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Language:
Deutsch
Stats:
Published:
2025-10-03
Updated:
2025-10-17
Words:
12,598
Chapters:
3/9
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8
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14
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75

Das Glück kommt auf leisen Pfoten

Summary:

Eine Sternschnuppe, ein Wunsch, eine Verwandlung. Und nebenbei gibt es auch noch einen Mord. Wie wird all das für Thorsten und Sebastian enden?

Notes:

Vielen Dank an cricri für die kompetente und geduldige Beantwortung all meiner Fragen zu Katzen, an thots_tochter für die anfängliche Unterstützung und ganz besonderer Dank an aesculap und Siria4211, dass ihr beide mich zuverlässig beim Schreiben dieser Geschichte unterstützt und begleitet habt!

Chapter Text

Thorsten wälzte sich im Bett auf die andere Seite. Vielleicht war es dort bequemer und er konnte endlich einschlafen. Aber vergeblich. Ein Umdrehen des Kopfkissens half auch nicht. Er hatte diese Nacht noch keine Sekunde die Augen zugemacht und im Moment schien es, als würde sich daran so schnell nichts ändern. Die Gedanken in seinem Kopf gaben einfach keine Ruhe. Dabei zeigten seine Wecker schon 02.00 Uhr an.

Mit einem tiefen Seufzen schlug er die Bettdecke zurück, stand auf und zog die Rollladen hoch. Dann öffnete er die Balkontür und ging hinaus. Ein bisschen frische Luft würde ihm bestimmt guttun.

Es war angenehm kühl draußen, obwohl sie Mitte August hatten. Der Himmel war wolkenlos. Sterne schienen am dunklen Firmament und der Mond leuchtete ebenfalls hell. Es war kein Vollmond, sondern ein Halbmond. Daran lag es also nicht, dass er nicht schlafen konnte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er auch den wahren Grund, warum er den Weg ins Reich der Träume nicht fand.

Sebastian.

Thorsten liebte ihn schon seit Jahren, immer aus der Ferne, immer im Verborgenen, immer darauf bedacht, sich nichts von seinen Gefühlen anmerken zu lassen. Denn Sebastian war zwar bi, aber verheiratet und damit tabu. Besser gesagt – er war verheiratet gewesen. Julia hatte sich vor knapp einem Jahr von ihm getrennt. Seitdem war Sebastian Single. Und Thorsten fiel es mit jedem Tag schwerer, seine Sehnsucht nach ihm im Zaum zu halten.

Dass sie heute nach der Arbeit noch zusammen ins Kino gegangen waren, half dabei auch nicht. Er konnte an kaum etwas anderes denken als an Sebastian, wollte die ganze Zeit in seiner Nähe sein und das Herzklopfen, dass er bekam, sobald Sebastian ihm einen Funken Aufmerksamkeit schenkte, war einfach nur hochgradig peinlich für jemanden in seinem Alter. Er war schließlich kein Teenager, der zum ersten Mal verliebt war, sondern ein gestandener Mann über fünfzig, der schon einiges im Leben mitgemacht hatte.

Und doch …

Er stand mitten in der Nacht auf seinem Balkon und konnte nicht schlafen, weil Sebastian ihm einfach nicht aus dem Kopf ging. Es fehlte nur noch, dass er den Mond vor lauter unerfüllter Sehnsucht anheulte.

Thorsten stützte sich auf die Balkonbrüstung. Sollte er Sebastian vielleicht doch davon erzählen, was er für ihn empfand? Aber sofort verwarf er den Gedanken wieder. Dafür war Sebastians Trennung noch zu frisch. Sie hatte ihn tief verletzt. Thorsten nahm nicht an, dass er schon bereit für eine neue Beziehung war. Und falls Sebastian seine Gefühle nicht erwiderte, brachte er ihn mit einem Liebesgeständnis nur in eine äußerst unangenehme Situation. Leider war dieses Szenario durchaus wahrscheinlich, denn Thorsten hatte keine Anzeichen bemerkt, dass Sebastian auch etwas für ihn empfand – bis auf diverse lange Blicke. Aber die warf Sebastian ihm schon zu, seit sie sich vor sechs Jahren das erste Mal begegnet waren. Sie hatten daher nichts zu bedeuten. Es war besser, er behielt seine Gefühle für sich.

Thorsten seufzte und schaute in den klaren Nachthimmel. Eine Sternschnuppe fiel herab. Gleich darauf folgte noch eine. Er blinzelte überrascht. Wie lange war es her, dass er eine Sternschnuppe gesehen hatte? Er musste noch ein Kind gewesen sein, denn seine Oma hatte mit ihm draußen auf der Bank hinter ihrem Haus gesessen und ihm gesagt, dass er sich schnell etwas wünschen sollte. Das, was man sich bei einer Sternschnuppe wünschte, ginge nämlich in Erfüllung – sofern man es nicht laut aussprach. Er erinnerte sich nicht mehr daran, ob sein Wunsch damals tatsächlich wahr geworden war oder nicht. Aber vielleicht sollte er es noch einmal probieren?

Er suchte den Himmel nach einer weiteren Sternschnuppe ab. Da! Über dem gegenüberliegenden Hausdach blitzte eine auf. Was für ein Glück. Sofort wünschte er sich mit ganzer Kraft, dass Sebastian in vollem Ernst und aus freien Stücken „Ich liebe dich“ zu ihm sagte.

Doch kaum war die Sternschnuppe verschwunden, da schüttelte er den Kopf über sich selbst. Eine Sternschnuppe bestand aus nichts weiter als kleinen Gesteins- und Staubpartikeln, die in der Atmosphäre verglühten. Wie sollte sie dafür sorgen, dass Wünsche in Erfüllung gingen? Was seine Oma ihm erzählt hatte, war lediglich ein alter Aberglaube, der zwar nicht schaden, aber auch nicht nützen würde. Es wurde stattdessen höchste Zeit, dass er wieder hineinging und versuchte, doch noch etwas Schlaf zu bekommen. Sonst war er morgen bei der Arbeit zu nichts zu gebrauchen.

Chapter Text

Wo musste er jetzt noch mal hin? Zu den Leoparden, hatte Nika gesagt. Sebastian suchte auf dem Geländeplan, den ihm die freundliche Dame am Haupteingang der Wilhelma gerade in die Hand gedrückt hatte, nach dem Gehege. Ah, da unten rechts war ein Löwe zu sehen und auch die Legende sagte „Raubkatzenanlage“. Aber wie kam er dorthin? Irgendwie passte dieser Plan überhaupt nicht zu seinem Orientierungsempfinden. Der Haupteingang lag doch eindeutig im Osten, direkt am Neckar. Warum druckte man ihn dann links auf dem Plan ab? Sebastian drehte den Plan kurzerhand um hundertachtzig Grad. Jetzt ergab die ganze Sache mehr Sinn.

Außer einzelnen Tierpflegern, die damit beschäftigt waren, die Gehege zu reinigen und Futter zu verteilen, begegnete ihm niemand auf dem Weg zu den Raubkatzen. Surreal, dass alles menschenleer war. Als er mit Maja und Henri das letzte Mal in der Wilhelma gewesen war, hatte es nur so vor Besuchern gewimmelt. Aber das war zum einen schon Jahre her und zum anderen nachmittags zur Hauptbesuchszeit gewesen. Jetzt war es kurz vor 08.00 Uhr. Die Wilhelma hatte noch nicht offiziell geöffnet und würde heute sogar erst später als normal Besucher einlassen, wenn er Nika richtig verstanden hatte. Eine menschliche Leiche im Leopardengehege war schließlich nichts, was man der Öffentlichkeit präsentieren wollte. Sebastian war das durchaus recht. So konnten sie ungestört den Tatort sichern und erste Erkenntnisse gewinnen.

Er erreichte die Raubkatzenanlage. Sie bestand aus drei einzelnen Gehegen, die rundherum vergittert waren. Ein paar Meter davor befand sich zusätzlich ein Zaun, der verhinderte, dass man zu dicht herankam. Eine sinnvolle Sache. Es gab bestimmt genug Idioten, die sonst ihre Hände durch das Gitter gesteckt hätten, um die Tiere zu streicheln, obwohl das höchst gefährlich war. Jedes der Gehege war mit Pflanzen bewachsen. Auch mehrere Baumstämme standen oder lagen schräg darin. Handelte es sich dabei um Klettergelegenheiten? Irgendwie schienen Sebastian die Gehege insgesamt ziemlich klein zu sein für die Raubkatzen, die sie beherbergten. War das wirklich eine artgerechte Haltung?

Mehrere Kollegen von der Spurensicherung arbeiteten im mittleren Gehege. Ihre weißen Ganzkörperanzüge hoben sich von den grünen Pflanzen gut ab. In diesem Gehege befand sich wohl die Leiche.

„Guten Morgen!“, rief Sebastian, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ein paar seiner Kollegen hoben ihre Köpfe, darunter Nika.

„Guten Morgen!“, begrüßte sie ihn.

„Wie komme ich zu euch?“, fragte Sebastian. Die ganzen Gitter und Zäune zum Schutz der Besucher bedeuteten auch, dass er den Tatort nicht direkt betreten konnte.

Nika deutete nach rechts. „Einmal um die Gehege und Gebäude herum. Ich hole dich ab.“

Wie versprochen wartete sie auf ihn, als er die Rückseite der Anlage erreichte.

„Wo ist Thorsten?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Hast du ihm nicht auch Bescheid gesagt?“

„Er geht nicht an sein Handy. Ich habe ihm auf die Mailbox gesprochen.“

Sebastian runzelte die Stirn. Seltsam. Normalerweise hatte Thorsten sein Handy immer griffbereit. Vielleicht hatte er unter der Dusche gestanden, als Nika ihn angerufen hatte? Aber er würde bestimmt auftauchen, sobald er seine Mailbox abgehört hatte.

Sebastian folgte Nika ins Gebäude. Darin befand sich das Innengehege – mitsamt Bewohner. Aufmerksam beobachtete der Leopard sie von seiner erhöhten Liegefläche, als sie an ihm vorbeigingen. Ein elegantes und faszinierendes Tier, dem Sebastian nichtsdestotrotz nicht in freier Wildbahn begegnen wollte.

Nika brachte ihn zu einer Tür, die wieder nach draußen führte. Sie befanden sich in einem offenen Gang zwischen den Außengehegen. Der Boden bestand aus Erde. Auf einer Seite des Gangs wuchsen üppige Bambuspflanzen. Auf der anderen lehnten eine Frau und ein Mann, die Sebastian beide nicht kannte, an der Gebäudewand. Ihrer Kleidung nach zu urteilen waren sie Mitarbeiter der Wilhelma. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.

Als Sebastian das Außengehege betreten wollte, stoppte Nika ihn. „Nicht ohne Schutzkleidung. Wir sind noch nicht komplett fertig mit der Arbeit.“

Sebastian rollte mit den Augen. Er hatte keine große Lust, sich in den Anzug zu quälen. Dessen Reißverschlüsse verklemmten sich immer so schnell. Stattdessen reckte er den Kopf, um in das Gehege zu spähen. Auf einem der schrägen Baumstämme lag ihre Leiche. Auch aus der Entfernung erkannte Sebastian bereits, dass sie übel zugerichtet war. Vogt war dabei, die Leiche zusammen mit einer Assistentin zu untersuchen. Dann bestand wirklich kein Grund, dass er selbst sich die Sache aus der Nähe ansehen musste.

„Was habt ihr denn schon?“, fragte er Nika.

„Das Opfer heißt Philipp Weißenberg. Vierundzwanzig Jahre alt. Er arbeitete als Tierpfleger hier in der Wilhelma. Er wurde vor gut einer Stunde von seiner Kollegin gefunden, als sie das Gehege sauber machen wollte. Die Spurensicherung ist schwierig, weil der Leopard heute Nacht draußen war und das Meiste im Gehege verwischt hat.“ Nika seufzte frustriert. Dann fuhr sie fort: „Aber wir haben Schleifspuren in der Nähe der Tür gefunden.“ Sie deutete auf die Stelle am Boden, wo Sebastian gerade stand.

Er sprang hastig einen Schritt zur Seite. Hatte er etwa unabsichtlich potenzielle Spuren und Beweise ruiniert?

„Keine Sorge“, beruhigte Nika ihn. „Mit dem Gang sind wir schon fertig.“

„Ah, gut.“ Sebastian ging in die Hocke. Auf der Erde waren neben seinen Fußabdrücken zwei parallel verlaufende, flache Rinnen zu erkennen. Er deutete darauf. „Das heißt, jemand hat Herrn Weißenberg ins Gehege geschleppt? Und der Fundort ist nicht der Tatort?“

„Sieht so aus“, erwiderte Nika.

Sebastian brummte. Man zog einen erwachsenen Mann nicht durch die ganze Wilhelma, oder? Das war anstrengend und sehr auffällig, selbst wenn man es außerhalb der Öffnungszeiten machte. Also war der eigentliche Tatort vermutlich in der Nähe des Geheges. „Vielleicht ist es im Gang passiert? Oder im Gebäude?“, mutmaßte er.

„Möglich.“ Nika zuckte die Schultern. „Hier laufen regelmäßig die Tierpfleger bei der Arbeit durch und im Gebäude kommen noch die ganzen Besucher dazu. Wir sind dabei, alles auszuwerten, aber …“

„Ganz toll“, sagte Sebastian.

Nika nickte.

Vogt kam zu ihnen. Nachdem er Sebastian begrüßt hatte, fragte er ihn in seinem schwäbischen Akzent: „Wo haben Sie denn den Herrn Lannert gelassen?“

„Der braucht heute wohl etwas länger“, erwiderte Sebastian.

Vogt zog die Augenbrauen hoch, aber gab keinen weiteren Kommentar zu Thorstens Abwesenheit ab. Stattdessen berichtete er von seinen ersten Erkenntnissen. „Männliche Leiche, wie Sie bestimmt schon wissen. Todeszeitpunkt gestern, ungefähr zwischen 20.00 Uhr und 23.00 Uhr. Es war definitiv kein natürlicher Tod. Der Leopard hat intensiv mit ihm … gespielt, um es mal so zu beschreiben. Ich kann jedoch noch nicht sagen, ob er auch unmittelbar für den Tod verantwortlich ist oder ob ein Mensch vorher nachgeholfen hat.“

„Nach der Obduktion wissen Sie Genaueres, oder?“, fragte Sebastian.

Vogt nickte. „Die wird allerdings ein bisschen dauern. Wir haben gerade viel zu tun.“

„Sie schaffen es bestimmt, das irgendwo dazwischen zu schieben.“ Sebastian setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

Vogt schnaubte. „Mal sehen, was ich machen kann. Ich lasse die Leiche dann jetzt ins Institut bringen.“

Nika und Sebastian traten zur Seite, um den Weg für den Transport freizumachen.

„Das Gehege war übrigens ordnungsgemäß verschlossen laut der Tierpflegerin, die das Opfer gefunden hat“, sagte Nika. „Was auch gut war, denn sonst hätten wir einen frei herumlaufenden Leoparden gehabt.“

Vor Sebastians innerem Auge tauchten Bilder des Leoparden in der Stuttgarter Innenstadt auf. Schnell schob er sie beiseite. Dieses Szenario mochte er sich nicht näher ausmalen. Er konzentrierte sich lieber wieder auf ihren tatsächlichen Fall. „Wenn der Täter hinter sich abgeschlossen hat, dann kann es ja nur jemand von der Wilhelma sein, der einen Schlüssel für das Gehege besitzt.“ Wunderbar. Das engte den Kreis der potenziell Verdächtigen stark ein.

„Na ja – das Opfer hatte einen Schlüssel, weil er hier im Revier gearbeitet hat“, wandte Nika ein. „Der Täter hätte den problemlos an sich nehmen können.“

Sebastians Hoffnung, den Fall zügig aufklären zu können, zerplatzte wie eine Seifenblase. Nika hatte recht. Der Täter musste keinen eigenen Schlüssel besessen haben. Also konnte es doch jeder gewesen sein. Mist.

„Es spricht aber viel dafür, dass es einer der Angestellten war“, sagte Nika. „Wer kennt sich sonst mit den Schlüsseln für die Gehege aus? Und zum Todeszeitpunkt hatte die Wilhelma schon geschlossen. Ein Besucher scheidet also aus.“

Sebastian nickte. Immerhin etwas. „Was ist mit dem Handy von Herrn Weißenberg? Oder der Tatwaffe?“, fragte er.

Nika schüttelte den Kopf. „Nichts bisher.“

„Du hast gesagt, dass eine Kollegin ihn gefunden hat. Kann ich mit ihr sprechen?“

„Klar. Sie steht dort hinten.“ Nika deutete auf die beiden Mitarbeiter der Wilhelma, an denen Sebastian vorhin vorbeigekommen war.

Er ging zu ihnen hin. „Bootz, Kriminalpolizei Stuttgart“, stellte er sich vor.

Der Mann reagierte als erstes. „Hofer. Ich bin der Tierarzt.“ Er war Mitte vierzig und etwas größer als Sebastian. Sein braunes Haar trug er kurz geschnitten. Sein Händedruck war so kräftig, dass Sebastian beinahe zusammengezuckt wäre.

„Franziska Bauer“, sagte die Frau. „Ich bin Reviertierpflegerin hier bei den Raubkatzen.“ Sie war jünger als Herr Hofer. Sebastian schätzte sie auf Anfang dreißig. Sie war ungefähr einen halben Kopf kleiner als er. Ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. An ihrer Nase glitzerte ein kleiner Goldstecker und unter den Ärmeln ihres T-Shirts blitzten bunte Tattoos hervor. Sie wirkte verständlicherweise bedrückt. Wenn man morgens in Herrgottsfrühe über die übel zugerichtete Leiche seines Kollegen stolperte, hinterließ das Spuren.

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“, fragte Sebastian einfühlsam.

Herr Hofer und Frau Bauer nickten.

Sebastian wandte sich an Frau Bauer. „Sie haben Herrn Weißenberg gefunden?“

„Ja …“ Sie holte tief Luft. „Ich wollte das Gehege sauber machen. Heute morgen war ich dafür zuständig. Mir ist sofort aufgefallen, dass etwas nicht stimmt, denn Kasra war draußen.“

„Kasra ist der Leopard?“, vergewisserte Sebastian sich.

Frau Bauer nickte. „Normalerweise sind alle Raubkatzen nachts in ihren Innengehegen. Ich habe ihn dann reingeholt, damit ich gefahrlos in das Außengehege konnte, und … da lag Philipp.“ Sie schluckte schwer.

„Sie haben ihn nicht angefasst oder etwas im Gehege verändert?“, fragte Sebastian.

„Nein. Ich habe sofort meinen Chef angerufen und der hat dann wiederum Ihnen – also der Polizei – Bescheid gegeben.“

„Wie gut kannten Sie Herrn Weißenberg denn?“

Frau Bauer und Herr Hofer wechselten einen verstohlenen Blick, der Sebastian nicht entging. Da verbarg sich etwas.

„Nun ja – er ist … war … ein kompetenter Tierpfleger“, sagte Herr Hofer. „Wir haben professionell zusammengearbeitet. Er wusste eine Menge über die Tiere, die ihm anvertraut waren.“

„Ja, die Tiere lagen ihm wirklich sehr am Herzen. Besonders die Raubkatzen.“ Frau Bauer lächelte schief. „Was für eine Ironie des Schicksals …“

Sebastian stimmte ihr zu. So zu Tode zu kommen, brachte wirklich eine gewisse Tragik mit sich. „Was passiert jetzt eigentlich mit Kasra?“, fragte er nach. „Wird er eingeschläfert, weil er jemanden angegriffen hat?“ Er kannte das von Hunden, die Menschen attackiert und zu Tode gebissen hatten.

Empört kam es von Herrn Hofer und Frau Bauer wie aus einem Mund: „Nein!“

„Kasra kann doch überhaupt nichts dafür“, sagte Frau Bauer.

„Er ist auch viel zu wertvoll“, sagte Herr Hofer. „Persische Leoparden sind stark gefährdet. Wir brauchen jedes Tier für die Zucht, um die Art zu erhalten. Wissen Sie eigentlich …“ Er holte tief Luft.

„Zurück zu Herrn Weißenberg“, unterbrach Sebastian ihn rasch. Ein Themenwechsel schien ihm ratsam zu sein, bevor er entweder einen ausführlichen Vortrag über Leopardenzucht hören durfte oder einen richtigen Anschiss bekam, weil er es gewagt hatte, das Wort „einschläfern“ zu verwenden. Er wandte sich an Frau Bauer. „Wie war denn Ihr Verhältnis zu ihm?“

Doch ehe Frau Bauer antworten konnte, klingelte ein Handy. Es war das von Herrn Hofer.

Er zog es aus seiner Hosentasche. „Entschuldigen Sie mich bitte?“

Sebastian nickte.

Herr Hofer entfernte sich ein paar Schritte, um zu telefonieren.

Frau Bauer druckste herum. „Nun ja, für Philipp waren die Tiere wirklich alles.“

„Und was war mit den Menschen?“, fragte Sebastian, als sie nicht weitersprach.

Frau Bauer seufzte, zog die Schultern hoch und schob ihre Hände in die Hosentaschen. „Die Zusammenarbeit mit ihm war nicht gerade leicht. Er wusste immer alles besser. Selbst von mir hat er sich nichts sagen lassen, was den Umgang mit den Tieren angeht. Dabei kenne ich Kasra und die anderen Katzen schon deutlich länger als er und ich bin die Reviertierpflegerin.“

Sebastian schaute sie fragend an.

„Als Reviertierpflegerin leite ich das Team, das hier bei den Raubkatzen arbeitet“, erklärte Frau Bauer. „Ich weiß nicht, ob das bei Philipp so eine Männer-Frauen-Sache war oder was anderes, aber … Auf jeden Fall war es schwierig mit ihm. Besonders seitdem Yasemin vor ein paar Wochen mit ihm Schluss gemacht hat. Sie ist eine weitere Kollegin aus unserem Team. Es gab leider oft Streit zwischen ihnen.“ Frau Bauer verzog das Gesicht.

Herr Hofer hatte inzwischen sein Telefonat beendet und war zurückgekehrt. „Ja, das war eine unschöne Trennung. Das habe sogar ich mitbekommen.“ Er presste die Lippen zusammen. Anscheinend hielt er nicht viel davon, wenn sich das Privatleben seiner Kolleginnen und Kollegen auf die Arbeit auswirkte. „Vielleicht hat sie ja …?“ Er deutete mit seinem Kopf vielsagend in Richtung Gehege.

„Wir sind dabei, das herauszufinden“, sagte Sebastian in einem Tonfall, der alle weiteren Spekulationen unterband. Es fehlte noch, dass sich jemand Außenstehendes in ihre Ermittlungen einmischte.

„War es das dann?“, fragte Herr Hofer ihn. „Die Arbeit ruft nämlich – ein Zebra lahmt.“

„Klar, kein Problem“, sagte Sebastian. „Nur eine Sache noch – wo waren Sie gestern Abend, so ungefähr bis 23.00 Uhr?“

„Auf unserem jährlichen Zootierarztkongress in Frankfurt am Main“, erwiderte Herr Hofer. „Die letzte Abendveranstaltung hat bis kurz nach elf gedauert und dann bin ich zurück nach Stuttgart gefahren.“

„Okay, danke“, sagte Sebastian.

Herr Hofer verabschiedete sich und ging.

Sebastian wandte sich wieder Frau Bauer zu. „Und Sie?“

„Ich habe zu Hause mit meiner Freundin Umzugskartons ausgepackt und Möbel aufgebaut“, sagte sie.

„Oh, das haben mein Partner und ich vor ein paar Monaten auch gemacht“, sagte Sebastian. „Ist mehr Arbeit als man denkt.“

Frau Bauer grinste. „Allerdings. Wir waren stundenlang beschäftigt und sind hinterher todmüde ins Bett gefallen.“ Ihr Grinsen wandelte sich in ein breites Lächeln. „Aber es ist einfach toll, wenn man nach mehreren Jahren Beziehung endlich zusammenzieht, nicht wahr?“

Sebastian realisierte, dass sie gerade völlig aneinander vorbeiredeten. „Oh … nein, wir … wir sind nicht zusammen“, versuchte er, die Sache aufzuklären. „Er ist mein Freund, also im Sinne von … Wir sind Partner. Berufliche Partner.“

„Oh, sorry.“ Frau Bauer wirkte peinlich berührt.

Sebastian winkte ab. „Kein Ding.“

Er selbst hätte zwar nichts dagegen, Thorsten auch privat seinen Partner nennen zu dürfen. Aber Thorsten hatte bisher kein Interesse an etwas anderem außer Freundschaft mit ihm gezeigt. Also gestand Sebastian ihm seine Gefühle lieber nicht. Und überhaupt … wo blieb Thorsten eigentlich? So langsam machte Sebastian sich doch Sorgen. Es war untypisch für Thorsten, einfach nicht zur Arbeit zu erscheinen, ohne sich abzumelden. War etwas passiert? Er schloss die Befragung hier am besten zügig ab, damit er nach ihm schauen konnte.

„Können Sie mir bitte noch den Namen Ihrer Kollegin sagen, die mit Herrn Weißenberg zusammen war?“, fragte er Frau Bauer.

Frau Bauer zögerte kurz, bevor sie sagte: „Yasemin Dursun. Sie hat heute aber ihren freien Tag und ist nicht hier.“

„Das ist kein Problem“, sagte Sebastian. „Wir erreichen sie bestimmt auch so. Und wir melden uns wieder bei Ihnen, wenn wir noch etwas brauchen.“

Er ging zurück zum Gehege. Währenddessen zückte er sein Handy und rief Thorsten an. Es tutete mehrmals, dann landete er auf der Mailbox. Wirklich sehr merkwürdig. Er sparte es sich, eine Nachricht zu hinterlassen, sondern sprach stattdessen Nika an, die noch im Gehege arbeitete.

„Kannst du eine Yasemin Dursun ausfindig machen? Und sie zur Befragung einbestellen? Sie arbeitet hier und ist die Ex von Herrn Weißenberg. Es gab wohl öfter Streit zwischen ihnen.“

„Mache ich“, versprach Nika. „Ich wollte eh die Personalliste von der Wilhelma anfordern.“

„Danke. Und wenn ihr den Schlüssel oder das Handy von Herrn Weißenberg findet, dann sagst du sofort Bescheid, okay?“

Nika nickte.

Sebastian steckte sein eigenes Handy wieder weg. „Ich fahre jetzt zu Thorsten. Er geht immer noch nicht ans Telefon.“

Er verabschiedete sich von Nika und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. In seinem Kopf kreisten die Gedanken. Was war mit Thorsten geschehen? Ging es ihm gut? Oder steckte er in Schwierigkeiten?

Sebastian wurde das unheimliche Gefühl nicht los, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war …


Sebastian klingelte an Thorstens Wohnungstür.

Niemand machte auf.

Er klingelte ein zweites Mal. Durch die geriffelten Glaseinsätze in der Tür erahnte er eine Bewegung im Flur. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Thorsten. Der war zwar auch verhältnismäßig klein, aber dennoch ein ganzes Stück größer als dieser Schemen. Sebastians Sorgen nahmen zu. Er holte den Schlüssel heraus, den Thorsten ihm für Notfälle gegeben hatte, und öffnete die Tür.

Kaum hatte er den Flur betreten, da sprang etwas gegen seine Beine.

Instinktiv machte Sebastian einen Schritt nach hinten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Was zum …?“ Er sah hinunter und entdeckte eine Katze. Wo kam die denn her? Schnell schloss er die Tür, damit sie nicht versehentlich ins Treppenhaus entwischte.

Die Katze miaute laut. Dann strich sie wieder um Sebastians Beine.

Sebastian ging in die Hocke und streichelte sie, um ihr die Aufmerksamkeit zu geben, nach der sie offensichtlich verlangte. Gleichzeitig rief er: „Thorsten?“

Es kam keine Reaktion. Nur die Katze miaute wieder.

Seit wann besaß Thorsten sie? Und warum hatte er Sebastian nichts davon gesagt? Sie waren beste Freunde. Da erzählte man sich doch, wenn man sich ein Haustier zulegte, oder nicht?

Sebastian ging durch die Wohnung. Die Katze begleitete ihn dabei auf Schritt und Tritt, lief zwischen seine Beine und brachte ihn mehrmals fast zu Fall, als er in jedes Zimmer schaute. Von Thorsten fand er aber keine Spur. Lediglich seine Schlafsachen lagen in seinem ungemachten Bett.

„Wo zum Teufel steckst du?“, murmelte Sebastian.

Die Katze miaute.

Sebastian streichelte sie wieder. „Schade, dass du mir nicht sagen kannst, wo dein Herrchen ist.“

Die Katze stupste mit dem Kopf gegen seine Hand. Sie war ja schon süß, auch wenn ihre Anhänglichkeit ein bisschen lästig war. Sebastian fuhr fort, sie zu streicheln, während er mit der anderen Hand sein Telefon herausholte und noch einmal Thorstens Nummer wählte.

Ein Klingeln ertönte aus der Küche. Dort lag Thorstens Handy auf dem Tisch.

Die Katze kletterte auf den Tisch und drückte mit ihrer Pfote ungestüm auf dem Handydisplay herum.

„Bist du denn von allen guten Geistern …“ Sebastian packte die Katze und setzte sie zurück auf den Boden. Wenn sie das Handy vom Tisch schubste und es kaputtging, würde Thorsten nicht begeistert sein. Aber dafür musste er erst mal wieder auftauchen. Was war nur mit ihm passiert?

Sebastian versuchte nachzudenken, wo er noch nach ihm suchen konnte, doch die Katze strich wieder miauend um seine Beine. Hatte sie vielleicht Durst? Er sah sich um, entdeckte aber keinen Napf. Also holte er einen Suppenteller aus dem Hängeschrank und füllte ihn mit Wasser. Als er ihn auf den Boden gestellt hatte, ignorierte die Katze das Wasser jedoch völlig. Stattdessen schlug sie ihm mit den Vorderpfoten gegen die Beine. Hatte sie also eher Hunger?

Er öffnete Thorstens Kühlschrank. Darin entdeckte er eine unangebrochene Packung Lachsfilet. Das schmeckte einer Katze bestimmt. Er riss die Packung auf und hielt sie ihr hin. Tatsächlich – in drei Happen war der Lachs verschwunden. Immerhin ein Problem gelöst. Aber das andere blieb. Wo war Thorsten? Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, dass er seine Katze nicht fütterte, bevor er die Wohnung verließ.

Sebastian kniete sich hin und kraulte der Katze den Kopf. „Na, wo hast du dein Herrchen gelassen?“

Die Katze miaute und hob eine Pfote. Es sah fast so aus, als würde sie winken. Sie war irgendwie ein seltsames Tier.

Sebastian machte vorsichtshalber noch eine Runde durch die Wohnung. Kein Thorsten. Im Flur hing seine Anzugjacke an der Garderobe und vor dem Schuhschränkchen standen die Schuhe, die er gewöhnlich trug. Das sprach nicht dafür, dass er unterwegs war. Es schien eher, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Dafür klebte die Katze die ganze Zeit wie Kaugummi an Sebastian.

Gerade sprang sie neben ihm hoch ans Schlüsselbrett und erhaschte Thorstens Ersatzschlüssel für den Porsche. Klimpernd fiel er zu Boden. Sebastian bückte sich rasch, hob ihn auf und hängte ihn wieder ans Brett, bevor die Katze anfing, damit zu spielen. Thorsten war sein Auto heilig. Wenn die Katze etwas daran kaputtmachte …

Die Katze knurrte. Ihr Schwanz peitschte hin und her. Anscheinend gefiel es ihr nicht, wenn man ihr das Spielzeug wegnahm. Aber darum konnte sich Sebastian jetzt nicht kümmern. Ihn beschäftigten weit dringendere Sorgen.

Er ging zurück in die Küche und zückte sein Handy, um Nika anzurufen. Vielleicht hatte sie noch eine Idee, wo sich Thorsten aufhalten könnte. Im besten Fall hatte sie inzwischen sogar mit ihm gesprochen.

Aber bevor er Nikas Nummer gewählt hatte, tauchte die blöde Katze wieder auf. Dieses Mal trug sie einen Pappbilderrahmen im Maul. Sie kletterte auf den Küchenstuhl, ließ den Bilderrahmen auf den Tisch fallen und schob ihn in Sebastians Richtung. Auf dem Foto waren Thorsten und er zu sehen, wie sie den Pokal in die Höhe reckten, den sie auf dem letzten Betriebsfest im Tischtennis gewonnen hatten. Sebastian hatte es Thorsten geschenkt als Erinnerung – und als zarten Hinweis darauf, dass er auf mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen hoffte. Thorsten hatte das Foto im Wohnzimmer neben die Bilder von Susanne und Lilli gestellt, aber sonst nicht reagiert. Leider. Nichtsdestotrotz war Sebastian nicht begeistert, dass die Katze in dem Rahmen, den er nach einer Anleitung aus dem Internet mühevoll selbst zusammengebastelt hatte, jetzt ihre Zahnabdrücke verewigt hatte.

Was für ein nerviges Viech.

Er würde Thorsten ein paar Takte dazu erzählen, sobald er ihn aufgetrieben hatte. Er wandte sich wieder seinem Handy zu, um endlich Nika anzurufen. Doch er schaffte es nicht. Die Katze schlug ihm gegen die Hand, mit der er das Telefon hielt.

„Aua!“ Da waren Krallen involviert gewesen. Sebastian steckte das Handy weg und rieb sich die schmerzende Hand. „Was willst du bloß von mir?“

Die Katze tippte mit der Pfote auf das Foto und stupste dann ihn wieder an. Dieses Mal glücklicherweise sanft und ohne Krallen. Anschließend tippte sie erneut auf das Foto, zog die Pfote an den Körper, als ob sie auf sich selbst zeigen wollte und miaute. Das Spielchen wiederholte sie mehrfach – auf das Foto tippen, ihn anstupsen, wieder auf das Foto tippen und die Pfote zu sich ziehen.

Sebastian war verwirrt. Warum machte sie das? Er wusste nicht allzu viel über Katzen, doch ihm war klar, dass das kein normales Verhalten war. Ihn beschlich das Gefühl, dass sie ihm etwas mitteilen wollte. Nur was …?

Er besah sich die Katze genauer. Sie war klein, aber kompakt gebaut und besaß überwiegend hellbraunes, kurzes Fell, das von ein paar dunkleren Streifen durchzogen war, sowie weißes Fell rund um Nase und Schnauze. Ihre Augen waren blau. Seltsamerweise erinnerten sie Sebastian an Thorstens.

Die Katze zischte leise und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Schwanz wischte mehrmals über den Küchentisch. Dann begann sie ihr Spiel erneut, jedoch langsamer als zuvor.

Sebastian fiel auf, dass sie auf dem Foto immer auf ihn deutete, bevor sie ihn antippte, und auf Thorsten, bevor sie auf sich zeigte. Er fragte im Scherz: „Willst du mir etwa sagen, dass du Thorsten bist?“

Die Katze hielt abrupt inne und bewegte den Kopf auf und ab.

Sebastian blinzelte. Das sah fast aus wie … ein Nicken? „Thorsten?“, fragte er ungläubig.

Die Katze nickte wieder.

Sebastian kniff sich, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Der Gedanke war zu absurd. Thorsten hatte sich in eine Katze verwandelt? Oder vermutlich besser gesagt – in einen Kater? Aber er wachte nicht in seinem Bett auf, sondern stand weiterhin in Thorstens Küche.

Die Katze – nein, der Kater – nein, Thorsten stupste ihn an. Dann maunzte er herzzerreißend.

Das Geräusch ging Sebastian durch Mark und Bein. Instinktiv nahm er den Kater – verdammt, das war Thorsten – hoch und drückte ihn an sich.

Thorsten vergrub seinen Kopf in Sebastians Halsbeuge. Seine Schnurrhaare kitzelten Sebastians Haut. Er bebte heftig. Sebastian konnte es ihm nicht verübeln. Man verwandelte sich ja nicht alle Tage plötzlich in einen Kater. Er strich über Thorstens Rücken und murmelte: „Alles gut … Das wird alles wieder gut. Wir kriegen das hin. Zusammen. Das verspreche ich dir.“ Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wie das funktionieren sollte. Sein bester Freund war jetzt ein Kater.

Heilig’s Blechle aber auch …


Sebastians Streicheln und seine Worte taten gut. Langsam beruhigte Thorsten sich wieder. Heute Morgen unerwartet als Kater aufzuwachen, war – gelinde gesagt – eine Überraschung gewesen. Und die Stunden, die er danach allein in der Wohnung verbracht hatte, bis Sebastian endlich aufgetaucht war, hatten sein Nervenkostüm noch weiter strapaziert. Aber jetzt war Sebastian da. Er würde ihm helfen, eine Lösung für das Problem zu finden. Thorsten konnte sich auf ihn verlassen.

Sebastian ging mit ihm auf dem Arm zum Sofa und setzte sich. Thorsten ließ sich auf seinem Schoß nieder. Es war ein wunderbar bequemes Plätzchen, wie für ihn gemacht.

Sebastian fing wieder an, ihn zu streicheln.

Thorsten schloss die Augen. Wie oft hatte er sich als Mensch schon gewünscht, dass Sebastian ihn so berühren würde … Ihm unverfänglich nah sein zu können, war der einzige Vorteil, den Thorsten bisher am Katerdasein entdeckt hatte. Den würde er ausnutzen. Alles andere war schließlich bescheiden genug.

„Wie ist das passiert?“, fragte Sebastian.

„Keine Ahnung“, versuchte Thorsten zu antworten, doch er brachte nur ein Miau hervor.

Sebastian sah ihn auch entsprechend verständnislos an.

Thorsten peitschte frustriert mit dem Schwanz. Warum konnte er nicht mit Sebastian reden? Das würde so vieles einfacher machen. Aber es klappte nicht, egal wie er sich abmühte. Die einzigen Laute, die er von sich geben konnte, waren die eines Katers. Als Ersatz verlegte er sich darauf, zu nicken und anschließend den Kopf zu schütteln, um Sebastian zu signalisieren, dass er keinen blassen Schimmer hatte, warum er sich verwandelt hatte.

„Oh, natürlich. Ja/Nein-Fragen sind besser“, sagte Sebastian.

Das war zwar nicht das, was Thorsten gemeint hatte, aber egal. Diese Art Fragen konnte er immerhin beantworten.

„Weißt du, wie es passiert ist?“, fragte Sebastian.

Thorsten schüttelte den Kopf. Er war heute morgen so aufgewacht und hatte die ganze Sache für einen Albtraum gehalten. Aus dem er leider bisher nicht aufgewacht war. Als Kater durchs Leben zu gehen, schien wirklich seine neue Realität zu sein.

„Okay … tut dir irgendetwas weh? Ist alles in Ordnung?“

Thorsten schüttelte wieder den Kopf. Er hatte keine Schmerzen. Er steckte nur in einem Katerkörper und hatte keine Idee, was der Grund dafür sein könnte. Was war es daher für eine dumme Frage, ob alles in Ordnung mit ihm war? Er legte den Kopf schief und bemühte einen wenig begeisterten Blick, um Sebastian genau das zu verstehen zu geben. Dieses Mal kam die Botschaft an.

„Klar. Sorry … Du bist ein Kater. Natürlich ist nicht alles in Ordnung.“

Na bitte, ging doch. Thorsten setzte sich auf die Hinterbeine und schaute Sebastian erwartungsvoll an.

„Wann ist das passiert?“

Thorsten miaute mangels Alternativen, bevor er erneut den Kopf schieflegte. Das war keine Ja/Nein-Frage.

„Stimmt. Ah … gestern Abend warst du noch normal … Ist das heute Morgen passiert?“

Thorsten wiegte den Kopf hin und her. Das hing davon ab, wie man „Morgen“ interpretierte. Bis um 02.00 Uhr war er definitiv ein Mensch gewesen. Die Verwandlung hatte irgendwann danach stattgefunden.

„Heute Nacht?“

Thorsten nickte langsam.

„Während du geschlafen hast?“

Ein weiteres Nicken.

„Was für eine Scheiße.“

Da stimmte Thorsten ihm aus vollem Herzen zu. Er stieß mit dem Kopf gegen Sebastians Bauch und miaute. Er wollte Zuwendung und die Versicherung, dass er bald wieder ein Mensch sein würde. Sebastian streichelte ihn wie erhofft. Aber eine Idee, wie sich Thorsten wieder zurückverwandeln konnte, schien er nicht zu haben. Zumindest nicht spontan. Gut, er selbst hatte jetzt auch schon mehrere Stunden gegrübelt und war zu keinem Ergebnis gekommen. Möglicherweise erwartete er da etwas viel von Sebastian. Er hatte ja gerade auch lange gebraucht, bis er ihn erkannt hatte. Dabei hätte der Groschen spätestens beim Autoschlüssel fallen müssen. Zum Glück hatte die Idee mit dem Foto funktioniert.

Sebastians Handy klingelte. Er versuchte, an seine Hosentasche zu gelangen, um es herauszuziehen. Doch da Thorsten noch auf seinem Schoß saß, gestaltete sich die Sache schwierig.

„Könntest du mal bitte …?“, fragte Sebastian.

Thorsten ignorierte ihn und blieb, wo er war. Er amüsierte sich zu sehr über Sebastians Verrenkungen, als dass er freiwillig seinen gemütlichen Sitzplatz räumen würde.

Sebastian schnaubte. Mit Bewegungen, die einem Schlangenmenschen ebenbürtig waren, schaffte er es, das Handy herauszufriemeln. Etwas außer Atem nahm er das Telefonat an. „Hallo Nika.“

Thorsten schmiegte sich dicht an Sebastian, um auch die andere Seite des Gesprächs mitzuhören.

Hi. Hast du Thorsten inzwischen gefunden?

„In gewisser Weise …“ Sebastian kraulte Thorsten hinter den Ohren.

Das ist gut. Ihr werdet nämlich im Präsidium erwartet. Der Direktor der Wilhelma kommt gleich vorbei und möchte mit euch sprechen.

„Okay. Wir … sind gleich da.“ Sebastian legte auf.

Der Direktor der Wilhelma? Was wollte der denn von ihnen? Thorsten hatte das Gefühl, dass er etwas Entscheidendes verpasst hatte. Er miaute und versuchte, es möglichst fragend klingen zu lassen.

Sebastian verstand ihn dieses Mal auf Anhieb. Er erzählte Thorsten vom Leichenfund in der Wilhelma. „… und der Täter ist vermutlich aus dem Zooumfeld“, schloss er seinen Bericht. „Möchtest du mit ins Präsidium? Ich kann auch sagen, dass du krank bist und …“

Thorsten ließ ihn nicht aussprechen, sondern sprang zu Boden und eilte zur Wohnungstür.

Sebastian folgte ihm grinsend. „Das nenne ich eine klare Aussage.“

Thorsten tigerte ungeduldig auf und ab. Könnte Sebastian endlich mal die Tür aufmachen? Er wollte los. Aber Sebastian tat ihm den Gefallen nicht.

Stattdessen fragte er: „Bevor wir fahren – brauchst du noch irgendetwas? Essen, Trinken … Klo?“

Thorsten hielt inne. Dank des Lachs war er satt und Durst hatte er auch keinen, aber … Er drehte sich um, lief zur Badezimmertür und stieß mit der Pfote dagegen. Ohne Krallen, damit er keine Kratzspuren hinterließ. Er wollte bei einem eventuellen Auszug aus der Wohnung schon die komplette Kaution von seinem Vermieter zurück haben.

Sebastian kam zu ihm und öffnete die Tür. „Bitte sehr. Willst du Hilfe oder kommst du allein klar?“

Thorsten warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Sebastian hob die Hände. „Schon gut, schon gut. War ja nur eine Frage.“

Thorsten ging ins Bad und schubste die Tür mit einem geschickten Tritt zu. Als ob er nicht allein auf die Toilette gehen könnte. Doch ihn erwartete ein ungeahntes Problem. Der Toilettendeckel war geschlossen. Thorsten versuchte, ihn hochzuklappen, aber es funktionierte nicht. Kaum hatte er ein paar Zentimeter geschafft, da rutschte er ihm weg und fiel klappernd wieder herunter. Thorsten fluchte, was sich in einem lauten Fauchen äußerte.

Sebastian klopfte an die Tür. „Ist alles in Ordnung?“

Thorsten startete einen neuen Anlauf mit dem Deckel. Erneut scheiterte er. Wütend schlug er mit seinen Pfoten gegen die Toilette. Warum hatte er keine richtigen Hände? Warum konnte er nicht sprechen? Warum musste er bloß ein verdammter Kater sein?

Sebastian klopfte wieder. „Ist wirklich alles …? Thorsten, ich komme jetzt rein, okay?“ Langsam öffnete er die Tür. Er erfasste das Problem mit einem Blick, nachdem er das Badezimmer betreten hatte. „Oh … der Deckel?“

Thorsten nickte beschämt. Er war dankbar, dass Sebastian keine blöde Bemerkung machte, sondern einfach den Deckel hochklappte und wieder aus dem Bad verschwand, um ihm seine Privatsphäre zu lassen. Zum Glück schaffte er es, sein Geschäft allein zu verrichten. Auch die Spültaste war problemlos mit Katzenpfoten zu bedienen.

Thorsten lief zurück zur Tür. Er wollte sich schon bemerkbar machen, damit Sebastian sie für ihn öffnete, als ihn der Ehrgeiz packte. Er wusste, wie Türen funktionierten. Das musste doch auch als Kater irgendwie hinzukriegen sein. Er sprang hoch, erwischte die Klinke und drückte sie mit seinem Gewicht nach unten. Zu seiner Freude öffnete sich die Tür dadurch bereits einen Spalt. Er ließ sich wieder fallen und schob sie mit der Pfote so weit auf, dass er hindurchpasste. Stolz marschierte er aus dem Bad.

Sebastian machte ein herrlich dummes Gesicht, als er ihn entdeckte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass Thorsten das schaffte. Tja, man sollte ihn auch als Kater nicht unterschätzen. Die Wohnungstür ließ sich ebenfalls mit einem gekonnten Sprung öffnen.

Thorsten lief ins Treppenhaus und miaute auffordernd.

„Ich komme ja schon.“ Sebastian lachte und schloss die Tür hinter ihnen ab. Dafür benötigte man doch menschliche Fingerfertigkeit. Während sie die Treppen hinuntergingen, fragte er: „Du kannst es echt kaum erwarten, an die Arbeit zu gehen, oder?“

Thorsten übersprang leichtfüßig zwei Stufen auf einmal und stimmte Sebastian zu. Einen kniffeligen Fall zu lösen, war genau das Richtige, um ihn von seiner persönlichen Misere abzulenken.


Die Haustür fiel mit einem satten Geräusch hinter ihnen ins Schloss.

„Ich habe weiter links unten an der Straße geparkt. Hier war nichts frei.“ Sebastian deutete in die Richtung, in der sein Auto stand.

Aber Thorsten lief nach rechts – so schnell, dass Sebastian nur noch einen Sekundenbruchteil lang seine Schwanzspitze sah, bevor auch sie hinter der Hausecke verschwand.

Sebastian seufzte tief. Warum musste Thorsten als Kater bloß genauso stur sein wie als Mensch? Er ging ihm hinterher. Glücklicherweise hatte er eine Ahnung, wohin Thorsten verschwunden war. Und tatsächlich – er fand ihn im Innenhof des Mehrfamilienhauses. Dort, wo der Targa parkte.

Thorsten war damit beschäftigt, ihn zu umrunden und ausgiebig zu beschnuppern. An jedem Reifen rieb er seinen Kopf. Die Fahrertür bedachte er sogar mit seinem ganzen Körper. Eigentlich fehlte nur noch, dass er ein Beinchen hob, um den Porsche zu markieren. Aber so weit ging er dann doch nicht. Er setzte sich neben die Fahrertür und wartete darauf, dass Sebastian zu ihm kam.

„Du willst also den Porsche nehmen?“, fragte Sebastian.

Thorsten miaute langgezogen. Offenbar ein „Ja“.

„Dir ist aber schon klar, dass du nicht fahren kannst?“ Sebastian grinste.

Thorsten schaute in den Himmel, als betete er um Geduld. Er kam zu Sebastian, stupste zweimal gegen sein Schienbein und miaute wieder.

Dieses Miauen kannte Sebastian inzwischen. Es bedeutete, dass er etwas tun sollte – in diesem Fall wohl den Chauffeur spielen.

„Na, dann hole ich mal den Schlüssel.“ Beschwingten Schrittes machte er sich auf den Weg zurück in Thorstens Wohnung. Er freute sich darauf, hinter das Steuer des Porsche zu dürfen. Normalerweise saß er ja auf dem Beifahrersitz, aber jetzt würde Thorsten dort Platz nehmen. Sebastian hielt mitten im Laufen inne. Verflixt. Sie hatten ein Problem. Er konnte Thorsten unmöglich einfach so auf dem Beifahrersitz mitnehmen. Das war viel zu gefährlich. Gleiches galt für den Fußraum vor dem Beifahrersitz oder die Rückbank. Falls er in einen Unfall verwickelt wurde oder auch nur heftig bremsen musste, war Thorsten komplett ungeschützt. Aber Sebastian konnte ihn auch schlecht anschnallen. Der Gurt war für Menschen ausgelegt. Gab es so etwas wie einen Kindersitz – nur eben für Katzen?

Während Sebastian die Treppen hochstieg und in Thorstens Wohnung ging, wälzte er die verschiedenen Möglichkeiten in seinem Kopf hin und her. Er brauchte irgendetwas, das für den Gurt geeignet war und worin oder worauf Thorsten sitzen konnte. Ein Käfig wäre praktisch. Aber Thorsten hatte vermutlich ein Problem damit, eingesperrt zu werden. Verständlicherweise. Sebastian würde es genauso gehen. Aber eine oben offene Kiste vielleicht? Ja, ein stabiler Pappkarton würde funktionieren. Und Thorsten besaß bestimmt welche.

Fünf Minuten später stand Sebastian ernüchtert in Thorstens Hauswirtschaftsraum. Keine Kisten. In der gesamten Wohnung. Ihm war zwar klar, dass Thorsten ordentlicher als er selbst war, aber gar keine Kartons? Damit hatte er nicht gerechnet. Bestellte Thorsten nie etwas im Internet? Er selbst tat das und konnte sich allein deswegen vor Verpackungen nicht retten. Außerdem stapelten sich noch jede Menge volle Umzugskartons in seiner Wohnung.

Oh.

Sebastian wusste mit einem Mal, wo sich Thorstens Kisten befanden. Nämlich bei ihm zu Hause. Die Umzugskartons, die er gekauft hatte, hatten nicht gereicht und Thorsten hatte ihm seine Kisten für den Rest der Sachen geliehen. Nachdem sie zusammen die Möbel aufgebaut hatten, hatte er sogar angeboten, noch beim Auspacken der Kartons zu helfen. Aber Sebastian hatte abgelehnt, weil er Thorstens Großzügigkeit nicht überstrapazieren wollte. Um die Kisten konnte er sich auch selbst kümmern – das hatte er zumindest gedacht, dann jedoch nicht getan. Seine Wangen wurden warm. Das bedeutete, er brauchte eine Transportalternative. Und zwar zügig. Wer wusste schon, was Thorsten gerade für Unsinn anstellte, jetzt wo er allein war …

Sebastian sah sich im Hauswirtschaftsraum um. Konservendosen, alte Lampen, ein paar Ordner – nichts davon war geeignet. Sein Blick fiel auf einen roten Eimer, der neben der Waschmaschine stand. Thorsten nutzte ihn beim Wischen. Sebastian hob den Eimer hoch und betrachtete ihn von allen Seiten. Er war sauber, aus stabilem Plastik und hatte sogar einen Henkel. Groß genug für Thorsten war er auch. Ja, das könnte funktionieren.

Sebastian holte noch ein weiches Handtuch aus Thorstens Schlafzimmerschrank, um es in den Eimer zu legen. Thorsten sollte es einigermaßen gemütlich haben. Dann nahm er den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und ging zurück in den Innenhof.

Thorsten lag auf dem Verdeck des Porsche und genoss die Sonne. Als Sebastian näherkam, hob er den Kopf. Er beobachtete ihn für einen Moment, bevor er mit einem eleganten Satz vom Auto sprang.

Sebastian stellte den Eimer vor Thorsten hin.

Thorsten beäugte ihn interessiert.

„Mir ist gerade aufgefallen, dass du nicht einfach auf dem Beifahrersitz mitfahren kannst“, sagte Sebastian. „Das ist zu riskant. Wenn du in dem Eimer sitzt, bist du besser geschützt.“

Thorsten setzte sich auf die Hinterpfoten und fixierte Sebastian. Sein Blick sagte ganz klar: „Das ist jetzt ein schlechter Scherz von dir.“

„Nein, ich meine das durchaus ernst“, sagte Sebastian. „Den Eimer kann ich anschnallen. Dich nicht.“

Thorsten rührte sich nicht.

„Thorsten, bitte.“ Sebastian kniete sich hin. „Ich will nicht, dass dir irgendetwas passiert.“

Thorsten machte keine Anstalten, in den Eimer zu steigen.

„Thorsten …“ sagte Sebastian frustriert. Er kippte den Eimer in Thorstens Richtung, um ihm das Hineinklettern zu erleichtern. Natürlich könnte er ihn einfach selbst in den Eimer setzen, aber davon würde Thorsten noch weniger begeistert sein und sich wahrscheinlich wehren. Sebastian legte keinen Wert darauf, erneut Bekanntschaft mit seinen Krallen zu machen. „Tu doch bitte, was ich sage. Dann können wir los. Der Direktor der Wilhelma wartet bestimmt schon“, versuchte er, Thorsten zu überzeugen.

Von hinten ertönte eine Stimme. „Herr Bootz! Was machen Sie denn hier?“

Sebastian atmete tief durch. Auch das noch. Das war Herr Lipinska, Thorstens Nachbar. Musste der gerade jetzt wieder den Blockwart spielen?

„Thorsten hat mich um einen kleinen Gefallen gebeten“, sagte Sebastian bemüht freundlich. „Den erledige ich selbstverständlich gerne für ihn.“

Herr Lipinska musterte Thorsten und ihn intensiv. „Und deswegen knien Sie neben dem Porsche von Herrn Lannert mit einem Eimer vor einer Katze und reden mit ihr?“

Sebastian presste die Lippen zusammen. „Ja, genau.“

Zum Glück schien Herrn Lipinska die Situation so sehr zu irritieren, dass er nicht weiter nachfragte, sondern kopfschüttelnd zurück ins Haus ging.

Sebastian wandte sich wieder Thorsten zu. Der war in der Zwischenzeit natürlich nicht in den Eimer gestiegen. „Thorsten, bitte.“ Sebastian war am Rande der Verzweiflung. „Ich weiß, dass die ganze Situation doof ist, aber …“ Er schluckte kurz. „Ich würde mir nie verzeihen, wenn du dich verletzt – oder Schlimmeres passiert –, während ich fahre.“

Thorstens Blick wurde weich. Er stieß mit dem Kopf sanft gegen Sebastians Hand. Dann kletterte er in den Eimer. Endlich.

„Danke“, sagte Sebastian aus tiefstem Herzen. Er stellte den Eimer mitsamt Thorsten auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. Es war nicht die ideale Lösung, aber besser als nichts. Jetzt konnten sie sich auf den Weg ins Präsidium machen.

Chapter Text

Als Thorsten und Sebastian zu ihrem Büro kamen, wartete im Flur davor bereits ein Mann auf sie. Er trug einen gut sitzenden, dunkelblauen Anzug mit edler Seidenkrawatte, war ungefähr sechzig Jahre alt und von Sebastians Größe. Auf seiner Nase saß eine Hornbrille.

Er fixierte Sebastian durch die dunkel eingerahmten Gläser. „Sie sind Herr Bootz?“

Sebastian nickte. „Sebastian Bootz, Kriminalhauptkommissar.“

„Stetten. Direktor der Wilhelma“, erwiderte der Mann.

Das hatte sich Sebastian schon gedacht. Sie gaben sich die Hand.

„Schön, dass Sie endlich auftauchen“, sagte Herr Stetten. „Ich warte schon seit Stunden. Meine Zeit ist kostbar, wissen Sie?“

Sebastian schluckte die scharfe Erwiderung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es wäre taktisch unklug, Herrn Stetten gleich noch weiter zu verärgern. „Es tut mir leid. Ein Notfall ist dazwischen gekommen.“

„Notfall …“ Herr Stetten machte eine abfällige Handbewegung.

Sebastian biss die Zähne zusammen. Betont ruhig sagte er: „Kommen Sie doch bitte mit ins Büro. Dort können wir ungestört reden.“

Kaum hatte er die Tür geöffnet, da rauschte Herr Stetten schon hindurch, als gehöre der Raum ihm.

Sebastian schaute zu Thorsten. Ein kurzer Blickwechsel genügte und es war klar, dass sie beide dasselbe über Herrn Stetten dachten. Was für ein aufgeblasener und arroganter Fatzke, der sich für den Nabel der Welt hielt.

Sie gingen ebenfalls in ihr Büro. Thorsten sprang auf seinen Schreibtischstuhl.

Herr Stetten riss die Augen auf und machte einen großen Schritt nach hinten. „Was ist das …?“ Ihm schien erst jetzt aufzufallen, dass Sebastian nicht allein war, sondern einen Kater mitgebracht hatte.

Ja, der Kerl kreiste wirklich nur um sich selbst.

„Oh, das ist unser Bürokater“, sagte Sebastian leichthin.

Thorsten und er hatten auf der Fahrt zum Präsidium besprochen – sofern man eine Kommunikation mittels Ja/Nein-Fragen und Miauen als Gespräch bezeichnen konnte –, dass sie den Kreis der Leute, die von Thorstens Verwandlung wussten, so klein wie möglich halten wollten. Herr Stetten gehörte eindeutig nicht dazu. Den ging es einen feuchten Kehricht an, wer Thorsten wirklich war. Interessant war jedoch seine Reaktion auf Thorsten. War er nur überrascht von der Anwesenheit eines Katers? Oder besaß er eine tiefgreifendere Abneigung gegenüber Katzen?

„Meine Kollegin meinte, dass sie mit mir reden wollten?“, sagte Sebastian zu Herrn Stetten.

„Ja, ich …“ Herr Stetten wandte den Blick von Thorsten ab und drehte sich zu Sebastian. „Ich wollte Sie bitten, Ihre Ermittlungen äußerst … diskret zu halten. Die Schließung der Wilhelma heute Vormittag hat schon für genug Aufsehen gesorgt.“

Sebastian zuckte mit den Schultern. „Wir haben die nicht angeordnet. Das war Ihre Entscheidung.“

Herr Stetten brauste auf: „Ich kann die Wilhelma doch nicht öffnen, solange die Polizei mit einem Großaufgebot an inkompetenten –“

Thorsten miaute einmal kurz.

Herr Stetten zuckte zusammen. „Also, Sie haben selbstverständlich Ihr Bestes gegeben, aber … der Skandal soll sich nicht noch weiter ausbreiten. Wenn Sie jetzt bei uns offen weiterermitteln … Denken Sie an den Imageschaden für die Wilhelma!“

„Herr Stetten – einer Ihrer Mitarbeiter ist ermordet worden“, sagte Sebastian. „Und es spricht viel dafür, dass der Täter aus dem Umfeld der Wilhelma kommt.“

„Bitte was? Das kann gar nicht sein!“

„Ich fürchte doch. Wo waren Sie eigentlich gestern zwischen 20.00 Uhr und 23.00 Uhr?“

Herr Stetten plusterte sich auf. „Ich verbitte mir –“

„Eine reine Routinefrage“, unterbrach Sebastian ihn.

Herr Stetten kniff die Augen zusammen. „Ich war im Theater. Mit meiner Frau. Sie wird Ihnen das gerne bestätigen.“

„Gut, wir werden sie fragen.“ Sebastian blieb bei einem höflichen Tonfall.

Herr Stetten holte tief Luft, als ob er etwas sagen wollte. Doch er schien sich eines Besseren zu besinnen. Stattdessen nickte er nur knapp und verschwand ohne einen Abschiedsgruß aus dem Büro.

Sobald er außer Hörweite war, bemerkte Sebastian: „Was für ein reizender Zeitgenosse.“

Thorsten miaute zustimmend.

„Oh, und danke für deine Unterstützung.“ Sebastian lächelte Thorsten an.

Thorsten miaute noch einmal in einem leicht anderen Tonfall. Vermutlich bedeutete das „Gern geschehen“.

Obwohl Sebastian alles dafür tun würde, damit sich Thorsten so schnell wie möglich wieder zurückverwandelte – er war froh, dass sie auch als Kater und Mensch ein fantastisches Team bildeten.


„Was meinst du – sollen wir Nika und Frau Álvarez jetzt einweihen?“, fragte Sebastian.

Thorsten seufzte. Ganz wohl war ihm ja nicht bei dem Gedanken, anderen Leuten von seiner Verwandlung zu erzählen. Wer wusste schon, wo diese Neuigkeit dann überall landen würde. Aber Sebastian hatte vorhin im Auto zu recht darauf hingewiesen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sein würde, die ganze Sache vor ihren beiden engsten Kolleginnen geheimzuhalten. Die Ausrede mit „Bürokater“ würde bei ihnen im Gegensatz zu Herrn Stetten nicht ziehen. Da war es schon besser, sofort mit offenen Karten zu spielen und auf die Verschwiegenheit von Nika und Frau Álvarez zu bauen.

Er kletterte von seinem Stuhl.

Zusammen mit Sebastian ging er zu Nikas Büro.

Sebastian klopfte an ihre Tür. Dann öffnete er sie und streckte den Kopf ins Zimmer. „Hast du mal einen Moment? Thorsten und ich wollen etwas mit dir und Frau Álvarez besprechen.“

„Klar“, ertönte Nikas gedämpfte Stimme von drinnen. Sie kam aus ihrem Büro. Und natürlich entdeckte sie Thorsten sofort. „Oh, du bist aber eine schöne Katze!“ Sie ging in die Hocke und griff nach ihm.

Thorsten wich ihr aus. Streicheln durfte ihn nur Sebastian – der dann aber gerne so oft wie möglich.

Nika versuchte noch einmal, ihn anzulocken, doch als er nicht reagierte, erhob sie sich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck wieder. „Wie kommst du an eine Katze?“, fragte sie Sebastian.

Sebastian lachte freudlos. „Er ist keine Katze, sondern ein Kater. Und der Grund für die Besprechung.“

„Aha.“ Nika wirkte verwirrt.

Thorsten konnte es ihr nicht verübeln. Ihm ging es seit dem Aufwachen heute Morgen genauso. Aber für sie würde sich das Rätsel gleich aufklären, wohingegen er immer noch nicht wusste, warum er jetzt ein Kater war.

Sie gingen zu Frau Álvarez’ Büro. Sebastian klopfte wieder.

„Herein!“, rief Frau Álvarez.

Sebastian trat ein. Nika und Thorsten folgten ihm.

„Hätten Sie kurz Zeit für uns?“, fragte Sebastian Frau Álvarez. „Wir würden gerne etwas besprechen.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Frau Álvarez. „Ich wäre sowieso gleich zu Ihnen gekommen. Herr Lannert ist nämlich immer noch nicht aufgetaucht und ich erreiche ihn auch nicht auf seinem Handy. Ich hatte gehofft, dass Sie wissen, wo er steckt.“ Sie faltete ihre Hände auf dem Schreibtisch.

Sebastian und Nika nahmen in den weißen Ledersesseln gegenüber Platz. Thorsten sprang in Ermangelung einer weiteren Sitzgelegenheit auf Sebastians Schoß. Dort war es eh am bequemsten.

Frau Álvarez zog die Augenbrauen hoch, als sie ihn sah. Doch sie enthielt sich jeglichen Kommentars und fragte lediglich: „Worüber wollten Sie denn mit mir reden?“

Sebastian räusperte sich. „Nun ja … über Thorsten. Er ist hier. Er ist der Kater.“

Thorsten versuchte ein „Hallo“. Natürlich kam es wieder als ein Miau heraus.

Nika lachte. „Du willst uns verarschen. Der Kater ist doch nie im Leben Thorsten.“

„Doch, ist er“, sagte Sebastian.

„Herr Bootz – das ist ein Kater. Herr Lannert ist ein Mensch.“ Frau Álvarez sprach betont langsam, als ob sie mit jemandem redete, der schwer von Begriff war.

Thorsten schnaubte leise. Es wäre schön, wenn er ein Mensch wäre. Und es war klar, dass Nika und Frau Álvarez Sebastian nicht glaubten. Die Sache war einfach zu absurd. Er konnte es ja selbst kaum fassen und er steckte höchstpersönlich in diesem verflixten Katerkörper. Frustriert ließ er den Kopf auf seine Vorderpfoten sinken.

„Ich schwöre, er ist es wirklich“, sagte Sebastian. Er wandte sich an Nika. „Frag ihn etwas, das keine Katze wissen kann.“

„Hmm …“ Nika überlegte. „Was ist zwei plus drei?“

Thorsten seufzte innerlich. Er hatte keine große Lust, so eine dämliche Frage zu beantworten. Aber wenn es half, dass Nika und Frau Álvarez ihnen glaubten? Er richtete sich auf und miaute brav fünf Mal.

Nika runzelte die Stirn. Sie lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf das kleine Tischchen zwischen den Sesseln und betrachtete Thorsten intensiv.

„Das heißt nicht unbedingt etwas“, sagte Frau Álvarez. „Sie könnten den Kater darauf dressiert haben.“

„Auf Mathe?“ Sebastian klang entrüstet.

„Oder es war Zufall“, argumentierte Frau Álvarez weiter.

Normalerweise schätzte Thorsten es ja, wenn sie einen Fall von allen Seiten beleuchtete und ihre Ermittlungsergebnisse auf Schwachstellen abklopfte. Aber seiner Meinung nach stellte sie sich jetzt zu sehr auf stur. Als ob man mit einer richtigen Katze solche Fragen trainieren konnte. Und Zufall war das korrekte Ergebnis auch nicht. So weit reichten seine Rechenkünste noch.

Er wechselte einen Blick mit Sebastian. Sie mussten wohl stärkere Geschütze auffahren.

Sebastians Augenbraue zuckte nach oben. Offenbar hatte er eine Idee. Sehr gut. Als sich allerdings auch ein verschmitztes Grinsen auf Sebastians Gesicht ausbreitete, schwante Thorsten Übles. Was hatte Sebastian ausgebrütet?

Er brauchte nicht lange warten, denn Sebastian fragte ihn gleich darauf: „Wessen Auto hast du geschrottet, nachdem du erst zwei Tage hier in Stuttgart warst?“

Thorsten knurrte. Musste Sebastian ausgerechnet diese alte Geschichte wieder herausholen? Sie war ihm auch nach all den Jahren peinlich. Er hatte es damals total vermasselt. Wenn sie Fauser wenigstens geschnappt hätten … Aber vermutlich würde die Antwort Frau Álvarez tatsächlich davon überzeugen, dass er er war und nicht nur ein besonders gut dressierter Kater.

Thorsten sprang von Sebastians Schoß und auf Frau Álvarez’ Schreibtisch. Dann tippte er mit der Pfote auf ihre Hand.

Frau Álvarez’ Augen weiteten sich. „Herr Lannert? Sie sind …?“

Thorsten miaute zustimmend. Na, endlich.

„Also, das ist ja …“ Frau Álvarez schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück in ihren Stuhl.

Thorsten ging wieder zu Sebastian.

„Wie ist das passiert?“, fragte Nika.

„Das weiß Thorsten nicht“, antwortete Sebastian für ihn. „Die Verwandlung hat irgendwann heute Nacht stattgefunden, während er geschlafen hat.“

„Vielleicht ein Fluch?“, schlug Nika vor. „Gibt es irgendjemanden, der dich nicht leiden kann?“

Da kamen einige Personen infrage. Er war Polizist. Die wenigsten Menschen mochten es, wenn er sie für das Verbrechen, das sie begangen hatten, verhaftete und sie im Gefängnis landeten. Aber verflucht werden? Das war Magie. So etwas gab es nur in Büchern und Filmen, nicht in der Realität. Wobei … Bis heute Morgen hätte Thorsten geschworen, dass man sich auch nicht einfach in einen Kater verwandelte.

„Oder sind Sie eine Werkatze?“, fragte Frau Álvarez.

„Was ist das?“, wollte Sebastian wissen.

„Das ist so etwas ähnliches wie ein Werwolf, nur dass sich der Mensch in eine Katze anstatt in einen Wolf verwandelt“, erklärte Frau Álvarez. „Meine Großmutter hat mir als Kind die ganzen Legenden über sie erzählt.“

„Ich glaube, wir haben aber gerade Halbmond“, wandte Nika ein.

Frau Álvarez schaute auf ihren Tischkalender. „Hm, das stimmt. Schade.“

Thorsten erschien die Werkatzen-Theorie eh abwegig. Ihn hatte niemand gebissen, was ja wohl die Voraussetzung war, dass man zu einem Werwolf – oder in seinem Fall Werkater – mutierte.

Es herrschte Stille im Büro.

Schließlich fragte Nika: „Hast du irgendetwas besonderes getrunken? So ein Serum wie in den Marvel-Filmen? Captain America hat sich ja auch dadurch verwandelt.“

„Dann hätte er doch eigentlich groß und kräftig werden müssen anstatt klein und knuddelig“, sagte Sebastian süffisant. „Das bringt –“

Thorsten legte eine Pfote auf Sebastians Hand und fuhr seine Krallen aus. Nicht komplett, sondern nur so viel, dass Sebastian die nadelspitzen Enden spürte.

Seine Botschaft kam an. Sebastian klappte den Mund zu und rührte sich keinen Millimeter mehr.

„Wie verständigen Sie sich überhaupt?“, fragte Frau Álvarez.

„Ähm …“ Sebastian schaute zu Thorsten.

Thorsten zog die Krallen wieder ein und nickte gnädig. Die Frage durfte Sebastian für ihn beantworten.

„Mit Ja/Nein-Fragen“, sagte Sebastian. „Körpersprache. Und ich kann anhand des Tonfalls von seinem Miau ungefähr erahnen, was er sagen will. Aber ideal ist es nicht.“

„Ich habe eine Idee.“ Nika sprang plötzlich auf. „Bin gleich wieder da.“

Ehe einer von ihnen reagieren konnte, war sie schon aus dem Büro verschwunden. Als sie wieder zurückkam, hielt sie ein Tablet in der Hand. Sie klappte die Schutzhülle auf und legte es auf das Tischchen.

„Probier mal, ob du das mit deiner Pfote bedienen kannst“, sagte sie.

Thorsten kletterte auf das Tischchen und tippte vorsichtig auf das Display. Tatsächlich – es ging an.

Nika nahm noch einige Einstellungen vor. Es ging zu schnell, als dass Thorsten mitbekam, was sie genau machte, aber nachdem sie fertig war, war auf dem Display eine große Tastatur zu sehen.

Thorsten verstand mit einem Mal, welche Idee Nika gehabt hatte. Er tippte auf der Tastatur. Zuerst mit der ganzen Pfote, aber das klappte nicht. Die war zu groß und er erwischte mehrere Buchstaben gleichzeitig. Er spreizte seine Pfote so weit wie möglich auseinander. Vorsichtig versuchte er, nur mit dem vordersten Teil, der Fingerbeere, einen Buchstaben zu treffen. Es funktionierte! Langsam tippte er weiter und Hal(o erschien auf dem Display. Er hatte einmal zu lange auf das „L“ gedrückt, aber Tippfehler waren ihm momentan völlig egal. Er konnte wieder mit anderen reden! Das war wirklich ein genialer Einfall von Nika gewesen. Er machte sich sofort daran, ihr das zu schreiben.

Danke tolle idee

Dieses Mal ging das Tippen schon leichter. Er schob das Tablet in Nikas Richtung.

Nika las, was er geschrieben hatte. „Gerne doch“, sagte sie mit einem Lächeln.

Sebastian beugte sich vor, sodass er ebenfalls auf das Tablet schauen konnte. „Hey, das ist ja super!“

Er hörte sich genauso euphorisch an, wie sich Thorsten gerade fühlte. Am liebsten wäre er vor Freude in die Luft gehüpft. Aber das war vielleicht doch etwas zu viel des Guten. Als Ersatz sprang er auf Sebastians Schoß. Sebastian drückte ihn an sich und streichelte ihn. Thorsten genoss die Berührung für einen Moment. Dann wand er sich wieder aus Sebastians Umarmung, drehte sich zum Tischchen und zog das Tablet zu sich. Er war erleichtert, dass Nika und Frau Álvarez die Neuigkeiten so gut aufgenommen hatten und auch sein Kommunikationsproblem gelöst war. Doch eine Sache gab es noch, die ihm auf dem Herzen lag. Konnte er sich darauf verlassen, dass Nika und Frau Álvarez dichthalten würden?

Konzentriert tippte er.

Nichts sagen

Nika und Sebastian beugten sich über das Tablet und lasen.

„Was meinst du damit?“, fragte Nika.

Gut, vielleicht hatte er sich ein bisschen zu knapp ausgedrückt. Er ergänzte seine erste Nachricht.

Kollegen

„Ah, dass du die Verwandlung nicht an die große Glocke hängen willst?“, vermutete Sebastian.

Thorsten miaute zustimmend.

„Wir haben vorhin schon darüber geredet“, sagte Sebastian. „Thorsten möchte, dass die ganze Sache unter uns bleibt.“ Er machte eine Handbewegung, die Nika, Frau Álvarez und ihn einschloss.

„Klar“, sagte Nika sofort. „Von mir erfährt niemand etwas.“

Frau Álvarez versicherte: „Ich schweige selbstverständlich auch.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: „Einen Vorschlag hätte ich allerdings. So weit ich weiß, besitzt Doktor Vogt Katzen. Wollen Sie ihn nicht noch mit einweihen? Er könnte Sie beraten, was Katzen alles brauchen.“

Thorsten wechselte einen Blick mit Sebastian, dann nickte er. Obwohl er gerade ein Kater war, hatte er keine Ahnung von Katzen. Sebastians Wissen war wohl ebenfalls begrenzt. Da würde jemand, der sich auskannte und den sie fragen konnten, bestimmt nicht verkehrt sein.

„Wir sollten eh mit ihm reden“, sagte Sebastian. „Womöglich hat er unsere Leiche inzwischen schon obduziert.“


Nach einem Imbiss für Sebastian – Currywurst mit Pommes, von denen Thorsten auch ein, zwei, vielleicht sogar drei Stück naschte – machten sie sich auf den Weg in die Rechtsmedizin.

Sebastian schob die schwere Tür zum Sektionssaal auf. Thorsten huschte hindurch, sobald der Spalt groß genug war – und blieb gleich hinter der Tür wieder stehen, sodass Sebastian beinahe über ihn gestolpert wäre, als er ebenfalls den Saal betrat.

„Was ist?“, fragte Sebastian.

Thorsten schaute zu ihm hoch. Er hatte die Augen zusammengekniffen und rümpfte die Nase. Irgendetwas schien ihn anzuwidern.

Sebastian schnupperte. In der Rechtsmedizin roch es nie nach Rosen und frisch gemähtem Gras, aber dafür, dass sie August hatten, ging es seiner Meinung nach noch.

Die Tür links von ihnen öffnete sich und Vogt kam heraus.

„Schön, dass Sie da sind. Frau Banovic hatte Sie bereits angekündigt.“ Sein Blick fiel auf Thorsten, der inzwischen den Eindruck machte, am liebsten sofort wieder rückwärts aus dem Raum laufen zu wollen. „Natürlich, der Geruch … Kommen Sie doch mit.“

Vogt führte sie in sein Büro.

„Tut mir leid – die Lüftung des Saals ist nicht an den Geruchssinn von Katzen angepasst“, sagte er. „Die verirren sich so selten dorthin.“

„Ah, das ist keine Katze“, sagte Sebastian. „Das ist …“

„… der Herr Lannert, ich weiß“, unterbrach Vogt ihn. „Frau Banovic hat mir alles erklärt.“ Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und deutete auf die beiden Stühle, die davor standen. „Setzen Sie sich doch.“

Thorsten sprang auf einen der Stühle und rollte sich zusammen.

Ein bisschen enttäuscht ließ sich Sebastian auf dem anderen nieder. Er hatte gehofft, dass Thorsten wieder bei ihm auf dem Schoß sitzen würde. Er mochte das. Aber Thorsten hatte offenbar gerade keine Lust dazu.

„Wie kann ich Ihnen denn helfen?“, fragte Vogt.

Sebastian schaute zu Thorsten. Er war bereit, das Tablet aus dem Auto zu holen, damit Thorsten direkt mit Vogt reden konnte. Doch Thorsten rührte sich nicht. Er schien damit zufrieden zu sein, Sebastian das Gespräch zu überlassen. Seltsam. Vorhin hatte er sich noch so darüber gefreut, dass er sich endlich wieder verständigen konnte. War alles in Ordnung mit ihm?

„Nun ja, wir sind beide totale Anfänger, was Katzen angeht“, sagte Sebastian zu Vogt. „Ich weiß, dass es Kratzbäume gibt und dass Katzen Mäuse fangen und …“ Oh Gott – Mäuse. Nicht, dass Thorsten sie jagen würde, aber … brauchte er nicht spezielles Katzenfutter? „Was ist mit Essen? Ich habe ihm heute Morgen Lachs gegeben und gerade eben hat er ein bisschen was von meinen Pommes abbekommen. War das okay? Verträgt er das? Oder war das giftig?“

Panisch fragte er Thorsten: „Geht’s dir gut? Tut dir was weh?“ Wie blöd konnte man sein, dass ihm das nicht vorher eingefallen war? Und so apathisch, wie Thorsten auf dem Stuhl lag – da stimmte doch etwas nicht. Er beugte sich zu Thorsten und hob ihn hoch. Thorsten zappelte in seinem Griff, aber Sebastian ließ nicht locker. Er drehte Thorsten hin und her, damit er ihn von allen Seiten ansehen konnte. „Thorsten, es tut mir so leid!“

Thorstens Zappeln wurde stärker. Er miaute laut.

„Herr Bootz …“, sagte Vogt.

Sebastian ignorierte ihn. „Glaub mir, das war keine Absicht“, sagte er zu Thorsten. „Ich –“

„Herr Bootz, beruhigen Sie sich!“, unterbrach Vogt ihn.

„Was? Wie denn? Thorsten ist krank wegen mir!“

Thorsten miaute erneut.

„Wie viele Pommes hat er denn gegessen?“, fragte Vogt.

„Zwei oder drei?“

„Waren die irgendwie besonders gewürzt?“

Sebastian zuckte mit den Schultern. „Das normale Salz halt.“

„Dann sollte das kein Problem sein“, sagte Vogt. „Der Lachs auch nicht. Der war sogar genau richtig.“

„Wirklich?“, fragte Sebastian.

Vogt nickte. „Und Herrn Lannert geht’s gut. Sehen Sie doch, wie er sich bewegt.“

Thorsten trat mit den Hinterbeinen heftig um sich.

Vogt wandte sich an Thorsten: „Ihnen tut nichts weh, stimmt’s?“

Thorsten nickte, so gut er es in Sebastians Griff konnte.

„Na, bitte“, sagte Vogt. „Sie sollten ihn jetzt nicht jeden Tag mit Pommes füttern, aber für das eine Mal passt das schon.“

Sebastian setzte Thorsten auf seinem Schoß ab. „Tut mir leid“, murmelte er. Seine Wangen brannten. Es war ihm peinlich, dass er so die Fassung verloren hatte. Aber die Vorstellung, Thorsten zu verlieren – und dann ausgerechnet wegen eines Fehlers seinerseits –, war unerträglich. Allein bei dem Gedanken daran lief es ihm auch jetzt noch kalt den Rücken hinunter.

Thorsten schmiegte sich an ihn, schaute zu ihm hoch und blinzelte langsam. Es war wohl wirklich alles okay.

Erleichtert streichelte Sebastian ihn. „Du meldest dich aber sofort, wenn es dir doch noch schlecht gehen sollte, oder?“

Thorsten miaute langgezogen – sein Signal für „Ja“.

„Danke“, sagte Sebastian.

Vogt räusperte sich. „Also, Sie sollten auf jeden Fall Katzenfutter besorgen. Es gibt Trocken- und Nassfutter in diversen Varianten. Sie müssen sich vielleicht ein bisschen durchprobieren, aber es wird etwas dabei sein, das schmeckt. Sie brauchen natürlich auch Näpfe für Futter und Wasser. Ansonsten der Kratzbaum, den Sie schon angesprochen haben. Und ein Katzenklo mit Streu, die klumpt, wenn …“

Thorsten verspannte sich in Sebastians Armen.

Sebastian ahnte, dass ein Protest kommen würde. Schnell sagte er: „Oh, da besteht kein Bedarf.“

Glücklicherweise fragte Vogt nicht nach, sondern akzeptierte Sebastians Einwand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Gut, dann wären noch ein Katzenbett und eine Transportbox sinnvoll. Eventuell auch Spielzeug und etwas für die Fellpflege, falls Sie das für nötig halten. Das wäre die Grundausstattung für Katzen.“

„Wo bekommen wir eigentlich all die Sachen?“, fragte Sebastian.

„Sie werden in jedem größeren Geschäft für Heimtierbedarf fündig“, sagte Vogt. „In Feuerbach ist ein gut sortierter Laden. Da kaufe ich gerne ein für meine beiden Stubentiger.“

Das war nicht so weit vom Präsidium entfernt. Sie könnten sich gleich auf den Weg dorthin machen. Und er würde dafür sorgen, dass Thorsten nur das Beste vom Besten bekam. Wann hatte er nämlich sonst schon mal die Chance, ihn so richtig zu verwöhnen?

Sebastian setzte Thorsten auf den Boden und stand auf. „Danke. Sie haben uns sehr weitergeholfen“, sagte er zu Vogt.

Thorsten gab ein zustimmendes Miauen von sich.

Vogt erhob sich ebenfalls. „Wenn Sie noch mehr Fragen haben – melden Sie sich gerne.“

„Machen wir“, sagte Sebastian.

Vogt begleitete sie zur Tür. Dort angekommen sagte er: „Ach, bevor ich es vergesse … Ich habe mir die Leiche aus der Wilhelma schon kurz angesehen.“

„Oh – und?“, fragte Sebastian.

„Das Opfer ist erschlagen worden. Von einem Menschen. Wahrscheinlich mit einem stumpfen, breiten Gegenstand – eine Schaufel oder ein Backblech zum Beispiel.“

Sebastian zog eine Augenbraue hoch. „Ein Backblech wird es in der Wilhelma wohl nicht geben. Schaufeln hingegen …“

„Das stimmt. Der Leopard war nicht für den Tod verantwortlich. Er hat lediglich hinterher an der Leiche herumgeknabbert.“

„Also war es definitiv Mord?“

Vogt nickte. „Ich würde Ihnen die Verletzungen am Kopf auch zeigen, aber dann müssten Sie den Geruch im Sektionssaal ertragen.“ Er schaute zu Thorsten.

Sebastian sah ihn auch an.

Thorstens gekräuselter Nase nach schien er von der Aussicht nicht begeistert zu sein.

„Ich glaube, wir verzichten dieses Mal lieber“, sagte Sebastian.

„Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich mit der Obduktion fertig bin“, sagte Vogt.

„Gut, danke“, sagte Sebastian. „Und wir gehen jetzt shoppen.“

„Viel Spaß dabei“, wünschte Vogt. „Passen Sie aber auf, dass Sie nicht zu viel besorgen. Bei Katzenbedarf passiert das schneller, als man denkt …“


Thorsten lag in Sebastians Wohnung auf der Couch und schaute Sebastian dabei zu, wie er all die Sachen, die er vorhin gekauft hatte, ins Wohnzimmer schleppte. Aufgrund von Vogts Warnung hatte er sein Bestes gegeben, um Sebastian davon abzuhalten, das halbe Geschäft leerzuräumen – aber ohne Erfolg.

Jetzt stapelten sich hier neben den bereits vorhandenen Umzugskartons und anderen Kisten noch dutzende Dosen Nassfutter, mehrere Säcke Trockenfutter, vier Keramiknäpfe samt rutschfester Unterlagen, ein Kratzbrett mit einer Ballbahn drumherum, ein Katzenminzeball sowie weiteres Spielzeug, eine Fellbürste und noch anderer Kram, von dem Thorsten nicht einmal genau wusste, wofür man ihn brauchte. Außerdem würde am Samstag ein großer Kratzbaum nachgeliefert werden, weil er nicht in den Porsche gepasst hatte.

Wenigstens hatte Sebastian die Transportbox wieder zurückgestellt, nachdem Thorsten seinen Unmut darüber mit einem lauten Fauchen kundgetan hatte. Er würde sich nicht einsperren lassen, ganz egal ob man normalerweise Katzen auf diese Weise von A nach B brachte oder nicht. Er hatte seinen Eimer. Der reichte völlig.

Sebastian kam mit einem dicken, runden Katzenbett unter dem Arm ins Wohnzimmer und legte es vor dem Fernseher auf den Boden.

„So, das war das letzte Teil“, sagte er außer Atem. „Der Porsche ist leer.“

Er ließ sich neben Thorsten auf die Couch fallen. Thorsten rückte näher an ihn heran und legte seine Vorderpfoten auf Sebastians Bein. Sebastian fing auch gleich an, ihn zu streicheln. Thorsten war stolz darauf, wie gut er ihn inzwischen erzogen hatte. Mit Streicheleinheiten auf Verlangen ließ es sich aushalten als Kater. Doch viel zu schnell nahm Sebastian seine Hand wieder weg.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe Hunger nach all der Schlepperei“, sagte er. „Was hältst du von Abendessen?“

Thorsten horchte in sich hinein. Ja, doch. Er hatte durchaus auch Appetit. Er sprang vom Sofa und machte sich auf den Weg in die Küche.

Zu seiner Verwunderung kam ihm Sebastian nicht gleich hinterher, sondern rumorte noch im Wohnzimmer herum. Dann erschien er in der Küchentür. In einer Hand hielt er zwei Näpfe und in der anderen balancierte er mehrere Katzenfutterdosen.

„Ich habe dir eine Auswahl mitgebracht.“ Er stellte die Näpfe auf den Boden. Anschließend kniete er sich hin und reihte die Dosen vor Thorsten auf. „Guck mal. Was möchtest du haben?“

Thorsten starrte Sebastian entgeistert an. Erwartete er etwa, dass er Katzenfutter aß?

Klar, Vogt hatte das erwähnt. Die Verkäuferin im Geschäft hatte ihnen auf Sebastians Bitte hin auch genauer erklärt, welche Ernährung Katzen benötigten – viel tierisches Eiweiß und Fett, kaum Kohlenhydrate –, und ihnen die verschiedenen Futtersorten präsentiert. Thorsten hatte ebenfalls nicht protestiert, als Sebastian den Einkaufswagen mit Dosen und Säcken beladen hatte. Aber das hatte nur daran gelegen, dass er sich so katzenhaft wie möglich verhalten hatte, um kein Aufsehen zu erregen. Nie im Leben war er davon ausgegangen, dass er das Zeug tatsächlich essen sollte. Sebastian veräppelte ihn jetzt doch, oder …?

„Na, was ist? Willst du Pute? Oder lieber Rind? Oder alles gemischt?“ Sebastian zeigte auf die jeweiligen Dosen. Anscheinend war es sein voller Ernst, dass das Thorstens Abendessen sein würde.

Thorsten schüttelte fassungslos den Kopf. Er würde kein Katzenfutter essen. Er war schließlich ein Mensch. Gut, er war gerade schon ein Kater, aber trotzdem. Bei Katzenfutter streikte er.

„Soll ich noch eine andere Sorte holen?“, fragte Sebastian. „Oder … Moment.“ Er stand auf und verließ die Küche.

Thorsten schaute ihm hinterher. Was hatte er vor?

Er brauchte nicht lange warten, bis Sebastian zurückkehrte. Er hatte das Tablet mitgebracht.

„So, jetzt kannst du mir sagen, was du essen möchtest.“

Oh, das Tablet war eine gute Idee. Sofort tippte Thorsten.

Gar nichts

Sebastian las die Nachricht. „Aber du musst doch etwas essen“, sagte er besorgt.

KATZENFUTTER

Thorsten schrieb extra in Großbuchstaben, damit Sebastian endlich das Problem begriff, das Thorstens Meinung nach offensichtlich sein sollte für jeden, der mehr als zwei Gehirnzellen besaß.

Doch Sebastian verstand es immer noch nicht. „Ja, das ist genau das Richtige für dich. Vogt hat das auch gesagt.“ Er lächelte Thorsten ermutigend an und schob die Dosen näher.

Thorsten knurrte frustriert. Wie konnte er Sebastian von der dämlichen Idee abbringen, dass Katzenfutter tatsächlich essbar war? Er tippte erneut.

Du probierst

Sebastian verzog das Gesicht.

Thorsten bemerkte es mit Genugtuung. Allem Anschein nach mochte er das Zeug auch nicht essen. Warum sollte er selbst es also tun?

Sebastian fischte einen Löffel aus der Schublade, öffnete die Dose mit der Rind-Variante und füllte das Futter in den Napf um. Thorsten musste zugeben, dass es nicht ganz so unappetitlich aussah, wie er es sich vorgestellt hatte. Es erinnerte ihn entfernt an die Babynahrung, die sie Lilli gegeben hatten, als sie ein gutes Jahr alt gewesen war – nur mit größeren Fleischstückchen.

Ein bisschen was vom Futter war am Löffel kleben geblieben. Sebastian hielt den Löffel hoch, betrachtete ihn für einen langen Moment … und leckte ihn dann ab.

Thorsten fehlten die Worte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Sebastian tatsächlich das Katzenfutter probieren würde. Und er spuckte es auch nicht wieder aus. Stattdessen fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

„Es ist essbar“, befand er und schob den Napf zu Thorsten. „Jetzt bist du dran.“

Mist.

Widerwillig schnupperte Thorsten an dem Futter. Es roch nicht so lecker wie normales Essen, aber glücklicherweise auch nicht Übelkeit erregend schlimm. Er sah noch einmal zu Sebastian. Musste er wirklich …?

Sebastian grinste ihn an und zog seine Augenbraue hoch.

Da durfte er wohl nicht auf Gnade hoffen. Thorsten seufzte innerlich. Und dann aß er zum ersten Mal in seinem Leben Katzenfutter.

Sebastians Urteil traf es ganz gut. Es war essbar. Wenn Thorsten ehrlich war, hatte der eingelegte Hering, den er vor Jahren mal in Schweden probiert hatte, sogar deutlich schlimmer geschmeckt. Nichtsdestotrotz schaute er wehmütig auf die Pizza, die Sebastian für sich selbst in den Backofen schob. Hoffentlich würde er so etwas auch bald wieder essen können.

Nach dem Essen machte sich Sebastian daran, die neu erworbene Katzenausstattung zu verstauen. Das Futter landete in der Küche, das Katzenbett wanderte ein paar Meter weiter neben den Polsterstuhl, der in der Wohnzimmerecke stand, und das Spielzeug fand seinen Platz in einem Weidenkörbchen.

Thorsten hätte Sebastian gerne geholfen, aber ihm fehlten die nötigen Hände dafür. Also lag er auf dem Sofa, das Tablet neben sich, und leistete Sebastian einfach Gesellschaft.

Als alles verstaut war, setzte sich Sebastian zu ihm auf die Couch. „Wie wollen wir das eigentlich bei der Arbeit morgen machen?“, fragte er.

Thorsten miaute. Wie meinte Sebastian das jetzt?

„Nun ja, es werden Befragungen anstehen“, präzisierte Sebastian. „Willst du wieder dabei sein?“

Thorsten maunzte empört, bevor er auf seinem Tablet tippte.

Klar

„Okay, dumme Frage. Es wäre allerdings besser, wenn du das dann morgen nicht machst.“ Sebastian zeigte auf das Tablet. „Ein Kater, der schreiben kann, fällt doch auf.“

Da hatte Sebastian recht. Thorsten klappte demonstrativ das Tablet zu und schob es beiseite. Er würde morgen den Modellkater schlechthin geben. Wenn ihm bei den Befragungen etwas komisch vorkam, würde er es schon schaffen, sich anderweitig bemerkbar zu machen. Mit Sebastian funktionierte non-verbale Kommunikation ja auch ganz gut.

„Vernehmung mit Kater – das wird bestimmt spannend.“ Sebastian grinste. Dann griff er nach der Fernbedienung und zappte durch die Sender, bis er bei einem alten James-Bond-Film hängenblieb. „Ist der okay?“

Thorsten nickte. Ihm war es egal, was sie schauten. Er hatte eh andere Pläne. Er ließ sich auf Sebastians Schoß nieder – sein neuer Lieblingsplatz – und stupste Sebastians Hand mit seiner Pfote an.

Sebastian lachte leise und fing gehorsam an, ihn zu streicheln.

Thorsten rollte sich zusammen. Er schloss die Augen. So stellte er sich den perfekten Abend vor, wenn Sebastian und er ein Paar wären. Sie verbrachten ungestörte Zeit zu zweit, kuschelten miteinander auf dem Sofa und redeten dabei über den Tag oder irgendetwas anderes, das sie bewegte. Gut, die Unterhaltung kam gerade ein bisschen zu kurz, aber der Rest war einfach fantastisch.

Sebastians Finger fühlten sich herrlich an. Er kraulte nicht zu leicht und nicht zu stark, sondern genau richtig. Zuerst hatte er sich Thorstens Rücken gewidmet und wanderte nun weiter hoch zu seinem Nacken und Hinterkopf. Oh, das waren die besten Stellen. Was für ein Genuss! Sebastian sollte niemals wieder aufhören damit …

„Du schnurrst ja!“, sagte Sebastian plötzlich über den Ton des Films hinweg.

Thorsten erstarrte. Er tat was? Oh Gott, wie peinlich. Normalerweise hatte er sich besser im Griff. Vorsichtig drehte er den Kopf und linste hoch zu Sebastian. Was dachte er jetzt bloß von ihm?

„Hey, so war das nicht gemeint.“ Sebastian legte die Hand auf Thorstens Schulter. „Ich mag dein Schnurren. Dann weiß ich, dass dir gefällt, was ich mache.“ Seine Stimme klang ganz warm und ein weiches Lächeln lag auf seinen Lippen.

Thorsten zögerte. Er war noch nicht komplett überzeugt, dass Sebastian die Wahrheit sagte. Hatte er wirklich kein Problem damit, wenn Thorsten vor Wohlbehagen schnurrte? Doch als Sebastian erneut anfing, ihn zu streicheln, schmolz sein Widerstand. Er legte sich wieder hin. Er bekam einfach nicht genug davon, so von Sebastian berührt zu werden. Viel zu lange schon sehnte er sich nach dieser Art von Nähe …

Nachdem James Bond erfolgreich die Welt gerettet hatte, sagte Sebastian: „Ich muss ins Bett. Aber du kannst gerne noch weiter fernsehen, wenn du möchtest.“

Thorsten entrollte sich, kletterte von Sebastians Schoß und schüttelte den Kopf. Er war auch müde. Schlafen war eine gute Idee.

Sebastian schaltete den Fernseher aus. „Du machst es dir hier bequem, okay? Entweder auf deinem neuen Bett, auf der Couch oder wo auch immer. Ganz, wie es dir passt. Und wenn irgendetwas ist – ich lasse die Tür zu meinem Schlafzimmer auf.“ Er strich noch einmal über Thorstens Kopf. „Gute Nacht.“

Thorsten wünschte Sebastian ebenfalls eine gute Nacht. Natürlich in Form eines Miaus, aber Sebastians Lächeln verriet ihm, dass er ihn trotzdem verstanden hatte.

Sebastian verließ das Wohnzimmer.

Thorsten hörte, wie er zuerst ins Bad und dann in sein Schlafzimmer ging. Er selbst blieb unschlüssig auf der Couch sitzen. Nach einer Nacht auf dem Sofa – zumindest als Mensch – protestierte sein Rücken morgens inzwischen doch erheblich. Also war das keine Option. Und das Katzenbett? Das wäre zwar weicher und bequemer als die Couch, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, es zu benutzen. Es kam ihm vor, als würde er sich damit abfinden, ein Kater zu sein, wenn er darauf schlief. Aber das war er nicht und das tat er nicht. Er wollte ein richtiges Bett.

Eigentlich wollte er sogar ein ganz bestimmtes Bett – nämlich Sebastians. Mit Sebastian drin. Wann sonst würde sich wieder die Chance bieten, die Nacht neben ihm zu verbringen?

Und wenn Sebastian schon geradezu einladend die Tür offen stehen ließ …