaft zu sein – alles, was Männern wie Adam versagt wird und für das Männer wie Adam bestrafen werden. 

Leo ist so wütend wie selten zuvor und er kanalisiert das in fanatische Strenge. Er erträgt das Geschwätz der Männer mit eisern zusammengeballtem Kiefer und strengen Kommentaren. Sie übertreffen sich mit Erzählungen über die Gewalt, die sie den Männern in Rot antun, die ihrer Gewalt hilflos ausgeliefert sind. Am Schlimmsten ist Weniger, der queere Männer nicht nur hasst, sondern sie auch noch bewusst und sadistisch quält. Er hat Gilead schon immer als dankbare Möglichkeit genommen, seinem Hass auf alles Andersartige ein Ventil zu geben. 

Leo ist schlecht, als sie über ihn und Adam sprechen, sich darüber auslassen, wie gut er ihn erzogen und eingeritten hat. Brennend heller Hass reckt sein hässliches Haupt in Leo. Er wird sie alle vernichten, beschließt er. Jeden einzelnen in diesem Raum hier. Alle bis auf Adam, der seine Tarnung aufrecht erhält mit Lügen, die sie haben verbreiten lassen. Adam, der mutig und störrisch mit ihm auf der Seite des Widerstands steht. 

„Ich habe gehört, du schlägst ihn regelmäßig um ihn daran zu erinnern“, schmunzelt dieser und nippt an seinem Drink. „Und holst die Onkel. Hält ihn sicherlich auf Spur.“

Das Körnchen Wahrheit, das in dieser Aussage steckt, hilft, seinen drakonischen Ruf zu untermauern, was wichtig ist nach seiner Inhaftierung. Seine Kommandanten müssen glauben, dass er vollkommen linientreu und loyal ist. Leo klammert sich an die Gewissheit, dass nichts ferner der Realität ist als das.

„Natürlich hast du dafür gesorgt, Hölzer. Du hast dich doch damals dafür ausgesprochen, dass sie die Mägde in den Roten Zentren so hart rannehmen, dass es ihnen in unseren Haushalten wie eine Erlösung erscheint und sie brav und fromm spuren.“
Weniger ergötzt sich darin, was Leo getan hat, womit er sich seine Position in den guten Gnaden des Großkommandanten erarbeitet hat. Es ist widerlich und das Leid, das er Männern wie Adam dadurch gebracht hat, ist ein schweres Gewicht um seinen Hals, das ihn, sobald er sich einer fairen und menschlichen Gerichtsbarkeit stellt, den Kopf kosten wird. Im wahrsten Sinn des Wortes. 

Leo lächelt mit gespielter Zufriedenheit, während sein Inneres abrupt erkaltet und einsam wird. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtet er Adam, der unmerklich zusammenzuckt, während er sie bedienen muss. Was er aus diesen Informationen machen wird, kann sich Leo denken. Adam ist kein gedankenloser, gebrochener Mann. Nicht mehr. Er ist Ermittler, er wird die richtigen Schlüsse ziehen. 

Er wird von dem Monster des Kommandanten zum Monster eines Sadisten werden, jemand, der für alles Leid verantwortlich ist, das Adam jemals widerfahren ist.  

Mit Recht.

Leo ist dieses Monster und kann nur versuchen, einen Bruchteil des Schadens, den er mit seiner Tarnung angerichtet hat, wieder gut zu machen. 

Währenddessen machen die schwarz gekleideten Männer im Raum sich über das Leid der Mägde lustig und Weniger protzt mit seinem Elektrostab, den er sich zugelegt hat. Er protzt mit der Folter, der er seinen Gefangenen unterzieht und fordert schlussendlich mehr Alkohol, weil sein Mund von seinen schändlichen Worten so trocken ist. Adam gehorcht und verliert in dem Moment, in dem Weniger den Stock scharf schaltet, den Griff um die Karaffe Whiskey. Der Inhalt ergießt sich über Wenigers Hose und Leo zuckt ob des Schreis, der den Mann in schwarz verlässt. 

Wütend springt Weniger auf und Adam taumelt erschrocken nach hinten. Das schützt ihn nicht vor Wenigers Wut, der Adam mit voller Wucht ins Gesicht schlägt. Wie in Zeitlupe beobachtet Leo die Katastrophe, weiß, dass er noch nicht eingreifen darf. Ein Schlag ins Gesicht ist Normalität. Weniger hat auch in Leos Haushalt das Recht dazu. 

Adam fällt zu Boden und Weniger setzt nach, tritt ihm in den Bauch. Erst jetzt reagiert Leo, erhebt sich ruckartig. Ein Tritt in den Bauch kann gefährlich sein. Hier darf er endlich eingreifen. 

„Weniger, hör auf!“, donnert er, bevor dieser den Elektroschocker nehmen und Adam damit foltern kann. Aber auch beevor Leo, um Adam zu schützen, Weniger umbringt, indem er ihn solange prügelt, bis sein Kopf nur noch ein blutiger Brei ist. 

„Dieser tumbe Idiot hat mir Alkohol über den Anzug gegossen. Er verdient die Strafe, Hölzer.“

Nein, das tut er nicht, gellt es in Leo. Adam ist weder ein tumber Idiot noch verdient er für irgendetwas eine Strafe. Er ist ein Mensch. Mit Wut, die Weniger gilt, starrt Leo auf Adams zusammengekauerte, angsterfüllte Gestalt auf dem Boden. Er muss den Schein aufrecht erhalten. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. 

„Ja, aber die Magd gehört mir. Ich strafe sie“, sagt er leise, mit so viel Verachtung in der Stimme, wie er aufbringen kann. 

Es vergeht eine Sekunde, bis ihm bewusst wird, was von ihm verlangt wird zu tun. Er hat angekündigt, dass er maßregeln wird. Er muss seinen Worten Taten folgen lassen. Leo ist so übel, dass er sich am Liebsten übergeben möchte.  

Er hat keine Wahl. 

Ich bin ein Monster, aber ich bin ein Monster, das versucht, dich zu retten, sagt er stumm zu dem Mann, den er in seinen Armen gehalten hat. Dem er versucht möglichst wenig weh zu tun. Den er im Schlaf gehalten hat. 

Leo packt Adam am Nacken und beugt sich zu ihm hinunter, hält ihn unten, bevor er sich wieder erheben kann. 

Adam bleibt stumm, sieht ihn nicht an, den Fehler macht er nicht. Leo ist dankbar darum. 

„Auf dein Zimmer, Magd. Du wartest dort, bis ich gleich zu dir komme.“ Es ist die einzige Möglichkeit, Adam den Augen des Raumes zu entziehen und zu verhindern, dass er direkt Gewalt ausüben muss. 

Der Mann zittert, im ersten Moment unfähig zu reagieren. Er wird Opfer seiner lähmenden Angst, das sieht Leo nur zu gut. 

„Habe ich mich unklar ausgedrückt?“, knurrt Leo scheinbar unerfreut. „Auf dein Zimmer, sofort. Für jede Sekunde, die du trödelst, wird es einen Schlag mehr geben, Magd.“

Wird es nicht, aber es ist eine notwendige Tarnung, notwendige Grausamkeit. Doch Adam glaubt sie ihm, wenn Leo der Anspannung unter seinen Fingern glauben kann. Als Leo seinen Griff lockert, kämpft er sich mit fest zu Boden gerichtetem Blick hoch. Er schwankt und taumelt aus dem Raum heraus, sobald er in der Lage ist zu gehen. 

Leo dreht sich ebenfalls um und sieht zu seinem Fahrer, der bislang stumm am Eingang gewartet hat. „Moritz, bringe die Magd nach oben und bewache ihn. Niemand wird das Zimmer verlassen oder betreten, verstanden“, befiehlt Leo und zementiert damit Adams Schutz. 

Als Weniger ihm süffisant mit einem herausfordernden Grinsen den Elektroschocker hinhält, schnaubt Leo verächtlich. 

„Tiere wie das da gehören erzogen. Und es ist die einzige Sprache, die diese widerlichen Samenspender verstehen. Na los“, fordert Weniger ihn heraus und am Liebsten würde Leo ihm den Stock so tief in den Rachen stecken, dass er daran erstickt, während er ihn schockt. Und schockt. Und schockt. 

Der Mann, der er sein muss, nimmt den Stock und betrachtet ihn nachdenklich. Er probiert ihn aus, als würde er zum ersten Mal damit umgehen. Leo sieht hoch und bemüht sich um grimmige Frömmigkeit. 

„Ich bitte um Entschuldigung, meine Herren. Ich muss Erziehungsarbeit leisten. Adam, du übernimmst.“ Pass auf, dass keines der Arschlöcher einen Schritt zu weit geht, steht als stumme Bitte in Leos Augen, während er mit dem Stock nach oben geht. 


~~**~~


Auf Adams bleichem Gesicht steht nackte Angst. 

Leo hat diese Angst vorher schon gesehen…in der Anspannung von Adams Schultern, in der Art, wie sich seine Augen geweitet haben, während er fromm den Blick gesenkt gehalten hat. Er hat sie in der Art, wie Adam seine Finger geknetet hat, gesehen. 

Jetzt steht sie direkt und leuchtend in Adams blauen Augen und auf dem gefällig modellierten Gesicht. Sie macht ihn blass und unstet, manifestiert sich in seinem ganzen Körper, mit dem er nun zurückweicht. 

Vor Leo. Vor dem Monster, das Leo ist. Vor dem Stock in Leos Hand.

Es ist die Angst, dass Leo seine Drohung von unten wahrmacht, weil er derjenige ist, der dafür gesorgt hat, dass die Männer in Rot gefoltert werden. Und nicht nur deswegen. Weil Leo schwarz trägt und ihm somit alles antun kann, was seine Zeugungsfähigkeit nicht beeinträchtigt.

Adam weicht panisch vor ihm zurück, als Leo auf ihn zukommt und es ist so menschlich, so weit ab vom Training der Mägde, dass Leo an Ort und Stelle einfriert. 

Er schluckt schwer. „Der Stock ist nicht für dich, Adam. Ich musste ihn mitnehmen. Weniger wollte es so und ich konnte nicht ablehnen ohne nicht der zu sein, der ich sein muss.“

Es scheint, dass die Sanftheit in Leos Stimme Adam zumindest soweit beruhigt, dass er den Stock auf den Boden legen kann ohne eine weitere Fluchtreaktion hervorzurufen und seine Hände in nicht bedrohlicher Art vor sich ausstreckt. Viel Zeit hat er nicht, Adam zu erklären, was er beabsichtigt zu tun, ihn zusätzlich noch aus seiner Angst zu lösen und ihn davon zu überzeugen, dass er ihm nichts tun wird. 

Es sieht nicht gut aus, denn Adam senkt seinen Blick in Richtung Boden, fällt in ihn gefolterte Verhaltensmuster. Er weicht nicht zurück, als Leo seinen Oberarm umfasst, sondern bleibt in der demütigen Pose der Mägde, die jede Gewalt der Kommandanten akzeptieren und als eigene Schuld begreifen. 

Das Zucken unter Leos Fingern verbrennt ihn deshalb tausendfach. 

„Adam, hör mir zu“, flüstert er verschwörerisch und sie sind sich so nahe, dass er Adams Wärme spüren kann. Adam selbst erwidert nichts, er verkrampft sich und presst die Lider aufeinander, als könne er so die brutale Gewalt verhindern, die in seinen Augen vermutlich auf ihn zukommt. 

Leo schluckt schwer. Es scheint, als wären all die Fortschritte, die Adam in den letzten Wochen gemacht hat, weg. Als hätte er Leo niemals einen Einblick in sein eigentliches Innerstes gewährt. 

„Adam, ich werde dir nichts tun. Ich werde nicht Hand an dich legen und wenn sie weg sind, werde ich mich um dich kümmern. Jetzt kann ich es nicht, weil ich keine Zeit dazu habe und meinen Ruf als drakonischer Kommandant aufrechterhalten muss. Ich habe aber einen Plan, wie das funktionieren wird“, flüstert er beschwörend, aus Angst, dass jemand zuhören könnte und alles auffliegt. Jetzt, in dieser Situation. 

„Sie haben die Roten Zentren für uns schlimm gemacht“, flüstert Adam rau, fast unhörbar, als wenn er seine Worte nicht gehört hätte. „Sie sind für die Folter und für die Grausamkeit verantwortlich.“

Wahre Worte und Leo weicht zurück unter der damit verbundenen Schuld. Liebend gerne würde er sich hier und jetzt schuldig bekennen und Adam alles offenbaren. Aber sie haben die Zeit nicht. Mehrfach versucht Leo Worte zu finden, doch sie verdorren in seiner Kehle angesichts der Angst, aber auch Enttäuschung, die er auf Adams Gesicht stehen sieht. Schlimmer als es jede Anklage sein wird.  

„Ja, das bin ich“, sagt Leo schließlich schlicht und er bedauert, dass er das tun musste, was er getan hat. Er trauert um die Männer, die so sind wie er, dass sie leiden müssen für das, was sie sind. 

„Und Sie ergötzen sich daran, den Retter zu spielen, kaum dass eine Magd bei Ihnen ist. Um als gut dazustehen. Deswegen auch die ganzen Freiheiten und Annehmlichkeiten. Deswegen Ihr Widerstand gegen Onkel Boris. Deswegen die Gewaltlosigkeit. War das alles gelogen? Auch…Vincent? Lebt er gar nicht? War es nur ein Spiel?“ 

Adams Vorwürfe gehen noch weiter und Leo erkennt verzweifelt, dass er sie nicht so im Raum stehen lassen kann. Er ist so nicht, nicht, wie Adam es ihm gerade vorwirft. Seine Gedankengänge sind berechtigt, aber das ist Leo nicht. Und dass Vincent gar nicht mehr lebt…

Erstickt keucht Leo auf und Entsetzen löscht jeden anderen Gedanken aus. 

„Das stimmt nicht“, bringt er schließlich hervor und hofft beinahe kindlich, dass es reicht. Das tut es nicht, deswegen schluckt Leo mühevoll gegen seine enge Kehle an. „Das stimmt nicht, aber ich habe keine Zeit, dir das jetzt zu erklären. Ich würde nichts lieber machen als das, aber das müssen wir auf später verschieben. Ich verspreche dir, dass wir heute noch darüber sprechen werden. Aber jetzt erwarten die Kommandanten, dass ich dich strafe für das, was du getan hast. Und ich muss ihnen diese Show geben.“

Entschlossen tritt Leo zurück, wieder einen Schritt näher zu dem Stock. Er löst sein Jackett von seinen Schultern, zieht Hemd und Krawatte aus. Nach kurzen Überlegungen zerrt er auch das Unterhemd von seinem Körper. 

Adam starrt ihn an, als wäre er ein Alien, aber wenigstens schweigt seine Angst gerade. Wenigstens das. 

„Kannst du schauspielern?“, fragt Leo und bekommt gar keine Antwort, so perplex ist Adam. Leo würde es ihm gerne erklären, würde gerne ausführlicher sein und den Plan besprechen…aber ihm läuft die Zeit davon. 

„Du musst schreien. Ganz laut. Du musst um Gnade flehen, während ich…“ Er hebt den Stock auf und die Angst kommt zurück. Adam wimmert, fürchtet sich davor, dass ihm etwas geschieht. Aber Leo ist weit davon entfernt, ihm wehzutun. 

„Immer, wenn ich mich schocke schreist du. Wenn ich aufhöre, flehst du. Erst lauter, dann leiser…zum Schluss sagst du gar nichts mehr. Bekommst du das hin?“, fragt er, als würde er Adams Unwohlsein nicht wahrnehmen. 

„Habe ich eine Wahl?“, krächzt er schließlich und Leo will ihm ein Nein ins Gesicht schreien. Anstelle dessen wird er hart und unnachgiebig. Nein, die hat Adam nicht, hier muss er gehorchen. Leo packt den Stock enger.

„Nein, hast du nicht. Dich zu verletzen, steht nicht zur Diskussion. Ich werde dir keine Schmerzen zufügen, aber Weniger muss ein Ergebnis sehen. Er muss riechen können, dass ich menschliches Fleisch mit seinem verfluchten Stock verbrannt habe. Also wird es mein Fleisch sein. Es gibt keine andere Möglichkeit als diese. Also, kannst du es?“

Quälende Sekunden vergehen, bis Adam nickt. Vorsichtig. Zurückhaltend. Ungläubig. Leo hofft, dass er begreift, was für sie alle hier auf dem Spiel steht und warum Leo das tut, was er tun wird. 

„Ich denke schon“, sagt er unsicher und Leo atmet tief durch. Schon wieder die quälenden Schmerzen der Stromstöße zu spüren ist nichts, was er geplant hat, aber etwas, das er liebend gerne für Adams Unversehrtheit in Kauf nimmt. Kein Leid soll ihm mehr geschehen, nicht mehr, als er durch Leos Entscheidungen und Taten schon erlitten hat. 

„Dann los.“ 

Leo bereitet sich vor, ist jedoch nicht im Geringsten darauf vorbereitet, wie panisch sein eigenes Schmerzgedächtnis ist. Er presst verzweifelt seine Lippen aufeinander, während Adam schreit. Und mit ihm Rainer. Rainer, der durch Adam lebt, schreit. Wegen Leo und Leo foltert sich selbst, körperlich, geistig, emotional. Er hört Adam und Rainer schreien und büßt sechszehn Mal dafür, was er alles verbrochen hat. Er büßt für das Monster, das er ist. 

Adam schreit für ihn und Leo schockt sich in die Beinahebewusstlosigkeit. 

Als er schließlich aufhört und schweratmend auf dem Boden kniet, presst er seine Stirn in die harten Dielen, versucht zu atmen, versucht sich bewusst zu werden, dass es zwar vorbei ist, er nun aber nach unten muss ohne sich etwas anmerken zu lassen, ganz der fanatische Kommandant, der er ist. 

Er muss aufstehen, aber kann es nicht. Er muss den Schein waren, würde sich gerade aber am Liebsten hinlegen und dem tobenden Schmerz seines Körpers lauschen. Er würde Adam sein gesamtes Herz ausschütten und ihm bestätigen, was für ein Monster er ist. Aber dass er sich niemals jemals daran aufgegeilt hat, Mägde vor den Roten Zentren zu retten. 

Adam sagt nichts, bewegt sich nicht und so findet Leo schlussendlich die Kraft, sich erst im Knien aufzurichten und dann sich mit Hilfe der Bettkante hochzuziehen. Er schwankt und stürzt beinahe, was sein Vorhaben, nach unten zu gehen, beinahe unmöglich macht. 

„Hilf mir ins Bad“, flüstert Leo so leise, dass er sich nicht sicher ist, ob Adam ihn gehört hat. 

Er hat, rührt sich aber in den ersten Sekunden nicht von der Stelle. Als Leo sich vom Bett abstößt, weil er glaubt, es alleine machen zu müssen, greift er ihm unter den Arm und führt ihn langsam in den angrenzenden Raum. 

Bei allem, was an Chaos in Leo vorherrscht…er freut sich, dass er in Adams Griff den Griff eines Polizisten wiedererkennt. Fest und bestimmt. 

Leo dreht mit schlotternden Händen das Wasser auf und klammert sich am Waschbecken fest, um sich aufrecht zu halten. Er sieht, wie Adam stumm hinter ihm steht und ihn nicht aus den Augen lässt. Er ist kalkweiß im Gesicht, die blauen Augen weit und erschrocken, immer noch ungläubig, dass er gerade nicht gefoltert worden ist. Vorsicht prägt Adams gesamte Haltung, weil er nicht weiß, was er aus Leos Verhalten machen soll. 

Unbeholfen schaufelt Leo sich das kalte Wasser in den Mund und gurgelt damit, spuckt es aus. Er wiederholt es solange, bis sein Kreislauf sich soweit beruhigt hat, dass er sich langsam aufrichten und umdrehen kann. 

Adam steht wie eine Salzsäule hinter ihm und sein Blick huscht über Leos Oberkörper, der wie Hölle brennt. 

„Ich habe jedes einzelne Mal davon verdient“, murmelt Leo leise und atmet tief durch. Er schließt die Augen, aber dadurch wird der Schwindel zu groß, also reißt er sie wieder auf. Unsicher dreht er sich schließlich um und tritt langsam an Adam vorbei, geht zurück in die Schlafkammer. Wie ein alter Mann greift er seine Sachen und zieht sich wieder an, macht sich repräsentabel. Gibt sich den Anschein eines Mannes, der er nicht ist. 

Adam steht im Durchgang zu seinem Bad und beobachtet ihn, als würde Leo gleich losschlagen. Schutzsuchend hat er seine Arme um sich geschlungen. 

„Bleib hier oben und mache keinen Mucks. Ich werde ihnen verkaufen, dass du zu schwach warst, der gerechten Bestrafung stand zu halten, das wird sie davon abbringen, deine Anwesenheit zu fordern.“ Leo greift sich den Stab, an dem seine verbrannte Haut klebt und geht ohne eine Antwort abzuwarten wieder nach unten. 

Er nimmt Stufe um Stufe um Stufe mit Qualen, die nichts im Vergleich zu Adams Leid sind. Oder das dem der anderen Männer in Rot, die er verraten hat. 

 

~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

Chapter 9: Die Wahl der Schuld

Notes:

Hallo und guten Abend zusammen,

hier nun der neue Teil zu den Farben! Viel Spaß beim Lesen euch!

Vielen lieben Dank fürs Lesen, Kommentieren, Kudotieren und Klicken! Für die Nachrichten außerhalb von AO3 und die Sprachnachrichten. ❤️🌻

Chapter Text

 

Leo kämpft mit jedem Schritt gegen seinen Schwindel und gegen die Schmerzen. Er kämpft gegen seine Angst, die er im Befragungsraum der Augen jede Sekunde gefühlt hat, dass sie nun aufgeflogen sind. 

Jetzt sitzt er wieder im Sattel, fest, aber noch nicht zu hundert Prozent, und seine Gefühle wollen sich nicht so recht zurückschieben lassen.  
 
Leo lächelt, auch wenn er schreien möchte. Er wirft Weniger den Stock auf den Schoß und hebt vielsagend die Augenbrauen. Keiner durchschaut ihn bis auf Adam, der unweit sitzt und ihn eine Sekunde zu lang mustert und sich dann wieder seinem Whiskey widmet. Er schenkt Leo auch einen ein und dann noch einen. Einen dritten, damit Leo den Schmerz auf seinem Körper betäuben kann, während er den grausamen Kommandanten in Worten mimt. 

Der Abend ist eine reine Qual, körperlich und emotional, und als die Kommandanten gehen, steht Leo mitten im Empfangsraum und weiß nicht weiter. Er steht hier, ist erkannt und weiß, dass das, was er sich eingeredet hat, nun für immer zerbrochen ist. Er ist für Adam nicht mehr nur ein schlimmer Kommandant, der ihm Gutes tut. Er ist für ihn der Architekt seiner Folter, was als solches unverzeihlich ist. Nicht mehr wieder gut zu machen. Es ist eine Schuld, die in Leo brennt und die ihn immer zu einem schlimmen Menschen machen wird. 

Er lässt Adam holen, um das Pflaster über der eiternden Wunde abzureißen und sich dessen Wut und Hass zu stellen. 

Er setzt sich, weil ihm so schwindelig vor Angst vor dem kommenden Gespräch und dem Hass ist. Das Einzige, was Leo weiß, ist, dass egal, wie groß Adams Hass auf ihn ist, er ihm weiterhin jeden Schutz bieten wird, den er aufbringen kann. Auch wenn das bedeutet, dass er Adam zur Sicherheit zwingen werden wird. Solange, bis er ihn außer Landes schaffen kann. 

Die Tür geht auf und Leo starrt den Mann an, dessen Angst und Wut sich zusammen mit dem Elektroschocker unter seine Haut gebrannt haben. Leo schmerzt, durch und durch. Er wartet auf seinen Richter und Henker und kann doch nicht aus seiner Haut. 

Adam auch nicht, denn er gehorcht, auch jetzt noch. Er schreit ihn nicht an, bleibt in der anerzwungenen Haltung. Es ist nicht alleine Leos Schuld, das weiß er, aber er hat einen maßgeblichen, einen erheblichen Anteil daran. Die Schuld verbrennt ihn innerlich, nicht nur heute, sondern jeden Tag. Nur heute verzehrt sie ihn auch, heute kann er sie nicht in die Dunkelheit seines menschlichen Abgrunds zurückschieben.

Leo beginnt zu erzählen und es ist eher Geständnis denn Informationsweitergabe. Er gibt sich das schlimmste, aber auch das wahrste Antlitz. Den Widerstand darf er nicht erwähnen, dafür aber alles, was ihn zu einem Monster macht. 

Adam hört zu, verstört, wütend, angeekelt und jede der Mikroregungen im Gesicht des Mannes, der Leo und den anderen Kommandanten zu Willen sein muss, ist Bestätigung für Leos Suche…nein Wunsch nach Verdammnis. 

Um zu ertragen, was er tut, trinkt Leo mehr als in den letzten Monaten um das Schreien in seinem Inneren zu betäuben, aber auch um sich Mut zu machen, damit er Adam die hässliche Wahrheit ihres ersten Kennenlernens mitteilen kann. Er erzählt von seiner Position im Gesamtrat und beobachtet die Abscheu auf dem mittlerweile wohlmodellierten Gesicht, das damals so ausgemergelt gewesen ist. 

Leo nimmt wieder einen Schluck. Flüssiger Mut oder flüssige Dummheit, er weiß es nicht. 

„Wir waren mehrere Tage dort und haben gesehen, was sie euch antun. Dass sie euch zum stundenlangen Knien im Regen zwingen, wie sie Gruppenbestrafungen und Amputationen ausführen, wie sie euch beigebracht haben, dass ihr keinen anderen Wert außer dem eurer Zeugungskraft habt. Und dass sie diesen Raum haben, den stillen Raum. Vollkommen schallisoliert, ohne Licht, nur mit Fixierungen am Boden.“

Leo verstummt, weil er sich einfach nur übergeben möchte, wenn er daran denkt, was er mit angesehen hat. Sein Herz klopft wie wild, schlägt in einem ungesunden Tempo. Beinahe versagt ihm die Stimme, weil er auch jetzt schon ahnt, dass dies zu einem unreparierbaren Bruch führen wird…selbst unter ihren Umständen. 

„Sie haben uns einen Kandidaten vorgeführt, eine – wie sie sagten – störrische Magd. Ein Mann, der die Onkel beleidigt und bespuckt hat. Er hatte immer noch genug Kraft sich zu wehren, was als solches schon erstaunlich war. Bewundernswert, angesichts dessen, was er bereits durchlebt hatte. Und dann haben sie ihn dort festgekettet. Vier Stunden lang war er da drin und wir haben ihn mittels einer Nachtsichtkamera beobachtet, während wir Kaffee getrunken, Gebäck gegessen und uns über die Zukunft Gileads unterhalten haben, als würde er nicht da drin verrückt werden.“

Er erinnert sich noch an den widerwärtigen Geschmack des süßen Gebäcks und an die Bitterkeit des viel zu starken Kaffees. Er erinnert sich an die Magensäure, die ihm die ganze Zeit im Rachen gestanden hat. Er erinnert sich an jede Minute dieser vier Stunden, die sich so sehr in seine Erinnerungen gebrannt haben. 

„Als sie ihn herausgeholt haben, hatte er nur noch Angst und sein Widerstand war nicht mehr zu sehen. Nichts, kein einziger Funke. Ich wusste, dass der Mann gebrochen ist und ich wusste, dass dieser Mann es nicht schaffen würde. Ein widerlicher Teil von mir hat auch gesagt, dass es besser so ist für ihn. Ein Teil von mir schreit immer noch über diesen Gedanken, weil dort der Willen und das Leben eines Mannes vernichtet wurden.“

Leo hat noch lange von den vier Stunden und dem Anblick geträumt. Von dem Mann, dessen Geist ihn in seinem Schlaf heimsucht und ihn anklagt. In seinen Träumen ist Adam bleich und blutüberströmt gewesen. Ferner von seinem realen Anblick von vor ein paar Wochen hätte das nicht sein können. Ferner von dem Mann, der mehr und mehr unter der erzwungenen Schicht des Gehorsams hervorkommt und nicht gebrochen ist. 

„Zumindest dachte ich das bis vor kurzem. Denn der Mann, den ich damals dort gesehen habe, der bist du.“

Da ist er, der Todesstoß. In Erwartung eines hasserfüllten Urteils sieht Leo hoch, erträgt das Brennen der blauen Augen, die Verurteilung, die sich in jede Linie des markanten Gesichts gebrannt hat. 

„Du bist der Mann, Adam. Du hast überlebt, bis jetzt, und ja, ich will dir hier Schutz bieten. Nicht, weil ich mich daran aufgeile, dass ich dir hier ein gewaltfreieres Leben als in den Roten Zentren bieten kann. Oder weil ich mich als Retter aufspielen will. Ich bin kein Retter, ich bin ein Schuldiger. Ich bin mir meiner menschenverachtenden Taten bewusst und es wird mit Sicherheit eine Zeit geben, in der ich mich dafür verantworten werde. Ich habe nie gewollt, dass die Zeiten in den Roten Zentren zu einer Tortur für dich und die anderen, fruchtbaren Männer werden. Ich habe das nicht gewollt. Nie. Ich habe das hier nicht gewollt.“

So. Das ist sein Geständnis. Das, was nur die Verschwörer wissen, weiß nun auch Adam. Er kennt die Verbindung, die sie haben, die er nicht kennen konnte, weil sie immer einseitig gewesen ist. 

Leo stürzt ein ganzes Glas Alkohol hinunter, während Adam aufspringt und voller Ekel vor ihm zurückweicht. Natürlich, nichts anderes ist zu erwarten gewesen. Er ist aber auch widerwärtig. 

„Und deswegen haben Sie mich zwei Tage lang eingesperrt, ohne äußere Reize nur mit mir und meinen Gedanken und der kommenden Zeremonie, eben weil Sie das so sehr nicht gewollt haben“, stößt Adam hervor, wütend und hasserfüllt, aber auch verzweifelt. Er senkt seine Augen und Leo wünscht, er würde es nicht tun. „Weil ich Ihnen so leid getan habe, wie ich da drin gefoltert und verrückt geworden bin, während Sie Ihren Kaffee getrunken haben?“

Hat Leo vorher gedacht, dass es schlimm werden wird, so ist es nun unerträglich. Das Eine hat er getan und dazu steht er auch, das andere ist geschehen, ohne dass er es wusste und das darf nicht auch noch zwischen ihnen stehen. Abrupt erhebt er sich und kommt zu Adam, der mit Angst auf seinem Gesicht verharrt. Er erwartet Schläge, aber Leo wird das niemals tun. 

Niemals. 

Er hebt seine Hände und umfasst Adams Wangen sanft. Er will ihn beruhigen und ist doch so brutal naiv in seiner Annahme, dass Adam sich ausgerechnet von ihm beruhigen lässt. 

„Du solltest niemals dort oben alleine bleiben. Ohne etwas, das deinen Geist beschäftigt. Niemals“, beschwört er Adam, dessen Wut deutlich zwischen ihnen schwebt. 

„Aber eingesperrt. Wie ein brünftiges, wildes Tier.“ Adam flüstert und Leo zuckt zusammen. 

Niemals. Niemals niemals niemals!

„Zu dem Zeitpunkt mit dem Wissensstand musste es getan werden. Wegen meiner Gemahlin. Hätte ich vorher gewusst, dass du nicht…“ Leo versiegt, als er die grausame, egoistische Rechtfertigung in seinen Worten erkennt. 

Wild schüttelt Adam seinen Kopf und Leo kennt nur noch einen Gedanken. Er muss Adam davon überzeugen, dass er ihm hier nicht noch mehr Leid zufügen wollte als ohnehin schon. 

„Nichts von dem, was ich dir gesagt oder versprochen habe, ist eine Lüge, Adam. Und so halte ich es weiterhin“, beschwört er ihn und hält ihn sanft. Adam sieht ihm in die Augen und etwas in Leos Mimik lässt ihn kurz abkehren von seinem Hass. 

„Auch die Schläge? Für jede Sekunde, die ich zu lange nach oben brauche, einen?“

Was für ein guter Polizist muss Adam früher gewesen sein? Was für ein gnadenloser Ermittler? Wie nachhaltig sie ihn gebrochen haben müssen, um ihn so zum Gehorsam zu zwingen. 

Erstickt schluchzt Leo auf. Adam hat jedes Recht, unfair und grausam zu werden, aber er muss doch noch einmal klar machen, dass er das nicht getan hat. Sein Körper brennt noch vor den Schmerzen, die er Adam nicht hat zufügen wollen. „Du weißt, dass das nicht wahr ist. Du weißt, dass ich das nicht getan habe.“

„Aber irgendwann wird der Punkt kommen, an dem Sie es tun müssen, vor den Augen Ihrer Kommandanten. Weil einer von ihnen es zu seiner persönlichen Belustigung fordern wird. So ist Gilead.“

„Niemals! Ich verhindere das“, verspricht Leo verzweifelt und entschlossen, was er nicht halten können wird. Nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Das weiß Adam und auf seinem Gesicht steht es deutlicher als in Leos Herz, das sich jeder Logik verweigert, weil er diesen Mann so sehr schützen möchte.  

„Können Sie es genauso verhindern wie die Folter Ihrer Martha?“, fragt Adam mit scharfer Logik und Leo weiß, dass er verloren hat. Er schweigt, weil Adam Recht hat und ihm kilometerweit über ist. Im Gut sein, in Moral und in seiner Fähigkeit, die Realität zu formulieren.

„Ist es gelogen, dass Vincent geflohen ist und noch lebt?“, fragt Adam brüchig und jetzt ist wenig Gnadenlosigkeit in seiner Stimme zu hören. Er ist verzweifelt und Leo erkennt, dass die Hoffnung, die Adam Kraft gegeben hat vor ein paar Tagen, stetig schwindet. Adam glaubt ihm nicht und das kann sich schlimm auf seine Kraft auswirken. Es kann ihn brechen, wenn der Zweifel weiterhin besteht und er zum Schluss kommt, dass Leo die Unwahrheit gesagt hat. 

„Das ist nicht gelogen“, erwidert Leo daher mit so viel Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, wie er kann, aber es hilft nichts. Seine Glaubwürdigkeit ist nicht mehr existent. Natürlich nicht…und er würde es doch genauso handhaben, wenn er an Adams Stelle Kommandanten und ihren Worten hilflos ausgeliefert wäre.

„Ich verdiene für das, was dir und den anderen Männern in den Zentren angetan worden ist, mehr als die Stromstöße heute, auch wenn sie ein guter Anfang waren.“ Leo lässt Adam los, weil er kein Recht hat, ihn anzufassen. Er bringt Abstand zwischen sie beide, weil Adam das Recht hat, seinen eigenen Raum für sich einzunehmen. Er wendet sich ab, damit Adam seine Verzweiflung nicht mehr ertragen muss. 

„Du hast jedes Recht, wütend zu sein. Auf Gilead, auf mich, den Haushalt, auf das, was dir angetan worden ist. Du hast jedes Recht, zu hassen und deine Freiheit zu suchen. Denn du bist ein Mensch und so will ich dich sehen. Als Menschen. Nicht als Tier. Nicht als Samenspender. Als Mensch.“

Das muss gesagt werden, auch wenn es kein einziges der Probleme löst. Es ist Leo wichtig, dass Adam es hört, auch wenn es ihm schwer fällt. Das Kommende fällt ihm schwer. 

„Doch noch brauche ich deine Kooperation. Deine Geduld. Deinen Gehorsam. Ich brauche dein Vertrauen in das, was ich tue und wie ich mich verhalte.“

Eine unmögliche Forderung. Eine gefährliche Forderung. Adam kann ihn hassen – noch mehr als er bis heute getan hat – aber er muss weiterhin seine Rolle spielen. Sie alle müssen das, bis es zu Ende ist. Bis Adam in Freiheit ist und Hilfe erhält. Wenn Adam ihn so sehr hasst, um ihn  zu verraten, dann wird Maik Leo dieses Mal nicht helfen können.

„Hoffen Sie auf Vergebung?“, fragt dieser anstelle einer direkten Antwort und Leo schnaubt verzweifelt. Tränen schießen ihm in die Augen. Vergebung. Was für eine Utopie. Als wenn er jemals Vergebung erhalten wird für das, was er getan hat. 

„Nein.“ Er ist hart zu sich, gerechtfertigt grausam. Ihm steht keine Vergebung zu, sondern Strafe. Harte, grausame Strafe für alles, was er in den letzten drei Jahren getan hat. 

Adam fragt, ob er gehen darf und Leo nickt. Die darauffolgende Einsamkeit ist fürchterlich und übrig bleibt Leos Furcht, dass die Unsicherheit über das Leben von Adams Liebhaber ihn brechen wird. Er denkt an den Dolch oben und hofft, dass Adam keine schlimme Entscheidung treffen wird. Er denkt an Pia und Esther, die er vielleicht verraten haben wird, wenn Adam sich an die Augen wendet.

Trotzdem ist da noch ein Funken Hoffnung, denn Adam hat nicht nein gesagt. Eben jene treibt ihn mit dem Satellitentelefon in den Keller. 

Król ist überrascht, von ihm zu hören und noch viel überraschter über sein Anliegen. Er kann nichts versprechen, doch als er sich nach einer Stunde zurückmeldet, hat er eine Bestätigung und Leo einen Plan. 

„Ich danke Ihnen, Herr Król“, flüstert Leo ins Telefon und am anderen Ende der Leitung ist bedeutungsschwangeres Schweigen. 

„Wie geht es Ihnen, Herr Hölzer?“, fragt der Ermittler und Leos Welt verschwimmt vor seinen Augen. 

„Ich bin am Ende“, flüstert er in den stillen Keller hinein. Zum ersten Mal gesteht er sich ehrlich ein, dass es nicht mehr geht. Nicht mehr lange. Dass er kurz davor steht, zusammen zu brechen. 

„Halten Sie durch, Sie sind nicht alleine. Wir holen Sie da raus.“

Schöne Worte für jemanden, der nicht wie er ein Schuldiger ist. Er hat keine Erlösung oder Rettung verdient. 

„Bis morgen“, sagt Leo anstelle einer direkten Antwort und legt auf, weil alles Weitere zu Grundsatzdiskussionen führen würde, die er nicht führen will und kann. Król ist ein guter Mann und in Bezug auf Leo viel zu gut und nachsichtig. 

Leo verstaut das Satellitentelefon in seinem sicheren Versteck und geht nach oben. Er setzt sich außerhalb von Adams Sichtweite auf der Treppe zu dessen Raum. Die Tür ist ein Stück auf, wie es von den Mägden gefordert wird. So kann Leo jeden Atemzug hören und sich davon überzeugen, dass Adam sich nicht aus Verzweiflung das Leben nimmt. Er verbringt die Nacht dort und hört dabei zu, wie Adam atmet…aber die meiste Zeit wach ist. 

Wieder und wieder überlegt Leo, sich erkennen zu geben und mit ihm zu sprechen und jedes einzelne Mal entscheidet er sich dagegen, weil er es nicht darf. Und weil er nicht mutig genug ist. 

Esther macht ihm am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang die Hölle heiß für seinen Alleingang und ist nahe dran, körperlich auf ihn loszugehen. Pia hält sie ab, macht Adam aber auch klar, dass sie missbilligt, was er ohne Rücksprache zu ihnen getan hat. Auf ihre Kosten getan hat. Insbesondere so kurz, nachdem sie mit einem blauen Auge davongekommen sind. 

Leo nimmt die Kritik, die sich berechtigterweise in das einschneidet, was ohnehin brach liegt. Er erträgt und bestätigt, dass er ein fürchterlicher Mensch ist. Er erträgt, dass er verachtenswert ist. Er erträgt es, weil die Freude und die Überraschung auf Adams Gesicht und dessen geflüsterte Worte, dessen sanfte, tränenschwangere Stimme eine Versicherung ist, die Adam dringend gebraucht hat. 

Dieser weiß nun sicher, dass Vincent lebt. Er hat ihn nach Monaten des vermeintlichen Todes gehört. Dass er anhand dieses Wissens zusammenbricht, ist vorhersehbar. 

Leo tut das Unmögliche und schließt ihn in seine Arme. Adam klammert sich an ihn, als wäre dieser seine Rettungsleine. Er kriecht schier in ihm hinein und das ist mehr, als Leo erwartet hätte. Mehr Vertrauen, mehr Nähe, mehr Schutzsuche. Aber auch Zeichen des Traumas, das in Adam wuchert und das durch Männer wie Leo hervorgerufen wird. 

Wer ist Leo, dass er nicht versucht, hier Abbitte zu leisten und Adam das zu geben, was dieser braucht? Schutz, körperliche Nähe und einen Grund zum Weiterleben, zum Kämpfen, das ist es, was er ihm geben kann, wo er ihn unterstützen kann. 

Es stoppt Leos eigenes Ausbluten nicht, aber es verlangsamt es. 


~~**~~


„Leo, es ist so weit.“

Was so weit ist, kann Leo nicht einordnen. Er ist verloren in der Schwere der Worte und in der Bedeutung, die diese auf Pias und Esthers Gefühle haben, die so deutlich und so negativ im Kellerraum stehen.

„Was?“ Etwa die Flucht? Haben sie ohne ihn geplant und gehen nun? Sind sie morgen weg und lassen ihn zurück?  

„Ich bin schwanger“, durchschneidet Pia seine falschen Gedanken mit abweisendem Ekel in der Stimme und Leo weiß nicht, was schlimmer ist. Die Erkenntnis, dass sie doch nicht ohne ihn gehen oder das Wissen, dass Pia zu etwas gezwungen wird, was sie nie wollte. 

Er schließt die Augen und es ist Verzweiflung, die ihn lähmt. Er kann nicht mehr, es ist zu viel, er will nicht mehr. Stark sein ist keine Option in diesem Moment und all das, wofür sie Jahre verzweifelt gekämpft haben, ist in Gefahr. Jetzt mehr als alles andere. 

Wenn das Kind erstmal da sein sollte, dann wird er mit der Flucht doppelt so schwierig. Ganz zu schweigen, dass Adam nun nur noch eine begrenzte Zeit in diesem Haushalt bleiben kann, bevor er weggeholt und zurück ins Rote Zentrum gebracht wird. 

Esther atmet tief ein und fast vermutet Leo, dass sie ihn schlagen wird. Weil er Schuld ist, dass eine so fruchtbare Magd in diesen Haushalt gekommen ist…weil er Pia nicht noch mehr Zeit erkauft hat. Oder einfach weil.

„Du kannst nichts dafür, Leo“, sagt sie so sanft, dass er an einen Traum glaubt. Er reißt die Augen auf und nichts dergleichen liegt vor. Es ist Bedauern, das er auf Esthers Gesicht sieht und selbst, als er sich bei Pia versichern will, dass das nur falsch sein kann, schüttelt diese sacht den Kopf. 

„Du hast keine Schuld“, stimmt sie zu und es wirkt abgesprochen. So als wüssten sie schon, welche Reaktion von ihm kommt. 

„Aber wir müssen hier weg…noch bevor Pia zu unbeweglich wird“, fährt Esther ernst fort. „Wir können nicht mehr Monate warten, sondern müssen unseren Plan auf wenige Wochen reduzieren und alle mitnehmen, die wir mitnehmen können."

Leo hört zu, aber nicht hin. Viel zu sehr ist er noch in dem Horror gefangen, dass Pia noch weiter unter den Auswirkungen ihres ungewollten Geschlechtsverkehrs zu leiden hat. 

„Es tut mir leid, Pia“, murmelt Leo und sie erhebt sich. Blass wie sie ist, zittrig wie sie ist, ist sie doch stark genug, um Leo so eng an sich zu pressen, dass ihm die Luft wegbleibt. 

„Niemand trägt die Schuld außer den Fanatikern, Leo. Niemand. Du an allererster Stelle nicht.“

Das wäre wirklich schön, wenn. 

„Kopf hoch, Leo, wir schaffen das“, fällt auch Esther ein, obwohl sie wütend ist. „Aber dafür brauchen wir dich. Das hier geht nicht ohne dich, hörst du? Du musst mitziehen.“

Er will ja, aber er kann nicht. Gerade jetzt kann er nicht, weil es ist, als hätte jemand seine Marionettenfäden durchgezogen und als würde er leblos hier hängen und Pia und Esther alles aufbürden. 

Leo versucht, den Mund aufzumachen und irgendetwas zu sagen, doch er scheitert an seinem unzulänglichen Körper. Er will Pia trösten in ihrem Elend, ihnen allen Mut zu sprechen, dass sie die voreilige, überstürzte Flucht schaffen, doch jetzt ist er es, der hier sitzt und weint und weint und weint. 

Das bemerkt er erst, als Pia ihm mit sanften Händen über die Wangen und durch die Haare streicht. Esther kommt ebenfalls zu ihnen und so umhüllen sie ihn wie einen Kokon, eine Schutzhülle, eine Mauer, die sein schwaches Inneres stärken soll. 

Leo schluchzt, entschuldigt sich, schluchzt weiter…ein Kreislauf, den zu durchbrechen er lange Zeit nicht in der Lage ist.

„Wir haben es bis hierher geschafft, Leo. Wir haben bisher insgesamt 4489 Personen gerettet und ihnen zur Flucht verholfen. Wir werden auch noch mehr mit uns nehmen, wenn wir von hier weggehen und dann können wir in Sicherheit weitermachen. Das wird das Gute, was wir getan haben, nicht schwächen. Denk an all diejenigen, die wegen uns in Freiheit sind und die wegen uns in die Freiheit kommen werden.“

Wenn sie will, kann Esther liebevoll sein, sie kann klingen, als würde Leo ihr die Welt bedeuten. Das tut sie gerade und es ist hochgradig unfair, befindet Leo, wehrt sich aber auch nicht dagegen, weil mit den Worten ein bisschen Stärke zurückkehrt. Stück für Stück kommt sie wieder und er hat nicht mehr das Gefühl, unterzugehen. 

Er kann durchatmen und nimmt tiefe Atemzüge, unterstützt durch Pia und Esther. 

„Wir müssen es ihm sagen. Dass du…“, flüstert er und meint Adam. Pia schüttelt den Kopf. 

„Er weiß es schon. Ich habe es ihm zuerst gesagt, weil er es verdient hat, es zu wissen. Er ist schließlich…“

Sie muss nicht weitersprechen. Der Vater des Kindes. Ebenso unfreiwillig wie Pia selbst. Er ist derjenige, aus dessen Samen das Kind entsprungen ist. Leo versteht sehr gut, warum er der Erste ist, dem die Information gebührt hat.

„Du solltest zu ihm gehen, sobald du kannst, Leo. Er wird Angst haben, dass wir wütend sind oder dass er zurückkommt ins Rote Zentrum, ohne, dass du ihm zur Flucht verhilfst.“

Die Erinnerung an den Dolch rückt wieder prominent in Leos Erinnerungsvermögen und er nickt. Stark sein für Adam heißt die Devise. Stark sein für den Widerstand. In seine Einzelteile kann er zerfallen, wenn sie alle in Sicherheit sind. 

Leo schluckt, reißt sich zusammen, rafft noch alles, was er aufzubieten hat, in sich zu einem Kern, der ihn weiterarbeiten lassen wird. Er strafft sich und sieht zuerst Pia, dann Esther offen in die Augen.  

„Wir schaffen das?“, fragt er mehr als dass er sagt und Esther bejaht grimmig. 

„Und ob. Sonst wären wir nicht heute hier.“

Sie fassen sich an den Händen und versichern sich und Leo findet tatsächlich die Kraft, nach Adam zu suchen, den er erst im Schuppen findet und der sich den ganzen Tag dort nicht heraustraut. 


~~**~~


Angesichts dessen, was Adam ihm vorgeworfen hat, gibt Leo ihm genügend Raum, sich ihm entziehen zu können, auch wenn er ihn mit Argusaugen beobachtet. Wider Erwarten bleibt Adam und so stehen sie hier alleine in der Küche. Pia will nicht hinunterkommen und Esther will bei ihr bleiben. Sollen sie…sie brauchen die Zeit für sich. Auch um zu planen. 

Adam fragt, was er auftischen soll und Leo glaubt im ersten Moment daran, dass es andere Möglichkeiten außer Eintopf gäbe. So wie das Gemüseblech, das Adam in seiner Abwesenheit gemacht hat. Aber in der Küche riecht es schon verräterisch und der Topf auf dem Herd sagt einfach alles. 

Absolut. Alles. 

Es gibt aktuell kein Fleisch, weil es aufgrund eines neuerlichen Embargos zu weniger Fleischlieferungen gekommen ist. Leo hat abgelehnt zugunsten anderer Haushalte und so ist das, was er zu sich nehmen wird, rein gemüselastig. Nicht schlimm, oder doch, aber nur dadurch, dass es ein Eintopf ist.

Leo fragt sich, wie er Esther dazu bekommen soll, von ihrem regiden Regime abzuweichen.

„Wenn du so fragst, hätte ich gerne ein Filetsteak mit Kartoffelspalten und Salat“, sagt er die reine Wahrheit. Er hat es geliebt, vor Gilead und träumt auch jetzt noch davon, obwohl er den Geschmack vermutlich schon längst vergessen hat. Er lässt es als Scherz klingen und Adam steigt darauf ein, was Leo so glücklich macht, wie schon lange nicht mehr. 

Er will Adam Arbeit abnehmen und schneidet Brot. Währenddessen prickelt es in seinem Nacken und wenn er aus dem Augenwinkel zu Adam sieht, erkennt er dessen rastlose Bewegungen, die angesetzt werden und wieder abgebrochen werden. Adam öffnet mehrfach die Lippen, sagt aber nicht das, was er anscheinend sagen möchte und dreht sich schlussendlich weg. 

Leo weiß nicht ganz, was er daraus machen soll. Auch nicht aus den kurz fest zusammengepressten Lippen, mit denen sich Adam eine für ihn geschnittene Scheibe Brot nimmt, damit der Eintopf nicht ganz so schlimm nach Eintopf schmeckt. 

„Keines meiner Versprechen und meiner oder Vincents Worte verliert an Glaubwürdigkeit. Auch nicht durch das, was nun da ist“, sagt Leo schlussendlich, weil er denkt, dass Adam es noch einmal hören muss. „Es ist mir wichtig, dass du es weißt.“

In der Art, wie Adam erleichtert ausatmet, wird klar, dass er genau darauf gewartet hat und dass Leo goldrichtig gelegen hat. Das macht seine eigene Kehle etwas weniger rau und sein wundes Inneres etwas weniger schmerzend. Das mildert zwar nicht seine schmerzenden und Spasmen unterlegenen Muskeln, die ihm die Elektroschocks nicht verzeihen und schon gar nicht die Verbrennungen, die sich vermutlich entzündet haben, aber das ist in Ordnung. 

Adam isst wie immer langsam, aber mittlerweile mehr als vorher. Heute kämpft er wieder, aber Leo ahnt, dass es mit den schlimmen Neuigkeiten zusammenhängt. 

„Vermisst du die Kinder, die aus dir entstanden sind?“, fragt Leo vorsichtig, weiß nicht, wie Adam diese Frage aufnehmen wird. Dieser hält inne in seinem Versuch, gerade etwas zu trinken und schüttelt schließlich den Kopf. 

„Ich kenne sie ja gar nicht.“

Natürlich nicht. „Würdest du sie kennenlernen wollen? Wenn du die Möglichkeit dazu hast?“

Adam ist sich nicht sicher und ringt mit der Antwort. Der Kampf um die Wahrheit ist offensichtlich und äußert sich in nervöser Energie. Fast ist Leo versucht, seine Frage zurück zu ziehen, als Adam durchatmet und den Kopf schüttelt. 

„Ich wollte sie sowieso nie. Was für einen Wert hätte es, sie dann kennen zu lernen? Sie kenne mich ja gar nicht. Und ich bin…“

Er deutet auf seine rote Robe und das ist das Letzte, was Leo will, also dass Adam sich herabgesetzt fühlt, weil er gezwungen wird, Rot zu tragen. 

„Du bist ein Mensch. Wertvoll und gemocht.“

Adam zuckt, als hätte Leo ihn geschlagen und einen Augenblick lang zittern seine Hände. Er weiß nicht, was er erwidern soll und in all der schlimmen Zeit, in all dem Übel, das Leos Leben zur Hölle macht, ist der minimale, frohe und glückliche Ausdruck auf Adams sorgsam neutraler Mimik das Schönste, was Leo in der letzten Zeit gesehen hat. 

„Danke“, haucht er und Leo lächelt offen. Es kehrt einvernehmliches Schweigen zwischen sie ein und schlussendlich erhebt Adam sich, um die Reste wegzuräumen. Leo hilft ihm und als alles sauber ist, haben sie keinen Grund mehr, zusammen in der Küche zu sein. Leo möchte Adam nicht dazu zwingen, zu ihm zu kommen, nicht angesichts der allzu wahren Beschuldigungen. So verharrt er, weiß nicht, wie er es formulieren soll. 

Adam hält ebenso inne und sind sie gefangen in einer Blase des Abwartens. 

„Verdammt nochmal, ich verfluche den Tag, an dem meine Küche von dir bevölkert wurde“, knurrt es böse hinter Adam, der sich ruckartig umdreht und den Blick freigibt auf Esther, die ihn rüde beiseite schiebt und in die Küche kommt. 

„Raus hier, alle beide, ich will keinen von euch sehen. Geht ins Arbeitszimmer.“ 

Adam zögert und Leo ist nur zu bereit, dem zu folgen. Er geht vor, einen Schritt, einen zweiten, während Adam den Fehler macht, stehen zu bleiben. 

„Habe ich mich unklar ausgedrückt?“, knurrt Esther ihn an und hilfesuchend verirrt sich Adams Aufmerksamkeit zu Leo. Leo nickt unmerklich mit dem Kopf. Er will es sich auch nicht mit Esther verscherzen, gerade jetzt nicht. Er weiß, dass sie ihm den Kopf abreißen wird, wenn er sich ihr in den Weg stellt. 

„Komm“, sagt er schlicht zu Adam und dieser folgt ihm nur zu bereitwillig und näher an Leo, als er es gedacht hätte. Sie gehen gemeinsam in Leos Arbeitszimmer und von dort an ist es leicht, weil so gewohnt ist und Leo feststellt, dass er zwar verurteilt worden ist – zurecht – dass Adam aber immer noch bereit dazu ist, seine Gegenwart zu ertragen. 

„Du musst nicht bleiben, wenn du nicht möchtest“, merkt Leo zur Sicherheit aber noch einmal leise an und Adam hält inne. 

„Ich möchte aber“, wispert er eine Wahrheit, die er vor der Welt verbergen möchte. Und anscheinend auch vor sich selbst. 


~~~~~~~

Wird fortgesetzt. 

 

Notes:

Kritik, Kommentare, Kudos, Likes,... alles immer gerne genommen! Und wer Interesse an einem respektvollen und gleichgesinnten Fandomaustausch hat, kann ja mal beim Tatort Saarbrücken Discord vorbeischauen.🌻

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