Chapter Text
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I wanna hold hands with you
but that′s all I wanna do right now
and I wanna get close to you
cause your hands and lips still know their way around
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Sie konnten sich einigen, dass seine Mutter draußen am Auto wartete; Adam sah doch, wie unwohl sie sich hier fühlte. Und er verspürte eine gewisse Erleichterung, nicht mehr ihren sorgenvollen Blick im Nacken zu fühlen. Sie meinte es gut. Das wusste er.
Aber manchmal war gut eben nicht genug.
Heinrich brachte noch einen Stuhl für ihn, während Leo und seine Mutter ankamen. Sie wirkten beide nervös, Leo fummelte an den Ärmeln seiner Jeansjacke herum und blickte sich so verschüchtert um, dass Adam ihn am liebsten in den Arm genommen hätte.
Stattdessen lehnte er an der Wand, die Arme verschränkt, weil er nicht wusste, was er sonst mit ihnen machen sollte. Leo mied noch immer seinen Blick. Und Adam wurde einfach nicht schlau daraus, denn eigentlich sollte Leo ihn hassen, dafür, dass er ihn in diese ganze Scheiße hineingezogen hatte. Aber Leo wollte ihn hier haben. Aus irgendeinem bescheuerten Grund.
„Hier“, sagte Heinrich zu ihm und stellte den Stuhl direkt neben ihn an die Wand, nicht zur Tür, wo Leos Mutter Platz genommen hatte. Zögernd ließ Adam sich darauf fallen. Er hatte keine Ahnung, was seine Anwesenheit hier bewirken sollte. So am Rand fühlte er sich wie ein ungebetener Gast, der alles beobachtete.
Mit vorsichtigen Händen zog Leo den Stuhl zurück, auf dem Adam vorhin gesessen hatte, und nahm schließlich Platz. In der Mitte des Raums sah er so verloren aus, viel zu klein, er gehörte überhaupt nicht hierher.
„Können wir anfangen?“, fragte Baumann freundlich.
Da drehte Leo auf einmal den Kopf. Sein Blick fand Adams, so intensiv, dass sein Herz mit einem Mal ganz schwer wurde. Wie Leo ihn ansah, dieses Flehen in seinen Augen, als würde er um etwas bitten, das eigentlich unmöglich war.
Adam stieß die Luft aus, die er angehalten hatte.
Scheiß drauf.
In einer hastigen Bewegung kam er auf die Füße, packte den Stuhl und stellte ihn direkt neben Leos ab. Unter dem überraschten Blick der Kommissarinnen ließ er sich darauf fallen, mit genug Schwung, um deutlich zu machen, dass er sich so schnell nicht wieder erheben würde.
Baumann hob eine Braue. Adam starrte trotzig zurück. Ihr Mundwinkel zuckte, als wollte sie sagen: Aber halt gefälligst den Mund, wenn das schon sein muss. Er presste die Lippen zusammen und lehnte sich zurück.
„Gut“, sagte Baumann schließlich, sofort wieder in geschäftigem Ton. „Fangen wir an.“
Adam dachte, es wäre schlimm gewesen, selbst von allen Geschehnissen berichten zu müssen. Es fiel ihm nie leicht, sich vor anderen zu rechtfertigen, und er konnte nur hoffen, dass das alles halbwegs logisch rübergekommen war.
Aber das hier? Zuzuhören, wie Leo ganz leise erzählte, die Stimme so gebrechlich, als würde sie jeden Moment versagen? Das war schlimmer.
Leo war noch nicht mal bei den Männern im Auto angelangt. Er sagte, sie seien im Baumhaus gewesen, hätten Spaß gehabt, und dann…
„Und dann?“, hakte Baumann nach.
Leos Mund öffnete sich, Adam konnte sehen, wie sich die Worte aus ihm herauskämpfen wollten und dann doch versiegten. Er hatte kein Problem gehabt, die Dinge einfach beim Namen zu nennen – Worte dafür hatte er genug, auch wenn sein Vater sie immer nur mit Verachtung gesprochen hatte. Doch Leo bekam kein einziges davon heraus. Sie hatten ja nie darüber geredet, wurde Adam auf einmal bewusst. Er hatte keinen Schimmer, was diese Nacht für Leo bedeutete, ob er lieber so tun wollte, als sei nichts passiert. Um die Kommissarinnen zu überzeugen, war es halt nur zu spät. Adam hatte längst alle Geheimnisse auf den Tisch gelegt.
Leo kämpfte noch immer, die Hände fest in die Ärmel seiner Jacke gekrallt.
Das konnte Adam nicht mitansehen. Leo wollte, dass er hier war, also musste er auch da sein. Ohne zu überlegen, ob er das gerade durfte oder nicht, streckte Adam die Hand aus und löste Leos Finger ganz vorsichtig aus ihrem Krampf. Er dachte zurück ans Baumhaus, wie er Leo zeigen wollte, dass er sich für nichts zu schämen brauchte. Genauso versuchte er es jetzt, verflocht langsam ihre Finger miteinander und ließ seinen Daumen über Leos Hand streicheln. Und dann wusste er, dass es richtig war; so verzweifelt, wie Leo das Drücken erwiderte und sich an ihm festhielt.
Sein Blick war fest auf ihre Hände gerichtet, und so schaute Adam für ihn nach oben.
„Sie haben das Video doch gesehen“, sagte er knapp.
Baumann warf ihm einen scharfen Blick zu. Er sollte die Klappe halten, schon klar. Ihre Lippen verzogen sich, wollten bestimmt zu einem tadelnden Wort ansetzen, ihn vielleicht doch noch rauswerfen. Da landete die Hand ihrer Partnerin auf ihrer Schulter. Leo bekam nichts mit, weil er immer noch nach unten starrte, aber Adam sah es ganz deutlich. Der Blick, den die beiden wechselten, hatte nichts von einem sachlichen Austausch unter Kolleginnen. Das war eine ganze Konversation, die sie da führten, stumm und für den Rest der Welt nicht zu entschlüsseln. Adam kannte das. Leo und er machten das manchmal in der Schule; er hatte nie so richtig darüber nachgedacht, weil ihm das einfach natürlich vorkam.
Nach ein paar Sekunden war es vorbei, Heinrichs Hand rutschte sanft von der Schulter ihrer Kollegin und sie räusperte sich leise.
„Wir verstehen. Und danach? Kannst du mir beschreiben, was du gesehen hast?“
Leo zitterte ein wenig. Noch einmal drückte er Adams Hand, und dann, allen Zweifeln zum Trotz, sprach er weiter und hörte nicht auf.
Immer wieder musste Adam sich zwingen, nicht dazwischenzureden. Aber fuck, das alles aus Leos Sicht zu hören – er hatte gar nicht daran gedacht. Dass Leo seine Familie anlügen musste, wie viel Angst er gehabt hatte, seine Panikattacke, als Caro ihm das Video zeigte.
Irgendwann musste Adam die Augen schließen, weil der Drang, einfach wegzurennen, so verdammt stark war. Das war alles seine Schuld. Wenn sie nur eher zur Polizei gegangen wären, wenn er nie so dumme Entscheidungen getroffen hätte. Er hielt das nicht aus. In seinem Magen brannte es, sein Kiefer schmerzte bereits, so hart presste er die Zähne aufeinander. Und Leo erzählte einfach weiter, die Stimme jetzt klar und fest, er beantwortete die Fragen so vernünftig, wie Adam es nie gekonnt hätte. Wenn Leo das jetzt erklärte, schien es wie die logischste Entscheidung der Welt, dass er zum Baumhaus lief und auf Adam wartete, dass er ihnen in die Garage folgte und…
Da verstummte Leo wieder, aber das machte nichts, die Details hatte er Heinrich wohl gestern schon erzählt.
Adam fühlte nichts mehr außer dem Loch in seinem Magen. Hilflos drückte er Leos Hand. So langsam brauchte er das selbst am meisten.
Und dann war es vorbei, Baumann schickte sie beide hinaus und Heinrich nahm noch einmal Leos Mutter beiseite. Adam hatte es die ganze Zeit über vermieden, sie anzusehen. Trotz ihres blassen Gesichts wirkte sie gefasst, als sie jetzt sprach. Mit einer Hand auf Leos Schulter sagte sie ihm, er solle draußen auf sie warten, nur einen Moment. Adam streifte sie mit einem Blick, den er nicht ganz deuten konnte.
„Also jetzt sollte doch alles klar sein“, hörte er sie noch sagen, ehe Baumann die Tür hinter ihnen schloss. „Die Jungs haben nichts falsch gemacht.“
Was Heinrich darauf erwiderte, konnte Adam nicht mehr verstehen.
Baumann brachte sie hinunter in den Eingangsbereich, wo sie in einer Sitzecke Platz nehmen und warten sollten. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Mann am Tresen und verschwand dann wieder nach oben.
Leo hatte sich ganz in die Ecke gekauert, ein Bein an sich gezogen. Neben ihm stützte Adam die Ellenbogen auf seine Knie.
Was jetzt?
Er wusste es nicht. Alles war vorbei – nun, vielleicht nicht alles, da konnte immer noch ein Gerichtsprozess auf sie zukommen, aber – aber nicht mehr heute. Sein Vater lag gut bewacht im Krankenhaus, Boris war festgenommen, und ohne ihn konnten seine Männer vermutlich auch nichts mehr tun. Es war doch alles geregelt. Irgendwie bekamen die Erwachsenen das doch auf die Reihe.
Aber Leo sah nicht so aus, als würde ihn das beruhigen.
Adam seufzte. Der Boden unter ihm war einfach nicht interessant genug, um ihn noch länger anzustarren.
„Was ist los?“, fragte er schließlich, als die Stille sich zu sehr in seinen Brustkorb krallte.
Leo blickte auf, als hätte er nur darauf gewartet. Jetzt lag da ein deutlicher Vorwurf in seiner Stimme. „Warum hast du mir nichts von dem Video erzählt?“
Oh. Adam hatte gehofft, die Sache wäre erledigt. War sie nicht, wie er sich vehement erinnerte. Für Leo war das was ganz anderes.
„Ich…“ Verloren brach er ab.
Ich hatte Angst. Angst, dass du durchdrehst und alles kaputtmachst. Dass du mich nicht mehr willst, wenn du das siehst. Dass du es abstoßend findest.
„Es tut mir leid“, sagte er, viel zu leise, aber mehr brachte er nicht zustande.
Einige Augenblicke lang war Leo still.
„Caro hat es zuerst gesehen“, sagte er dann. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich das erklären soll. Du warst nicht da.“
Mit einem Mal traf ihn die Erkenntnis. Leos Schwester hatte das gesehen, seine Mutter; Menschen, die ihm etwas bedeuteten, von denen er abhängig war. Für Adam waren die Dinge simpel. Was seine Mitschüler dachten, kümmerte ihn nicht, seine Mutter hatte keine Meinung dazu, und wenn sein Vater das rausfand, war er sowieso tot. Da gab es nichts, worüber er noch grübeln musste. Leo dagegen…
Oh. Oh. Leo hatte das seiner Familie erklären müssen. Auf die schlimmstmögliche Art. Adam hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass es für Leo kein alles oder nichts gab. Er hatte etwas zu verlieren. Hasste ihn seine Familie jetzt auch?
„Fuck, Leo, ich hab nicht gedacht – es tut mir leid. Hast du… hat deine Mutter…“
„Caro hat es ihr schon erzählt“, sagte Leo dumpf. Als wäre das gar nicht wichtig.
Adam starrte.
„Und?“
„Und sie versucht, mit der Schule auszuhandeln, dass die was dagegen tun. Weiß nicht, ob das was bringt, aber… sie versucht es.“
Sie – was? Adam klappte den Mund zu, wusste auf einmal nicht, was er damit anfangen sollte. Leos Mutter wollte ihn nicht rausschmeißen. Sie hatte sich mit der Schule angelegt?
Verdammte Scheiße. So jemand konnte existieren?
„Und sie hat…“, setzte Adam an, weil er ganz sichergehen musste. „Sie hat kein Problem mit… mit uns?“
„Nein“, sagte Leo, als wäre das doch klar. Adam blinzelte verdattert. Vielleicht hatte er ihren Blick völlig missverstanden.
Er suchte Leos Blick, wollte wissen, ob Leo auch so verwundert darüber war, doch seine Stirn lag noch immer in Falten.
„Meine Mutter ist cool“, murmelte er. „Caro auch. Ich glaub, die haben das schon länger gewusst. Aber…“ Er senkte den Kopf, rieb die Stirn an seinem angewinkelten Knie. „Aber in der Schule… die hassen uns doch eh schon. Und jetzt…“
Adam hatte das alles noch immer nicht verarbeitet, aber Leo klang, als müsste er Tränen zurückhalten. Das katapultierte ihn schlagartig zurück in die Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit, in der sie jetzt – denn damit hatte Leo Recht – noch mehr zur Zielscheibe werden würden. Auf Leo hackten ohnehin schon alle herum, weil er so dünn und leicht war, die Nase immer in seinen Büchern vergraben. Und Adam konnte keiner leiden, weil er mit keinem reden wollte. Er seufzte hilflos. So sehr er sich auch wünschte, in einer Woche wäre bestimmt alles vergessen – dieses Video würde Nachwirkungen haben. Für ihn war die Schule immer okay gewesen, kein freundlicher Ort, aber allemal besser als zuhause. Für Leo, wurde ihm schmerzlich bewusst, war es die Hölle.
„Hey.“ Behutsam legte er eine Hand auf seinen Rücken, versuchte, irgendwie beruhigende Muster zu streicheln. Er war einfach nicht gut in sowas. „Hey“, machte er hilflos. „Leo. Nicht weinen.“
Denn wenn Leo jetzt anfing, konnte Adam auch nicht mehr, und sie waren hier komplett ungeschützt, das ging nicht.
„Tut – tut mir leid“, schluchzte Leo und schob die Arme vor seinen Kopf, die Schultern bebend.
Fuck, nein, so hatte Adam das doch nicht gemeint. Er gab sich Mühe, seine Hand ein wenig sanfter zu bewegen. Die Worte kamen nur noch als Krächzen heraus. „Nein, nein, alles okay, ich… ich… kann ich irgendwas tun?“
Leo schniefte. „Ich will nie wieder in die Schule“, sagte er, kaum verständlich durch den Ärmel vor seinem Gesicht, und Adam brach es das Herz.
Er rutschte zu ihm heran, zog Leos Kopf an seine Brust und schlang die Arme um ihn herum.
„Wir sagen einfach, dass wir krank sind“, murmelte er in Leos Haar, zuckte hilflos mit den Schultern. „Wird schon durchgehen.“
Leo machte ein leises Geräusch, beinahe ein Lachen. Oder vielleicht doch eher ein Schluchzen, weil sich seine Hände jetzt fest in Adams T-Shirt krallten. Adam schluckte und warf einen Blick durch den Raum. Der Mann am Tresen war in sein Handy vertieft, ansonsten keine Menschenseele, aber das hier war ein Polizeipräsidium, da musste es Kameras geben. Adam wollte hier raus. Ging nur nicht, weil Leo sich zu fest an ihn klammerte. Also konnte er ihn wenigstens schützen. Sanft drehte er sich ein Stück, bis Leo zwischen ihm und der Wand saß, abgeschürmt durch Adams Körper. Nicht noch eine Aufnahme, die man gegen sie verwenden konnte. Keine Zuschauer, die lachten und nichts verstanden. Das hier gehörte ihnen, dachte Adam in einer überraschend starken Welle an Zorn. Er ließ nicht zu, dass ihnen das jemand wegnahm. Egal wer.
Nie wieder.
Leos Kopf lehnte immer noch an Adams Schulter, als seine Mutter die Treppe herunter kam. Er hatte sich ein wenig beruhigen können, als Adam ihm leise Worte ins Ohr murmelte und immer wieder versicherte, dass es vorbei war. Was nicht stimmte, aber Lügen waren nun mal sein Gebiet.
Langsam löste Leo sich von ihm, kam auf die Beine und lief auf seine Mutter zu. Adam schluckte, sah zu, wie sie leise Worte wechselten und dachte an das Auto, das draußen wartete.
"Komm", hörte er Leos Mutter sagen, "Jetzt gehen wir erstmal nach Hause."
Adam senkte den Kopf. Irgendwie fehlte ihm die Kraft, wieder aufzustehen. Und wofür auch? Klamme Kälte machte sich in ihm breit, als er an das Haus dachte. An den Schrank. Die Leere, die ihn ausfüllte. Mit einem Mal bekam er kaum noch Luft. Selbst wenn sein Vater nicht da war, die grauen Wände hielten ihn trotzdem gefangen, und sein Geist schwebte noch immer durch die Gänge, sein Blut auf dem Garagenboden –
"Alles okay?"
Leo stand vor ihm, die Augen voller Sorge.
Adam wollte es ignorieren. Einfach schweigen. Oder so tun, als käme er klar. Wenn er einfach ganz still abhaute, dann würde...
"Ich kann nicht zurück", kam es stattdessen aus seinem Mund. Beim Klang seiner eigenen Stimme zuckte er beinahe zusammen. So rau sprach nur sein Vater. Er musste – er musste weg von hier.
Da hörte er auf einmal Leos Mutter. Er dachte nicht, dass sie seinen Satz überhaupt mitbekommen hatte, aber jetzt lächelte sie ihm zu.
"Das musst du doch auch nicht. Du kommst einfach mit zu uns."
Adam stockte. Bei Leo bleiben? Früher hatte er sich das gewünscht, aber natürlich war das unerreichbar.
"Das... das geht?"
"Natürlich geht das. Wenn du willst. Wir können das gleich draußen mit deiner Mutter absprechen. Sie muss ja wissen, wo du bleibst."
Muss sie das?, dachte Adam, und dann gleich darauf: Darf ich das überhaupt?
Leo hatte die Hand ausgestreckt, stumm, nur ein Angebot.
Adam dachte an die Garage, das Baumhaus, all die Monate und Jahre, die er Leo schon kannte. Natürlich geht das. Oder?
Er wusste es nicht. Aber mit Leos Hand in seiner wollte er es versuchen.
Leo zog ihn auf die Füße, und dann gingen sie zu dritt nach draußen, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Adam war immer noch baff, als er sich neben Leo auf der Rückbank des Autos wiederfand. Leos Mutter hatte mit seiner Mutter gesprochen, Adam durfte die nächsten drei Nächte bei Leo verbringen. Drei Nächte. Er wusste nicht, wie er so viel Glück verdient hatte.
Sie hielten noch an der Schule, um Caro abzuholen. Leo zog merklich den Kopf ein, als sie vor dem Gebäude zum Stehen kamen, und Adam wäre jetzt gerne rausmarschiert und hätte jedem, der komisch starrte, eins übergezogen. Stattdessen saß er nur hier und wusste nicht, was er tun sollte. In Gegenwart von Leos Mutter traute er sich nicht mal, seine Hand zu nehmen. Leo hatte gesagt, dass das kein Problem war, aber ganz sicher konnte man sich doch nie sein, oder?
Caro ließ die Beifahrertür schwungvoll hinter sich zufallen und schien nicht wirklich überrascht, Adam zu sehen.
"Hi", rief sie nach hinten und wandte sich dann an ihre Mutter, die das Auto schon wieder aus der Parklücke lenkte. "Übernachtet er jetzt bei uns?"
"Ja."
"Und wieso darf ich nicht bei meinem Freund schlafen?", schmollte Caro.
Adam schluckte.
"Weil das etwas anderes ist", erklärte Leos Mutter geduldig. "Es geht darum, ein sicheres Zuhause zu haben. Seid ihr bitte kurz leise? Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren."
Sie waren alle still, jeder auf seine Art. Adam hatte das Gefühl, dass er viel zu viel Platz einnahm, obwohl er doch schwieg – schweigen und aushalten, das konnte er. Aber das hier war... Das hier war anders. Er hoffte, dass es anders war. Und was Leos Mutter eben gesagt hatte – er wusste nicht, ob seine eigene Mutter das überhaupt verstand.
"Wo soll er eigentlich schlafen?", fragte Caro, als sie in eine ruhige Straße abgebogen waren. "Die Matratze haben wir doch weggeschmissen."
"Bei mir ist doch Platz", sagte Leo neben ihm, und Adam wurde ganz warm. Aber – nein. Das durften sie sicher nicht.
Nach einem Moment sagte Leos Mutter nach hinten: "Gut. Das machen wir so. Aber Leo, denk bitte an unser Gespräch."
"Jaah", kam es zurück, und als Adam herüberschaute, rieb Leo sich verlegen das Kinn. Seine Wangen glühten, und Adam konnte gar nicht sagen, was dieser Anblick mit ihm machte. Vorne hörte er Caro lachen, und plötzlich überspülte ihn das seltsame Gefühl, Teil von etwas zu sein.
Und dann ging es nicht mehr weg.
Es blieb, als sie bei Leo Mittag aßen, alle ein wenig schweigsam, aber das machte Adam nichts aus. Nur einmal klingelte das Telefon, Leos Mutter hob ab und wollte den Hörer an Adam weiterreichen, der nur den Kopf schüttelte. Sie fragte nicht nach, hörte nur zu und erklärte danach am Tisch, was seine Mutter gesagt hatte.
"Es ist wegen deinem Vater, das Krankenhaus hat angerufen. So wie ich das verstanden habe, sollte er schon aufgewacht sein, ist es aber nicht. Sie hat was von Blutungen im Gehirn gesagt? Jedenfalls ist das alles noch ungewiss."
Adam nickte, nicht sicher, was er mit der Information anfangen sollte. Abwesend griff er nach seinem Wasserglas, hob es an die Lippen –
Warte.
"Kann es sein, dass er gar nicht mehr aufwacht?", platzte er heraus und verlor sich für einen Moment in dem Gedanken. Für immer. Er könnte den Alten für immer losgeworden sein. Vielleicht hatte Leo ihn wirklich befreit, vielleicht...
Mit einem Mal bemerkte er, dass ihn alle anstarrten.
Fuck. Was hatte er falsch gemacht? Würden sie ihn rausschmeißen? In den Schrank stecken?
Er hatte viel zu hoffnungsvoll geklungen. Normale Jungs reagierten nicht so euphorisch auf die Möglichkeit, ihre Väter könnten sterben, nahm er an. Rasch stellte er das Glas ab, damit keiner sein Zittern bemerkte. Schon wieder, er hatte es schon wieder verbockt.
Dann räusperte sich Caro und zuckte mit den Schultern. "Ich finde, er hat Recht. Von dem, was ich gehört hab, wär das ein Grund zum Feiern, oder?"
"Caro", sagte Leos Mutter leise und lehnte sich dann seufzend zurück. "Wir wissen es einfach nicht. Jetzt können wir sowieso nur abwarten."
Leo starrte auf seinen Teller hinab. "Wenn..." Seine Stimme war ganz dünn. "Wenn er wirklich nicht aufwacht, dann..."
"Mach dir mal keine Sorgen", ging seine Mutter dazwischen. "Ich hab mit der Kommissarin geredet. Ihr beide habt den Krankenwagen gerufen, mehr hättet ihr nicht tun können. Das wird euch keiner vorwerfen."
Ihr beide. Adam senkte auch den Blick. Das war alles Leo gewesen. Adam war viel zu feige, um es selbst in die Hand zu nehmen; aber dann hatte er auch zu viel Angst, es wiedergutzumachen. Leo war derjenige von ihnen, der Leben retten wollte. Adam hatte nur daneben gestanden und zugesehen, wie das Blut über den Boden sickerte.
Sein Teller war noch halb voll, aber er bekam nichts mehr herunter. Was, wenn er jetzt wie sein Vater war? Alles in ihm wehrte sich dagegen, wollte keinen Teil dieser Abscheulichkeit mehr mit sich tragen. Aber war das genug?
Er wusste es nicht. Vielleicht war er wirklich so. Nur jetzt? Jetzt war er zuallererst mal verdammt müde.
Leo hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht, als er ihm sein Zimmer zeigte, und die Ablenkung kam Adam mehr als gelegen. Er hatte sich schon immer gefragt, wie der Ort wohl aussehen mochte, an dem Leo lebte.
Es war seltsam, dachte er als erstes. In der Ecke stand ein Schrank, groß und aus Holz wie seiner, aber Leos war mit Fotos beklebt und eine Hälfte stand offen, sodass Adam hineinschauen konnte. Dort lagen nur Klamotten, die untersten säuberlich gestapelt, darüber chaotische Haufen aus Socken und T-Shirts.
Leos Fenster war viel größer als das in Adams Zimmer, direkt zur Straße hin, wo gegenüber jemand Rasen mähte. Sein Regal voller Bücher nahm eine ganze Wand ein, auf dem Schreibtisch lagen Schulsachen verstreut. Adam mochte die Wände. Das helle Gelb schien den ganzen Raum aufzuwärmen.
Gegenüber vom Fenster stand Leos Bett, die dunkelblaue Decke nur halbwegs geglättet. Adam musste seine immer ordentlich falten. Aber das hier gefiel ihm, es war alles so – so sehr Leo. Adams Bett hätte man problemlos austauschen können, den Schrank, selbst seine Bücher, doch alles, was ihn jetzt umgab, gehörte unbestreitbar zu seinem Freund.
Das hier war der beste Ort auf der Welt, beschloss Adam.
Und Leo schien seine Gedanken zu spüren, oder es ging ihm einfach genauso; ohne ein Wort zog er Adam zum Bett und ließ sich rücklings darauf fallen. Seine Augen waren schon zugefallen, als Adam sich vorsichtig neben ihn legte, den Arm mit dem Verband behutsam angewinkelt. Er warf einen flüchtigen Blick zum Schrank herüber, sah dort eines der wenigen Fotos hängen, die Leo mit ihm gemacht hatte, und beschloss, dass es hier keine Bedrohung gab.
Neben ihm seufzte Leo, ganz tief und langsam. "Ich konnt nicht mehr richtig schlafen seit dieser Nacht", murmelte er, die Augen fest geschlossen. "Ich hab mich immer gefragt, ob mich gleich jemand holen kommt. Und ob's dir gut geht."
Das Bett war groß genug, dass sie problemlos nebeneinander Platz hatten. Und doch streckte Leo die Hand aus, tastete sich über Adams T-Shirt und schob einen Arm über seinen Bauch.
"Jetzt geht's mir gut", sagte Adam, auf einmal ganz heiser. Im Baumhaus hatten sie auch so geschlafen, aber das war was anderes. Dort war alles dunkel und sie brauchten die Wärme, es war ein Ort, der außerhalb dieser Realität existierte. Hier gab es keine Ausrede mehr, außer dass sie viel zu erschöpft waren, um richtig nachzudenken.
"Mir auch", murmelte Leo noch, schon halb im Schlaf versunken. Er lag auf dem Bauch, einen Arm um Adam geschlungen, und als Adam den Kopf drehte und ihn ansah, wurde alles in ihm plötzlich unendlich weich. Leo hielt ihn fest, nicht andersherum, und doch verspürte Adam mit einem Mal den heftigen Drang, ihn vor der ganzen Welt zu beschützen.
Er fand keinen Schlaf, wachte nur über Leos leise Atemzüge und versuchte seinem Herz zu sagen, es sollte sich beruhigen.
Leo verschlief den ganzen Nachmittag. Einmal schaute seine Mutter leise durch die Tür, lächelte Adam zu und verschwand dann wieder. Wirklich wegbewegen konnte er sich nicht, aber alle Details von Leos Zimmer zu bestaunen, ging auch vom Bett aus. Das Bücherregal mochte er am meisten, entschied Adam. Vielleicht durfte er mal eins lesen, wenn er hier war. Die Buchrücken sahen alle verlockend aus. Wenn er Geld hätte, würde er auch ganz viele Bücher für sich und Leo kaufen, dachte er. Und dann –
Moment.
Da lagen doch immer noch die Millionen im Schlafzimmer seiner Eltern. Und sein Vater im Koma. Vielleicht wusste seine Mutter auch davon und konnte den Safe öffnen... Aber ehrlich gesagt bezweifelte er das. Nur – da war doch etwas.
Er hatte eine Ahnung gehabt. Komplett sicher war er sich nicht, aber falls die Kombination stimmte, hätte Boris Recht gehabt. So oft hatte Adam sich gewünscht, er wäre einfach nie geboren worden. Jetzt konnte sich das zum ersten Mal auszahlen.
Er dachte darüber nach, während Leo friedlich neben ihm schlief. Fürs Erste wollte er nicht in das Haus zurückkehren, nicht mal dafür, aber wenn er nur einmal vorbeikam, bevor sein Vater wieder da war... Das konnte funktionieren. Und falls Roland doch aufwachte und sein Geld vermisste? Dann würde Adam eben damit abhauen.
Der Gedanke gab ihm Ruhe, und er konnte sich damit beschäftigen, eine neue Zukunft zu spinnen. Eine, in der er keine Schränke und Kameras mehr sehen musste.
Doch zuerst gab es Worte, die er sagen sollte. Eine ganze Menge sogar.
Irgendwann regte sich Leo neben ihm und blinzelte verschlafen. Adam blickte auf ihn herab, ohne die leiseste Ahnung, was er sagen sollte.
"Hey", nuschelte Leo und musterte ihn so intensiv, als wäre er überrascht, dass Adam noch da war. Wo sollte er auch sonst sein?
"Hey", murmelte er zurück, auf einmal ein bisschen unsicher.
Leo richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. "Ich hol mal was zu trinken." Sein Mundwinkel zuckte. "Aber definitiv kein Bier. Willst du auch was?"
"Hmm", machte Adam. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er eigentlich schon seit einer Weile Durst. Irgendwann lernte man halt, damit zu leben. Aber Leo schaute ihn immer noch an, also nickte er einfach.
Mit den Gläsern setzten sie sich wieder auf die Bettkante, und Adam stellte seins auf dem Boden ab, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte. Natürlich war das kein Alkohol, aber es fühlte sich trotzdem an, als hätte er sich Mut angetrunken.
"Leo", sagte er und sprach dann einfach die Worte aus, die er sich in den letzten Stunden überlegt hatte. "Es tut mir leid. Das war alles so dumm. Wir hätten echt zur Polizei gehen sollen."
Leo nippte an seinem Glas. Ein kleiner Blitz durchzuckte Adam bei dem Anblick – das machte Dinge mit ihm.
"Ja. Hätten wir", sagte Leo dann. Nach einem Moment stellte er sein Glas auch beiseite. "Adam... mir tut es auch leid. Das hätte alles nicht passieren dürfen."
Adam schluckte. Dachte an das Baumhaus. All das, was er nicht vergessen konnte.
"Alles?", fragte er, ganz leise. Er hatte schreckliche Angst vor der Antwort. Aber er musste es wissen.
Leo starrte auf seine Hände hinab. Da lag so viel Vorsicht in seinen Bewegungen. "Denkst du, wir hätten besser aufpassen sollen?"
"Denkst du?"
Und dann drehte Leo den Kopf, sah ihm in die Augen, so unvermittelt, dass Adam das Gefühl hatte, er müsste gleich vom Bett kippen. "Ich hab gedacht, wir wären sicher dort. Vor deinem Vater, und... allen. Ich wollte nicht, dass das so passiert, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen. Aber ich will das. Das mit dir."
Oh.
Adam brauchte viel zu lange, um sich zu erinnern, wie man Worte bildete, und dann hatte er keine Ahnung, wie er auf den letzten Teil reagieren konnte, also sagte er einfach nur das, worin er sich sicher war.
"Ich bin die ganze Zeit in Schwierigkeiten." Seine Hand wollte nicht mehr stillhalten, legte sich wie von selbst um Leos Nacken, zog ihn näher. Er musste wissen, wie ernst Adam das meinte.
"Das ist es wert", sagte er und suchte Leos Blick. Bitte. Bitte, versteh das. Ich kann es nicht so sagen wie du, aber du musst das wissen.
Eine hilflose Welle rauschte durch seine Brust, feurig, Verlangen und Wärme und ein winziger Rest Scham, den er zu verdrängen versuchte. Er wollte und wollte und konnte dennoch nicht begreifen, dass das hier ihm gehörte. Es war, als wären sie beide die einzigen Menschen auf der Welt, er und Leo. Leo, der mit seinen sanften Händen und dieser instinktiven Vertrautheit sein Leben durcheinandergewirbelt hatte. Er wusste gar nicht, wie sehr.
Für einen Moment glaubte Adam, jetzt wäre alles gesagt und Leo würde einfach zu ihm kommen. Er wollte das immer noch so sehr, dass er kaum noch denken konnte.
Leos Gesicht war so nah, die Augen dunkel, und er –
Er hielt inne.
"Warte."
Hastig löste er sich, schlüpfte unter Adams Arm hindurch und kam auf die Beine. Adam blinzelte ihm hinterher, registrierte erst nach einem Augenblick, dass Leo nur ans Fenster wollte. Mit einer raschen Bewegung zog er die Gardinen zu. "Da ist keiner, ich weiß das, aber..."
Adam nickte. Das war es, dachte er, weshalb er es im Haus nicht mehr aushielt, obwohl sein Vater doch fort war. Er wusste, dass keiner kommen würde, aber der Zweifel hatte sich längst festgesetzt wie ein Parasit. "Ich weiß", sagte er leise.
Leo setzte sich neben ihn. Seine Augen waren wieder so groß. "Ich hab gar nicht gefragt... warst du in der Schule, als das mit dem Video...?"
Daran wollte Adam jetzt wirklich nicht denken. "Ja", sagte er tonlos.
"Wie haben die anderen reagiert?"
Er schnaubte. "Was denkst du denn? Ich bin einfach weg. Mir egal, was die sagen, das geht die doch gar nichts an."
Kurz war es still. Dann ließ Leo sich nach hinten fallen, den Rücken auf der Bettdecke, die Beine noch immer über den Rand baumelnd.
"Nein", sagte er nach einem Moment, viel weiter weg als vorhin. "Aber mir ist das nicht egal."
Hilflos schloss Adam die Augen. "Leo..."
"Die suchen doch nur nach einem Grund."
Scheiße, Leo hatte Recht. Es gab so schon genug Leute, die ihm in der Schule das Leben zur Hölle machten. Hätte Adam nur einfach mal nachgedacht. Er holte tief Luft, suchte nach Worten.
"Sollen sie doch versuchen. Ich pass schon auf." Seine Stimme sank ein wenig. "Und ich... ich hätt's dir sagen sollen."
Er war sich nicht sicher, ob das genügte. Leo musterte ihn, als wollte er die Worte von allen Seiten betrachten. Und dann zuckte er mit den Schultern und lächelte ein wenig.
"Kannst doch nicht ewig mein Bodyguard sein."
Adam ließ sich neben ihn fallen. Das Grinsen hatte sich längst durch seine Miene gekämpft, ließ sich nicht mehr einfangen. Auf eine Art war es Vergebung. "Nicht?"
"Irgendwann bin ich mal dran", sagte Leo und drehte sich zu ihm. Ihre Nasenspitzen stießen aneinander.
Adam musste die Luft anhalten. "Leo", sagte er, in seiner Brust war es auf einmal ganz eng, da war so viel, das herauswollte. "Leo, das bist du schon. Du..." Er streckte die Hand aus, bis seine Finger den Weg in Leos Haar fanden. "Ich glaub, du hast mir da echt das Leben gerettet."
Es war die Wahrheit, er fühlte es; sie hing zwischen ihnen wie ein unsichtbares Band. Leo schaute ihn an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, und Adams Herz tat auf einmal so weh, aber er wollte das, es war gut, und dann lehnte Leo sich doch zu ihm und er war so unerträglich sanft, als er eine Hand in Adams Nacken legte und ihre Lippen zusammenbrachte.
Adam hatte die Augen geschlossen, bevor er es wusste. In seiner Brust explodierte es, und da war wieder dieses unbändige Ziehen, er musste näher zu Leo rutschen, bis sie der ganzen Länge nach aneinandergepresst waren. Er machte ein hilfloses Geräusch, das von Leos Lippen geschluckt wurde, und es war, als könnte er zum ersten Mal seit Tagen wieder atmen. Dabei pochte sein Herz wie wild. Aber es war egal, alles um sie herum vergessen, nur diese Berührung und wie langsam und zärtlich sie war. Anders als alles, was er je gekannt hatte.
Leo war hier und er war real und Adam klammerte sich fest.
Was er in den letzten Momenten im Baumhaus gedacht hatte, als er glaubte, er würde Leo nie wiedersehen...
Er hatte es damals so gemeint und meinte es jetzt immer noch. Die Worte steckten so tief in seiner Brust, dass sie keinen Weg über seine Lippen fanden, aber sie waren da. Er wusste nicht, wie das funktionierte, wie so etwas wie Liebe überhaupt in ihm existieren konnte. Irgendwie hatte Leo das alles ausgelöst, ohne es zu merken. Und es machte ihm Angst, aber auf eine gute Art. Nicht wie der Schrank oder das Training oder die Launen seines Vaters, sondern wie dieser erste Sprung, den sie zusammen im Baumhaus gewagt hatten. Vielleicht waren sie ein wenig zu schnell über die Kante gestolpert. Im Nachhinein glaubte Adam, er musste gespürt haben, dass es nur diese eine Chance gab. Und so war alle Vorsicht einfach weggefallen, alles außer dem Wissen, dass er es auskosten musste, solange er durfte. Und jetzt?
Jetzt, dachte Adam tief und erleichtert, hatten sie Zeit. Wenn nicht für die Ewigkeit, dann zumindest die drei Tage, die er hier verbringen konnte. Die Leo mit ihm verbringen wollte. Das machte ihn immer noch ganz wuschig im Kopf. Die letzten Tage waren die Hölle gewesen, und doch lag unter all dem Schrecken eine Sehnsucht, die nicht verschwinden wollte; es war sinnlos, aber er konnte es nicht abstellen. Umso heftiger rauschte jetzt die süße Erlösung durch seine Adern. Er machte das, weil er es wollte.
Es war nicht wie im Baumhaus, kein verzweifeltes Aufeinandertreffen von Körpern, die nach allem gierten, was ihnen nicht vorbestimmt war. Es war einfach nur ein Festhalten. Ein sanfter Druck, Finger durch Strähnen gewoben. Ich bin da. Ich geh nicht weg.
Und als sie sich irgendwann lösten, nur einen Zentimeter, nur um Luft zu holen, da wusste Adam es auf einmal.
Sein Vater war fort.
Hier, an diesem Ort, konnte er ihn nicht erreichen. Hier hatte Adam etwas, das ganz allein ihm gehörte.
Er spürte eine Träne an Leos Wange und wischte sie fort, ganz behutsam. So sanft hätte sein Vater nie sein können. Es war ein Sieg.
"Ich weiß was", wisperte er in den engen Raum zwischen ihnen, stupste seine Nase gegen Leos. "Wir hauen einfach ab."
Leo blinzelte ihn an. Seine Hand, die in Adams Nacken sachte Kreise zog, kam zum Stillstand. "Einfach... weg?"
Adam kam wieder näher und holte sich noch einen Kuss, einfach, weil er es konnte. "Ja. Wo uns keiner kennt."
Ein leises Lachen kam zurück. "Wir müssen aber schon noch das Abi zu Ende machen."
"Hmm." Adam rieb seine Nase an Leos Kiefer, die Wange in die Decke gepresst. "Ich will diese Stadt nie mehr sehen", gestand er nuschelnd. "Weiß nicht, ob ich das aushalte."
Er dachte an das Geld im Safe seines Vaters. Vielleicht.
"Adam..."
Er wurde unterbrochen, als es unvermittelt an der Tür klopfte.
Erschrocken hob Adam den Kopf und wich zurück, bis er fast von der Bettkante fiel. Dann erst konnte er sich erinnern, dass es hier keine Rolle mehr spielte.
"Caro?", rief Leo Richtung Tür. Einen Moment später schaute der Kopf seiner Schwester herein.
"Ich soll euch zum Essen rufen, ist gleich fertig."
"Okay", gab Leo zurück, und die Tür fiel hinter ihr wieder zu.
Adam konnte das alles immer noch nicht fassen. Staunend richtete er sich auf, schwang die Beine vom Bett und wollte schon aufstehen. Leos Hand an seinem Arm hielt ihn zurück.
"Adam." Er sah aus, als wollte er etwas loswerden; etwas, das nicht mehr warten konnte.
"Du...", sagte er und blickte ihm direkt ins Gesicht. "Du haust aber nicht ohne mich ab?"
Adam dachte darüber nach. Leo war jetzt nicht mehr in Gefahr, sobald sie das alles geregelt hatten, konnte er machen, was er wollte. Weglaufen schien ihm wie die logischste Option - aber vielleicht war ihm die Logik ausnahmsweise mal egal. So oder so, das Geld aus dem Safe sollte auch für sie beide reichen.
"Natürlich nicht", sagte er und meinte es so.
Leo rutschte zu ihm an den Rand, sie standen beide auf, standen sich gegenüber. Beinahe schüchtern stupsten Leos Finger gegen Adams.
"Versprochen?"
Und Adam griff nach seiner Hand wie damals unter dem Baumhaus, hielt sie fest, nur dass er jetzt keine Angst mehr hatte.
"Versprochen", sagte er, als sie gemeinsam durch die Tür traten, aus Leos kleiner Welt hinaus in eine andere, in der es vielleicht - vielleicht - doch noch einen Platz für sie gab.
Frei und ohne die Augen anderer. Er wollte daran glauben.
