Work Text:
Adam wüsste nicht, warum jemand freiwillig nach Saarbrücken kommen sollte.
Die Stadt ist zu klein, als dass hier viel los sein könnte. Eine Clubszene ist so gut wie nicht vorhanden, jedenfalls nicht mit der Art an Etablissements, in denen Adam sich früher herumgetrieben hat. Das Saarland wird stattdessen beworben mit der schönen Natur und der Nähe zu Frankreich – beides Dinge, auf die Adam gut verzichten könnte.
Saarbrücken ist nur eine weitere auf der Liste der Städte, die Adam abklappert. Nie zu lange an einem Ort bleiben. Für ihn bedeutet das in Sicherheit zu sein. Nie Gefahr zu laufen, dass man auf alte Bekannte trifft oder mit neuen Menschen zu bekannt wird. Er bezeichnet es ungern als Flucht, sondern eher als Projekt, um seine Perspektive zu erweitern. Nach all den Jahren würde ihm das aber wohl niemand mehr abkaufen.
Vor allem, wenn Adam an solchen Orten wie hier landet. Ausschlaggebend für Saarbrücken war wohl keins der Merkmale, das er in einem Reiseführer finden würde, sondern hauptsächlich die vergleichsweise geringen Kosten für eine möblierte Wohnung mit Dachterrasse zur Kurzzeitmiete. Die Dachterrasse ist der wenige Luxus, den Adam sich noch gönnt. Vor allem in Zeiten wie diesen, wo es aussieht, als könnte er sich so etwas bald nicht einmal mehr im Saarland leisten.
„Du musst mal wieder was machen“, hat sein Manager (und ehrlicherweise inzwischen sein bester und vielleicht auch einziger Freund) Vincent vorgeschlagen. „Was hältst du von einem Comeback?“
„Vergiss es“, war Adams Antwort darauf. Auf ein Comeback der Band kann er sehr gut verzichten. Er hat keine Ahnung, ob die anderen sich überhaupt darauf einlassen würden, weil Adam den Kontakt mit ihnen größtenteils meidet. Am Ende würde es aber ohnehin nur peinlich werden, weil man sie heutzutage wohl nur noch auf Volksfesten auftreten lassen würde und nicht mehr in den riesigen Arenen, in denen sie vorher zuhause waren.
„Adam. Du musst irgendwas machen. Mach wenigstens mal Instagram Werbung oder nimm einen Podcast auf.“
Dazu kann Adam nicht ganz so schnell nein sagen. Er hat wenig Lust, sich an ein paar hunderttausend Follower auf Instagram zu verkaufen, aber geredet hat er immer gerne. Nur eben über seine Musik, oder mit anderen Leuten über deren Träume und Ziele. Nicht über sich selbst.
Doch das wäre es, was Leute erwarten würden. Sie würden alles über Adam Schürk als Mensch wissen wollen, nicht über ihn als Musiker. Was er all die Jahre gemacht hat, wie es ihm geht und was seine Pläne für die Zukunft sind. Als ob Adam irgendetwas davon wüsste.
Adam weiß nur, dass er jetzt in Saarbrücken ist und dass er es wie immer drinnen nicht aushält, obwohl die Wohnung überraschend nett eingerichtet ist. Irgendwann kommt er immer an den Punkt, an dem er einfach raus muss.
Der Park, in den er sich zuerst aufmacht, wirkt fast schon ein bisschen gruselig. So viel dazu, noch eine Weile gemütlich auf einer Bank zu sitzen. Die Leute, sie sich hier rumtreiben, werden sich wohl kaum davon abwimmeln lassen, dass Adam seit einigen Jahren endlich clean ist und nicht vorhat, das ausgerechnet hier wieder aufzugeben.
Der Wind, der aufkommt, ist sowieso viel zu kalt, um länger hier zu sitzen. Daher verkneift Adam sich lieber den Umweg zum Fluss und geht direkt in die Innenstadt. Besonders viel los ist hier auch nicht zwischen den geschlossenen Geschäften, aber irgendwann kommt er in einen Teil der Stadt, in der noch etwas Leben ist. Für einen Dienstagabend sogar erstaunlich viel.
Diese spezielle Bar betritt Adam nur zufällig. Es ist nicht ganz sein übliches Pflaster, aber was ist das hier schon? Schon bevor er hierher gezogen ist, hat Adam sich damit abgefunden, dass Saarbrücken eben nicht Berlin ist.
Er hat über die Jahre eine immer größere Abneigung dagegen entwickelt, Entscheidungen zu treffen. Der fehlende feste Wohnsitz ist dabei wohl das größere Thema, aber manchmal bringt es Adam auch dazu, eine Bar zu betreten, nur weil zwei Männer vor ihm nach links in Richtung des Eingangs abbiegen.
Was auch immer. Aktuell sollten Adams Kriterien nur beinhalten, dass es dunkel genug und nicht zu teuer ist. Das sollte hier zu schaffen sein.
Dass Adam noch mehr Kriterien bräuchte, stellt er erst fest, als er die kleine Bühne in einer Ecke entdeckt. Und zwar nicht ausgestattet für nette Livemusik, sondern mit einem Bildschirm davor, der Adam Böses vermuten lässt. „Fuck. Karaoke?“
„Ja. Fucking Karaoke“, antwortet eine Stimme, die Adam nicht bekannt vorkommt.
Schnell fährt er herum, bis er die Theke sehen kann. Sie ist etwas besser beleuchtet als der Rest des Raumes und unter den Lampen steht einer der schönsten Männer, die Adam je gesehen hat. Der Mann lächelt ihn sogar an. Der einzige Nachteil ist, dass er gerade von Karaoke gesprochen hat.
Adam hat wirklich Besseres zu tun, als sich einen ganz Abend lang Leute anhören zu müssen, die meinen, perfekt singen zu können. Dafür hätte er auch den Juryplatz bei einer Castingshow annehmen können, die alle paar Jahre wieder bei ihm anruft. Oder sich die alten Videos ihrer Live-Auftritte anschauen können, bei denen die Hälfte der Kommentare darüber hetzt, dass keiner von ihnen singen kann.
Absolut lächerlich. Lieber denkt Adam gar nicht daran und versucht, sich auf Dinge zu konzentrieren, die nichts mit der Musik zu tun haben. Auf den hübschen Barkeeper zum Beispiel, der unter allem anderen hier gerade wie Adams einziger Lichtblick wirkt.
Allerdings nur, bis er wieder anfängt zu sprechen und Adam dabei allen Ernstes zuzwinkert. „Also, du hast die Wahl. Entweder du bestellt etwas zu trinken und genießt die Musik. Oder du hättest jetzt noch die Chance zu flüchten.“
War Adam nicht eben noch gedanklich dabei, dass er Entscheidungen grundsätzlich ablehnt? Dabei wäre diese eigentlich ganz einfach. Sich für einen hübschen Mann zu entscheiden, der sich mit so einer niedlichen Bewegung die Haare nach hinten streicht und dabei noch seinen ansehnlichen Bizeps präsentiert, hat Adam schon öfters geschafft. Was vermutlich dumm ist, auch wenn Adam mittlerweile öffentlich geoutet ist, weil es ihm immer noch unangenehme Schlagzeilen bringen könnte.
Doch die Schlagzeilen sind nicht das, woran Adam gerade denkt. Er wägt den attraktiven Mann gegen die Musik ab. Stundenlang Karaoke oder sich die zwei Mal, die er hier höchstens ein Getränk bestellen wird, in diesem hübschen Gesicht verlieren?
Am Ende fällt Adam die Entscheidung überraschend leicht. Vincent würde wahrscheinlich lachen, wenn er wüsste, dass das alles ist, was es braucht, um Adam hierzubehalten. Dennoch kann Adam nicht anders, als heute von seinen Prinzipien abzuweichen und die Flucht erst mal sausen zu lassen.
Lieber beugt er sich ein wenig über die Theke, um dem Barkeeper etwas näher zu kommen. „Welchen Drink würdest du mir denn empfehlen?“
*
Leo betrachtet den Typen noch einmal von oben bis unten. Er hat eine ganz schön große Klappe dafür, dass er gerade erst Leos Bar betreten und sich gleich über das Design lustig gemacht hat. Leo versteht, dass nicht jeder ein riesiger Karaoke-Fan sein kann, aber das bedeutet nicht, dass er sich davon abbringen lassen wird, diese Abende einmal die Woche zu veranstalten.
Immerhin gibt es genug Leute, die die Atmosphäre hier zu schätzen wissen. Die gerne jede Woche herkommen und sich hier mal von allen Zwängen freimachen können. Wie die Gruppe, die gerade vor der Bühne steht und sich einen Song aussucht. Es spielt keine Rolle, wie gut sie alle singen können. Wichtig ist, dass sie ihren Spaß daran haben.
Das wird der Typ vor ihm wohl kaum kapieren. Und trotzdem ist er bewusst hier geblieben und hat Leo nach einem Drink gefragt.
Einen Moment lang überlegt Leo, ob er sich wie sein Gegenüber ein bisschen wie ein Arschloch aufführen sollte. Doch irgendwas bringt ihn dazu, heute über den ersten Eindruck hinwegzusehen und ihm stattdessen ein Lächeln zu schenken. „Kommt drauf an, was du gerne magst. Hast du es lieber fruchtig oder sahnig? Herb oder mild?“
„Fruchtig. Ohne Alkohol.“
Damit schafft er es tatsächlich, Leo zu überraschen. So, wie der Typ seine Bar betreten hat; die Schultern unter der Jeansjacke hochgezogen und einen harten Zug um den Mund, der aussah, als hätte er jede Menge zu verarbeiten. Wahrscheinlich sollte Leo froh sein, dass er das nicht mit Alkohol tut, auch wenn es nicht ganz ins Bild passt.
Leo richtet das Lächeln auf seinem Gesicht und nickt leicht. „Alles klar. Kein Problem.“
Den Drink zu mischen, ist wirklich kein Problem. Leo hat nach all den Jahren Routine darin, und gerade diese Überraschungsgetränke machen ihm immer wieder Spaß, selbst wenn er hier quasi nur Fruchtsäfte zusammenmixt. Es erfüllt ihn, auch wenn seine Mutter ihm das immer noch nicht glauben möchte.
Diesmal hat er allerdings keine Zeit, sich in Gedanken über seine Mutter hineinzusteigen. Gerade entwickelt sich ein anderes Problem, als er sich wieder zu seinem Gast umdreht. Und zwar die klaren, blauen Augen, die sich plötzlich in seine bohren, als Leo ihm das Glas rüberschiebt. „Danke.“
Leo reagiert hier definitiv nicht angemessen. Er hat nur das Gefühl, dass ihm diese blauen Augen irgendwie bekannt vorkommen, viel zu bekannt. Er kann nur nicht den Finger darauf legen, woher er diese Augen kennen könnte. Kurz ist er soweit aus dem Konzept gebracht, dass er etwas tut, was ihm gegenüber einem Kunden sonst niemals passieren würde. „Sag mal, kennen wir uns?“
Die Augen seines Gegenübers verengen sich. Er nimmt einen Schluck von seinem Drink, aber es wirkt eher wie eine Ablenkung. So, wie er sich verhält, hilft es nicht, Leos Verdacht zu zerstreuen, obwohl er sagt: „Ich glaube nicht.“
Bei so einer Abweisung kann Leo auch nicht wirklich weiter fragen. Er hat nicht das Recht dazu, solange er hier derjenige ist, der den anderen bedient. Generell darf er nicht einfach so in die Privatsphäre von Fremden eindringen, egal wie neugierig ihn diese Antwort gemacht hat.
„Okay“, antwortet Leo deswegen und dreht sich schnell zur Seite. Irgendwo gibt es sicherlich noch einen Kunden zu bedienen oder etwas zu putzen. Alles, damit er nicht weiter hier rumsteht und dumme Sachen sagt, die er sich eigentlich nicht erlauben kann.
Zumindest den Mund zu halten, kriegt Leo hin. Er schafft es nur nicht so gut, nicht so oft in die Richtung seines Gastes zu schauen. Ein Teil davon liegt sicherlich daran, dass er als einziger noch an der Bar sitzt, während sich der Rest der Kundschaft auf die kleinen runden Tische und Wandnischen verteilt hat oder vor der Bühne mitgeht, wo jemand erstaunlich gut Don't Stop Believing schmettert. Aber auch so scheint Leos Neukunde eine Art an sich zu haben, die Blicke auf sich zieht.
Natürlich sieht er gut aus. Das ist Leo trotz mäßigem ersten Eindruck und Getränke-Geplänkel aufgefallen. Er wirkt groß und schlank und sein Gesicht hat eine markante Art, die Leo gefällt. Die blonden Haare fallen ihm immer wieder in die Augen und Leos Blick bleibt mehrmals an seinen Händen hängen, wenn er sich die Haare zurückstreicht.
Eigentlich erwartet Leo, dass er irgendwann zum Handy greift. Wozu ist man alleine in einer Bar, ohne jegliche Unterhaltung? Nach der Musik hat er sich nämlich noch kein einziges Mal umgeschaut und er wirkt auch nicht unbedingt wie der Typ, der auf deutschen Pop der 2010er steht und sich unbedingt eine abgehackte Version eines Mark Forster Songs anhören will.
Insofern ist es nur logisch, dass der Typ doch etwas aus seiner Tasche zieht. Als Leo sich unauffällig in seine Richtung begibt, stellt er jedoch fest, dass es kein Handy ist, sondern eine leicht zerknautscht aussehende Packung Zigaretten.
„Was guckst du so?” fragt der Mann ihn plötzlich. „Rauchen ist das einzige Laster, das ich mir noch erlaube.”
Danach hat Leo nicht gefragt. Seine Neugier weckt es trotzdem, ob die Aussage, nicht zu trinken, auch dazu gehört. Das spricht Leo lieber nicht aus, als er ein Lächeln aufsetzt und hofft, dass ihn das Folgende nicht als Arschloch klingen lässt. „Wie es dir gefällt. Da ist die Tür.”
Eine Augenbraue in dem hübschen Gesicht wandert nach oben. „Wenn ich jetzt rausgehe, denkst du dann nicht, ich würde versuchen, die Zeche zu prellen und einfach hinaus in die Nacht verschwinden?”
Daran hat Leo bisher noch nicht gedacht, wobei er auch noch nie derartige Probleme hatte- Wenn dann wäre es ohnehin seine eigene Schuld, weil er von seinem üblichen Vorsatz abgewichen ist, Leute an der Bar sofort zu kassieren. Insofern kann er auch noch mal einen Vertrauensvorschuss geben und zur Not bleibt er eben auf den Kosten sitzen und kann sich hinterher darüber ärgern. „Nein. Ich vertraue dir.”
Eine Hand beginnt, mit der Zigarettenschachtel zu spielen, aber der Blonde macht noch keine Anstalten aufzustehen. „Sicher, du vertraust mir? Und das, obwohl wir vorhin schon etabliert haben, dass du mich nicht kennst?”
Jetzt muss Leo schnell reagieren. Einmal in seinem Leben schlagfertig sein. Irgendwo ist nämlich immer noch das Gefühl da, dass er sein Gegenüber schon mal gesehen hat, aber Leo will auch nicht wie ein Stalker wirken, während er in diese blauen Augen schaut. „Ich weiß nicht. Kann es sein, dass du letzte Woche bei meinem Zahnarztbesuch am Empfang gesessen hast?”
Leo kann es kaum glauben, dass er ihm damit ein Schnauben entlockt, das fast wie ein Lachen klingt. „Unwahrscheinlich.”
Der andere erklärt es allerdings auch nicht näher. Dafür ist Leo nun mutiger. „Dann könntest du mir wenigstens deinen Namen verraten, um unser Vertrauen zu stärken.”
Für einen Moment wirkt es mucksmäuschenstill zwischen ihnen. Sogar zwischen den Liedern tut sich gerade eine Pause auf. Leo würde gerne den Atem anhalten, während er dabei zusieht, wie es im Kopf des anderen rattert. Es kann gut sein, dass er Leo gleich einen falschen Namen nennt. Aber dann wüsste Leo zumindest, wie er ihn gedanklich nennen kann.
„Adam”, sagt er schließlich. Es klingt nicht fake, so wie er es ausspricht. Aber was weiß Leo schon?
Er weiß auf jeden Fall, dass er Adam hier nicht länger aufhalten kann. „Adam. Freut mich, dich kennenzulernen, falls wir uns nicht doch schon beim Friseur begegnet sind.”
Diesmal klingt Adams Lachen noch echter. Er fährt sich wieder durch die Haare und Leo beobachtet dabei wieder seine Hand. „Sieht das hier aus, als wäre ich in letzter Zeit beim Friseur gewesen?”
Vermutlich nicht, aber Leo hat doch keine Ahnung davon. Er braucht dringend einen Moment zum Durchatmen. Glücklicherweise sieht er genau in dem Moment aus dem Augenwinkel, wie Gäste von einem anderen Tisch versuchen, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Ich bin Leo”, sagt er. „Damit sollte genug Vertrauensbasis bestehen, oder?”
Adam nimmt sich seine Zigaretten und steht auf. „Wie du meinst, Leo.”
Ja, das meint Leo. Entgegen seiner Vernunft schaut er Adam noch etwas länger hinterher, als er zur Tür geht. Erst da fallen Leo die glitzernden Stiefel auf, die Adam zu seinem sonst eher unauffälligen Outfit trägt. Sie erinnern Leo an etwas, aber er kommt immer noch nicht drauf.
Abgesehen davon, dass er jetzt wirklich andere Kundschaft zu bedienen hat, anstatt weiter über Adam nachzudenken.
*
Leo.
Der Name scheint noch auf Adams Zunge zu liegen, auch als sich sein Mund mit Rauch füllt. Die Luft ist merklich abgekühlt und Adam muss seine Jeansjacke enger um sich ziehen. Wahrscheinlich würde es besser auszuhalten sein, wenn er sich bewegen würde, aber gerade hat Adam das Gefühl, dass er hier nicht einfach so weg kann.
Obwohl es besser so wäre. Am besten würde er gleich reingehen, einen Zwanziger auf die Theke knallen und dann sofort verschwinden. Es ist schon schlimm genug, dass er sich überhaupt auf ein Gespräch mit Leo eingelassen hat. Und dann hat er ihm auch noch seinen Namen verraten.
Das alles nur, weil Leo von Vertrauen gesprochen hat. So wie die Leute damals, die Manager, die Produzenten, alle, die um ihn und die Band herum scharwenzelt sind. Noch ein Album, hier ein Fotoshooting, da ein Auftritt. Adam hat ihnen immer vertraut, dass sie nur das Beste für ihn wollen.
Trotzdem wirkt Leo anders. Abgesehen davon, dass Adam inzwischen alt genug ist, um sich nicht mehr von Erwachsenen herumkommandieren zu lassen, die ihn für ein Kind halten und ihn gleichzeitig auf jede erdenkliche Art und Weise sexualisieren wollen. Bisher scheint Leo lediglich darauf aus zu sein, ihn mit schlechten Witzen zum Lachen zu bringen, und Adam kann nicht leugnen, dass es irgendwie funktioniert.
Er möchte wieder in die Bar hineingehen, sobald er seine Kippe ausgedrückt hat. Er würde jede noch so schreckliche Musik ertragen von Typen, die sich einbilden, stimmlich auch nur annähernd an Adele ranzukommen. Nur damit er sich bei Leo noch ein Getränk bestellen und noch einmal das Funkeln in seinen Augen sehen kann, wenn er Adam fragt, ob er zufällig auch beim Malkurs in der Volkshochschule war.
Vielleicht wird Leo irgendwann doch anbringen, dass er Adam mal auf der Bühne gesehen hat. Aber selbst wenn, fühlt Adam sich ausnahmsweise nicht unwohl damit. Im Gegenteil, es geht ihm erstaunlich gut, als er die Tür zur Bar öffnet und feststellt, dass doch keine schlechte Version von Someone like You läuft.
Stattdessen läuft ein Lied, bei dem Adam sogar fast geneigt wäre einzusteigen. Oh, Girls, they wanna have fun. Girls just wanna have fun.
Vielleicht kann Adam sich ausnahmsweise auch mal erlauben, Spaß zu haben.
Er setzt sich wieder auf den gleichen Stuhl an der Bar. Leo ist im Moment noch damit beschäftigt, Drinks zu mixen. Früher hat Adam das nie für etwas Besonderes gehalten, aber bei Leo wirken alle Bewegungen perfekt einstudiert, jeder Handgriff sitzt. Genau wie das enge T-Shirt perfekt an seinem Oberkörper anliegt und Adam erahnen lässt, wie die Muskeln darunter spielen.
Er wartet ab, bis Leo einen Tisch in der hinteren Ecke der Bar mit Getränken versorgt hat. So viel Geduld hat Adam noch. Sie wird vor allem auch davon beflügelt, dass Leo zu dem engen T-Shirt gut sitzende Jeans trägt, sodass Adam ihm gerne dabei zuschaut, wie er sich sicher zwischen den Tischen hindurch bewegt.
Eigentlich hätte Leo danach keinen offensichtlichen Grund, zu Adam zurückzukommen. Er tut es aber trotzdem, bleibt ihm gegenüber stehen und beugt sich leicht über die Theke zu ihm. „Hatte ich also doch Recht damit, dir zu vertrauen. Ich habe eine ziemlich gute Menschenkenntnis, weiß du. ”
„Sieht so aus.” Was Adam noch dazu sagen soll, weiß er nicht so genau. Er möchte nicht Leos Menschenkenntnis anzweifeln und damit all seine Selbstzweifel zum Ausdruck bringen, ob er nicht doch insgesamt ein schlechter Mensch ist.
Das sind keine Themen für ein erstes Gespräch mit einem Barkeeper. Lieber hält Adam es weiter an der Oberfläche, indem er Leo sein fast leeres Glas hinschiebt. „Bekomme ich noch einen?”
„Gerne.” In diesem Lächeln könnte Adam sich so leicht verlieren. „Das Gleiche noch mal oder eine neue Überraschung?”
Das Getränk war echt gut, aber Adam ist sich ziemlich sicher, dass Leo ihm immer mehr gute Kreationen zaubern könnte. „Überrasch mich noch mal?”
„Okay, kommt sofort.”
Adam schaut absichtlich nicht hin, während Leo seinen Drink zubereitet, um sich nicht die Überraschung nehmen zu lassen. Leos Schultern sind sowieso eine viel schönere Stelle zum Anschauen. Es bedingt nur leider, dass er Leo danach noch nicht wieder gehen lassen kann, nachdem Leo das Glas vor ihm abgestellt hat.
Adam denkt bestimmt nicht darüber nach, wie seine Lippen wohl aussehen und ob Leo wohl hinschaut, als er einen ersten Schluck davon nimmt. „Oh, wow.” Es wirkt etwas weniger süß als die letzte Version, aber dafür umso erfrischender.
„Das nehme ich mal als Kompliment”, entgegnet Leo.
Das darf er sehr gerne tun. Adam ist schon dabei zu überlegen, wie er Leo noch länger hier behalten könnte. „Und? Ist dir zwischenzeitlich nicht noch etwas eingefallen, woher du mich kennen könntest?”
Leo legt leicht den Kopf schief. „Hm… vielleicht aus dem Fitnessstudio?”
Wieder muss Adam lachen, aber diesmal nur, weil es so absurd klingt. So wie Leo im Vergleich zu ihm aussieht, werden sie wohl kaum einen ähnlichen Trainingsplan haben. „Hast du dir mich mal angeschaut?”
„Oh ja. Das hab ich.” Trotzdem wandert Leo Blick noch einmal an ihm auf und ab.
Adam weiß nicht, ob er sich damit unwohl fühlen sollte, aber aktuell fühlt er sich eigentlich nur gut damit, Leos volle Aufmerksamkeit zu haben. Eventuell gäbe es davor nur ein paar Dinge, die er noch klären sollte, auch wenn es gerade vielleicht etwas ungelenk klingt. Eigentlich müsste Leo weiter fragen, aber hierfür ist es wichtig, dass Adam sich dazwischen schiebt. „Kann es sein, dass unsere Kinder in die gleiche Klasse gehen?”
Leos Gesicht wirkt für einen Moment überrascht. Allerdings nicht so positiv, wie Adam vermutet hat. Seine Hände stemmen sich gegen die Bar und es wird eher wie ein Festhalten als wie ein Abstützen. „Ich habe keine Kinder.”
„Ich auch nicht”, beeilt Adam sich zu sagen. Hoffentlich ist Leo auch nicht verheiratet mit Haus und Hund, aber die Frage kann Adam nicht direkt dahinter stellen. Er möchte schließlich, dass Leo wieder lächelt und nicht, dass er ihre kleine Fragerunde doch noch beendet. „So langsam gehen mir auch die Ideen aus, woher wir uns kennen könnten.”
Es entlockt Leo zumindest ein kleines Lächeln. „Mir fällt bestimmt noch etwas ein.”
Zuerst muss er allerdings ans andere Ende der Bar, wo schon jemand ungeduldig auf ihn wartet. Adam sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Leo hier noch einen Job zu erledigen hat. Bisher wirkte es nicht so, als ob Leo nicht mit ihm reden möchte, aber wer weiß, vielleicht ist es ihm auch irgendwann genug. Adam könnte es verstehen, selbst wenn es sich blöd anfühlen würde, wenn Leo ausgerechnet jetzt nicht wiederkommt.
Doch auch diesmal kommt Leo zu ihm zurück und stellt sogar eine kleine Schale mit Erdnüssen vor ihm ab. Adam will schon fragen, womit er das verdient hat, aber irgendetwas an Leos Haltung hält ihn davon ab. Leos Hand liegt auf den ersten Blick scheinbar ruhig auf der Theke auf, aber irgendwie wirkt es doch wieder angespannt.
Adam lässt seinen Blick nach oben gleiten, widmet sich nur ganz kurz diesen Armen, die so schön stark wirken, dass sie ihn locker hier gegen die Theke – doch dann kommt er bei Leos Gesicht an und stellt fest, dass er darin keine Regung ablesen kann. So kann er nicht guten Gewissens darüber nachdenken, was Leo noch mit ihm anstellen könnte, wenn sie gerade nicht in einer Bar wären, wo von hinten eine überraschend gute Version von Eternal Flame aus den Lautsprechern tönt.
Nicht unbedingt ein Party-Song. Close your eyes, give me your hand. Adams Hand zuckt sogar in Leos Richtung, aber er kann hier doch nicht ernsthaft Leos Hand nehmen. Vor allem, wenn Leo offenbar noch damit hadert, was er Adam gleich sagen wird.
„Ich hab dich definitiv nicht auf einer Dating-App gesehen. Dann hätte ich dich schon längst auf ein Date eingeladen.”
Oh. Das war nun gar nicht die Richtung, die Adam erwartet hat. Vielleicht war der leere Gesichtsausdruck dann eher der Nervosität geschuldet. Fast bereut er es ein bisschen, nicht Leos Hand genommen zu haben. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, oder?
Leos Hand ist warm unter seiner. Adam hat eigentlich immer kalte Hände und Leos ist ein wunderbarer Kontrast dazu. Die Hand zuckt leicht, aber sie bewegt sich nicht von Adam weg. Nun muss Adam sich nur noch überlegen, was er dazu sagen kann, dass Leo ihm gerade eröffnet hat, dass er auf Dating-Apps unterwegs ist. Das bedeutet, dass er Single sein muss, oder?
Und Adam ist auch definitiv nicht vergeben. Zwar auch nicht auf Apps aktiv, vor allem nicht für Dates, aber das ist hier nicht der Punkt. „Wenn ich dich da gesehen hätte, hätte ich dich auf jeden Fall gematched.”
Leos Lächeln ist wundervoll, erst recht, wenn es ganz allein Adam gilt. Er dreht seine Hand um, ohne Adams wegzuschieben und verschränkt ihre Finger miteinander. Nur für einen kurzen Moment, weil Leo dann von einem Kunden gerufen wird. Aber diesen Moment wird Adam noch ganz lange im Gedächtnis behalten.
Er weiß nicht mal wieso. Noch heute Mittag hätte ihm keiner weismachen könnte, dass er ausgehen und sich auf so etwas einlassen könnte. Er ist nicht nach Saarbrücken gekommen, um Leute kennenzulernen. Trotzdem hat er das Gefühl, dass er Leo jetzt schon deutlich besser kennt als manche Leute aus seinem früheren Leben.
Adam wartet nur darauf, dass Leo wieder zu ihm kommt, nachdem er die andere Gruppe abkassiert hat. Eigentlich könnte Adam weiter in Richtung Datings Apps fragen, offensiver flirten, aber dann gibt es doch wieder klein bei. „Also, Leo, woher könntest du mich noch kennen?”
Das Verrückte ist, dass Adam es wahrscheinlich fast schon zugeben würde, wenn Leo ihn direkt danach fragt. Er hat sich schließlich schon mit seinem richtigen Vornamen vorgestellt. Er könnte einfach direkt sagen, dass er damals mit seiner Stimme deutlich mehr gerissen hat als die Person vorne auf der Bühne, die sehr enthusiastisch zu Don't Stop Me Now performt. So ein Lied wäre Adam damals eindeutig lieber gewesen als ihre eigenen.
Inzwischen ist eher das Problem, wenn Adam über seinen früheren Job reden würde, dass Leo denken könnte, dass Adam damit angeben möchte. Was ist er eigentlich schon, außer einem gescheiterten Teenie Star, der mittlerweile fast pleite ist und nichts mit seinem Leben anzufangen weiß? Nein, das wird sicher nicht ziehen, um Leo ins Bett zu bekommen. Abgesehen davon, dass Adam das niemals als Hebel nutzen würde.
„Hm…” Leo beugt sich näher zu ihm, als er das vorher je getan hat. So nah, dass Adam meint, sein Aftershave riechen zu können. „Warst du derjenige, der sich letztes Wochenende an der Kasse im Baumarkt vor mich gedrängelt hat?”
Adam lacht. „Ganz sicher nicht.”
„Wärst du etwa nicht der Typ, der sich vordrängelt?”
Das kann Adam nicht zu hundert Prozent leugnen, auch wenn er sich in den letzten Jahren bemüht hat, nicht mehr zu sehr das Arschloch raushängen zu lassen. „Ich war bestimmt schon seit über fünfzehn Jahren nicht mehr im Baumarkt.”
„Bitte was? Wie kann man nie in den Baumarkt gehen?“ Leo wirkt ernsthaft erschüttert.
Indem man in Hotelzimmern lebt und sich von vorne bis hinten bedienen lässt mit allem, was man je brauchen könnte. „Hat sich einfach nicht ergeben.“ Adam versucht, möglichst unbekümmert mit den Schultern zu zucken.
„Nicht ergeben? Dabei gibt es im Baumarkt so coole Sachen. All der Krimskrams, Deko, man durch die Badabteilung gehen und sich vorstellen, wie schrecklich manche Leute ihr Bad designen. Und dann natürlich noch die Pflanzen…“
Leo scheint fast schon ins Schwärmen zu kommen. Bisher hat Adam sich nie für diese Dinge interessiert, aber er ist so kurz davor, an einem der nächsten Tage einfach so in einen Saarbrücker Baumarkt zu fahren und sich dort die Pflanzen anzusehen. Oder möglicherweise auch, um Leo dort wiederzutreffen.
Denn irgendwann werden sie sich voneinander verabschieden müssen. Leo erzählt noch ein bisschen von seinen Pflanzen, mit kurzen Unterbrechungen, wenn er jemanden bedienen oder abkassieren muss. Der Raum scheint sich langsam zu leeren. Die Karaoke-Maschine ist nicht mehr so regelmäßig in Gebrauch und stattdessen tönt andere Musik durch die Lautsprecher. Die Lautstärke wird dadurch deutlich angenehmer und Adam ist fast schon erleichtert, dass er sich keine Sorgen mehr machen muss, ob jemand die Töne trifft.
Schade ist es irgendwie trotzdem. Bei jeder Frage, die Leo an ihn richtet, befürchtet Adam, dass die nächste beinhalten wird, ob Adam vorhat, bald zu zahlen. Dennoch klammert er sich an seinem fast leeren Glas fest, nicht gewillt, die letzten Schlucke daraus zu nehmen, um den Abend zu beenden.
Nein, er hat Leo nicht im Urlaub auf den Kanaren getroffen. In einem richtigen Urlaub war Adam schon lange nicht mehr. Es hilft auch nicht, dass Leo meint, er könnte ihn beim nächsten Mal einfach mitnehmen. Adam weiß schlussendlich, dass Leo so etwas niemals ernst meinen kann. Sie kennen sich zwar vielleicht schon etwas besser als am Anfang des Abends, aber definitiv nicht gut genug für einen gemeinsamen Urlaub.
Auch nicht für einen gemeinsamen Sauna-Besuch, was Leo als nächstes in den Raum stellt. Nicht, dass Adam Leo nicht gerne nackt sehen würde. Er bezweifelt nur, dass die Sauna der richtige Ort dafür ist, wenn er jetzt schon manchmal Probleme hat, nicht nach Leos Hand zu greifen, wenn diese mal wieder auf der Theke liegt, um über die Oberflächen zu putzen.
„Keine Sauna“, erwidert Adam.
„Schade“, meint Leo. „Ich hätte zu gerne gesehen, was für Geheimnisse du unter deiner Jeansjacke verbirgst.“
Nicht viele. Die Packung Kippen in der Jackentasche hat Leo schon gesehen. Adams Körper ist wohl kaum etwas, mit dem er Leo beeindrucken könnte, so gut gebaut, wie Leo ist. Adam hat im Gegensatz dazu kaum einen Hauch von Muskeln und einige schlechte Tattoos aufzuweisen. „Das würdest du gerne sehen, ja?“ hält er trotzdem entgegen, einfach aus Prinzip.
„Ja“, antwortet Leo, so schlicht und direkt, dass es Adam mal wieder überfordert.
Er geht mittlerweile fest davon aus, dass Leo mit ihm flirtet. Trotzdem ist es ungewohnt, ihn diese Dinge so direkt sagen zu hören.
„Denk noch mal drüber nach“, schiebt Leo hinterher. „Die Saarland-Therme ist wirklich schön.“
Damit geht er weiter nach hinten. Adam merkt erst jetzt, dass es die letzten verbliebenen Gäste sind, denen Leo an einem der hinteren Tische die Rechnung bringt. Sobald sie ihre Jacken angezogen haben und gegangen sind, ist Adam der einzige, der noch übrig bleibt.
Was er nicht tun kann. Er kann Leo nicht unnötig lange von seinem Feierabend abhalten. Selbst wenn Leo noch so gerne mit ihm redet und Adam noch so gerne mit Leo zusammen in seinen Feierabend gehen würde. Irgendwo hat Adams Kopf noch nicht ganz kapiert, dass das eine Option sein könnte.
Er kommt wieder an den Punkt, dass Leo ihn dafür nicht gut genug kennt. Leo weiß immer noch nicht, wer Adam wirklich ist. Adam findet aber auch keine passende Gelegenheit, ihm das zu sagen.
Obwohl… vielleicht könnte er es ihm zeigen. Die Karaoke-Maschine ist zwar abgeschaltet, aber Adam hat vorhin auf seinem Weg zur Toilette ein Klavier in der Ecke stehen sehen. Heute wurde es nicht benutzt, aber er geht davon aus, dass es funktionstüchtig ist. Adam ist wahrscheinlich ziemlich eingerostet, doch für seine Zwecke müsste es gehen.
Adam wäre niemals auf die Idee gekommen, bei Karaoke mitzumachen. Er weiß nicht einmal mehr, wann er das letzte Mal vor Menschen gesungen hat. Aber für Leo, jetzt wo sie ganz alleine sind, hätte es eine andere Bedeutung. Selbst wenn Adam sich nicht für eins seiner eigenen Lieder entscheidet – er hat schon eins im Kopf, das ziemlich gut passt.
*
Leo lässt sich unnötig viel Zeit damit, den letzten Tisch abzuräumen. Er weiß, dass es ihm nichts bringt, aber irgendwo hat er die Hoffnung, dass ihm in diesen Minuten doch noch ein Grund einfallen könnte, Adam dazu zu bringen, länger zu bleiben.
Es interessiert ihn nicht mehr, ob oder woher er Adam kennen könnte. Wichtig ist, wie gut er ihn nach dem heutigen Abend kennt. Adam, der Typ, der weder in Zoos noch in Baumärkte geht. Mit dem Leo viel zu gerne nach Hause gehen würde.
Es hilft nichts. Leo bleiben genau zwei Möglichkeiten. Er kann Adam wie jeden Kunden ganz normal verabschieden und sich hinterher wochenlang darüber ärgern, dass er ihn so nie wiedersehen wird. Oder er könnte Adam fragen, ob er sich nicht noch mal mit ihm treffen möchte. Vielleicht Nummern austauschen. Eventuell könnten sie das Treffen auch gleich für heute Nacht ansetzen…
Aber Adam könnte immer noch nein sagen.
Leo schaut in Richtung Bar, ob er an Adams Haltung irgendetwas ablesen kann, aber dort sitzt niemand mehr. Fuck. Ist Adam etwa einfach gegangen, während Leo hier Zeit geschunden hat? Auf der Theke steht nur noch sein leeres Glas. Das ist der Beweis dafür, dass Leo unglaublich dumm ist, wenn er gerade noch daran dachte, dass Adam und er noch mehr zusammen machen könnten. Miteinander ausgehen oder zusammen ins Bett gehen, egal. All das kann Leo sich jetzt wohl abschminken.
Es dauert einen Moment, bis sich die Klaviermusik in seinem Kopf registriert. Sie fängt so ruhig an, dass Leo erst vermuten würde, dass sie von draußen kommt. Doch sie muss hier drinnen sein. Leo fährt so schnell herum, um zum Klavier zu blicken, dass ihm beinahe schwindelig wird. Dem Schwindel hilft es auch nicht, dass er realisiert, dass Adam noch da ist. Oder dass Adam in diesem Augenblick den Mund öffnet und anfängt zu singen.
„I can't fight this feeling any longer
And yet I'm still afraid to let it flow
What started out as friendship has grown stronger
I only wish I had the strength to let it show”
Leos Füße tragen ihn wie von selbst zum Klavier. Adams Finger huschen über die Tasten und Leo weiß nicht, wo er zuerst hinschauen soll: Auf Adams Hände oder auf Adams Mund, der diese wunderbaren Töne formt.
Eigentlich müsste so langsam der Refrain einsetzen, doch auf halbem Weg wird Adam leiser. Er verstummt fast und seine Handbewegungen werden langsamer. Er schaut zu Leo auf und auf einmal wirkt er nicht mehr wie der Typ, der sich hier einfach so ans Klavier gesetzt hat und ohne jegliche Begleitung so wunderschön gesungen hat.
„Mach weiter“, sagt Leo leise, um Adam nicht rauszubringen. „Bitte?“
Adam erhebt sich vom Klavier. Nun ist es nur noch seine Stimme, die durch den Raum dringt, als er auf Leo zukommt.
„'Cause I can't fight this feeling anymore
I've forgotten what I started fighting for
And if I have to crawl upon the floor, come crashing through your door
Baby, I can't fight this feeling anymore”
Leo hat keine Ahnung, was er tun soll, doch am Ende ist es überraschend einfach. Er möchte auch nicht mehr gegen irgendetwas ankämpfen. Er möchte Adams Hand nehmen und ihn an sich ziehen, als Adam Worte wieder verpuffen. Dieses Mal aber nur, weil Adams Mund etwas Besseres zu tun hat, als Leo ihn küsst.
Adam zu küssen ist noch schöner, als Leo sich das vorgestellt hat. Mit Adam ist alles sofort intensiv, auch wenn er den Kuss noch nicht einmal vertieft hat. Seine Hand liegt an Leos Taille und Leo würde sie gerne überall an seinem Körper spüren können. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie genauso hier weitermachen.
Nur dass ihm ausgerechnet in diesem Moment einfällt, woher er Adam kennt. Der Gesang, die Art zu performen. Er hat Adam zwar mit ganz anderer Musik im Kopf und er ist seitdem ein paar Jahre gealtert, aber der Blick aus Adams blauen Augen, als er sich aus dem Kuss löst, ist genau der Gleiche.
Leo leckt sich über seine Lippen, die sich trotz dem Kuss auf einmal trocken anfühlen. „Und du hast gesagt, du magst kein Karaoke“, fängt er an. Nur nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Er hätte nie gedacht, dass Adam Schürk mal in seiner Bar stehen würde. Entsprechend ist Leo so gar nicht darauf vorbereitet, was er jetzt damit anfangen soll, wenn Adam nicht nur einfach irgendein heißer Typ ist.
Adam zuckt leicht mit den Schultern. „Von Karaoke bin ich auch echt kein Fan. Aber ab und zu singe ich ganz gerne.“
„Ab und zu?“ hakt Leo nach.
„Früher.“ Für einen Moment wirken Adams Augen abwesend, als würde er in die Vergangenheit blicken. Vielleicht sieht er eine Horde jubelnder Fans vor sich. Vielleicht hätte Leo auch klatschen sollen, nachdem er Adam Zeit gelassen hätte, das Lied zu beenden.
Vielleicht sollte er das aber auch als Gelegenheit nutzen, reinen Tisch zu machen, bevor es zwischen Adam und ihm irgendwie weitergeht. Falls es das überhaupt tun wird, was Leo sich gerade durch diese neue Information so gar nicht vorstellen kann. „Eine Bar ist nichts im Vergleich zu ausverkauften Stadien, oder?“
Etwas zuckt über Adams Gesicht. Wut, Enttäuschung? Oder einfach nur Resignation? So schlecht gelaunt wirkt er allerdings nicht, als er Leo enger an sich zieht und seine Stirn gegen Leos sinken lässt. „Das mit den Stadien wirkt auch irgendwann alt. Heutzutage ist mir eine Bar lieber. Deine, genau genommen.“
Leos Herz beginnt schon, eine Spur schneller zu schlagen. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren dadurch. Dabei muss er sich eine Sache noch bestätigen lassen. „Kann es sein, dass ich dich von den Plakaten kenne, mit denen meine Schwester ihre gesamte Zimmerhälfte zugekleistert hat und die mich immer rund um die Uhr beobachtet haben?“
Adams Lachen scheint durch ihn hindurch zu vibrieren. „Deine Schwester scheint einen guten Geschmack zu haben.“
„Sag ihr das bloß nicht.“ Leo ist sich ziemlich sicher, dass Caro ausrasten würde, wenn er sie wüsste, wer heute Leos Gast war. Bisher war einer der Schauspieler aus dem lokalen Tatort die einzige Berühmtheit, mit der er sich brüsten konnte. Dagegen ist Adam Schürk noch einmal auf einem ganz anderen Level.
„Und was sagst du dazu?“ reißt Adam ihn aus seinen Gedanken.
„Ich hätte ihr nie so einen guten Geschmack zugeschrieben. Aber heute mochte ich dich auch schon, bevor ich genau wusste, wer du bist.“
Unter normalen Umständen hätte Leo erst mal ewig darüber nachgedacht, bevor er sich getraut hätte, so etwas zuzugeben. Andererseits hat Adam schon eben zu ihm gesungen, dass er nicht mehr gegen seine Gefühle ankämpfen kann und so, wie er ihn geküsst hat, geht Leo nicht davon aus, dass er dieses Lied vollkommen zufällig ausgewählt hat.
I can’t fight this feeling anymore. Leo kann nicht länger hier rumstehen, ohne Adam zu küssen.
Adam kommt ihm auf halbem Weg entgegen. Er legt Leo eine Hand in den Nacken, um ihn zu sich zu ziehen. Ganz kurz sieht Leo noch sein Lächeln aufblitzen und dann liegen seine Lippen wieder auf Leos.
Auch der zweite Kuss ist wunderschön. Leo ist so kurz davor, sich in Adam und in dem Kribbeln in seinem Bauch zu verlieren. Wenn dann wäre es auch nicht schlimm, weil es nicht so wirkt, als würde Adam bald gehen wollen. Am Ende kann Leo froh sein, dass Adam sich nicht von ein bisschen Karaoke hat abschrecken lassen und dass eine gute Chance besteht, dass Leo ihn noch eine Weile bei sich behalten darf.